Kennung: 143

Beersheba Springs, 28. Dezember 1888 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Plümacher, Olga

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

                                                                                                                                                                     Beersheba Springs, 28 Dezember 1888.

Mein lieber Franklin!

BeßtenSchreibweise Olga Plümachers statt "besten". Dank für Deinen Brief mit dem Berichte über Deines Vaters Tode. Das Geschick war ihm günstig; er hat einen raschen, kampflosen Tod gehabt; das ist ein großer Trost für die Hinterlaßenen, wenn der Preis, den wir alle endlich für das „Glück“? gelebt zu haben zahlen müßen, in nicht gar zu erschreckender Form eingefordert wird. ––         Also Du hast mir nicht geschrieben, weil Du mir keine „Geistesthat“ zu berichten hattest! O, wie verkehrt! Ich hatte Dich lieb gewonnen als Du noch | ein recht fauler Schulknabe warst, der zwar Knitelverse Schreibweise Olga Plümachers statt "Knittelverse". verfaßte, der aber deßwegen noch durchaus keinen künftigen Schiller oder SchackespearSchreibweise Olga Plümachers. in Aussicht stellte. Und später, als aus dem Knaben ein Jüngling, und aus dem Jüngling ein Mann wurde, da freute es mich, daß Einem, dem ich gewogen war um seines ganzen Wesens willen eine auf‘s Ideale gerichteSchreibversehen Olga Plümachers statt "gerichtete". Begabung eignete; nicht aber warst Du mir lieb und werth weil Du dichterisch begabt warst und gesonnen warst als Schriftsteller Deinen Platz in der Gesellschaft auszufüllen. Deine Briefe wären mir ganz gleich willkommen gewesen, wenn Du schon nicht Leistungen zu melden hattest. MannSchreibweise Olga Plümachers statt "man". wird | eben nicht Schriftsteller, wie man Schuster oder Schneider wird in zwei Jahren. Der Eine schießt den Vogel runter mit 20 Frühlingen, der andere kommt in‘s Schwabenalter – die Geister reifen nicht in so gleichmäßigen Tempo wie die Kirschen. Ich habe mir übrigens gedacht es möchte so etwas hinter Deinem Stillschweigen stecken; an Deiner Freundschaft habe ich nicht gezweifelt; und ebenso wenig an Deinem Talente, trotzdem, daß Du einige Zeit im Nebel herum geirrt hast. Du bist nicht der Erste und wirst nicht der Letzte sein, der zick zack wandert, bevor er auf den richtigen Weg gelangt. Nun bist Du also die Juristerei los und da sie Dir gar so widerwärtig war, so gratulire ich Dir dazu. |
            Sonst findt ich sie, wie überhaupt ein Brodstudium oder einen gewöhnlichen Beruf nicht als ein Hinderniß für die höhere geistige Entwicklung. Im Gegentheil es gewährt Gemüthsruhe. Wenn man sich sagt: „so, jetzt will ich ganz meinem Genius leben, nichts thun als nur den Eingebungen meiner Muse folgen“ so knüpft sich hieran unmittelbar die Erwartung, daß nun auch wirklich etwas geschaffen werde an dem man selbst und auch die Freunde Freude haben. Ist die Muse nun spröde und will der Genius noch vor dem völligen Erwachen ein bißchen „duseln“ – wie wir‘s ja auch gern thun am Morgen vor dem Aufstehen – dann wird man leicht ärgerlich über, und irre an sich selbst und der Menschheit gegenüber fühlt man sich in Schuld. Dieses geistige Un- |
                                                                                                          2
behagen aber ist das allerschlimmste für den Geist; die productive Stimmung verlangt Gemüthsruhe und Selbstzufriedenheit und Selbstvertrauen, und besonders auch gänzliche Gleichgültigkeit gegen die Dauer, welche eine Production in Anspruch nimmt. Hat nun der Mensch einen Beruf, den er pflichttreu, wenn auch halbwegs unlustig erfüllt, so stört ihn erstens das Gefühl der Leistungsschuldigkeit nicht, und zweitens, wenn sich sein Genius sehr Zeit läßt mit der Hervorbringung eines Kunstwerkes, so hat er die Entschuldigung der so schmal zugemessenen Zeit. So bleibt der Mensch zufrieden und der Herr | Gerichtsschreiber, oder AsseßorSchreibweise Olga Plümachers statt „Assessor“. , oder Seidenhändler oder Consul überrascht eines Tages alle Welt mit einer gezeitigten Meisterleistung, die ihn mit einemmal in die Reihen der Ersten ranschirtSchreibweise Olga Plümachers statt "rangirt". . Scheffel, Keller, Reuter und so viele andere waren Juristen, Con. Ferd. Meier, Ritterhaus, Freitag, Schmid-„Dranmor“ waren Kaufleute auch die Reihen der Lieutenants haben manchen vorzüglichen Schriftsteller gestellt, vom „Schumach - er und Poet dazu“ und von der „Aurora, das yst die hymmlische Morgenröthe“, die auch in der Schusterwerkstätte aufging ganz zu schweigen. Dieser Weg aus dem „Duster“ bürgerlicher Wackerheit auf die Höhen wo der Lorbeer und die anständigen Honorare blühen ist der leichteste und sanfteste; | aber die sanften, glatten Wege sind ja nicht Jedermanns Sache; mancher will absolut „‘s Leiterli“ herauf statt mit der Eisenbahn auf den „Uetli“ zu fahren. Also, mein lieber Franklin, klettere über Stock und Stein; an „Stöcken“ wird‘s Dir nicht fehlen, das sind die Philister, die gleich sagen „aus dem wird nichts,“ wenn Einer ein wenig nebulirt; und die „Steine“ werden Dir die Kritiker auch in den Weg legen. Verliere aber deßwegen den Muth nicht und eile Dich nicht und laß dich nicht eilen durch die gänzlich falsche Idee: Du seiest Deinen Freunden eine Geistesthat schuldig. Sag‘ aber um Gotteswillen keinem der Schweizer-Philister Du gehest nach Berlin um ein Stück auf die Bühne zu bringen und Deiner | Muse zu leben. Sag ihnen eher Du gingest um die Runkelrübenkultur zu studiren, weil Du später auf dem Schloß Landwirthschaft treiben wollest; oder, wenn Dir das zu prosaisch ist, sag‘ lieber Du gehest um zu – lumpen, um das freie Leben frei zu genießen. Die Ehrbaren machen dann‘s Kreuz hinter Dir, aber Du bist dann doch den Druck los, daß in aller Eile etwas von Dir erwartet wird. Deine Mutter ist so klug und gut, daß sie Dir nicht unbequem wird, e die Andern laß es Dir nicht werden. –
            Wenn Du nach Berlin gehst mußt Du zu Hartmann‘s; ich geb Dir einen Brief mit und Du wirst Dir dort gefallen; sie üben eine sehr angenehme, „heimelige“ Gastfreundschaft, und sehen gerne junge Leute bei sich. |
                                                                                                           3
            Gleich nach Neujahr schreibe ich an Deine Mutter. Gieb ihr heute meine aller herzlichsten Grüße. Ebenso grüße Deine Schwestern und Bruder Doctor wenn Du ihn siehst. –         
            Ich bat seiner Zeit Frau Dr. Gemter mir Deine Feuilletons, die sie mir rühmte, zu senden; es geschah nicht. Wenn Du entbehrliche Ex. hast, würden mich solche recht freuen. Solltest Du aufgelegt sein mit Deiner alten, jetzt leider ja so einsamen und an Herzensfreude verarmten Freundin zu plaudern, so sollte es mich sehr freuen und bitte Dich doch nicht abhalten zu lassen, weil Du noch keinSchreibweise Olga Plümachers statt "keinen". Anspruch auf einen Paragraphen in der Literaturgeschichte für höhere Töchter hast. | Meine „Geistesthat“ ist auch immer noch nicht abgeschloßen. Meine „Geschichte des Begriffes des unbewußten Geistes“, wo ich beim Thales anfing um beim Hartmann zu enden ist auch noch immer Embrio; sie wird wohl kaum zur Reife kommen, mir fehlt der Glaube an der Nützlichkeit meiner Arbeit und der Frohmuth der Seele, der erste Bedingung zu geistiger Arbeit ist. Ich bin nicht mehr die ich war seidSchreibweise Olga Plümachers statt "seit". mein Junge mir entrißen ist. – Adieu nun lieber Franklin; laß‘ also in jedem Fall von Dir hören bevor Du nach Berlin gehst. Wie stellst Du Dich zum neuen Realismus? Ich habe manches in dieser Richtung gelesen in neuester Zeit; könntest mal Deine Meinung hierüber von StappelSchreibweise Olga Plümachers statt "Stapel". laßen. Deine alte
            Tante O. Plümacher. /
Erinnerst Du Dich des Arnold Hünerwadel‘s? Er hat diese Woche hier in Beersheba eine schöne Farm geheirathet und eine Frau dazu übernommen, die 4 Jahre älter ist als er. Das ist auch Realismus.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 10 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 12,5 x 20 cm. Oktav. Gelocht.
Schreibraum:
Auf der 10. Seite ist der Text linksseitig durch das mehrzeilige Postskriptum längs überschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Beersheba Springs
    28. Dezember 1888 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort


    Datum unbekannt

  • Empfangsort


    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek. Monacensia (München) et Olga Plümacher

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 130
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken dem Literaturarchiv der Monacensia, München, für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Olga Plümacher an Frank Wedekind, 28.12.1888. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (08.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Prof. Dr. Hartmut Vincon

Zuletzt aktualisiert

01.07.2019 09:48