Kennung: 1947

Dresden, 17. Dezember 1899 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Hardekopf, Ferdinand

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Dresden 17.12.99


Sehr geehrter Herr,

Ich goutiere Ihre Werke ‒ und besonders „Frühlings Erwachen“, den „Erdgeist“ und vieles aus der „Fürstin Russalka“ ‒ als allerfeinste litterarische Delikatessen und habe die Absicht, in einer Zeitschriftnicht ermittelt. Ob Hardekopf das Vorhaben, einen Artikel über Wedekind zu schreiben, seinerzeit realisierte, ist unklar. Beiträge von ihm über Wedekind in Zeitschriften sind erst seit 1902 nachgewiesen. einiges Zusammenhängende über Sie zu schreiben. Möchten Sie, bitte, die Güte haben und mir dazu ein wenig biographisches Material liefern? Und, bitte, auch die Chronologie Ihrer Bücher. Dürfte ich einiges über Paris und Ihre Schauspieler-Carrière erfahren? Sind Sie mit Hieronymus JobsPseudonym Wedekinds bei seinen politischen „Simplicissimus“-Gedichten. und Dr. OwlglassPseudonym des „Simplicissimus“-Redakteurs und Lyrikers Hans Erich Blaich; ‚owlglass‘ (engl.) = Eulenspiegel. im „Simplicissimus“ identisch?. ‒ Ich denke mir: es ist mehr und Besseres über Sie zu sagen, als neulich Arthur Moeller-Bruck in der „Gesellschaft“Arthur Moeller van den Bruck hat bereits 1895 und 1896 in der Münchner Zeitschrift „Die Gesellschaft“ Beiträge über Wedekind publiziert; zuletzt hat er dort „Frühlings Erwachen“, „Erdgeist“ und den Band „Die Fürstin Russalka“ besprochen [vgl. Arthur Moeller-Bruck: Frank Wedekind. In: Die Gesellschaft, Jg. 15 (1899), Bd. II, Heft 4 (2. Maiheft), S. 244-252]. | und jetzt die Berliner KritikDie Uraufführung des Stücks „Der Kammersänger“ am 10.12.1899 im Rahmen der Eröffnungsmatinee der Sezessionsbühne am Neuen Theater in Berlin ‒ sie fand statt, während Wedekind in der Festung Königsstein inhaftiert war ‒ erfuhr mit Einschränkungen „bei Publikum und Kritik positive Resonanz.“ [KSA 4, S. 392; vgl. KSA 4, S. 395-397] über den „Kammersänger“ gesagt hat.

Ist es Ihnen eine Freude, zu hören, daß man sich auf Studentenbuden in Berlin N. bei Whisky und Cigaretten Gedichte aus der „Fürstin Russalka“ vorliest, dass man diese erlesenen Leckerbissen mit Gourmand-MienenFeinschmecker-Mienen ‒ nach ‚gourmand‘ (frz.) = Feinschmecker, Leckermaul, Naschkatze; mit weniger gieriger Komponente ‚gourmet‘ (frz.) = Feinschmecker. schlürft, sie diskutiert und ‒ componiert, daß man sich Ihre Bücher gekauft hat und Sie ‒ pardon! ‒ sogar ein bischen lieb hat? ‒

Ich habe Sie in der Leipziger „Litterarischen Gesellschaft“ einen Prolog zum „Erdgeistsprechen hörenWedekind hat den Prolog zum „Erdgeist“ (Uraufführung des Dramas war am 25.2.1898) erstmals bei der 8. Vorstellung von Carl Heines „Erdgeist“-Inszenierung des Ibsen-Theaters durch die Literarische Gesellschaft am 24.6.1898 in Leipzig gesprochen ‒ ihr „geht ein vom Dichter verfaßter und gesprochener Prolog voraus.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 314, 24.6.1898, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4804] Der Prolog wurde in der 9. Vorstellung am 27.6.1898 ‒ „Dem Stücke geht auch diesmal der originelle vom Dichter verfaßte und gesprochene Prolog voraus“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 319, 27.6.1898, Morgen-Ausgabe, Beilage, S. 4892] ‒ und in der 10. Vorstellung am 29.6.1998 wiederholt: „Eingeleitet wird das Stück wieder durch den Prolog des Dichters.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 323, 29.6.1898, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4935] Ferdinand Hardekopf hat da noch in Leipzig studiert.. Damals gab Waldemar den Dr. Schön, Fräulein Taliansky die Lulu. ‒ Ich habe in den Berliner FeuilletonsHardekopf hat in der „linksliberal“ [Echte 2015, S. 170] eingestellten „Eisenacher Tagespost“ jeweils „Berliner Brief“ überschriebene Feuilletons über die Kultur in der Reichshauptstadt Berlin veröffentlicht, insgesamt 29 Beiträge (den ersten am 23.4.1899, den letzten am 25.12.1902), von denen 24 Beiträge nachgedruckt vorliegen [vgl. Echte 2015, S. 173]., die ich für ein Eisenacher Blatt schreiben darf, ein paar Bemerkungen über | SieIn Hardekopfs am 7.5.1899 veröffentlichtem „Berliner Brief“ heißt es: „Und es ist vor allem ein Dichter, dessen bizarres und dekadentes Talent zur Variétékunst in ihrer feinsten Blüthe geradezu geschaffen scheint: Frank Wedekind. Diesem merkwürdigen Litteraten, Schauspieler und Weltmann ist die ganze Welt und die halbe Welt ein einziges Variété, ein zugleich blendendes und langweilendes, trauriges und lächerliches Durcheinanderwirbeln menschlicher Artisten und Specialitäten, mögen es nun Journalisten, Theaterdirektoren, Kammersänger, Tänzerinnen oder russische Gräfinnen sein.“ [Echte 2015, S. 16] Wedekind ist dann noch als Figur in Otto Julius Bierbaums Roman „Stilpe“ (1897) im Zusammenhang mit der dort geschilderten Varieté-Gründung erwähnt: „der ‚Zungenschnalzer‘ Wedekind ist der Einzige, der brauchbare Beiträge liefert“ [Echte 2015, S. 17]. Im „Berliner Brief“ vom 23.7.1899 ist im Zusammenhang mit Zensurmaßnahmen von ihm die Rede: „Herr Frank Wedekind, sitzt zu Leipzig in Untersuchungshaft!“ [Echte 2015, S. 32] Im „Berliner Brief“ vom 28.11.1899 ist wiederum „der geistreich-tolle Tingeltangel- und Circusdichter Frank Wedekind“ genannt, außerdem der Dramatiker: „Schon hört man, daß man seinen ‚Kammersänger‘ aufführen will. Warum nicht lieber [...] die Variété-Tragikomödie ‚Der Erdgeist‘, dies capriciöse Werk, in dem die tiefsten Fragen der Menschheit zwischen Revolverknallen und Barrisonmusik erörtert werden?“ [Echte 2015, S. 46] gemacht, soweit die heilige Rücksicht auf ein wohlerzogenes Provinzpublikum mir das erlaubte. Diese Artikel übersende ich IhnenHardekopfs beigelegte Feuilletons aus der „Eisenacher Tagespost“ sind verschollen. Bis zum Schreibdatum des vorliegenden Briefs lagen den „Berliner Brief“ enthaltende Ausgaben vom 23.4.1899, 7.5.1899, 11.6.1899, 11.7.1899, 23.7.1899, 13.8.1899 (ein Feuilleton „zur Finkenschaft der Berliner Studenten und ihren Plan eines Musenalmanachs“ [Echte 2015, S. 173]; nicht bei Echte 2015 nachgedruckt), 19.9.1899 und 28.11.1899 vor. Hardekopf dürfte Wedekind den am 7.5.1899, 23.7.1899 und 28.11.1899 erschienenen „Berliner Brief“ übersandt haben, da Wedekind in diesen Beiträgen namentlich erwähnt ist, vielleicht auch den am 13.8.1899 veröffentlichten „Berliner Brief“. gleichzeitig mit diesen Zeilen.

Sie würden mich, wenn Sie meine Bitte gütigst erfüllen wollten, zu herzlichem Dank verpflichten.

Mit vorzüglicher Hochachtung
ergebenst
Ferd. Hardekopf
Journalist


z. Zt. Dresden-A.
Amalienstr. 2 IVDer Schankwirt Otto Scharfe hat im 4. Stock der Amalienstraße 2 in der Dresdner Altstadt Zimmer vermietet [vgl. Adreßbuch für Dresden 1899, Teil II, S. 14]..


vom 20. Dezember an:

Berlin-Charlottenburg,
Bleibtreustr. 1 IVIm 4. Stock der Bleibtreustraße 1 in Charlottenburg wohnte neuerdings der Kaufmann Emil Hardekopf [vgl. Adreßbuch für Berlin 1900, Teil I, S. 525]; das ist vermutlich Ferdinand Hardekopfs Vater..

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Dresden
    17. Dezember 1899 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    Dresden
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Festung Königstein
    Datum unbekannt

Erstdruck

Werke. Kritische Studienausgabe. Band 5/III. Kommentar zu den Vermischten Schriften

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon unter Mitarbeit von Felix Berthold
Verlag:
Darmstadt: Häusser.media
Jahrgang:
2013
Seitenangabe:
77
Kommentar:
Abgedruckt ist mit der Anrede der reine Mitteilungstext des Briefes ohne Ort, Datum, Grußformel, Unterschrift und Angaben zu den Adressen.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Historisches Museum Schloss Lenzburg

CH-5600 Lenzburg
Schweiz
Schloss Lenzburg

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
D 472
Standort:
Historisches Museum Schloss Lenzburg (Lenzburg)

Danksagung

Wir danken dem Historischen Museum Schloss Lenzburg für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Ferdinand Hardekopf an Frank Wedekind, 17.12.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

22.07.2021 14:03