FRANK
WEDEKIND.
Lieber Herr BaronDer Schriftsteller Ernst Freiherr von Wolzogen war kein Baron, wurde aber als solcher bezeichnet, nach Gründung seines Kabaretts dann als „Brettl-Baron“ [Dr. Hans Landsberg: Berliner Brief. In: Montagsblatt aus Böhmen, Jg. 23, Nr. 12, 25.3.1901, S. 3].,
zu meinem unendlichen Bedauern muß ich Ihren
geehrten Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Ernst von Wolzogen an Wedekind, 22.12.1900. gegenüber auf demselben Standpunkt beharren, den ich in meinem
letzten Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Ernst von Wolzogen, 28.12.1899. Wedekind stand Wolzogens Plan, in Berlin ein literarisches Varieté zu gründen, skeptisch gegenüber [vgl. Wedekind an Beate Heine, 28.12.1899; Frank Wedekind an die Mutter Emilie Wedekind, 28.12.1899]. einnahm: Ich kann mich für das KunstinstitutErnst von Wolzogens Buntes Theater (Überbrettl) in Berlin wurde am 18.1.1901 offiziell eröffnet und gilt als das erste deutsche Kabarett. Im Sommer 1900 hatte Wedekind in München zufällig Wolzogen getroffen, der sich mit ihm zu versöhnen und ihn im Gespräch für sein geplantes Varieté zu gewinnen suchte [vgl. Wedekind an Beate Heine, 20.7.1900], das ungeachtet bereits abgeschlossener Engagements finanziell noch ungesichert war [vgl. Wedekind an Beate Heine, 2.8.1900]., das Sie | zu
schaffen beabsichtigen in keiner Weise verpflichten, bevor dasselbenSchreibversehen, statt: dasselbe. gegründet
ist und thatsächlich besteht. Ich habe nicht das geringste dazu beizutragen, um
es in’s Leben zu rufen und möchte deshalb auch nach dieser Richtung hin
keinerlei Verantwortung auf mich nehmen.
Erlauben Sie mir noch folgendes zu bemerken: | Wenn
ich mich mit meinen bescheidenen Kräften vor Ihr Publicum wage, so hätte ich
vollauf genug damit zu thun, mein eigenes Auftreten zu rechtfertigen und es
bestehen für mich noch die allergrößten Zweifel, ob mir das gelingen würde. Zu
irgendwelchen weiteren Aufgaben könnte ich meine Productionsfähigkeit unter | keinen
Umständen verpflichten. Sie erwähnen in Ihren geehrten Zeilen die Ausarbeitung
einer Revue. Zu einer solchen Aufgabe habe ich aber nie die geringste
Befähigung gezeigt. Ich bin im Gegenteil überzeugt, daß es in Berlin Menschen
zu hunderten und tausenden giebt, die sich viel besser darauf verstehen als
ich. Außerdem | bin ich auch gar nicht dazu geeignet, in Gemeinschaft mit
jemand Anderem zu arbeiten. Und dann, so verlockend mir die Theilnahme an Ihrem
Unternehmen als ausübender Künstler wäre, vorausgesetzt daß ich Erfolg hätte
was mir wie gesagt noch sehr zweifelhaft ist, da ich die Ansprüche des
Publicums | in diesem Falle sehr hoch taxiere, so entsetzlich denke ich
es mir wenn ich dabei außer für meinen eigenen Bedarf auch noch für den Bedarf
des ganzen Ensembles geistig productiv tätig sein sollte. Das wäre unter so
halsbrecherischen Umständen eine SisiphusarbeitSisyphusarbeit (nach der Strafe, die in der Sage aus der griechischen Mythologie die Götter dem König Sisyphos auferlegt haben), eine sinnlose schwere Arbeit, die vergeblich bleibt., die meines Erachtens kein
Mensch auf der Welt mit gutem Erfolg zu lösen im | Stande wäre. Das Wagnis mit
dem Unternehmen in Berlin zu beginnen scheint mir schon gerade verzweifelt
genug, ungefähr so wie wenn jemand auf einem Hindernisrennen ohne Anlauf mit
geschlossenen Füßen gleich den allerbreitesten Graben zu nehmen sucht. Was der
wahrscheinlichste Ausgang ist, liegt auf der Hand. Diese Erwägung läßt mich nur
mit dem | allergrößten Ernst an die Aufgabe denken, die s Sie mir zu
stellen die Güte hatten. Wenn durchaus gesprungen sein muß und es ist nicht
anders, dann ‒ in Gottes
Namen. Von Ihrem Standpunkt aus begreife ich aber offen gesagt nicht, warum Sie
den Kelch nicht lieber an sich vorüber gehen lassenbibelsprachliche Redewendung ‒ gebildet nach der Bitte von Jesus im Garten Gethsemane vor seiner Kreuzigung, Gott möge den Kelch an ihm vorübergehen lassen [vgl. Markus 14,36; Lukas 22,42; Matthäus 26,39]..
Mit den herzlichsten Grüßen
Ihr
Frank Wedekind
München 23.12.1900.
Franz Josefstraße 42.II