Kennung: 18

Lenzburg, 8. Mai 1884 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Greyerz, Minna von

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Schloß Lenzburg im wunderschönen

Monat Mai 1884.


Lieber Babyfamiliärer Kosename Wedekinds.!

Gegen alle Verabredung kriegst Du nun doch den ersten Brief von mir – warum, kannst Du Dir wol denken. Jedenfalls müßte ich allzulange warten bis ich dann endlich Dein und noch ein andres Bild bekäme. Sobald Du nämlich fort warstWedekind hatte am 1.5.1884 Lenzburg verlassen, um an der Académie de Lausanne 1 Semester neuere Sprachen zu studieren., fiel mir das Unpassende meines Benehmens ein und machte ich mir harte Vorwürfe, daß ich Dir in einem meiner unüberlegten Augenblicke (von denen ich nur zu oft leider heimgesucht bin,) das liebe, hübsche Bild eingehändigt habe. Ich kann Dir gar nicht sagen, in welcher Unruhe ich seither bin u denke ich, wirst Du feinfühlend genug sein um einzusehen weßhalb u mich aus diesen Qualen erlösen u mir die „bewußte“ Photographiedas Porträtfoto von Fanny Amsler-Laué, einer Freundin Minna von Greyerz’ und Cousine von Wedekinds ehemaligem Schulfreund Walther Laué , die 1882 den Arzt Gerold Amsler geheiratet hatte. umgehend schicken. Glücklicher Weise hast Du die Affäre Deiner lieben Mama erzählt u als ich nun heut an ihrem GeburtstagAm 8.5.1884 wurde Emilie Wedekind 44 Jahre alt. zu ihr heraufkomme, theilte ich es meiner TanteEmilie Wedekind; die Familien waren entfernt verwandt miteinander. ebenfalls mit; bekam dafür einen kl. wohlverdienten Verweis u beschloß Dir sofort darum zu schreiben; denn trotz Deinem Versprechen die Unvorsichtigkeit Deiner unbedachten Cousine n/N/iemandem zu offenbaren, liegt doch die Versuchung zu nahe, das Bild doch Jemandem zu zeigen, sei’s auch nur WillyFrank Wedekinds jüngerer Bruder William, der in Lausanne bei dem Kaufmann Emile Ruffieux eine Ausbildung machte.. Wenn Du’s | aber gethan hast, so bitte ihn, es für sich geheim zu halten, d. h. zu schweigen, nicht nur wegen mir, hauptsächlich wegen der Betreffenden. „Und bist Du nicht willigzum geflügelten Wort gewordener Vers („Und bist Du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“) aus Goethes Ballade „Der Erlkönig“ (1782) [Goethes Werke (WA), Bd. 1, S. 168]., dann brauch’ ich Gewalt“! Tante wird mir beistehen und ich würde – – – doch nein, ich will Dir nicht drohen, so boshaft, hartnäckig, so unlieb wirst Du nicht sein! –

Ob Du wol bis hier her ordentlich, aufmerksam gelesen hast? Der Gedanke ist mir nämlich sehr unangenehm: meine Episteln könnten Dir zu langweilig sein, u Du sie daher Andern zum Fertig-Lesen geben, denn „der ,Kater‘Wedekinds Biername und Pseudonym in seinen frühen Gedichten. ist zu allem fähig“. Nichts destoweniger schreibe ich Dir wie’s mir eben in die Feder fließt, denn geplante Schreibweise ist nicht meine Sache. Stelle Dir vor, am Tage Deiner Abreise 1. Mai, schrieb ichMinna von Greyerz’ Brief an Olga Plümacher vom 1.5.1884 ist nicht überliefert. Nachmittags an „unsre große Plümacher“, das ist wol eine große Unbescheidenheit, ich gebe es zu; allein mich trieb die Lust ausnahmsweise ein Mal an einen großen Geist zu schreiben u das kann sie mir doch nicht übel nehmen und über diesen, meinen Geschmack wirst Du Dich nicht ärgern wollen, obwohl ich ich im Febr. od. März auf Deine Worte hin, meinen angefangnen Brief an sieeine begonnene Antwort auf Olga Plümachers Brief an Minna von Greyerz vom 20.1.1884, den die Philosophin einem Brief an Wedekind beigelegt hatte [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 20.1.1884] – die Korrespondenz zwischen Minna von Greyerz und Olga Plümacher ist nicht überliefert. wieder vernichtete.

Sonst thut weiter nix passiren u wenn ich Dir somit nicht von Familientag, Wäsche, Kränzchen, Briefen AnnyMinna von Greyerz’ Freiburger Freundin Anny Barck, in die sich Wedekind während ihres Besuchs im Sommer 1883 verliebt hatte.’s | u BlancheBlanche Zweifel, seit 1882 verheiratet mit dem Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel, in die sich Wedekind am Tanzabend der Familie Hünerwadel in Lenzburg (25.11.1883) verliebte und an die er mehrere Gedichte richtete.’s Liebenswürdigkeit erzählen will, könnte ich das reinste Idyll schreiben d. h. ungefähr á la Plaudereieninsbesondere seit den 1860er Jahren beliebter Bestandteil von Büchertiteln zu Themen aller Art, so auch von Wilhelm Deecke „Plaudereien über Schule und Haus“ (Strassburg 1884). am Arbeitstisch; denn ich sitze hier so still u abgeschieden im Wohnzimmer am runden Tisch; Hr. Dr.Frank Wedekinds Vater Friedrich Wilhelm Wedekind, Arzt im Ruhestand. ist fort, die Kinderdie 3 jüngeren Geschwister Erika (Mieze), Donald und Emilie (Mati) Wedekind. in der Schule u die Tante in der Halle, wo sie zur Feier ihres Wiegenfestes mit der EichenbergernZugeh- und Waschfrau der Familie Wedekind. Frank Wedekind hat sie im Gedicht „Hänseken“, das er seiner kleinen Schwester Emilie (Mati) zu Weihnachten 1879 schenkte, verewigt [vgl. KSA 1/II, S. 1239]. Gleich in der ersten Strophe heißt es über Hänseken: „Der Kleine treibt Allotria / Und schwatzt zu Mammas großem Ärger / Viel mehr noch als Frau Eichenberger“ [KSA 1/I, S. 38]. bügelt. Durch’s offne Fenster lacht der klarblaue Himmel, ziehen die süßen Frühlingsdüfte, klingt der Vögel liebliche Sang, das alte, urewige, immerwiederkehrende Wunder des herrlichen Mai’s dringt in mein Herz u stimmt mich ganz träumerisch. Doch das Alles kann Dich wenig interessiren, wenn Du’s nicht stimmungsvoll nachempfindest.

Richtig da fällt mir ein Thema unsres letzten Kranzabendsauch: Kränzchen; Gesellschaft befreundeter Frauen, die sich reihum an einem Tag der Woche zum Gespräch trifft; – als Kranzabend (Kränzelabend) wird auch der „Abend vor der Hochzeit“ bezeichnet, „wo der Brautkranz gewunden wird“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. 1, Sp. 37]. ein, das Dich vielleicht nachträglich amüsirt. Wir hatten nämlich bei Fr. Bethi HünerwadelMargarethe Elisabeth Hünerwadel, geb. Ringier (Cousine von Walter Oschwald), seit 1882 verheiratet mit dem Bezirksamtmann Markus Werner Hünerwadel. ausgezeichneten Maitrank, der löste denn die Kehle, man sprach gar manches liebe Wort u wurde unter A/a/nderm ein gewiß/ss/es Ständchennicht ermittelt. verhandelt. Es ging aber nicht von mir aus, sondern Lisnordische Kurzform für Elisabeth; –Elisabeth (Lis, Else) Saxer, älteste Tochter des Oberst Adolf Saxer von Niederlenz, die später Karl Roth, den Mitinhaber der Lenzburger Konservenfirma Hero – Gustav Henckel (He) und Karl Roth (ro) – heiratete. Saxer u Blanche besprachen es hauptsächlich. Da wurde das Liebesfeuer JulesJules Gaudard, der jüngere Bruder von Blanche Zweifel und Schüler der Kantonsschule Aarau. Seit Anfang Mai besuchte er dort die Abschlussklasse des Gymnasiums. geschildert, die Versenicht ermittelt. eines jungen Lenzburger-Dichter’swohl Wedekind selbst. gerühmt, die gelungenen Anstalten dieses Quartett’s an’s Licht gezogen u was der Hauptpunkt unsres Gaudium(lat.) Spaß.s war: Der es gegolten „die schöne MariaMaria Saxer, jüngste Tochter von Adolf Saxer, die später in die Familie Wildi einheiratete.“ war nicht | zu HausDie Familie bewohnte seit 1877 die Robert Hünerwadel-Villa (das Hauptgebäude der späteren Gartenbauschule) in der Lenzburgerstraße in Niederlenz. gewesen u nur Herr SaxerOberst Adolf Saxer, der von 1870–1890 die große Baumwollspinnerei Hünerwadel u Cie. als Anteilseigner leitete. mit seiner ältesten TochterDas war Lis Saxer. waren die aufmerksamen Zuhörer, wenigstens hat Lis den poetischen Nimbus, der es umgab, ganz richtig verstanden. –

So nun habe ich Dir H mehr denn die Hauptsache gesagt u ich hoffe Du wirst nun meinem dringenden Wunsch entsprechen u mir sofort das besprochene Bild ohne weitere Umstände schicken, darnach auch Dein eignes ConterfeiWedekind hatte sich vor seiner Abreise nach Lausanne im Fotoatelier Fr. Gysi in Aarau ablichten lassen und 2 Probeabdrucke zur Auswahl erhalten [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1884; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. Möglicherweise handelt es sich um das bei Kutscher abgebildete Porträtfoto [(Kutscher 1, S. 6) vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 31]., ferner die Einlage für mein AlbumMinna von Greyerz mahnte auch im Juni und Juli erfolglos das Gedicht für ihr „Allerlei-Album“ an [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.6.1884; 9.7.1884].denn Deine Schwüre binden DichSchlussvers aus Wedekinds Gedicht „Ghasel“ [KSA 1/I, S. 71; Kommentar KSA 1/II, S. 1626-1628].“ hast Du selbst einmal gesagt u Schwur u Versprechen ist gleichbedeutend, gleich heilig zu halten. Soeben ist’s Kaffeezeit u BerthaKüchen- und Stubenmädchen auf Schloss Lenzburg. meldet mir die Vesperstunde.

Mit bestem Gruß verbleibe ich Deine unruhige
Cousine SturmwindMinna von Greyerz’ Pseudonym im Freundschaftsbund „Fidelitas“, dem Frank (Zephyr) und Armin Wedekind (Boreas) sowie Anny Barck (Glanzpunkt) und Mary Gaudard (Nordpol) angehörten..

           

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 18 x 22,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 4 beendet Minna von Greyerz den Brieftext mit einem Finis-Zeichen hier als Unterstreichung der Unterschrift ‚Sturmwind“ wiedergegeben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der Tag des Schreibdatums, von dem Monat („Mai“) und Jahr („1884“) gegeben sind, ist durch inhaltliche Implikate – Emilie Wedekinds Geburtstag (8.5.) – sicher ermittelt.

  • Schreibort

    Lenzburg
    8. Mai 1884 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lausanne
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
370-371
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 56
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Minna von Greyerz an Frank Wedekind, 8.5.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (08.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

29.04.2024 13:12