Kennung: 1734

Berlin, 7. Oktober 1904 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Eysoldt, Gertrud

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

7. Oct. 1904.

Unter den Linden 43.IV.


Frank Wedekind. – Seid gegrüsst! – Die Hunde erfreuen mich alle sehr. Es wird ein ganzer Hofstaat sammt Herrinnen. Den Fifi habe ich persönlich gekannt. Der RusseRussischer Schwarzer Terrier, eine russische Hunderasse. ist aber der Vornehmste – ein echt altadeliger Cavalier mit einer „Princessin“! | Nun warte ich noch auf den PudelHunderasse. – den Bulldogbritische Hunderasse. – den SpanielOberbegriff für einige Jagdhundrassen, darunter der genannte King Charles Spaniel.King CharlesCavalier King Charles Spaniel, eine britische Hunderasse. – –?

Wann bekomme ich einmal einen Brief?! Ich brauche einen. Ich muss zu Haus bleiben für Tage – bin erkältet – darf nicht spielen. – Die Wohnung ist noch in UnordnungGertrud Eysoldt ist in Berlin umgezogen – von Halensee, Bornimerstraße 10 (2. Stock) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1904, Teil I, S. 384] nach SW 7, Unter den Linden (4. Stock) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1905, Teil I, S. 429] ‒ und war gerade beim Einrichten der neuen Wohnung. – Tapezierer und Glaser hausen | da. Die Zimmer stehen mit einsamen Möbeln und Kisten da. Eigentlich gefällt mir das. Ich gehe gern durch die leeren Zimmer – man ist nicht mehr gesellschaftlich rangiert darin.

Gestern kam mein erster Besuch. Eine reizende junge Fraunicht identifiziert.. Eine von denen, die man flüchtig kennen gelernt hat – mit | denen man ein Lächeln tauscht, wenn man sie sieht – die auftauchen im Gewühl der Strassen plötzlich und denen man dann jedesmal nachschaut – ein Weilchen sich in’s Sinnen verliert und die man immer wieder vergisst. Sie kam zum ersten Mal zu mir – brachte ein Anliegen geschmackvoll vor – strahlte von Heiterkeit und | Eleganz und sass lange bei mir in einem der leeren Zimmer – auf einer Bücherkiste – von unten kam das Gesumm der Strasse herauf, der Laut der Pferdehufe auf dem Asphalt – die Lichter von den Häusern warfen flackernde Scheine in die vorhanglosen Fenster – und mir war so | wohl zu Mute – die kleine Frau war mir so lieb und so nah durch den Contrast des Milieus und ihrer Kleidung – sie war ganz ihrem Kreis und dieser Mauer der Gesellschaft enthoben, ganz bei mir – ein Stück Lebensschmuck. So weihe ich mir gern die Räume ein – es muss da | eine goldene Stimmung durchfliegen.

Möbel sind eigentlich auch etwas so Dummes, Abhängiges, Verworrenes wie Kleidung. Wenn ich nicht Freunde hätte, die Ort und Stelle haben wollen – wo sie ausruhen und Theetrinken mögen nach ihrem Geschmack – ich zöge wahrhaftig lieber ohne Eigentum herum. – | Ich bin nicht abhängig von der Decoration – ich schöpfe gern selbst aus der Situation und in die Situation. Ist das wieder Irrsinn??

Traumulus ist banalGertrud Eysoldt hat inzwischen eine Vorstellung der tragischen Komödie „Traumulus“ von Arno Holz und Oskar Jerschke besucht, die mit Albert Bassermann in der Titelrolle am Lessingtheater (Direktion: Otto Brahm) in Berlin gespielt wurde. Wedekind hat die Uraufführung am 24.9.1904 gesehen, als er in Berlin war. Er hat sich an diesem Tag mit Gertrud Eysoldt getroffen, war aber ohne sie im Lessingtheater. Im Tagebuch hielt er am 24.9.1904 fest: „Ich diniere mit Gertrud Eisoldt im Kaiserkeller, fahre mit ihr durch den Thiergarten. Abends Traumulus von Arno Holz.“ Den Tag darauf traf er sie wieder und stand abends mit ihr auf der Bühne, als er im Neuen Theater den Prolog zum „Erdgeist“ sprach (sie spielte in der Tragödie die Lulu), wie er am 25.9.1904 notierte: „Stehe um 2 Uhr auf [...] diniere mit Gertrud Eysold im Kaiserkeller. Abends Prolog“ [Tb]. Seine Eindrücke von der Uraufführung des „Traumulus“ dürfte er ihr jedenfalls mitgeteilt haben, bevor er am 26.9.1904 aus Berlin abreiste: „Abschied im Neuen Theater. [...] Abfahrt nach München“ [Tb]. Nach der Uraufführung des „Traumulus“ bis zum Datum des vorliegenden Briefes fanden weitere Vorstellungen des Stücks am 27. und 29.9.1904, vom 1. bis 3.10.1904 sowie am 5. und 6.10.1904 statt. Da zugleich Wedekinds „Erdgeist“ mit Gertrud Eysoldt als Lulu im Neuen Theater mit Vorstellungen am 25. und 28.9.1904, am 2.10.1904 sowie am 4. und 5.10.1904 auf dem Spielplan stand, kann die Schauspielerin nur am 27. oder 29.9.1904, am 1. oder 3. oder 6.10.1904 eine Vorstellung des „Traumulus“ gesehen haben.. Ich hatte Sehnsucht nach Frühlings ErwachenWedekind dürfte mit Gertrud Eysoldt in Berlin über „Frühlings Erwachen“ gesprochen haben, über seine geplante Lesung des Stücks, die am 18.10.1904 in München stattfand (Tb: „Vortrag Frühlings Erwachen“). Vorbereitungen notierte Wedekind in München im Tagebuch am 11.10.1904 („Frühlings Erwachen studiert“), am 12.10.1904 („Frlgs Erwachen eingerichtet“), 13.10.1904 („Frühlings Erw. zum Vortrag eingerichtet“), 14.10.1904 („Frl. Erwachen eingerichtet“), 16.10.1904 („FrErw. memoriert“) und 17.10.1904 („FrErw. Memoriert“).. Du liebes geniales Bilderbuch Du!

Einen Gruss!
Gertrud Eysoldt.


[Kuvert:]


Frank Wedekind.
München.
Franz-Josefstrasse 42.II.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 16,5 x 21 cm. Gelocht. Kuvert. 17 x 10,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Das Kuvert ist mit 2 Briefmarken von jeweils 10 Pfennig frankiert. Auf der Rückseite des Kuverts befindet sich ein Siegel (in die graue Siegelmasse eingeprägt: „Verlange Viel das rät mein Stolz“). Wedekind hat auf der Rückseite des Kuverts mit Bleistift das Datum „8.10.4“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Uhrzeit im Postausgangsstempel Berlin 7.10.1904: „4 – 5 N“ (= 14 bis 15 Uhr). Uhrzeit im Posteingangsstempel München 8.10.1904: „Vor. 8 – 9“ (= 8 bis 9 Uhr).

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 42
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Gertrud Eysoldt an Frank Wedekind, 7.10.1904. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

09.01.2021 16:08