Berlin, Kurfürstenstraße 125.
5 Oktober 1906Wedekind notierte am 5.10.1906: „Briefe an Hauptmann und E. Schmidt.“ [Tb] Er hat außer Gerhart Hauptmann in derselben Angelegenheit auch Erich Schmidt angeschrieben, den bekannten Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Friedrich Wilhelms-Universität in Berlin. Im Schreiben Max Reinhardts an das Königliche Polizeipräsidium in Berlin vom 16.10.1906 heißt es: „Die Direktion des Deutschen Theaters erlaubt sich, für die Bühne der Kammerspiele des Deutschen Theaters um die Aufführungsgenehmigung für beiliegendes Stück ‚Frühlings Erwachen‘, eine Kindertragödie in 5 Akten von Frank Wedekind, zu ersuchen. [...] Wir können uns bei unserer Wertschätzung dieses Stückes auf eine Reihe von Meinungsäußerungen hervorragender Autoritäten stützen. Professoren wie Geheimrat Professor Dr. Erich Schmidt, Dichter wie Gerhart Hauptmann“ [KSA 2, S. 928] – es folgen weitere Namen; auf der Liste der zehn beigelegten handschriftlichen Gutachten sind dann an erster Stelle „Geheimrat Professor Dr. Erich Schmidt“ [KSA 2, S. 9299], an zweiter Stelle Gerhart Hauptmann aufgeführt..
Sehr geehrter Herr Hauptmann!
Vor zwei Jahren haben Sie mir durch Ihre moralische
UnterstützungGerhart Hauptmann hatte 1904 seine Bereitschaft erklärt, im Prozess um die „Büchse der Pandora“ gegen Wedekind und seinen Verleger Bruno Cassirer am 12.5.1905 am Königlichen Landgericht I in Berlin als Gutachter tätig zu werden [vgl. KSA 3, S.1102, 1151]. Das „Berliner Tageblatt“ berichtete dann am 13.5.1905, dass „der Gerichtshof auf ein weiteres Gutachten von Gerhart Hauptmann verzichten konnte.“ [KSA 3/II, S. 1150] Gerhart Hauptmann war aber bei der Verhandlung in Berlin dabei, wie seine Notiz vom 12.5.1905 nahelegt: „Büchse der Pandora. Prozeß Wedekind.“ [Tb Hauptmann] Belegt ist das durch Wedekinds Notiz vom 12.5.1905: „Gerichtsverhandlung in Berlin. Fahre um 9 Uhr ins Gerichtsgebäude in Moabit. Treffe Gerhart Hauptmann. Wir müssen zwei Stunden warten. Verhandlung Freisprechung.“ [Tb] einen sehr großen Dienst erwiesen. Heute komme ich wieder zu
Ihnen. Reinhart will mein Frühlings Erwachen auf die Bühne bringenMax Reinhardts Inszenierung von „Frühlings Erwachen“ ‒ 15 Jahre nach dem Erstdruck uraufgeführt am 20.11.1906 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin [vgl. KSA 2, S. 919-921], in einer Fassung, die am 24.10.1906 von der Zensur freigegeben worden war [vgl. Tb] – wurde zum großen Theatererfolg. Wedekind hat am 28.9.1906 von Max Reinhardts engstem Mitarbeiter Felix Hollaender von dem Plan erfahren: „Ich werde Abends ins Theater gerufen und Holländer theilt mir mit das man Frühlings Erw. spielen will“ [Tb].. Holländer
wird Ihnen deshalb schon geschriebenFelix Hollaender, Dramaturg am Deutschen Theater zu Berlin (Direktion: Max Reinhardt) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 286], teilte Gerhart Hauptmann am 5.10.1906 mit, der Bau der Kammerspiele sei „unter Dach und Fach, und in ganz kurzer Zeit werden wir die Kammerspiele des Deutschen Theaters eröffnen. [...] Bei der Gelegenheit möchte ich Sie noch um eine Freundlichkeit ersuchen. Wir bereiten für die Kammerspiele Wedekind’s ‚Frühlingserwachen‘ vor. Der Zensor ist geneigt, das Werk freizugeben, legt aber Wert darauf, für den Fall, dass sich eine Debatte mit dem Polizeipräsidenten ergeben sollte, die Gutachten literarischer Persönlichkeiten in den Händen zu haben. Würden Sie die grosse Güte haben, uns einige Zeilen über den literarischen Wert des Werkes zu schreiben und in diesem Gutachten darauf hinzuweisen, dass der Ernst und die Art, mit denen das Thema behandelt ist, eine Verletzung des Schamgefühls ausschalten. Wedekind wird sich erlauben, das gleiche Ansuchen an Sie zu richten.“ [Staatsbibliothek Berlin, Nachlass Gerhart Hauptmann, GH Br NL A: Hollaender, Felix 1, 44-45] haben. Für mich ist die Frage eine mehr
wirthschaftliche als künstlerische. Das Stück wird dadurch nicht dramatischer
werden. Aber wenn Sie mir Ihre | Hülfe zutheil werden lassen wollten, so müßte
es natürhlichSchreibversehen, statt: natürlich. vom rein künstlerischen Standpunkt aus geschehen, oder, was noch
besser wäre, vom moralischen Standpunkt aus. Felix Holländer bitteSchreibversehen, statt: bittet. Sie um ein
GutachtenIn Gerhart Hauptmanns Gutachten zur Genehmigung der Berliner Uraufführung von „Frühlings Erwachen“ am 20.11.1906 heißt es: „Das Drama ‚Frühlings Erwachen‘ von Frank Wedekind ist eine ernste, streng künstlerische Arbeit, die, öffentlich aufgeführt, meines Erachtens, nur eine läuternde Wirkung ausüben kann.“ [KSA 2, S. 935] über das Stück und ich möchte die Bitte mit diesen Zeilen
unterstützen. In erster Linien handelt es sich ja auch um mich. Wenn Sie
mir Ihre Hülfe gegenüber dem PolizeipräsidentenPolizeipräsident von Berlin war von 1903 bis 1908 Georg von Borries, der „Chef“ [Berliner Adreßbuch 1907, Teil II, S. 48] im Polizeipräsidium. Leiter der Theater- und Zensurabteilung im Königlichen Polizeipräsidium Berlin war Curt von Glasenapp, den Wedekind im Blick hatte. Wedekind traf am 2.10.1906 Felix Hollaender und erfuhr von den Schwierigkeiten des Deutschen Theaters mit der Zensur: „Nachts im Café Kurfürstendamm erzählt mir Holländer seinen Kampf mit Glasenapp“ [Tb]. gewähren wollen, dann möchte
ich über das „Wie“ kein Wort verlieren, da Sie die Situation jedenfalls klarer
| überblicken als sonst irgend jemand. Meines aufrichtigen Dankes wären Sie
gewiß.
Darf ich Sie bitten, Ihrer verehrten Frau Gemahlin meine
ergebensten Empfehlungen aussprechen zu wollen.
Mit herzlichem Gruß
Ihr ergebener
Frank Wedekind.