Kennung: 20

Lenzburg, 2. Juni 1884 - 5. Juni 1884, Brief

Autor*in

  • Greyerz, Minna von

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Lenzburg 2. Juni 1884.


Mein lieber BabyKosename Wedekinds im Familienkreis.!

Noch nicht bis zur gefürchteten Wuth war Deine braune CousineMinna von Greyerz, die über ihre Mutter (eine geborene Wedekind) entfernt verwandt mit Frank Wedekind war. entbrannt, wol aber war sie sehr ungehalten. Ja, um so ärgerlicher war ich, als ich mich als Hauptschuldnerin wußte u deßhalb meine Verwünschungen u Vorwürfe gegen mich selbst richten mußte. Dabei dachte ich freilich oft: diese, meine Selbstqualen könnte sich Baby eigentlich vorstellen u seine Ritterpflicht wäre daher, mich sobald wie nur möglich davon zu erlösen. „Oder“, fragte ich mich: „faße ich die Sache zu schwer auf? Glaubt „er“ (d.h. Du) ich wolle noch Frag- u Ausrufungszeichenspiel fortsetzen?“ Und das Endresultat meiner Betrachtungen war dann meist: „ach, ich bin ein dummes Ding, er aber ein Faulpelz.“ Und meine rege Phantasie malte mir die peinlichsten Scenen vor, z.B. wie Du leichtsinniger Weise das Bildeine Fotografie von Fanny Amsler-Laué, die Minna von Greyerz Frank Wedekind vor dessen Abreise nach Lausanne (1.5.1884) gegeben hatte und die sie dringend zurückverlangt hatte [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 8.5.1884]. irgend Jemand zeigtest, der „sie“ gerade kenne, denn eben in Lausanne verbrachte „sie“ ihre Pensionszeit u.s.w. ––– Da, am SonntagPfingstsonntag, den 1.6.1884., ich kam just aus Carl’s erbaulicher PredigtMinna von Greyerz’ Schwager Carl Juchler war Pfarrer in Lenzburg., erwartete mich eine andere Erbaulichkeit, Dein BriefWedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884. – Beigelegt war die Fotografie von Fanny Amsler-Laué, eine Cousine von Wedekinds ehemaligem Schulfreund Walter Laué.! All meine bösen Gedanken zerstoben somit gänzlich u der Schluß dieser „Fanny-Geschichte“ bildete ein Erleichterungsseufzer u vergnügtes Auflachen meiner Seit’s. Aber nicht | nur mir hast Du großes Vergnügen mit Deinem amüsanten Brief gemacht, sondern auch D. Mama; denn ich spazierte Abends damit gemütlich hinaufauf das Schloss Lenzburg. u unterm Schatten der rothblühenden Kastanien, las ich ih denselben Tante vor, was sehr lustig war. Der Schlußeffekt aber war Folgender: Tante Emilie sagte unter Lachen, ich könne Dir melden, Du seist ein Erzschwindler – ist das nicht allerliebst? und was machst Du nun wol für ein Gesicht dazu? Nach alledem was ich Dir bis jetzt geschrieben, ersiehst Du, daß ich wenig Anlage zu wissenschaftlichen AbhandlungenWedekind beklagte dies an den Briefen Anny Barcks [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884]. zeige u somit Deiner Aufforderung persönliche Erlebnisse u andern Klatsch mitzutheilen ganz at libitumSchreibversehen, statt: ad libitum; (lat.) nach Belieben. nachkomme. O, was bist Du für ein Schlaumeier! Um Deiner Bemerkung über’s Briefschreiben noch einen pikanten Bogen zu geben, greifst Du zu den bekanntlichen Schwächen des Menschengeschlechts u kitzelst die Eitelkeit u Selbstliebe, indem Du sagstEs folgt ein wörtliches Zitat aus Wedekinds Schreiben [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884].: „gerade in der Behandlung solcher Kleinigkeiten wird die Schreiberin selber am Besten zur Geltung kommen.“ Wie? Aergerst Du Dich vielleicht über meine Auffassung, Deiner möglicherweise harmlos geschriebenen Worte? – Doch nein, Du weißt, ich bin nicht boshaft u ob ich auch zuweilen Deine Ausdrücke anders als Du gewollt, auffaße, so wirst Du dessenungeachtet ohne weiteres Kopfzerbrechen, wie’s Gefühl oder Verstand Dir eingiebt, mir schreiben, gelt aber? Ich werde es auch so machen. Dieses, sich-im-Grunde-verstehen setzt man eigentlich bei lebhaftem Briefverkehr voraus, sonst ließe man besser die Tinte eintrocknen. | Daß aber die Briefe bloß „für solchen Klatsch“ erfunden seien, bezweifle ich jedoch sehr. Freilich, es kommt darauf an mit wem ich mich unterhalte u je nachdem werde wird sich die Unterhaltung gestalten. Je besser wir den Menschen zu kennen glauben, desto freier u ungezwungner wird der geistige Verkehr mit ihm sein. Daß ein bloß wissenschaftliches Thema (d.h. über Ansichten u dergl.) auf die Länge aber ermüdend wirkt, ist begreiflich. Man sehnt sich schließlich nach Abwechslung, nach einer leichten Wendung in’s Gebiet der Allgemeinheit u Alltäglichkeit (natürlich mit Vorbehalt der Individualität). Enthält nun aber ein Brief, bloß solche SchnackenPlaudereien., sei er auch noch so reize/v/oll ausgeschmückt u mit Humor gewürzt, so entbehren wir doch den Spiegel des innern Seelenlebens, welcher sich eher in Betrachtungen u Reflexionen zeigt, als nur im Rapport über äußerliche Wahrnehmungen.

Donnerstags Abendsden 5.6.1884.. Mein Brief ruht nun schon einige Tage in meiner Schreibmappe, denn ich kann nicht immer, wie ich wol möchte, in einem Zug fortschreiben; dazu hast Du vielleicht eher Muße oder doch Freiheit. Um Dir also weiter zu „klatschen“ fange ich bei Blanche’s Liebenswürdigkeit an, da habe ich doch einen aufmerksamen LeserAnspielung auf Wedekinds Schwärmerei für Blanche Zweifel im Winter 1883/84.. Sie machte mir nach langer Zeit wieder mal einen kl. Besuch, war wie immer nett u freundlich, lobte, da gerade nichts anderes zu loben war, mein Geschick Blumensträuße zu arrangiren; einige Zeit danach brachte ich ihr einen flotten Wald- u Wiesenstrauß, worauf sie mir ein Gedichtchen in die Hände kommen ließ, was mich | auch freute. Dann wechselten wir die Torturfragenwohl im Sinne von ‚peinliche Fragen‘. u schrieb sie mir daraufhin ein liebewarmes, offnes, inniges Briefchen, auf welches ich ebenso impulsiv antwortete – aber leider muß ich bei irgend einer Stelle einen unrichtigen Ausdruck gewählt haben oder sowas, wenigstens scheint sie etwas darin nicht verstanden zu haben, denn sie war ein bischen mißstimmt, weßhalb ich ihr gestern vor Bettgehen noch schnell ein Versöhnungsschreiben abfaßte, worin ich ihr natürlich meine Unbewußtheit u Unabsichtlichtkeit bezeugte – das Weitere ruht noch im dunklen Zeitenschoos – bist Du nun befriedigt? – Von Deinem Papa hörte ich, daß Du Dich jetzt wie ein Engländer trägst, wobei besonders Deine Kopfbedeckung sehr originell aussehen muß. Und nun wirst Du gar Künstler u besuchst gegenwärtig die Malakademiedie 1823 in der Académie de Lausanne gegründete Zeichenschule, deren erster Direktor der Maler Louis Arlaud war (1822 bis 1845) [(HLS) Marc-Louis Arlaud, in: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027687/2002-12-17/ abgerufen: 28.3.2024]. – Die Académie de Lausanne hatte im Jahr 1883 nur noch 205 Studierende [vgl. Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 10, Leipzig und Wien 1890, S. 565 (Artikel Lausanne)].! Wer weiß was Du noch für ein Faktotumfac totum (lat.) einer, der alles macht. wirst! Sinn u Geschmack traue ich Dir für alles Mögliche zu. Wie geht es denn in diesen Farbenschönheitsstunden zu? Du als einziger Masculin hast wol trotz Deinem „unabänderlichen Schicksal“ die Herzen Deiner Colleginnen in Brand gesteckt, hast sie besungen, beliebäugelt u abkonterfeit in Dein extra dafür angelegtes SkizzenbuchMöglicherweise ist das „violettfarbene[] Skizzenbuch Wedekinds mit der eingeprägten Aufschrift „Album“ und dem Vermerk „Franklin Wedekind. / Weihnacht 1882“ gemeint [KSA 1/I, S. 778; KSA 1/II, S. 1798 (Familiennachlass Fällanden)]. Es enthält zahlreiche Handzeichnungen sowie Gedichte Wedekinds und Stammbucheinträge von Freunden. – oder wandelst Du als einzig fühlendes Wesen unter jenen welschenWestschweizer; „Bewohner eines rom.[anisch]-sprachigen Gebietes oder Landes“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. 15, 1998, Sp. 1584]., coquetten Schönheiten, welche sich Deine Blicke wol deuten, aber ob der ganzen, schönen, reichen, deutschen Sprache in welcher Dein Herz sich | ihnen zu offenbaren sucht, nur ein leichtes Lächeln der Unkenntniß zeigen? Armer Junge! Ja, ja Du hast Künstleraugen! Nicht nur Dein Ausdruck derselben, sondern was sich Dir zeigt, siehst Du anders an, als die Meisten der gewöhnlichen Sterblichen. Du beschreibst mir auf ganz reizvolle Weise die üppige Schönheit der englischen jeunesse doe/r/ée(frz.) vergoldete Jugend; reiche und genusssüchtige Jugendliche der Oberschicht., Du ergehst Dich auf anmuthige, leichte Art in einem/r/ kleinen Landschaftsskizze, daß sich der Leser ohne W weitere Mühe so hübsch hineinversetzen kann u vor meinen Blicken entrollt sich ein hübsches Bild mit fröhlichem Treiben, u bei jedem, neuen Blatt das sich so aufrollt, seh ich Dich, den Beobachter, den Dichter, den Maler Genußmensch, Studio, Kritikus, Abenteurer, unsern lieben Bundesbruder ZephyrWedekind Pseudonym im Freundschaftsbund „Fidelitas“.. Hoffentlich wirst Du eine gute Regung oder Stimmung nicht vorübergehen lassen, in welcher Du Lust empfinden könntest, Deiner braunen Freundin irgend ein Bild in ihr Allerlei-Albumnicht ermittelt. zu malen; jedenfalls würde Dir die Empfängerin für das endliche Einlösen Deines Versprechens dankbar sein. Würdest Du mir vielleicht jetzt unter anderm Himmelt u unter andern Leuten u Verhältnissen jene Torturfragen, die ich Dir schon einmal gegeben habe, beantworten? Es wäre für Dich eigentlich ganz amüsant et pour moi très-interessant(frz.) und für mich sehr interessant. – Über das fast unleserlich verbesserte „interessant“ hat Minna von Greyerz da Wort fein säuberlich noch einmal geschrieben. interessant! | Sage Schreibe mir ob ich Dir die Fragen nochmals geben darf. Otto Otto von Greyerz, Minna von Greyerz’ Cousin, der in Bern Germanistik studierte.beantwortete sie mir ebenfalls famos u ist es köstlich, solch verschiedene Bekenntnisse miteinander zu vergleichen. Den Menschen in Bezug auf seinen innern Werth nach solch einem „Erkenne Dich selbstdeutsche Übersetzung des „Gnothi seauton“ der Inschrift am Apollontempel von Delphi.“ zu richten, kommt mir nicht in Sinn; höchstens erhält man Anknüpfungspunkte, wenn es wahrheitsgetreu abgefaßt wird. Wenn es auch, wie Tante sagte ganz richtig bemerkte, eine eitle Selbstbespiegelung ist, so sehe ich nicht ein, warum man es gegenüber seinen Freunden, (die uns ja mit allen Fehlern kennen dürfen) nicht thun soll, da man doch sich selbst im Stillen hie u da solch eigne FlattusenSchmeicheleien. vorplauscht. – – Deine Eröffnung von der ehemaligen Hofmacherei zu Fanny überraschte mich sehr, da ich bis dato nichts davon wußte – nun, Du zeigst Geschmack. Es ist so etwas à la Heine, Mozart, Göthe in Dir, die hatten meines Wissens auch große Vorliebe für hübsche Gesichter u löste sich in deren Liebeskalender eine Geliebte nach der Andern ab. Wenn Du aber in dieser Hinsicht selbst so wechselnd bist, darfst Du auch nicht über Dein Schicksal klagen,: selbst wetterwendisch behandelt zu werden. Nun, vorderhands stehst Du noch im launenhaften April Deiner Jugendjahre, der Wonnemonat | wird später kommen u wird hoffentlich bei Dir, wie bei den meisten Männern recht lange dauern, denn da heißts gewöhnlich von einem 40jährigen Hagestolzein unverheirateter Mann.: ein junger Mann; von einem Dreißiger aber: ein ganz junger Mann. Jetzt bist Du eigentlich noch nicht ein mal einmal ein jüngerer Mann, sondern stehst noch im schönsten Jünglingsalter. Beim weiblichen Geschlecht verhält sich das gleich anders. Da wird meist nach der äußern Erscheinung beurtheilt. Ist sie nicht mehr klein, graciös, mit naiven Einfällen gleichen einem Vierjährigen, so heißt sie schon nicht mehr „Kind“, sondern „Grasaffeinfältiger Mensch, „als ernste oder scherzhafte Schelte für junge Leute, naseweise oder drollige Kinder, vorwitzige Mädchen“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. 1, 1881, Sp. 100].“ gleichbedeutend mit Eurem sogenannten „Flegelalter“. Ist sie 14–15 d.h. ihre Formen noch eckig, ihre Bewegungen hölzern od. ungelenk, ihr Wissen unbedeutend, so wird sie nunmehr mit einem höhern Grad, als „Schneegans“ titulirt, welchem Namen sie auch in späterm Alter noch Ehre macht, siehe an mir Exempel. Dann kommt die kurze hübsche Zeit der Uebergangsstufe vom „BackfischTeenager.“ zum „jungen Mädchen“. Nur so lang ihr die Rosenzeit blüht ist sie „eine holde Jungfrau“, um gleich danach als „alte Jungfer“, Blaustrumpfmeist pejorativ verwendete Bezeichnung für gelehrte oder emanzipierte Frauen., alte Schachtel u. dergleichen mehr zu gelten u für solche Benennungen braucht | Unsereins kaum das 30. Jahr abzuwarten. Ist das nicht drollig? Na, Du denkst jedenfalls, ich gebe mich gehörig mit solchen Studien ab daß ich Dir über derlei Lapalien schreibe, aber Du hast es ja selbst so gewollt. Nein, in letzter Zeit habe ich mir wieder allerlei zusammenphilosophirt was mir eben zu meinem fernern Leben nöthig schien; bei Allem fragt man sich halt doch nach dem jeweiligen Zweck u ohne Zweck kann kein denkendes Wesen existiren nach meiner Ansicht. —

Das Dufourfestgroßes Fest in Genf zu Ehren des Schweizer Generals Guillaume Henri Dufour, der sich auch als Ingenieur, Wissenschaftler, Politiker und Stadtplaner Genfs große Verdienste erworben hatte. Ausführlich berichtete die Presse über Programm und Durchführung der Festwoche, die am Montag, den 2.6.1884, mit der Einweihung des Dufour-Reiterdenkmals (heute Place de Neuve) und einem Festbankett im ‚prachtvollen‘ Foyer des neuen Genfer Theaters begann und am Sonntag, 8.6.1884 mit einem Festbankett im Bett der Rhone endete. Neben den offiziell geladenen Gästen aus den höchsten Kreisen von Politik und Schweizer Armee wurden – eingeladen von den Genfer Verbindungen –Offiziers- und Unteroffiziersverbände aus der ganzen Schweiz erwartet, an deren Festzug die zahlreichen Vereine der Stadt Fahnen schwenkend sich zu beteiligen versprachen. „Die Genfer verstehen sich darauf, großartige Festlichkeiten einzurichten; nirgends sind dieselben so wirklich volksthümlich; es will ein Jeder nach Kräften mitmachen, seinen Beitrag liefern und wenigstens durch ein heiteres Gesicht an der allgemeinen Freude Theil nehmen. Alle Straßen, selbst die kleinsten und entlegensten, prangen in reichem und frischem Schmucke; unzählig sind die Fahnen, die Laubbogen, die Kränze, die Sinnsprüche, die Wappen, die Waffentrophäen. In allen Quartieren bilden sich dazu Spezial- oder Lokalkomite’s; hier wird Mittags auf offener Straße geschmaust, dort wird Abends auf dem Pflaster getanzt. Ein jeder Stadttheil sucht den andern zu überbieten. Und bei all diesem Getümmel herrscht im Allgemeinen überall Ordnung.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 64, Nr. 154, 2.6.1884, S. (1-2)] in Lausanne Genève muß wundervoll gewesen sein, ich habe eine ausführliche Beschreibung davon gelesen. Warst Du mit Willy auch dort? Mary G. schrieb, sie hoffe ihr werdet vielleicht kommen u dann Hr. Gd’s.Emil Gaudard, der mit seinem Schwager Sebastian Dürst ein Geschäft für Modewaren in Genf und Lenzburg betrieb, wohnte mit seiner Ehefrau Magdalena Gaudard, geb. Dürst, in Genf im Cours de Rive 15 [vgl. Moritz Dürr an Wedekind, 24.7.1884]. Tochter Blanche war seit 1882 mit dem Kolonialwarenhändler Alfred Zweifel in Lenzburg verheiratet, Sohn Jules besuchte die Abschlussklasse der Kantonsschule in Aarau. Bei den Eltern in Genf gewohnt haben dürfte die Tochter Mary (Marie), die zum Lenzburger Freundschaftsbund „Fidelitas“ gehörte (Pseudonym ‚Nordpol‘). besuchen. Ihr seid scheints jetzt auch eifrige KirchgängerAn die Mutter hatte Frank Wedekind geschrieben, dass er zur eigenen Überraschung in Lausanne nicht nur jeden Sonntag, sondern sogar jeden Abend die Kirche besuche [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. geworden – jedenfalls hast Du an solchen Orten die beste Muße Studien über Kopfbildung, Haarwuchs, Körpervollendung, Toiletten u Schönheit des GesammteindruckesSchreibversehen, statt: Gesamteindruckes. zu machen, an reizenden u andern Modellen wird es nicht fehlen.

Hier wurde diese Woche Frau Grether beerdigtnicht ermittelt. Ein Ad. Grether in Lenzburg handelte mit Modewaren [vgl. Neues vollständiges Handels- und Gewerbe-Adressbuch nebst Ortslexikon. Zürich 1877, S. 24]., Taufe eines JungenEs dürfte sich um die Taufe Carl Zweifels, des 5 Monate alten Sohns von Alfred und Bertha Luise Zweifel, geborene Meier, handeln. Carl Zweifel wurde Architekt und Spielzeughersteller und erfand den Schweizerbaukasten (Zweifel’s Schweizerbaukasten). bei Alfred Zweifel abgehalten u HochzeitJean Eich, der nach dem Tod des Vaters 1883 zusammen mit seinem Bruder Alfred Eich-Ringier die Obere Mühle in Lenzburg übernommen hatte, heiratete eine K Lüscher geboren 1860, gestorben 28.7.1946 [Lenzburger Neujahrsblätter, Bd. 18, 1947, S. 85]. Hr. Jean Eich’s in der Mühle, ge|feiert u bei uns war Kindertrubel, FamilientagDie Familie bestand aus 23 Personen: den Eltern (Oberförster Walo und Sophie von Greyerz, geborene Wedekind), 3 unverheirateten Kindern (Magda, Minna und Landwirt Walo in Schweden), 3 verheirateten Kindern (Karl in Schweden, Molly Juchler und Sophie Bertschinger) mit Ehepartnern, -partnerin und 12 Enkelkindern.. Carlider vierjährige Carl Walo Gottlieb Juchler, der zweitälteste Sohn von Minnas Schwester Molly und deren Ehemann Pastor Carl Juchler. kommt nächsten Montagden 9.2.1884. als geheilt aus dem Kinderspital in Züricham 12.1.1874 mit 30 Betten eröffnetes Kinderkrankenhaus, das sich insbesondere auf die Bekämpfung der damals grassierenden Diphterie spezialisierte [vgl. https://www.kispi.uzh.ch/kinderspital/ueber-uns/geschichte, abgerufen 27.3.2024]. zurück, woselbst er 14 Tage zur nochmaligen Operation gewesen ist.

Seit jenem Charfreitagden 11.4.1884. Morgen, wo wir so fidel noch in Deiner Bude oben waren, habe ich Freund Spilker nicht mehr gesehen. Das ist eigentlich fast sonderbar, wenn man bedenkt daß man doch zusammen in solch g kleinem Nest wohnt. Zwar will ich ihn lieber nicht antreffen unter unsern meist bornirten Lenzburgern, um dann nur ein paar oberflächliche Worte zu wechseln, denn zu bloßen Phrasen möchte ich es nicht kommen lassen, dazu ist man sich doch zu gut.

Von HamyKosename Armin Wedekinds, der seit Herbst 1883 in Göttingen sein Medizinstudium fortsetzte. erwarte ich schon seit Langem tagtäglich vergebens einen Brief. Auch nach Hause schrieb er seit Tantes GeburtstagFrank Wedekinds Mutter, Emilie Wedekind, hatte am 8.5.1884 Geburtstag. nicht mehr – wenn er nur nicht krank ist!

Richtig, fast hätte ich Deines GedichtsΦανι Αμσλερ’ς Βιλδ (Titel in griech. Lettern: Fany Amsler’s Bild), das Wedekind seinem Brief beigelegt hatte [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884]. vergessen zu erwähnen. Das ist ja ungemein leidenschaftlich verfaßt, daß man beinah versucht ist, es für Ernst zu nehmen. Es ist nur gut, daß das geliebte Bild in Natura nichts von alledem erfahren hat u dieses Poem mit der | für mich allerdings räthselhaften Inschrift in griechischen Buchstaben, wohlverwahrt in meiner Geheimmappe bei andern Schriftstücken, neben Blanches rosenrothem Briefchem ruht. Was für Fortschritte macht Dein Tagebuchnicht überliefert.? Welch neue Musenkinder haben bei Dir das Licht der Welt erblickt oder hoffen es zu erblicken, vielmehr werden sich Kraft ihres Lichtes aus dem Dunkel hervorthun? Treibst Du eigentlich auch franz. Grammatik u vertiefst Dich zuweilen in Tat/c/itus? (oder wie das römisch-griechische UngeheuerPublius Cornelius Tacitus war ein römischer Historiker und Schriftsteller. In der Abschlussklasse des Gymnasiums an der Kantonsschule Aarau wurden Auszüge aus seinen „Annalen“ übersetzt [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule. Schuljahr 1883/84, S. 20]. heißt.) O weh, Du glaubst am Ende ich wolle Dich unter Controlle halten, Dich als Tante von 12 Neffen u Nichtensiehe auch unter ‚Familientag‘. bevormunden! Nun Deine Sünden wirst Du mir doch nicht beichten; als Ästhetiker wirst Du mir nur Schönes, Angenehmes, Liebes u Erfreuliches mittheilen!!!!! Seit Deinem Fortsein war ich schon oft „dort oben auf jener Höhe“. Aber nun Du nicht mehr da bist, hört man freilich nicht mehr Deine nervösen Ausrufungen, an die man sich nachgerade gewöhnt hatte; MietzeKosename von Frank Wedekinds Schwester Erika. wird nur noch von einem Bruder|leben geplagt, DodaKosename von Frank Wedekinds Bruder Donald. hat nicht mehr Deine Pfeifen u Tabaksbeutel herunterzuholen MatiKosename von Frank Wedekinds Schwester Emilie (Mati). keine „Dubbissonst Tuppis genannt: Küsschen.wer mehr zu geben, Tante nicht mehr für einen ungestillten Durst u Hungerleider zu sorgen Hr. Dr.Abkürzung für den promovierten Arzt im Ruhestand Friedrich Wilhelm Wedekind, Frank Wedekinds Vater. ke braucht einige Vermahnungen weniger zu ertheilen, Bertha hat – ein Bett weniger zu machen u ich – ja davon schweigt besser die Geschichte – dennoch fehlst Du uns Allen sehr d.h. man hat mehr denn je Sehnsucht nach „Boreas“, „Zephyr“ oder „Pipdie Brüder Armin, Frank und William Wedekind, die ersten beiden hier mit ihren Pseudonymen im Freundschaftsbund „Fidelitas“ benannt, William mit dem im Familienkreis verwendeten Kosenamen; alle drei hatten das Elternhaus nach dem Ende der Schulzeit verlassen.“.

Letzthin machte ich auf dem Schloß die flüchtige Bekanntschaft des Afrikareisenden, Konrad Pestall/o/zzi. Konrad Emanuel Alfred de Pestalozzi, ältester Sohn von Konrad Ludwig Pestalozzi auf Schloss Lenzburg und Charlotte Anna Scotchburn. Nach dem überraschenden Ableben Konrad Ludwig Pestalozzis erwarb Friedrich Wilhelm Wedekind (1872) das Schloss von den Erben. Die Presse berichtete: „Das Schloß Lenzburg ist von den Kuratoren der Kinder Pestalozzi an Dr. Wedekind von Hannover u 90,000 Fr. verkauft worden. Er wolle eine Knabenerziehungsanstalt daselbst errichten. Nach andern Nachrichten würde Lenzburg bloß ein schöner Herrschaftssitz bleiben.“ [Zürcherische Freitagszeitung, Jg. 1872, Nr. 39, 27.9.1872, S. 2]Als ich an Pfingstenam Abend des 1.6.1884 (Pfingstsonntag), wie Minna von Greyerz zu Beginn ihres Briefes schreibt (siehe oben). oben war las mir Tante einen lieben, interessanten Briefnicht ermittelt. von Deiner Tante Plümacher vor, worin sie meiner letzen ZeilenSchreibversehen, statt: letzten Zeilen; Minna von Greyerz hatte am 1.5.1884 an Olga Plümacher geschrieben [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 8.5.1884]. an sie erwähnt, was mich sehr freute, obgleich sie damit sagt, daß sie eben keine Flattusen annehmen will u Betitelungen mit „groß“ u.s.w. nicht goutiren könne. Dieses große Wort habe ich mir allerdings zu s/S/chulden kommen lassen, ich glaubte es d zwar richtig auf ihre Person anzuwenden. u h/H/abe mich auch aber weiter in keine Schmeicheleien ausgelassen, das könnte ich gar nicht mit Willen. | Dabei kam mir aber unwillkürlich der Gedanke, wie auf welche Weise sie denn in ihrer Jugend geschwärmt habe, wie sie denn z.B. ihren verehrten Hartmannden Philosophen Eduard von Hartmann, über dessen philosophischen Pessimismus in der Nachfolge Arthur Schopenhauers Olga Plümacher ihr erstes Buch geschrieben hatte. angesprochen habe? Oder haben sich alle ihre überschwänglichen Ausdrücke in der Theorie in das in die Praxis übersetzte Rückenkissen concentrirt u somit dem Empfänger einen stichhaltigern Eindruck hinterlassen? Fast wäre es anzunehmen; aber zu solchem Unternehmen schwinge ich mich vorderhand noch nicht auf. Frau Plümachers BuchOlga Plümachers philosophische Abhandlung „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“, die noch im Juni bei Georg Weiss in Heidelberg erschien [vgl. Olga Pümacher an Wedekind, 23.6.1884]. ist nun fertig gedruckt u nur noch beim Buchbinder, dann kriegst Du u Tante ein Exemplar u ich habe von der Verfasserin die schriftliche Erlaubniß in Tantes Brief, dasselbe von ihr zu entlehnen zum Lesen; ich freue mich sehr darauf wie ein Kind vor der BescheerungSchreibversehen, statt: Bescherung. welches nicht weiß was es bekommt u doch überzeugt ist es müsse etwas Gutes sein was man ihm schenkt.

Aber nun habe ich über alle Maaßen Dir vorgeplaudert. Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.5.1884. las uns Tante im Hof vor als am Sonntag abend die Wäsche kam. Mit der Rücksendung der saubern Wäsche schicke ich Dir nun endlich meinen langes Schreiben u hoffe zuversichtlich Du werdest mich bald, recht bald mit einem ebenso großen Brief belohnen oder beglücken.

Mit herzlichem Gruß Deine Minna.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 12 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Kariertes Papier. 1 Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Rautiertes Papier. 2 Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Alles gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Minna von Greyerz hat die hinteren Briefbögen mit arabischen Zahlen („2“, „3“) durchnummeriert (hier nicht wiedergegeben). Im Brieftext befinden sich Bleistift-Unterstreichungen von unbekannter Hand. Das sind auf Seite 1 die Passage „als ich mich als Hauptschuldnerin“, Seite 2 „Um Deiner Bemerkung über’s Brief“ und „Eitelkeit“, Seite 4 „das Weitere ruht noch im Dunklen Zeitenschoos“, Seite 5 „zum Torturfragen“, Seite 6 „eitle Selbstbespiegelung“ und „à la Heine, Mozart, Göthe in Dir;“ Seite 8 „ja selbst so gewollt.“, „ohne Zweck kann kein denkendes“ und Kirchgänger geworden“, Seite 9 „Langem tagtäglich vergebens einen Brief.“ sowie Seite 12 das Wort „Rückenkissen“ mehrfach unterstrichen (alle hier nicht wiedergegeben).

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Lenzburg
    2. Juni 1884 - 5. Juni 1884
    Sicher - Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lausanne
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
375-380
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 56
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Minna von Greyerz an Frank Wedekind, 2.6.1884 - 5.6.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (08.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

01.04.2024 01:38