Sonntag, den 13. September 1914.
Lieber Artur!
Herzinnigen Dank für Deine liebe Karte vom 3. Septembernicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Artur Kutscher an Wedekind, 3.9.1914., die
ich heute erhielt. Wir waren hier schon alle einigermaßen besorgt um Dich da
niemand etwas von Dir gehört hatte. Vor drei Tagen holte ich mir bei Deiner
HauswirtinKutschers nicht identifizierte Vermieterin wohnte in München offenbar in der Adelgundenstraße, während Kutscher zuletzt in der Helmtrudenstraße 5 gewohnt hat. in der Adelgundenstraße Deine Adresse, von der mir Fred aber gestern
AbendWedekind verbrachte den Abend des 12.9.1914 „mit Fred“ [Tb], dem Schriftsteller W. Fred (Alfred Wechsler), im Hoftheaterrestaurant. noch sagte, daß sie nicht ausreiche. Der Himmel schütze Dich und | behüte
Dich uns allen und Deinen lieben Angehörigen. Hier herrscht die gedrückte
Stimmung des Abwartenmüssens, nur unterbrochen von der fieberhaften Spannung,
mit der wir Eure SiegeAnspielung auf die in der Presse breit bejubelten Erfolge des deutschen Heeres an der Westfront. verfolgen. Dr. von Jakobi hat eine leichte Verwundung am
FußWedekind dürfte schon einige Tage über die Kriegsverletzung des Münchner Hoftheaterschauspielers Bernhard von Jacoby informiert gewesen sein ‒ wie Erich Mühsam: „Bernhard v. Jacoby ist verwundet. Er liegt mit einer Schußwunde im Fuß in Tübingen [...]. Es scheint also keine allzu gefährliche Blessur zu sein, und der Invalide wird wohl in einigen Tagen in München eintreffen“ [Tb Mühsam, 8.9.1914], was dann der Fall war: „Jacobi ist in München angelangt“ [Tb Mühsam, 16.9.1914]. Wedekind hat Jacobi nachweislich zuletzt nach seinem Autorenabend in Kutschers Seminar am 17.7.1914 bei einem „Gelage“ [Tb] gesehen. Kutscher unternahm mit Jakobi kurz vor Kriegsbeginn am 25.7.1914 eine Reise nach Tirol, die Anfang August abgebrochen wurde [vgl. Kutscher 1960, S. 103-106; Kutscher 1915, S. 1-5] ‒ für beide ging es danach an die Front. erhalten, die ihn in einigen Tagen nach München bringen soll. Heute steht
zum ersten Mal etwas von einem schüchternen FriedensvermittlungsversuchDie deutschsprachigen Pressemeldungen beriefen sich auf Berichte in englischen, französischen, russischen und amerikanischen Zeitungen [vgl. Angebliche Versuche des Präsidenten Wilson zur Friedensvermittlung. In: Neue Freie Presse, Nr. 17979, 13.9.1914, Morgenblatt, S. 6; Eine Friedensaktion des Präsidenten Wilson. In: Neues Wiener Journal, Jg. 22, Nr. 7501, 13.9.1914, S. 1; Wilsons Vermittlungsabsichten. In: Prager Tagblatt, Jg. 39, Nr. 251, 13.9.1914, Abend-Ausgabe, S. 1]. des
amerikanischen Präsidenten in den Blättern. Der hartnäckigste Widerstand | scheint
in GalizienAnspielung auf die am 23.8.1914 begonnene sogenannte Schlacht in Galizien (eigentlich mehrere Schlachten), bei der es den russischen Truppen bis zum 2.9.1914 gelang, weite Teile Galiziens mit dem Großteil der Bukowina zu besetzen, ein Rückschlag für Österreich. zu bestehen, während in OstpreußenAnspielung auf die Schlacht von Tannenberg vom 26. bis 30.8.1914, die mit einem bedeutenden (später propagandistisch überhöhten) Sieg der deutschen über die russischen Truppen endete, ein großer Erfolg an der Ostfront für die deutsche Seite. sich offenbar alles zum Guten
gewandt hat. Gerhart Hauptmann hat eine ZeitungsfehdeNach Gerhart Hauptmanns Artikel „Gegen Unwahrheit“ am 26.8.1914 im „Berliner Tageblatt“ [Jg. 43, Nr. 431, Morgen-Ausgabe, S. (2-3)], in dem er sich gegen Zuschreibungen wandte, die Deutschen seien ‚Barbaren‘, und dabei namentlich Maurice Maeterlinck angriff (der „verblendete Gallomanne Maeterlinck“ habe von „Barbaren“ gesprochen, aber „bei uns seinen Ruhm und sein Gold gewonnen“), publizierte Romain Rolland einen auf den 29.8.1914 datierten offenen Brief an Hauptmann im „Journal de Genève“ [Jg. 85, Nr. 241, 2.9.1914, S. 1], der andernorts mit einem anders lautenden Auftakt gedruckt wurde, welcher sich direkt auf die Polemik gegen Maeterlinck bezog: „Gerhart Hauptmann a écrit un article violent contre Maeterlinck“ [Une lettre de Romain Rolland. In: Gazette de Lausanne, Nr. 240, 2.9.1914, S. (2)]. Rollands offener Brief aus dem „Journal de Genève“ wurde übersetzt am 10.9.1914 zusammen mit Hauptmanns Antwort in der „Vossische Zeitung“ abgedruckt [vgl. Romain Rolland und Gerhart Hauptmann. Ein Briefwechsel. In: Vossische Zeitung, Nr. 640, Abend-Ausgabe, S. (2-3)]. Hauptmanns Artikel „Gegen Unwahrheit“ war eine Quelle für Wedekinds Kriegsrede in den Kammerspielen [vgl. KSA 5/III, S. 506]. mit Maeterlink und Romain
Rolland ausgefochten. Die Gesellschaft, die ich hier treffe, besteht aus Halbe
Mühsam Friedenthal Martens und Fred. Man erzählte, daß Du sicherlich gleich an
den ersten Kämpfen theilgenommen habest, mehr hatte bis jetzt niemand über Dich
erfahren. Halbe sprach einen sehr schönen Prolog zu seiner ,,Freiheit“Max Halbe sprach sein kriegsbegeistertes Gedicht „Krieg!“ am Vorabend der Vorstellung seines Historiendramas „Freiheit. Ein Schauspiel von 1812“ am 23.8.1914 am Münchner Schauspielhaus (am 22.8.1914 stand nichts auf dem Spielplan), worauf auch die redaktionelle Vormerkung zum Erstdruck von Halbes Gedicht Bezug nimmt: „Die folgenden Verse wurden als Prolog zu Max Halbes Schauspiel ‚Freiheit‘ in München am 22. August 1914 gesprochen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 43, Nr. 452, 6.9.1914, Morgen-Ausgabe, 2. Beiblatt, S. (1)] Halbes Gedicht zählt zu den Quellen für Wedekinds Kriegsrede in den Kammerspielen [vgl. KSA 5/III, S. 506f.]. die im
Schauspielhaus aufgeführt wurde. | Nächsten Freitag soll ein patriotischer
AbendWedekind hielt zu seinem am 18.9.1914 in den Münchner Kammerspielen gehaltenen Kriegsvortrag fest: „Patriotischer Abend in den Kammerspielen. Ich spreche die Einleitung“ [Tb]. Die Veranstaltung fand in der Presse eine Wedekinds Ausführungen durchaus lobende Resonanz [vgl. KSA 5/III, S. 508f., 518f.]. Sein handschriftlich nur in Entwürfen erhaltener Vortrag ist in unterschiedlichen Druckfassungen überliefert, als „Kriegsworte Frank Wedekinds (Vortrag des Dichters, gehalten in der Vaterländischen Feier der Münchner Kammerspiele)“ und als „Deutschland bringt die Freiheit“ [KSA 5/II, S. 520-529] am 21. und 27.9.1914 in Berliner Zeitungen gedruckt [vgl. KSA 5/III, S. 496-506]. in den Kammerspielen stattfinden, den ich voraussichtlich mit einigen
Worten über den Krieg einleiten werde. Den Ort Zonaque
oder JonanneDer französische Ortsname war in Kutschers verschollener Postkarte vom 3.9.1914 offenbar schwer leserlich; der gemeinte Ort ist nach Kutschers „Kriegstagebuch“ nicht zu identifizieren. finde ich ers im Register meines
Atlas, aber nicht auf der Karte. Offenbar liegt er westlich von Paris. Dann
hättest Du also den weitesten Weg mitgemacht den unsere Truppen bis jetzt
zurückgelegt. Hoffentlich treffen Dich diese Zeilen gesund und wohl. Ich warte
nicht auf Antwort, um Dir wieder Nachricht zu geben. In einigen Tagen erhältst
Du eine Cartevgl. Wedekind an Artur Kutscher, 22.9.1914.. Bleib gesund und frohen Mutes. Mit treuen Wünschen und
herzlichsten Grüßen auch von meiner Frau
Dein treuer
Frank Wedekind.
[Kuvert:]
Feldpostbrief
An den Leutnant und KompanieführerArtur Kutscher wurde am 1.9.1914 „zum Kompanieführer der 8. Kompanie ernannt“ [Kutscher 1915, S. 77]. Dr.
Artur Kutscher
Bayer. II Armee korps.
19. Reserve .... Division
8. Reserve Infant. Regiment Nr. 92
Bataillon Nr.
Abteilung Nr.
Kompanie Nr.
Eskadron
Batterie
Kolonne Nr.
Die Angabe eines
Bestimmungsorts unterbleibt, wenn der Empfänger zu den Truppen gehört, die
infolge von Marschbewegungen den Standort wechseln.
(5. 13) |
Absender
Name Frank Wedekind
Wohnung in München Prinzregenten Straße Nr. 50