Sehr geehrter Herr
Kraus!
Indem ich Ihnen für den Fall HervayDer Aufsatz von Karl Kraus „über die Aufsehen erregende Affäre um den Selbstmord des Beamten Franz von Hervay, den die österreichische Presse seiner Frau Leontine anlastete“ [Nottscheid 2008, S. 134], erschien zuerst in der „Fackel“ [vgl. Der Fall Hervay. In: Die Fackel, Jg. 6, Nr. 165, 8.7.1904, S. 2-12] und dann als Broschüre, in der „Fackel“ zuerst angezeigt: „Soeben als Broschüre erschienen: Der Fall Hervay (34 Seiten stark)“ [Die Fackel, Jg. 6, Nr. 171, 17.12.1904, S. 24]. Karl Kraus hat an einer Stelle seines Aufsatzes eine berühmte Tragödie Wedekinds „als literarische Folie des Geschehens“ [Nottscheid 2008, S. 134] benutzt: „Frank Wedekind’s ‚Erdgeist‘, die Komödie von der pathetischen Mißdeutung des Geschlechtslebens, die Tragödie der Frauenanmut [...]. Aber einer von Lulu’s Hampelmännern, der Maler Schwarz, tötet sich, weil sein geliebtes Weib nicht, wie er glaubte, von vornehmer Abkunft ist, sondern ‚aus der Gosse‘ stammt, und weil sie nicht, wie er glaubte, bei einer Tante aufgewachsen ist, sondern im Alhambra-Café barfuß Blumen verkauft hat. ‚An dem Glück, daß du gekostet, kann nichts etwas ändern. Du überschätzest dich gegen besseres Wissen, wenn du dir einredest, zu verlieren. Es gilt zu gewinnen.‘ Nützt nichts: der ‚Idealist‘ geht an dem innern Konflikt, nicht mehr lieben zu können, was er liebt, zugrunde. Es genügt das Wissen um die Vergangenheit, die Aufklärung eines Freundes wirft ihn um. Und ich glaube auch nicht, daß Franz v. Hervay an dem äußern Skandal gestorben ist.“ [Die Fackel, Jg. 6, Nr. 165, 8.7.1904, S. 11] den ich mit großem Genuß auf der Fahrt nach StraßburgWedekind notierte am 16.12.1904: „Fahrt nach Straßburg.“ [Tb] Er war zu einem Gastspiel im Stadttheater in Straßburg (Direktion: Maximilian Wilhelmi) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 570] gereist, um dort am 19.12.1904 in einer vom Verein zur Pflege der modernen dramatischen Kunst veranstalteten Vorstellung seines Einakters „Der Kammersänger“ die Titelrolle zu spielen [vgl. Seehaus 1973, S. 185]. „Rückfahrt nach München“ [Tb] war am 21.12.1904. gelesen habe, meinen ergebensten DankHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Karl Kraus an Wedekind, 17.12.1904. – Karl Kraus hat Wedekind seinen Aufsatz „Der Fall Hervay“ geschickt, der als Broschüre zuerst am 17.12.1904 angezeigt war (siehe oben). „Wedekind erhielt vermutlich den broschierten Sonderdruck“ [Nottscheid 2008, S. 134]. sage, übersende ich Ihnenfehlt im Erstdruck. inliegend ein GedichtDie Beilage, das Gedicht „Confession“ [KSA 1/I, S. 531-532], das dann in der „Fackel“ veröffentlicht wurde [vgl. Frank Wedekind: Confession. In: Die Fackel, Jg. 6, Nr. 172, 31.12.1904, S. 21-22], galt lange als verschollen, ist aber wieder aufgefunden worden; das mit Tinte geschriebene Manuskript in Kurrentschrift (außer dem Titel, der Verfasserangabe und der Zueignung an Gertrud Eysoldt in lateinischer Schrift) umfasst 4 offenbar paginierte Seiten [Antiquariat Burgverlag (Wien), Katalog zur 50. Stuttgarter Antiquariatsmesse (2011), Nr. 132; vgl. Pfäfflin 2011, S. 31], von denen die erste Seite als Faksimile gedruckt vorliegt [vgl. Pfäfflin 2011, S. 32].. In Straßburg hatte ich GelegenheitWedekind traf Gertrud Eysoldt, die zu einem Gastspiel in Hugo von Hofmannsthals „Elektra“ am Stadttheater in Straßburg war [vgl. Seehaus 1973, S. 185], während seines Aufenthalts in Straßburg dem Tagebuch zufolge am 18.12.1904 („Probe. Gertrud Eysoldt kommt an. [...] Hole mit Korge Gertrud ab. Thee bei Jerschke Abends Germania. Stadler rezitiert seine Gedichte“) und 19.12.1904 („Probe. Gang durch die Alte Stadt. [...] Hole Gertrud von der Probe ab und diniere mit ihr. Abendspaziergang durchs Metzgerthor über die Wälle aufs freie Feld. Vorstellung“)., die Verse Gertrud Eysoldt vorzusprechen undim Erstdruck: vorzusprechen, und. fragte sie als ich zu Ende war, gewisser|maßen nur des Experimentes wegen, ob sie mir erlauben würde, ihr die Zeilen zu widmen Sieim Erstdruck: widmen. Sie. sagte ohne Besinnen Ja und begriff nicht daß ich darin das Zeichen großer Kühnheit erblickte. Ich sagte ihr auch daß das Gedicht voraussichtlich in Ihrer Fackel erscheinen würde und daß ich die Widmung in der Form anbringen würde, wie es in dem Manuscriptim Erstdruck: Manuskript. geschehn ist. Dann sagte ich ihr noch daß ich Sie, lieber Herr Kraus, in dem Begleitbrief bitten würde, sich durch eine Anfrage bei Gertrud Eysoldt vergewissern zu wollen, daß sich die Dinge | in der Thatim Erstdruck: Tat. so verhalten, wie ich sie Ihnen hier vortrage. –
Wenn Ihnen nun, Herr Kraus, das Gedicht aus ästätischenim Erstdruck: ästhetischen. oder kriminellen Gründen unmöglich erscheint, dann werfen Sie es bitte in den Papierkorb.
Sollte das nicht der Fall sein und sollten Sie aber in der Widmung annähernd etwas erblicken wasim Erstdruck: erblicken, was. wie Beleidigung oder grober Unfug aussehen könnte, dann würde ich Sie bitten die Widmung wegzustreichen.
Sollte aber weder das eine noch das andere der Fall sein, | dann würde ich Sie ersuchen, sich mit der erwähnten Anfrage an Gertrud Eysoldt wenden zu wollen.
Mit herzlichstenim Erstdruck: herzlichen. Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.
24.XII.04.
[Beilage, erste Seite des vierseitigen
Manuskripts nach Faksimile:]
1
Confessionvon Karl Kraus mit Bleistift mit einem Punkt versehen (nach Erhalt des vorliegenden Briefes am 25.12.1904) – so dann die Fassung im Erstdruck: „Confession.“ [Die Fackel, Jg. 6, Nr. 172, 31.12.1904, S. 21]
von Frank Wedekindvon Karl Kraus mit Bleistift korrigiert: „von“ in Großschreibung („v“ durch „V“ überschrieben), nach dem Verfassernamen einen Punkt gesetzt (nach Erhalt des vorliegenden Briefes am 25.12.1904) – so dann die Fassung im Erstdruck: „Von Frank Wedekind.“ [Die Fackel, Jg. 6, Nr. 172, 31.12.1904, S. 21]
An Gertrud
Eysoldt.von Karl Kraus mit Bleistift durchgestrichen (nach Erhalt des vorliegenden Briefes am 25.12.1904) – ohne die Widmung dann im Erstdruck.
Freudig schwör ich es mit freier Stirne
Vor der Allmacht, die mich züchtigen kann:
Wie viel lieber wär ich eine Dirne
Als an Ruhm und Glück der reichste Mann.Karl Kraus hat mit Bleistift den Punkt in ein Ausrufungszeichen korrigiert (nach Erhalt des vorliegenden Briefes am 25.12.1904) – so dann die Fassung im Erstdruck: „Mann!“ [Die Fackel, Jg. 6, Nr. 172, 31.12.1904, S. 21]
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Welt, in mir ging dir ein Weib verloren,
Abgeklärt und jeder Hemmung bar.
Wer war für das Freudenhausvon Karl Kraus mit Tinte korrigiert: „das“ („as“ gestrichen, darüber durch „en“ ersetzt) zu „den“, „Freudenhaus“ („haus“ gestrichen, darüber durch „markt“ ersetzt) zu „Freudenmarkt“ (nach Erhalt von Wedekinds telegrafisch übermitteltem Korrekturwunsch „den Liebesmarkt“ [Wedekind an Karl Kraus, 25.12.1904] sowie beibehalten nach Erhalt von Wedekinds erneutem und nun brieflich übermitteltem Korrekturwunsch „das Freudenfest“ [Wedekind an Karl Kraus, 26.12.1904], den Karl Kraus nicht ausführte) – so dann die Fassung im Erstdruck: „den Freudenmarkt“ [Die Fackel, Jg. 6, Nr. 172, 31.12.1904, S. 21]. geboren
So wie ich dafür geboren war?
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