Kennung: 1502

München, 9. November 1914 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kutscher, Artur

Inhalt

München 9. November 1914.


Lieber Artur!

Von Herzen danke ich Dir für Deine liebe Karte vom 29 Oktobernicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Artur Kutscher an Wedekind, 29.10.1914.. Gleich nach Deiner vorigen Nachrichtnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Artur Kutscher an Wedekind, 4.10.1914. hatte meine Frau Deine Gattin aufgesuchtTilly Wedekind unternahm am 22.10.1914 den Versuch, Gertrud Kutscher zu besuchen, traf sie dem vorliegenden Brief zufolge aber nicht an. Die Schriftstellerin Gertrud Kutscher (geb. Schaper) war von Artur Kutscher geschieden, stand mit ihm seinerzeit aber in Einvernehmen., leider nicht getroffen. Vorgestern SamstagGertrud Kutscher hat in Begleitung ihrer Tochter Rotraut am 7.11.1914 Frank und Tilly Wedekind in der Prinzregentenstraße 50 besucht und von Artur Kutschers „Kriegstagebuch“ berichtet, wie aus Wedekinds Tagebuch hervorgeht: „Besuch von Frau Dr. Kutscher wegen Kriegstagebuch.“ waren Deine Gattin und Rotraut bei uns. Rotraut ist ein entzückend schönes Mädchen und scheint mir vollkommen Dein Naturell zu haben. Deine liebe Frau erzählte von Deinem Kriegstagebuch, das sie eben in die Maschine diktiert. Ich riet mit dem Diktat gleich zwei Durchschläge herstellen zu lassen. Müller habe ich seit Wochen nicht gesehen da er viel verreist ist und die Geschäfte gänzlich stocken. Von Deinem Kriegstagebuch erzähle ich ihm bei erster Gelegenheit, wäre aber natürlich froh | und hielte es für gut wenn ich ihm dann gleich wenigstens eine Probe vorlegenWedekind hat dann bei seinem Verleger angefragt, ob er ihm das Manuskript von Kutschers „Kriegstagebuch“ zur Einsicht schicken soll [vgl. Georg Müller an Wedekind, 16.2.1915]. könnte. Dagegen kann ich Dir jetzt schon mittheilen, daß sich Friedenthal sehr für Dein Tagebuch interessiert und es gerne fürs Berliner TageblattKutscher „Kriegstagebuch“ erschien nicht im „Berliner Tageblatt“, trotz der Bemühungen von dessen Münchner Korrespondenten Joachim Friedenthal. erwerben würde. Ich glaube nicht, daß die Buchausgabe dadurch geschädigt würde. Im Gegentheil. Aber vielleicht bist Du anderer Ansicht darüber. Laß mich bitte wissen wie Du darüber denkst. Von ganzem Herzen beglückwünsche ich Dich zu der bedeutenden verantwortungsvollen StellungKutscher war Kompanieführer., die Du Dir erkämpft hast. Offenbar ist ja vor kurzem wieder in Eurer Gegendin der Gegend von Reims an der Westfront. gekämpft worden, aber zu den furchtbaren Anstrengungen der ersten Kriegswochen wird es ja voraussichtlich nicht mehr kommen. Über ein eventuelles Kriegsende erfährt man hier nichts als daß Deutschland seine | Friedensbedingungen in London und Paris bekannt gegeben hat. Auch nach den Schweizer Blättern, die ich zuweilen lese, stehen unsere Angelegenheiten besonders durch das Eingreifen der TürkeiSchweizer Presse hat über den Kriegseintritt der Türkei berichtet, darunter auch über eine „Sympathiekundgebung für die Türkei in Berlin“ [Neue Zürcher Nachrichten, Jg. 10, Nr. 302, 2.11.1914, Morgenblatt, S. (2)], und die Einschätzung vertreten: „In Petersburg, London und Paris gibt man sich den Anschein, den Eintritt der Türkei in den Krieg auf die leichte Achsel zu nehmen. In Wirklichkeit ist man in hellem Entsetzen darüber.“ [Neue Zürcher Nachrichten, Jg. 10, Nr. 303, 2.11.1914, Abendblatt, S. (1)] Das „Eingreifen der Türkei in den Krieg“ [Tb Mühsam, 19.10.1914 und 31.10.1914] wurde im Kreis um Max Halbe diskutiert, der „überglücklich wegen des Eingreifens der Türkei“ [Tb Mühsam, 1.11.1014] gewesen sei. so gut wie nur irgend möglich.

Hier in München findet man sich immer seltener zusammen. Letzten DonnerstagWedekind notierte am 5.11.1914 den im vorliegenden Brief erwähnten Besuch von Hermann Bahrs Stück „Der Querulant“ im Schauspielhaus und das anschließende Treffen mit Kurt Martens, Wilhelm Schmidtbonn und Joachim Friedenthal im Ratskeller: „Mit Tilly in Querulant von Bahr. Nachher RK mit Martens Schmidt-Bonn und Friedenthal“ [Tb]. war ich mit Martens, Friedenthal und Schmidtbonn im Ratskeller und las ihnen Deine Karte vor. Sie lassen Dich herzlich grüßen und senden Dir die besten Wünsche für Dein Wohlergehen. Heute früh wurde Dr. von Jacobi zur letzten Ruhe geleitetBernhard von Jacobi, Hoftheaterschauspieler und der wohl engste Freund Artur Kutschers [vgl. Kutscher 1915, S. 165.167], ist am 25.10.1914 an einer Kriegsverletzung in einem Lazarett an der Westfront in der Nähe von Douai gestorben, sein Leichnam nach München überführt und am 9.11.1914 nach einer Trauerfeier beigesetzt worden. Nach den Reden von Clemens von Franckenstein (Hoftheaterintendant), Eugen Kilian (Oberregisseur am Münchner Hoftheater), Max Halbe sowie der Reden von einem „Major und seinem Oberleutnant“ begleiteten „Soldaten, Künstler und Freunde“ den Sarg „zum Krematorium. 3 Gewehrsalven krachten, und Bernhard v. Jacobi, der beste unsrer Schar, ist ein Häufchen Asche“ [Tb Mühsam, 10.11.1914].. Max Halbe hielt eine Ansprache. Das andauernd milde Wetter hier erfreut mich in der Voraussetzung, daß es Euch ebenfalls zugute kommt. Vor einigen Tagen sah ich hier im Schauspielhaus Hermann Bahrs neues Drama: Der Querulant, meiner Ansicht nach ein ausgezeichnetes Stück | mit weitem ethischen Horizont, künstlerisch gedrungen, als Lustspiel ebenso wohlthuend wie als Volksstück. Sonst ist das Leben hier trüb und gedrückt, ohne indes sonst im geringsten beschwerlich zu sein, bis jetzt. Wir rechnen aber mit allen möglichen Zuständen, die der Winter bringen kann. Jeder Gedanke an Unzufriedenheit ist natürlich Angesichts Eurer Entbehrungen und der Schrecknisse, die Andere über sich ergehen lassen müssen ausgeschlossen. Hoffentlich finden Dich diese Zeilen ebenso munter und wohlauf wie Du mir Deine Karte schriebst. Der Himmel behüte Dich! Und gebe uns baldigen Frieden!

Mit herzlichen Grüßen und besten Wünschen von meiner Frau und mir
in alter Freundschaft
Dein
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14,5 x 22 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der Empfangsort ist ungefähr auszumachen. Kutscher gehörte dem Reserve-Infanterie-Regiment 92 an, das an der Westfront eingesetzt war. Er war vom 12.9.1914 bis 3.2.1915 „in wechselnder Stellung“ [Kutscher 1960, S. 106] in der Nähe von Reims stationiert und im Herbst 1914 überwiegend in Cernay eingesetzt, der wahrscheinliche Schreibort des Briefes.

  • Schreibort

    München
    9. November 1914 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Cernay-lès-Reims
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
307-309
Briefnummer:
430
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Deutsches Literaturarchiv Marbach

Schillerhöhe 8-10
71672 Marbach am Neckar
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
A: Kutscher, Artur
Signatur des Dokuments:
A: Kutscher, 57.5404/6
Standort:
Deutsches Literaturarchiv Marbach (Marbach am Neckar)

Danksagung

Wir danken dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Artur Kutscher, 9.11.1914. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

22.08.2020 12:50