Kennung: 2088

Lenzburg, 23. Juli 1889 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Erika (Mieze)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Frieda


Lenzburg 23. Juli 1889.


Mein lieber Bebi!

Zwar wird dieser BriefWedekind notierte am 25.7.1889 im Tagebuch: „Brief von Mieze. Frl. Mink ist zu Haus als Pensionärin. Desgleichen mehrere Engländerinnen. Willi will nächste Woche Hochzeit halten. Er hatte eigentlich vor mich als Pfarrer kommen zu lassen. Nun will er aber doch die hergebrachten Pfade wandeln.“ wahrscheinlich seinen Zweck verfehlen, insofern jedenfalls, als er zu deinem GeburtstageWedekind feierte am 24.7.1889 seinen 25. Geburtstag. zu spät kommt, doch lasse ich mich dadurch nicht entmuthigen. Ich würde dir gern früher geschrieben haben, kam aber vor lauter ArbeitNach dem Tod von Friedrich Wilhelm Wedekind am 11.10.1888 betrieb seine Witwe „auf Schloss Lenzburg eine Pension für Feriengäste, um zusätzlich Einkünfte für sich und die Familie zu erzielen, solange das Schloss noch nicht verkauft war.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 136] Emilie Wedekind hatte bei der Gemeinde Lenzburg die Bewilligung einer Sommerwirtschaft auf Schloss Lenzburg beantragt, die am 28.12.1888 genehmigt wurde [vgl. ebd.], und beherbergte nun Pensionsgäste, was viel weitere Arbeit bedeutete, bei der sie von ihrer Tochter unterstützt wurde. wirklich nicht dazu. Also vor allem, nimm unser aller allerherzlichste Glückwünsche, vor allem den einen Wunsch, daß sich deine Hoffnungen und Erwartungen von deinem MünchnerlebenWedekind hatte Berlin verlassen müssen und war seit dem 5.7.1889 wieder in München. und besonders von deinem Schaffen in vollen Maße erfüllen möchten und daß du recht bald eine Lebensstellung finden mögest, die so recht deinen Ansprüchen, sowohl wie deinen Kräften entspräche. Doch genug davon, hoffentlich feierst du einen recht fröhlichen Geburtstag und denkst dabei auch ein bißchen an uns, die wir so gerne bei dir sein möchten. Was treibst jetzt eigent|lich den ganzen Tag. Stehst du auch erst um 12 Uhr auf und gehst um 5 zu Bett? Wir haben jetzt eine Pensionärin die sich in ähnlicher Weise geriert, nämlich Frl. Minknicht identifiziert (ihr Name in anderen Korrespondenzstücken auch in anderen Schreibweisen). eine auch dir sehr wohlbekannte Dame. Sie meinte letzthin du hättest auch einen eigenen Geschmack, den hätte sie kennen gelernt, bei deiner Schwärmerei für die „schmierige“ Dora SauerDie Schauspielerin Dora Sauer gehörte zu Wedekinds „Idealen“ [Wedekind an Minna von Greyerz, 26.7.1889]; eine später von Berlin aus reisende Schauspielerin dieses Namens ist nachgewiesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1909, S. 307].! Du scheinest dich ja noch immer sehr lebhaft für jene zu interessieren, da du keine Ruhe gehabt habest, bis du ihren jetzigen Aufenthaltsort erfahren hättest. Die Mink ist übrigens eine ziemlich unbehagliche, höchst anspruchsvolle und launische Person die durchaus keinen Reiz hat, als ihre scharfe, böse Zunge auf die sie sich allerdings sehr fi viel einbildet und s die sie an jeglichem ihr unter die Augen tretenden armen Erdenwurm weidlich wetzt. Sie ist seit 8 Tagen bei uns und will d vielleicht den ganzen Winter hier bleiben. Außerdem haben wir die Mutter von Frau Apotheker von GreyerzLuise Maria Welti, aus Bern stammend, in Lenzburg lebend, Tochter von Anna Locher aus Zürich, findet sich als „Fr. Apotheker von Greyerz v. Bern, in Lenzburg“ [Familienbuch der Bürger der Stadt Zürich auf Herbst 1889, S. 567] bezeichnet. und Frau Welti von Zürich mit 2 Lausannerenkelkindernzwei Enkelkinder von Anna Locher, die beiden Kinder von Luise Maria Weltis Stiefbruder in Lausanne [vgl. Familienbuch der Bürger der Stadt Zürich auf Herbst 1889, S. 567]. und eine Amerikanerin mit Sohn und Tochter bei uns. Bei Tisch wird meistens Französisch gesprochen, da die Amerikaner | gar kein Deutsch sprechen. An dieser Familie würdest übrigens Du speziell gewiß sehr große Freude haben. Sie spielen nämlich alle die Mandoline und Gitarre und geben dann reizende Trios mit 2 Mandolinen und 1 Gitarre echt italienischer Musik, denn sie haben es letztes Jahr in Florenz gelernt, zum besten, so daß wir immer alle ganz entzückt sind. Letzten FreitagDas diesjährige Jugendfest in Lenzburg fand am 19.7.1889 statt., gerade am Jugendfest, kam auch noch Onkel TheodorTheodor Wedekind, Landgerichtsrat in Göttingen und „Familiensyndikus“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 72], war Friedrich Wilhelm Wedekinds Bruder. und blieb bis gestern früh. Er war sehr nett, viel fröhlicher, als wir erwartet, erzählte immerfort AnnektötchenVerballhornung oder Schreibversehen, statt: Anekdötchen (kleine Anekdoten). und unterhielt sich besonders gern mit unseren Damen. Am Jugendfest mußte ich in der Kirche singen und zwar die Arie Mein fröhliches HerzeGemeint sein dürfte die Sopran-Arie (2. Satz; Text 1728 von Christiana Mariana von Ziegler) aus Johann Sebastian Bachs Pfingstkantate „Also hat Gott die Welt geliebt“ (1725): „Mein gläubiges Herze, / Frohlocke, sing, scherze, / Dein Jesus ist da! / Weg Jammer, weg Klagen, / Ich will euch nur sagen: / Mein Jesus ist nah.“ etc. Es gieng ganz gut. Abends giengen Willy und Anna zum Ball, ich jedoch blieb zu Hause. In nächsten Tagen feiern wir nun ihre HochzeitWilliam Wedekind und Anna Kammerer heirateten am 25.7.1889 in Zürich. und da hätte Willy dich furchtbar gern dazu kommen lassen und zwar anstatt eines Pastoren, er meinte nämlich, du könnest ihn grade so gut trauen und die Festrede halten, wie unser Pfarrer. Jetzt hat er sich aber doch entschlossen, es ähnlich zu machen wie Hammi. Es kommt | natürlich niemand, als wir Familienglieder und ich weiß bis jetzt wirklich noch nicht recht wie wir aus unserer Pension für den Tag loskommen. Apropos, thu mir oder vielmehr uns den Gefallen und laß dich doch so bald wie möglich photographieren, wir haben gar kein Bild mehr von dir und sollten an Mati welche schicken und Willy welche mit nach AfrikaWilliam Wedekind und seine Frau Anna wanderten noch 1889 nach Südafrika aus, wo er sich zunächst als Farmer niederließ; er „machte dann Karriere als Eisenbahnbeamter und vertrat als Schweizer Konsul die Interessen seinen Ursprungslandes.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 19] geben. Wenn du irgend kannst, so thu es doch bitte! Letzhin war auch Herr GroßEmile Daniel Gros aus Lausanne, der 1884 während Wedekinds Zeit in Lausanne sein Vermieter war. wieder mal hier, er läßt dich schön grüßen und schickte mir heute ein kleines, reizendes Nadelkissen in Form vom Eifelthurm aus Paris. Doch jetzt liebster Bebi muß ich schließen, ich würde mich sehr freuen wenn du auch einmal ein par Zeilen für mich und nicht nur immer für Minna übrig hättest. Nimm noch einmal viel Grüße von allen und eine TuppiKüsschen.
von deiner
Mietze


Mamma würde dir selbst geschrieben haben aber sie hat wirklich keine Zeit!

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 11,5 x 18 cm. Mit gedrucktem Briefkopf. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der Empfang des Briefes am 25.7.1889 in München ist durch das Tagebuch belegt.

  • Schreibort

    Lenzburg
    23. Juli 1889 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    25. Juli 1889 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 311
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Erika (Mieze) Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1889. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

23.11.2023 22:22