Kennung: 202

München, 5. Februar 1899 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Martens, Kurt

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

München, Fürstenstr. 19I
den 5. Febr. 1899.


Mein lieber Wedekind,

nachdem ich gestern Ihre AdresseWedekind befand sich seit Ende Oktober 1898 auf der Flucht, um einer drohenden Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung infolge der Simplicissimus-Affäre zu entgehen. Über die Schweiz war er am 22.12.1898 nach Paris gereist und bezog eine Wohnung in der Rue Bonaparte 49. von von Richard erfahren habe, kann ich es mir nicht versagen, Ihnen eine seltsame Komplikation meines Lebens, meine VerlobungMartens hatte sich zu Beginn des Jahres, nur kurz nach seiner Übersiedlung von Leipzig nach München, mit Mary Fischer, der Tochter des pensionierten Oberlandesgerichtsrats Georg Fischer, verheiratet. Die Hochzeit fand am 29.3.1899 in München statt. nämlich, mitzuteilen. Die Mangelhaftigkeit der hiesigen Wohnungs- und Restaurant-Verhältnisse einerseits, mein Bedürfnis, verehrt, geliebt und verwöhnt zu werden andrerseits wiesen gebieterisch auf ein junges, stilles und | schüchternes Mädchen hin, die, wie wenige ihres Geschlechtes, berufen sein dürfte, meinen Erwartungen zu genügen. Sie heißt Mary, ist die Tochter eines weil. Oberlandesgerichtsrates, ein paar Jahre jünger als ich und ziemlich hübsch. Da ich solch liebe, unterwürfige Geschöpfe stets sehr gern gehabt habe, so bin ich ich auch im stande, ihre rührende Zuneigung zu erwidern. Ende März werden wir heiraten und eine zierliche Wohnung, Franz Josephstr. 48II beziehen. Ich bin sehr glücklich in der Hoffnung, wie beruhigend und kräftigend diese Ehe auf mich und meine Arbeiten einwirken wird. –

Im übrigen genieße ich maßvoll das Münchner Leben, insbesondere den Fasching, die Premieren und jours fixes. Mme Morawetz ist noch immer jung. Ihre Tochter Mizi könnte mich als Geliebte wahnsinnig machen und als Ehefrau unter die Erde bringen[.] Frau von Oehlschläger spielt eine Rolle in der guten Gesellschaft, und auch Weber heiratetHans und Anna von Weber (geb. Jäger) heirateten, wie das Ehepaar Martens, am 29.3.1899 in München. demnächst sein Verhältnis. Jeden Montag tagt die „die UnterstömungDie „Unterströmung“ war eine um 1898 von dem Schrifsteller Max Halbe gegründete zwanglose Münchner Kegelrunde, die sich anfänglich montag-, später mittwochabends im Restaurant Allotria in der Türkenstraße 33 versammelte. Regelmäßige Teilnehmer aus Wedekinds engerem Freundes- und Bekanntenkreis waren neben den von Martens genannten auch Hanns von Gummpenberg, Korfiz Holm, Heinrich Kunold, Artur Kutscher, Max Langheinrich und Hans Richard Weinhöppel [vgl. Kemp 2017, S. 29]. Wedekind selbst hat dem Kreis offenbar nur bis 1904 angehört, als es zu einem längeren Zerwürfnis mit Halbe kam.“: Halbe, Steiger, einige Maler, Weber und ich, auch Wolzogen und Conrad, die, während der Hofkapellmeister Stavenhagen auf einem verstimmten Klavier ungarische Tänze spielt, zusammen cancanierenvon frz.: ‚cancaner‘: den Cancan tanzen; auch: klatschen, tratschen.. Halbes „Lebenswende“ erlebte gestern im Schauspielhaus einen bösen DurchfallÜber die Premiere von Halbes Komödie „Lebenswende“ am Münchner Schauspielhaus (4.2.1899) berichtete die Münchner „Allgemeinen Zeitung“ [Jg. 102, Nr. 37, 6.2.1899, S. 2]: „Das war ein böser Abend […] In der Lebenswende verläuft alles im Sande. Bewundert haben wir nur das Publikum; das war ein Achtungsdurchfall von vornehm höflicher Entschiedenheit, man klatschte nach dem ersten Akt, dem zweiten folgte Todtenstille, nach dem dritten mischte sich Beifall und Zischen und den letzten begleitete unterdrücktes Gelächter, beschloß fast einmütiges Zischen. Wir dürfen das Stück wohl als bekannt voraussetzen, es verdient diese Aufnahme, jede Beschönigung wäre zwecklos.“; dagegen ist sein | neustes Stück „Die Heimatlosen“ – er las es uns vorgestern vor – von starker Wirkung; soll in 14 Tagen am LessingtheaterHalbes Drama „Die Heimatlosen“ wurde am 22.2.1899 im Berliner Lessingtheater uraufgeführt. kommen. –

Wie ich höre, sollen Sie in Paris fleißig sein. Erzählen Sie mir, bitte, ein bischen, was Sie treiben und schreiben. Wird Ihr undankbares Vaterland Sie niemals wiedersehen? Oder wollen Sie die zwanzigjährige Verjährungsfristbezieht sich auf die Anklage wegen Majestätsbeleidigung in der Simplicissimus-Affäre. abwarten? –

La vie est dure(frz.): Das Leben ist hart., mein lieber Wedekind. Wenn wir unsre beiden Persönlichkeiten doch verschmelzen oder konkret ausgedrückt – wenn wir doch ein Stück zusammen schreiben könnten! – Das müßte ein Erfolg werden.

Die schönsten Grüße von
Ihrem Antipoden
Kurt Martens.


Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 9 x 19 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Seite 1 und 4 im Hochformat, Seite 2 und 3 - als eine Seite - im Querformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    5. Februar 1899 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Paris
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 113
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Kurt Martens an Frank Wedekind, 5.2.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (09.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Zuletzt aktualisiert

01.07.2019 09:48