Sehr verehrter
Herr Doctor!
Darf ich Sie
aufrichtig und herzlich bitten, es mir nicht als Theilnahmslosigkeit
auszulegen, daß wir nicht zu Ihnen kamen. Am Tage als wir zu spielen aufhörtenFrank und Tilly Wedekind waren vom 5. bis 22.12.1909 auf einer Gastspielreise in Wien gewesen (eines Vortrags wegen zu Beginn mit einem kurzen Abstecher nach Brünn vom 5. auf den 6.12.1909), um am Lustspieltheater in „Musik“, „Die Zensur“ und „Der Kammersänger“ zu spielen. Die letzte Vorstellung von Wedekinds Wiener Gastspiel wurde am 19.12.1909 gegeben.,
bekam meine Frau die NachrichtWedekind notierte am 20.12.1909 in Wien, dass seine Frau einen Brief ihrer Familie aus Graz erhalten habe, die jüngere Tochter Pamela sei krank: „Tilly bekommt Brief von Graz daß das Mädchen krank ist“ [Tb]., daß unsere Kleine, die in Graz war, arg
erkältet sei. | Meine Frau reiste Hals über KopfWedekind notierte am 20.12.1909 in Wien, dass seine Frau nach Erhalt der Nachricht über die in Graz erkrankte Tochter Pamela dorthin abgereist sein: „Tilly fährt nach Graz“ [Tb]. ohne sich einen Augenblick
Ruhe zu gönnen hin, um SieSchreibversehen, statt: sie. zu holen und als sie mit ihr
nach Wien kamWedekind notierte am 21.12.1909, dass seine Frau mit der kranken Tochter abends um 21 Uhr aus Graz nach Wien zurückkam: „Abend neun Uhr kommt Tilly mit Annapamela“ [Tb]. fand ich es für dringend geboten, ohne Aufenthalt nach HauseWedekind notierte am 22.12.1909 „Abfahrt von Wien“ [Tb], am 23.12.1909: „Ankunft in München. Wir fahren zu Dritt in unsere Wohnung und schlafen. Annapamela ist sehr erkältet“ [Tb].
zurückzukehren. Am DienstagDas war der 21.12.1909; für diesen Tag notierte Wedekind: „Schlafe bis 12 Uhr. Nachmittags Besuche auf den Redaktionen“ [Tb]; abends kam dann seine Frau mit der kranken Tochter aus Graz zurück nach Wien. hoffte ich Sie wenigstens allein noch aufsuchen zu
können, aber auch dazu fehlte mir buchstäblich die Zeit. So muß ich Ihnen
meinen herzlichen Dank für die liebenswürdige AufmerksamkeitSchnitzler, der Wedekinds Drama „Musik“ bereits gelesen hatte, besuchte während Wedekinds Wiener Gastspiel am 15.12.1909 vormittags die Generalprobe von „Musik“, wie er im Tagebuch festhielt (nicht so Wedekind): „Vm. Generalprobe ‚Musik‘ Lustspieltheater, das stark auf mich wirkte, im Gegensatz zum Lecture-Eindruck. Sprach Jarno [...]; nachher Wedekind und Frau, mit denen ich in der Tram eine Strecke fuhr. Sie brachten Grüße von Steinrücks“ [Tb Schnitzler]. Schnitzlers Schwägerin Elisabeth Steinrück und ihr Mann Albert Steinrück zählten zu Wedekinds Münchner Bekanntenkreis. Das Gespräch mit Wedekind in der Straßenbahn verarbeitete Schnitzler einige Tage nach Erhalt von Wedekinds vorliegendem Brief am 1.1.1910 in einem Traum: „Traum: nach einer sonderbaren Tramfahrt [...]. Wedekind spricht davon, man mißverstehe seine Sachen [...] und wendet sich an mich, der ja wissen müsse, wie das sei – meine letzten Erfahrungen mit dem ‚Ruf des Ligitsch‘ – Ich denke: ... er kennts ja nicht einmal – da er den Namen nicht kennt“ [Tb Schnitzler]. Schnitzlers Schauspiel „Der Ruf des Lebens“ hatte im Beisein des Autors am 11.12.1909 am Deutschen Volkstheater in Wien Premiere. Wedekind hat die Premiere nicht besucht, obwohl er an diesem Abend nicht spielte. Schnitzler dürfte Frank und Tilly Wedekind jedenfalls am 15.12.1909 zu sich eingeladen haben. Das Paar konnte der Einladung nicht folgen, der Anlass des vorliegenden Briefes. | die Sie für
meine Arbeit übrig hatten, nun schriftlich aussprechen. Diese Gelegenheit kann
ich aber nicht vorbeigehen lassen ohne Ihnen zu sagen, daß ich Ihnen die
reichsten, künstlerisch höchsten Genüsse verdanke, die uns die deutsche Sprache
seit zwanzig Jahren bietet, und daß ich für viele Ihrer Werke die
bedingungslose Verehrung fühle, die ich sonst nur für Vergangenes aufbringen
kann. So viel ich weiß kennen wir uns seit bald zehn JahrenWedekind und Schnitzler kannten sich seit langem literarisch (die Elf Scharfrichter, deren Mitglied Wedekind war, sollen Schnitzlers Brief an Werner Richter vom 30.12.1920 zufolge ohne sein Wissen in Berlin Dialoge aus dem „Reigen“ aufgeführt haben; Schnitzler hat am 24.6.1903 den „Erdgeist“ in Wien gesehen). Seit wann sie sich persönlich kannten, ist unklar. Möglicherweise haben sie sich erst am 15.12.1909 persönlich kennen gelernt (und nicht nur gesehen), was den vorliegenden Brief motivierte.
und haben uns in diesen zehn Jahren | zwei mal gesehenSchnitzler hat Wedekind zweimal in „Hidalla“ spielen gesehen. So notierte er am 24.11.1905 in Berlin seinen Besuch der Inszenierung im Kleinen Theater: „Kl. Th. Hidalla. Wedekind selbst spielte, sehr merkwürdig“ [Tb Schnitzler]; und am 1.5.1907 notierte er seinen Besuch des Gastspiels des Berliner Kleinen Theaters am Wiener Bürgertheater gemeinsam mit Olga Schnitzler: „Bei Hidalla mit O. Wedekind (wie in Berlin) ‚schauspielerisch‘ interessant“ [Tb Schnitzler]. Wedekind hat im Tagebuch dazu nichts festgehalten, er dürfte in beiden Fällen Schnitzler im Publikum aber wahrgenommen haben.. Sie
werden es mir daher nicht verdenken, daß ich die GelegeheitSchreibversehen, statt: Gelegenheit. wahrnemeSchreibversehen, statt: wahrnehme., Ihnen
mein Herz auszuschütten. An mir soll es auch gewiß nicht liegen, daß wir uns nicht
öfter begegnen.
Wollen Sie
bitte Ihrer verehrten Frau Gemahlin meiner Frau und meine ergebensten
Empfehlungen aussprechen.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
Heiliger Abend
1909.