Kennung: 1655

München, 17. Mai 1905 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Hauptmann, Carl

Inhalt

Lieber Herr Hauptmann!

empfangen Sie meinen herzlichen Dank für die BücherEines dieser Bücher war Carl Hauptmanns Debütroman „Mathilde“ (1902) [vgl. Carl Hauptmann an Wedekind, 1.5.1905], ein zweites Buch die im vorliegenden Brief gewürdigte Broschüre „Unsere Wirklichkeit“ (1902), das dritte Buch könnte Carl Hauptmanns Drama „Die Bergschmiede“ (1902) gewesen sein, das im vorliegenden Brief ebenfalls erwähnt ist. die Sie mir geschickt haben und für die für mich so sehr schmeichelhaften Widmungennicht oder nur teilweise überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Carl Hauptmann an Wedekind, 1.5.1905., mit denen Sie sie versehen. Ich habe „u/U/nsere Wirklichkeiten“ sofort gelesen und werde sie jedenfalls bald wieder lesen | und vielleicht noch oft lesen. Ich finde auf diesen wenigen SeitenCarl Hauptmanns Broschüre „Unsere Wirklichkeit“ (1902 im Verlag Georg D. W. Callwey in München erschienen) hat einen Umfang von 31 Seiten; davon umfasst der Text 22 Seiten [S. 9-31]. Er ist auch als Aufsatz publiziert worden [vgl. Carl Hauptmann: Unsere Wirklichkeit. In: Der Kunstwart, Jg. 16, Heft 19, 1. Juliheft 1903, S. 293-305]. einen CanonCarl Hauptmann erzählt in seiner Broschüre „Unsere Wirklichkeit“ nicht nur die im vorliegenden Brief thematisierte Anekdote von Otto von Bismarck, sondern Geschichten oder Anekdoten unterschiedlicher Herkunft. Sie stammen zum Beispiel aus der Sammlung „Tausendundeine Nacht“, aus der Reisebeschreibung „Die Wüste“ (1896) von Pierre Loti, aber auch aus dem Freundeskreis, aus eigenen Erlebnissen oder aus Erzählungen einfacher Leute., den sich jeder Künstler jedesmal mit Andacht einprägen sollte, sobadSchreibversehen, statt: sobald. er wieder an ein neues Werk geht. Sie sehen, daß ich denn Sinn der Betrachtung erfaßt habe; aber damit ist noch nichts gethan. Man kann sich diesen Sinn nicht oft genug wiederholen, mann müßte ihm eine Stelle im täglichen Leben geben, wie es der ein/pri/mitive Mensch | mit dem Vaterunser macht. Interessant war mir beiläufig Ihre Ausdeutung der Bismarkschen Anekt/d/ote„Fürst Bismarck war bekanntlich eine zeitlang Gesandter am Petersburger Hofe. Als solcher machte er einmal mit dem Kaiser Nikolaus einen Spaziergang im Parke des Winterpalais. Sie waren dabei in einen selten begangenen Teil des Parkes geraten. Dort steht mitten auf einem weiten, wohlgepflegten Rasenplatz eine Schildwache. Der Fürst sieht das mit Verwunderung und erlaubt sich an den Kaiser die Frage, weswegen wohl da ein Posten stehe? Der Kaiser weiß es nicht. Aber man frägt den Posten. Der Posten weiß es auch nicht. So läßt man weiter den wachthabenden Offizier rufen, der weiß es auch nicht. Und die Wachtbücher. Niemand weiß es mehr. Aber da es der Kaiser nun unbedingt wissen will, findet man endlich in einem Wachtbuch hundert Jahre zurück, daß die Kaiserin Katharina bei einem ersten Frühlingsgange einst dort ein Schneeglöckchen blühen sah, und eine Schildwache hinbefahl, damit die Hofdamen es nicht abpflücken sollten. Das Schneeglöckchen war bald verblüht. Aber der Wachtposten stand noch nach hundert Jahren. Eine drollige Geschichte, um so drolliger, als sie die ganze Tragikomödie unseres intellektuellen Sprachmenschentums treffend verkörpert. Denn auch jedes unserer Worte hat nur ursprünglich demonstrativen Sinn, es wollte einstmals wie jene Schildwache im Parke auf etwas hinweisen, was aus Erde oder Seele wirklich aufgeblüht war. Aber immer wieder starb der Mensch, wie das Schneeglöckchen, und die Worte blieben. Nun halten sich die Nachkommenden an die Schildwachen, als an das Wirkliche, die ahnungslosen Schildwachen fordern nur Respekt und wissen nicht für was, und das Schneeglöckchen, die ursprünglichen, lebendigen und sinngebenden Ereignisse und Erlebnisse sind vergessen. Denn die Worte lassen sich ja auch ohne Kern und rechten Eigensinn gesellschaftlich noch recht erfolgreich und respektvoll gebrauchen, und sind, dem Geiste erst einmal entflohen, eine starre Macht über dem Lebendigen geworden, derart, daß sie die Gemeinschaftsorganisationen wahrhaft eisern zusammenhalten. Sie sind, indem sie von Munde zu Ohre wirklich klingen, ja selbst ein Stück der wirklichen Gesellschaftsmacht.“ [Carl Hauptmann: Unsere Wirklichkeit. München 1902, S. 23f.] Die Deutung der Anekdote ist anschließend noch sehr viel weiter ausgeführt., die auch mir seiner ZeitWedekinds Lektüre der von Bismarcks Mitarbeiter Moritz Busch 1899 (Neuauflage 1902) publizierten „Tagebuchblätter“ ‒ Band 1 „Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich 1870-1871 bis zur Beschießung von Paris“ [Leipzig 1899, S. 78] ist die Quelle der Anekdote: „Sie kennen die heitere Geschichte, die Fürst Bismarck im Feldzug 1870 einmal seinen Leuten beim Abendbrote erzählte“ [Carl Hauptmann: Unsere Wirklichkeit. München 1902, S. 23] ‒ ist sicher erst für 1914 belegt [vgl. KSA 8, S. 668f.]. Die „Tagebuchblätter“ zählen zu den Quellen von Wedekinds „Bismarck“-Drama [vgl. KSA 8, S. 698]. einen tief-symbolischen Eindruck machte, ohne r/d/aß ich die Wirklichkeit, dessen Bild sie ist, gefunden hätte.

Augenblicklich lebe ich zu zerfahren für eine größere Lectüre. Ich verspare mir die andern beiden Bücher auf den Sommer und werde Ihnen den Eindruck den sie in mir hervorrufen nicht schuldig bleiben. Ich habe Ihnen | immer noch für Ihr herzliches Telegrammnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Hauptmann an Wedekind, 22.2.1905. Das Telegramm betraf die Uraufführung von „Hidalla“ am 18.2.1905 am Münchner Schauspielhaus unter der Regie von Georg Stollberg mit Wedekind in der Rolle des Karl Hetmann. Der Publikumserfolg war stark und Wedekind fand als Schauspieler bei der Kritik große Zustimmung [vgl. Seehaus 1964, S. 528, 542f.]. zu Hidalla meinen Dank auszusprechen. Es war ein Münchner Erfolg; ob es sonst einer ist, weiß ich nicht. Übrigens ist das ja auch gleichgültig. Als AnerkennungDie Uraufführung von „Die Bergschmiede. Ein Bühnenspiel in drei Akten von Carl Hauptmann“ am 23.1.1905 am Königlichen Hof- und Nationaltheater in München hat bei der Kritik keine Anerkennung gefunden. Die Münchner „Allgemeine Zeitung“ [Jg. 108, Nr. 39, 25.1.1905, Vorabendblatt, S. (1)] urteilte: „ein verfehlter, unerquicklicher Abend.“ Wedekind hat die Uraufführung gesehen, wie er am 23.1.1905 im Tagebuch notierte: „Abends die Bergschmiede.“ und als Propaganda hat mich sehr der PreisCarl Hauptmann hat am 7.5.1905 auf der Vorstandssitzung der Stiftung im Künstlerhaus in Berlin den Volks-Schillerpreis (gestiftet vom Goethe-Bund) für sein Stück „Die Bergschmiede“ zugesprochen bekommen; er musste ihn sich allerdings teilen. Darüber hat auch die Münchner Presse berichtet: „In der gestrigen Sitzung des Vorstandes und des Preisrichterkollegiums der Stiftung ‚Schiller-Preis‘ wurde das Urteil des Preisgerichts verkündet. Der 3000 Mark betragende Preis wird in drei Teile zu je 1000 Mark geteilt für die Dramen ‚Rose Bernd‘ von Gerhart Hauptmann, ‚Die Bergschmiede‘ (das in München und anderwärts abgelehnte Drama!) von Karl Hauptmann und ‚Der Graf von Charolais" von Richard Beer-Hofmann.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 108, Nr. 212, 9.5.1905, 2. Blatt, S. (5)] gefreut, den man der Bergschie/m/iede zuerkannt hat.

Empfehlen Sie mich bitte ergebenst Ihrer verehrten Frau GemahlinMartha Hauptmann (geb. Thienemann) war Carl Hauptmanns Frau aus erster Ehe (Heirat 1884, Scheidung 1908).. Gerhart hat Ihnen vielleicht schon von Berlin erzählt, wo er mir in schwerer Not große DiensteGerhart Hauptmann hatte sich bereit erklärt, im Prozess um die „Büchse der Pandora“ gegen Wedekind und seinen Verleger Bruno Cassirer am 12.5.1905 am Königlichen Landgericht I in Berlin als Gutachter tätig zu werden [vgl. KSA 3, S.1102, 1151]. Das Gericht zog sein Gutachten zwar nicht heran, er war aber bei der Verhandlung dabei, wie Wedekind im Tagebuch notierte: „Gerichtsverhandlung in Berlin. Fahre um 9 Uhr ins Gerichtsgebäude in Moabit. Treffe Gerhart Hauptmann. Wir müssen zwei Stunden warten. Verhandlung Freisprechung.“ erwiesen hat. Noch mehr freute es mich allerdings, ihn einmal wiederzusehenWedekind sah Gerhart Hauptmann am 12.5.1905 nicht nur vormittags im Gericht beim Prozess um die „Büchse der Pandora“ (siehe vorige Erläuterung), sondern verbrachte mit ihm auch den Abend, wie er im Tagebuch festhielt: „Abends mit Hauptmann Welti und Donald im Spatenbräu.“.

Seien Sie, lieber Herr Hauptmann, noch einmal herzlichst bedankt. Auf baldiges Wiedersehn./!/

In Verehrung Ihr
Frank Wedekind.


17.5.5.

Franz Josefstraße 42.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 15 x 20,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Carl Hauptmanns Wohnort darf als Empfangsort angenommen werden.

  • Schreibort

    München
    17. Mai 1905 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Schreiberhau
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Akademie der Künste

Pariser Platz 4
10117 Berlin
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Carl Hauptmann-Archiv
Signatur des Dokuments:
K 169
Standort:
Akademie der Künste (Berlin)

Danksagung

Wir danken der Akademie der Künste (Berlin) für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Carl Hauptmann, 17.5.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

06.12.2020 10:29