[1. Briefentwurf:]
Hochverehrter Meister!
Sehr geehrter Herr Professor!
Unser gemeinsamer Freund, Herr Artur Landsberger ermutigt mich,
Ihnen meine letzten drei Einakter vorzulegen. Da ich hier in der Sommerfrische
keine Exemplare davon bei mir habe, beauftragte ich meinen Verleger sofort, beauftrage
ich meinen V sie Ihnen zu schicken. Würden Sie | es mir nicht für als unbescheiden oder
unkünstlerisch halten anrechnen, wenn ich mir einige Bemerkungen dazu
erlaube, die ich dem Publicum vorenthalte. Die drei Einakter sind nichts
anderes als ein dreiaktiges Drama Schauspiel, das von dem ich in Zwischenräumen einen Akt nach dem
anderen veröffentlichte weil mich die deutsche Kritik | für künstlerisch tot
und völlig steril geworden ver erklärt hatte. Das Das Schauspiel
heißt: Schloß Wetterstein, eine Familientrilogie. Der erste Akt zuletzt erschienene Akt ist: In allen Sätteln
gerecht. Der zweite Akt ist: Mit allen Hunden gehetzt. Der dritte Akt, den ich
zuerst erscheinen ließ ist: In allen Wassern gewaschen.
Im ersten Akt erlaubte ich mir, mit größter
uneingeschränkter | Ehrerbietung an Ibsens Familiendramen anzuknüpfen. Denn
alles, was ich in den drei Akten zu sagen hatte, waren meine eigenen
persönlichen Erfahrungen über die von Ibsen behandelten Familienprobleme. Daß
mir alles Gegenständliche, alle Geschehnisse nur Vorwände waren unter denen ich
meine Überzeugungen aussprechen konnte, werden können
Sie, verehrter Herr Brandes, als reiner Künstler mir unmöglich verzeihen. Das
ist auch der Grund, weshalb ich Ihnen offen bekenne, was ich dem Publikum, der
Kritik oder dem Literaturdozenten gegenüber niemals zugeben eingestehen würde. Halten Sie es
bitte nicht für leere Redewendung, wenn ich gerade von Ihnen lieber zu meinem Nachtheil
richtig als zu meinem Vortheil unrichtig beurtheilt werden möchte. | Wenn Sie
mir das meine
Offenheit als Stolz
anrechnen, könnte ich nichts einwenden. Vielleicht überwiegt aber doch meine
Verehrung für Ihr Werk und der Dank, den ich Ihnen seit bald dreißig Jahren
entgegenbringe.
Unserem gemeinsamen Bekannten Willy Grétor danke ich es,
daß ist mir
doppelt lieb geworden, da
er uns zur meiner Ansicht nach zur schönsten und seit dem
Hauptmann von Köpenick zum schönsten und echtesten Berliner Kulturereignis
verholfen hat.
Darf ich Sie ersuchen, Frau Brandes meine ergebenste
Empfehlung auszusprechen. In der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehn mi
mit herzlichem Gruß
Ihr
FrW.
[2. Abgesandter Brief:]
Lenzburg,
Ct. Aargau,
Schweiz
27. August 1910.
Hochverehrter Meister!
Sehr geehrter Herr Professor!
Unser gemeinsamer FreundArtur Landsberger, über den Wedekind Georg Brandes am 14.3.1907 [vgl. Tb] persönlich kennengelernt hatte und der zuvor schon als gemeinsamer „Freund“ [vgl. Wedekind an Georg Brandes, 10.1.1909] bezeichnet wurde., Herr Artur Landsberger, ermutigt
mich, Ihnen meine drei letzten Einakter„In allen Sätteln gerecht. Komödie in einem Aufzug“, „Mit allen Hunden gehetzt. Schauspiel in einem Aufzug“ und „In allen Wassern gewaschen. Tragödie in einem Aufzug“, 1910 im Albert Langen Verlag erschienen [vgl. KSA 7/II, S. 690] und 1912 zu „Schloß Wetterstein. Schauspiel in drei Akten“ zusammengeführt [vgl. KSA 7/II, S. 692]. vorzulegen. Da ich hier in der
Sommerfrische keine Exemplare bei mir habe, beauftragte | ich meinen Verlegervgl. Wedekind an Georg Müller, 26.8.1910.,
sie Ihnen zu schicken. Würden Sie es mir nicht als unbescheiden oder
unkünstlerisch anrechnen, wenn ich mir einige Bemerkungen dazu erlaube, die ich
dem Publicum vorenthalte. Die drei Einakter sind nichts anderes als ein
dreiaktiges Schauspiel, von dem ich in Zwischenräumen einen Akt nach dem anderen
veröffentlichte, weil mich die deutsche Kritik für künstlerisch tot und völlig
steril | geworden erklärt hatte. Das Schauspiel heißt: „Schloß Wetterstein.
Eine Familientrilogie“. Der erste, zuletzt erschienene Akt ist: „In allen
Sätteln gerecht.“ Der zweite Akt ist: „Mit allen Hunden gehetzt“. Der dritte
Akt, den ich zuerst erscheinen ließ, ist: „In allen Wassern gewaschen.“
Im ersten Akt erlaubte ich mir, mit größter
uneingeschränkter Ehrerbietung an Ibsens Familiendramen anzuknüpfen. Denn
alles, was ich in den drei Akten zu sagen hatte, waren | meine eigenen
persönlichen Erfahrungen über die von Ibsen behandelten Familienprobleme. Daß
mir alles Gegenständliche, alle Geschehnisse nur Vorwände waren, unter denen
ich meine Überzeugungen aussprechen konnte, können Sie, verehrter Herr Brandes,
als Vorkämpfer einer lauteren Kunst, mir unmöglich verzeihen. Das ist auch der
Grund, weshalb ich Ihnen offen bekenne, was ich dem Publicum, der Kritik oder
dem Literaturlehrer gegenüber niemals einge|stehen würde. Halten Sie es bitte
nicht für leere Redewendung, wenn ich von Ihnen lieber zu meinem Nachtheil
richtig als zu meinem Vortheil unrichtig aufgefaßt werden möchte. Wenn Sie mir
meine Offenheit als Stolz anrechnen, könnte ich nichts einwenden. Vielleicht
überwiegt aber doch meine Verehrung für Ihr Werk und der Dank, den ich Ihnen
seit bald dreißig Jahren entgegen bringe.
Unser gemeinsamer BekannterWedekind erinnert Georg Brandes an Willy Gretor, ehemals dessen Mäzen [vgl. Wolff-Thomsen 2006, S. 111-113], mit dem Georg Brandes seinerzeit einen regen Austausch pflegte, wie sein 1891 bis 1901 mit ihm geführter Briefwechsel dokumentiert [vgl. Wolff-Thomsen 2006, S. 201-219]. Wedekind hat Willy Gretor 1894 in Paris kennengelernt (siehe seine Korrespondenz mit ihm) und dort als „Sekretär“ [Wedekind an Ferdinand Hardekopf, 28.4.1901] für ihn gearbeitet, wobei „sich weder der Umfang noch die Dauer seiner Tätigkeit für Gretor bestimmen“ lassen, aber anzunehmen ist, „daß Wedekind vollkommen selbständig arbeiten konnte – so daß die finanziellen Zuwendungen eher einer mäzenatischen Beziehung denn einem [...] geregelten Arbeitsverhältnis entsprachen.“ [Wolff-Thomsen 2006, S. 131] Theodor Wolff erinnerte sich später, Wedekind habe „in Paris zum Hofstaat eines merkwürdigen, abenteuerlichen Dänen, der Maler, Mäcen, schrankenloser Gelegenheitssucher, verführerisch geistvoller Lebemann und sonst noch vielerlei war“ [Martin 2017, S. 157], gehört – Willy Gretor. Willy Grétor ist mir doppelt
lieb | geworden, da er uns meiner Ansicht nach seit dem Hauptmann von Köpenickseit einer spektakulären Hochstaplergeschichte. Der Schuster Wilhelm Voigt hatte sich am Nachmittag des 16.10.1906 als Hauptmann verkleidet mit Hilfe einiger Soldaten, die ihn für einen Offizier hielten, Zugang in das Rathaus von Köpenick verschafft, es besetzt, den Bürgermeister verhaftet und die Gemeindekasse geplündert; es belustigte der „blinde Gehorsam“ und die Neigung, „vor jeder Offiziersuniform stramm zu stehen, gleichviel wer darin steckt“, eine Geschichte, „wie sie kein Witzblatt besser erfinden könnte.“ [Paul Block: Der Hauptmann von Köpenick. In: Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 529, 17.10.1906, Abend-Ausgabe, S. (1)]
zum schönsten und erfreulichsten Berliner Kulturereignisironische Anspielung auf eine der „spektakulärsten Erwerbungen der Berliner Museen“ im Kaiserreich, die „mit Gretors Namen [...] verbunden“ [Wolff-Thomsen 2006, S. 22] war, die Affäre um den 1909 getätigten Ankauf einer angeblich von Leonardo da Vinci gefertigten Flora-Büste aus englischem Besitz für das Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin durch den Kunsthistoriker und Generaldirektor der Berliner Museen Wilhelm von Bode (durch seinen Bevollmächtigten Hans Posse), bei dem Willy Gretor, sein Kunstagent [vgl. Wolff-Thomsen 2006, S. 140-183], zunächst als Dolmetscher vermittelte. „Dr. Posse hatte sich, da er die englische Sprache nicht fließend beherrscht, Herrn Willy Gretor als Dolmetscher mitgenommen.“ [Der Besuch in Southampton. Die „Flora“-Angelegenheit. In: Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 208, 26.4.1910, Morgen-Ausgabe, S. (2)] Willy Gretor, den Wedekind 1894 in Paris kennengelernt hatte (siehe oben) und der zum Vorbild wurde für die Hochstaplerfigur des Marquis von Keith [vgl. KSA 4, S. 478], galt allerdings als Mann im Hintergrund – „Herr Gretor, der aus dem Florahandel bekannte Beauftragte Bodes“ [Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 447, 3.9.1910, Abend-Ausgabe, S. (3)] – und als suspekt: „die Presse wird [...] die Rolle, die Herr Gretor in der Angelegenheit gespielt hat, gründlicher aufzudecken haben, als es manchen Leuten recht sein mag.“ [Das System Bode und die Florabüste. In: Unterhaltungsblatt des Vorwärts, Nr. 25, 4.2.1910, S. 98] Maximilian Harden fasste zusammen: „Die Mehrheit des Preußischen Abgeordnetenhauses hat den Ankauf und die Ausstellung der Florabüste gebilligt. Der Erwerber, Generaldirektor Bode, hatte sie für ein Meisterwerk Leonardos erklärt [...]. Der Minister hat behauptet, Herr Willy Gretor habe bei dem Ankauf der Büste nicht mitgewirkt. Nicht direkt: mag sein. [...] Und im Friedrich-Museum wird, mit Zustimmung des Kultusministers, eine englische Wachsbüste aus dem Jahr 1846 als ein Meisterwerk italienischer Hochrenaissance ausgestellt.“ [Bode-Posse. In: Die Zukunft, Jg. 18, Nr. 32, 7.5.1910, S. 178-183] Artur Kutscher meinte: „Wedekind zweifelte keinen Augenblick, daß die viel umstrittene Florabüste Lionardos von ihm sei.“ [Kutscher 1, S. 280] Erich Mühsam notierte am 25.8.1911: „Besonders wurde natürlich die Ungeheuerlichkeit des Diebstahls der Mona Lisa erörtert. Wedekind deutete an, daß er Willy Gretor in Verdacht habe, mit der Geschichte in Verbindung zu stehn. Auch mir war dieser Gedanke schon gekommen: In der Flora-Büsten-Angelegenheit war er der eigentliche Macher gewesen, – Harden hatte seine Beteiligung damals als Beweis für die Unechtheit angeführt.“ [Tb Mühsam] verholfen hat.
Darf ich Sie ersuchen, Frau Brandes meine ergebenste
Empfehlung auszurichten. In der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehn
mit herzlichen Grüßen
Ihr ergebener
Frank Wedekind.