Kennung: 2059

München, 24. Mai 1891 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • [Unbekannt]

Inhalt

Feuilleton.


In beifolgenden Zeilen gestatte ich mir, Ihnen eine SceneEs handelt sich um die Szene II/2 von „Frühlings Erwachen“ [vgl. KSA 2, S. 282-285], die in dem Sonderdruck unter der Überschrift „Die Frage“ abgedruckt ist. aus meinem dreiaktigen Drama: „Frühlings-Erwachen, Eine Kindertragödie“ vorzulegen, mit dem ich nächstdem in mündlichem Vortrag vor das Publikum zu tretenFrank Wedekind kündigte seinem Bruder Arnim am 24.5.1891 fast gleichlautend demnächst anstehende Lesungen an. Nachgewiesen sind mündliche Vorträge aus „Frühlings Erwachen“ allerdings erst seit Januar 1896 [vgl. KSA 2, S. 919]. gedenke. Das Drama behandelt in einer Anzahl lose aneinander gereihter Scenen, in möglichst typisirten Formen die überaus interessanten Erscheinungen, wie sie sich bei der heranreifenden Jugend aus dem Zusammenleben der jungen Leute unter sich, aus ihrem Verhältniß zu Schule und Eltern ergeben und trotz ihrer weitreichenden seelischen und sozialen Bedeutung, einzelne Ausnahmen abgerechnet, noch wenig Beachtung von seiten der schriftstellernden Welt gefunden haben.

Durch einen Abdruck nachstehender ProbeWedekind dürfte den Privatdruck der Szene II/2 aus „Frühlings Erwachen“ mit dem offenen Brief als Vorwort an eine Redaktion oder mehrere Redaktionen versandt haben oder hatte dies vor. Ein Druck dieser exemplarisch ausgewählten Szene in einer Zeitung oder Zeitschrift ist nicht bekannt. in Ihrem werthgeschätzten Feuilleton würden Sie dem Verfasser einen Dienst erweisen, für den er Ihnen im Voraus seinen verbindlichsten Dank zu erstatten sich erlaubt.

Mit der Versicherung vorzüglichster Hochachtung
Fr. Wedekind


Akademiestraße 21/0, München. |


Die FrageUnter dieser Überschrift ist die Szene II/2 aus „Frühlings Erwachen“ abgedruckt, mit ganz geringfügigen Varianten zur Buchausgabe von 1891..


Aus „Frühlings-Erwachen.“ Eine Kindertragödie
von
Fr. Wedekind.


(Wohnzimmer.)

Frau Bergmann: (den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm, mit strahlendem Gesicht durch die Mittelthür eintretend) Wendla! ‒ Wendla!

Wendla. (erscheint in Unterröckchen und Corset in der Seitenthür rechts) Was giebts, Mutter?

Frau Bergmann. Du bist schon auf, Kind? ‒ Sieh, das ist schön von dir!

Wendla. Du warst schon ausgegangen?

Frau Bergmann. Zieh dich nun nur flink an! ‒ Du mußt gleich zu Inahinunter. Du mußt ihr den Korb da bringen!

Wendla. (sich während des Folgenden vollends ankleidend) Du warst bei Ina? ‒ Wie geht es Ina? ‒ Will’s noch immer nicht bessern?

Frau Bergmann. Denke dir, Wendla, diese Nacht war der Storch bei ihr und hat ihr einen kleinen Jungen gebracht.

Wendla. Einen Jungen? ‒ Einen Jungen! |
‒ 3 ‒
‒ O das ist herrlich! ‒ ‒ Deshalb die langwierige Influenza!

Frau Bergmann. Einen prächtigen Jungen!

Wendla. Den muß ich sehen, Mutter! ‒ So bin ich nun zum dritten Mal Tante geworden ‒ Tante von einem Mädchen und zwei Jungens!

Frau Bergmann. Und was für Jungens! ‒ So geht’s eben, wenn man so dicht beim Kirchendach wohnt! ‒ Morgen sind’s erst zwei Jahr, daß sie in ihrem Mullkleid die Stufen hinanstieg.

Wendla. ‒ Warst du dabei, als er ihn brachte?

Frau Bergmann. Er war eben wieder fortgeflogen. ‒ Willst du dir denn nicht eine Rose vorstecken?

Wendla. Warum kamst du nicht etwas früher hin, Mutter?

Frau Bergmann. Ich glaube aber beinahe, er hat dir auch etwas mitgebracht ‒ eine Brosche oder was.

Wendla. Es ist wirklich schade!

Frau Bergmann. Ich sage dir ja, daß er dir eine Brosche mitgebracht hat!

Wendla. Ich habe Broschen genug ...

Frau Bergmann. Dann sei auch zufrieden, Kind. Was willst du denn noch?

Wendla. Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er durchs Fenster oder durch den Schornstein geflogen kam.

Frau Bergmann. Das mußt du Ina fragen. |
‒ 4 ‒
Ha, das mußt du Ina fragen, liebes Herz! ‒ Ina sagt dir das ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde mit ihm gesprochen.

Wendla. Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme.

Frau Bergmann. Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf! Es interessirt mich wirklich selbst, zu wissen, ob er durchs Fenster oder durch den Schornstein kam.

Wendla. Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger fragen? ‒ Der Schornsteinfeger muß es doch am besten wissen, ob er durch den Schornstein fliegt oder nicht.

Frau Bergmann. Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den Schornsteinfeger. Was weiß der Schornsteinfeger vom Storch! ‒ Der schwatzt dir allerhand dummes Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt .... Wa ‒ was glotzst du so auf die Straße hinunter??

Wendla. Ein Mann, Mutter ‒ dreimal so groß wie ein Ochse! ‒ mit Füßen wie Dampfschiffe...!

Frau Bergmann. (an’s Fenster stürzend) Nicht möglich! ‒ Nicht möglich! ‒

Wendla. (zugleich) Eine Bettlade hält er unterm Kinn, fiedelt die Wacht am Rhein drauf ‒ ‒ eben biegt er um die Ecke ....

Frau Bergmann. Du bist und bleibst doch ein Kindskopf! ‒ Deine alte einfältige Mutter so |
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in Schrecken jagen! ‒ Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich Wunder, wann bei dir einmal der Verstand kommt. ‒ Ich habe die Hoffnung aufgegeben.

Wendla. Ich auch, Mütterchen, ich auch. ‒ Um meinen Verstand ist es ein traurig Ding. ‒ Hab’ ich nun eine Schwester, die ist seit zwei und einem halben Jahre verheirathet, und ich selber bin zum dritten Male Tante geworden, und habe gar keinen Begriff, wie das alles zugeht .... Nicht böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen in der Welt soll ich denn fragen als dich! Bitte, liebe Mutter, sag es mir! Sag’s mir, geliebtes Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber. Ich bitte dich, Mutter, sprich! Schilt mich nicht, daß ich so etwas frage. Gieb mir Antwort ‒ wie geht es zu? ‒ wie kommt das alles? ‒ Du kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich bei meinen vierzehn Jahren noch an den Storch glaube.

Frau Bergmann. Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar! ‒ Was du für Einfälle hast! ‒ Das kann ich ja doch wahrhaftig nicht!

Wendla. Warum denn nicht, Mutter! Warum denn nicht! ‒ Es kann ja doch nichts häßliches sein, wenn sich alles darüber freut!

Frau Bergmann. O ‒ o Gott behüte mich! ‒ Ich verdiente ja .... Geh, zieh dich an, Mädchen; zieh dich an! |
‒ 6 ‒
Wendla. Ich gehe, ... Und wenn dein Kind nun hingeht und fragt den Schornsteinfeger?

Frau Bergmann. Aber das ist ja zum Närrischwerden! ‒ Komm Kind, komm her, ich sag es dir! Ich sage dir alles .... O du grundgütige Allmacht! ‒ nur heute nicht, Wendla! ‒ Morgen, übermorgen, kommende Woche ... wann du nur immer willst, liebes Herz ...

Wendla. Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! ‒ Nun ich dich so entsetzt gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig werden.

Frau Bergmann. ‒ Ich kann nicht, Wendla.

Wendla. O warum kannst du nicht, Mütterchen! ‒ Hier knie ich zu deinen Füßen und lege dir meinen Kopf in den Schos. Du deckst mir deine Schürze über den Kopf und erzählst und erzählst, als wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will geduldig ausharren, was immer kommen mag.

Frau Bergmann. ‒ Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel kennt mich! ‒ Komm denn in Gottes Namen! ‒ Ich will dir erzählen, Mädchen, wie du in diese Welt hineingekommen. ‒ So hör mich an, Wendla ...

Wendla. (unter ihrer Schürze) Ich höre.

Frau Bergmann. (ekstatisch) ‒ Aber es geht |
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ja nicht, Kind! ‒ Ich kann es ja nicht verantworten. ‒ Ich verdiene ja, daß man mich in’s Gefängniß setzt ‒ daß man dich von mir nimmt ...

Wendla. (unter ihrer Schürze) Faß’ dir ein Herz, Mutter!

Frau Bergmann. So höre denn ...!

Wendla. (unter ihrer Schürze, zitternd) O Gott; o Gott!

Frau Bergmann. Um ein Kind zu bekommen ‒ du verstehst mich, Wendla?

Wendla. Rasch, Mutter ‒ ich halt’s nicht mehr aus.

Frau Bergmann. ‒ Um ein Kind zu bekommen ‒ muß man den Mann ‒ mit dem man verheiratet ist .... lieben ‒ liebensag ich dir ‒ wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr von ganzem Herzenlieben, wie ‒ wie sich’s nicht sagen läßt! Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst.... Jetzt weißt du’s.

Wendla. (sich erhebend) Großer ‒ Gott ‒ im Himmel!

Frau Bergmann. Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen!

Wendla. ‒ Und das ist alles?

Frau Bergmann. So wahr mir Gott helfe! ‒ ‒ Nimm nun den Korb da und geh zu Ina hinunter. Du bekommst dort Chokolade und Kuchen dazu. ‒ Komm, laß dich noch einmal betrachten ‒ die Schnürstiefel, die seidenen Handschuhe, die |
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Matrosentaille, die Rosen im Haar ..... dein Röckchen wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz, Wendla!

Wendla. Hast du für Mittag schon Fleisch gebracht, Mütterchen?

Frau Bergmann. Der liebe Gott behüte dich und segne dich! ‒ Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.


Druck der Münchner Handelsdruckerei, & Verlagsanstalt M. Poeßl Goethestr. 3Inhaberin der Firma Münchner Handelsdruckerei mit Sitz in der Goethestraße 3 war Maria Pößl (geb. Schmeger), die Gattin des Redakteurs Max Poeßl, der mit ihr unter derselben Adresse wie die Druckerei gemeldet war [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1891, Teil II, S. 130]..

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück mit Beilage ist nur im Druck überliefert. Es handelt sich um einen 1891 von der Münchner Handelsdruckerei hergestellten Sonderdruck (Brief und paginierte Beilage sind darin zusammenhängend präsentiert), der nur in einem Exemplar erhalten ist.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Sicher ist Wedekinds Adresse zufolge (er wohnte laut Meldebogen ab dem 19.5.1890 bis zu seiner Abreise nach Paris am 9.12.1891 in München in der Akademiestraße 21, Parterre [vgl. EWK/PMB Wedekind]) das Jahr. Der 24.5.1891 ist als Ankerdatum gesetzt ‒ nach Frank Wedekinds Brief unter diesem Datum an seinen Bruder Arnim Wedekind, in dem wie in dem offenen Brief an eine unbekannte Redaktion davon die Rede ist, der Autor werde demnächst mit Lesungen (vermutlich aus „Frühlings Erwachen“) vor das Publikum treten.

  • Schreibort

    München
    24. Mai 1891 (Sonntag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort


    Datum unbekannt

Erstdruck

Feuilleton (Sonderdruck als Privatdruck)

Verlag:
München
Jahrgang:
1891
Kommentar:
Nachdruck: KSA 5/II, S. 119.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Historisches Museum Schloss Lenzburg

CH-5600 Lenzburg
Schweiz
Schloss Lenzburg

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
D 522
Standort:
Historisches Museum Schloss Lenzburg (Lenzburg)

Danksagung

Wir danken dem Historischen Museum Schloss Lenzburg für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an [Unbekannt] , 24.5.1891. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

16.01.2022 17:06