Kennung: 142

Stein am Rhein, 2. Mai 1886 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Plümacher, Olga

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

                                                                                                                                                                                                            Stein a/Rh d. 2 Mai
                                                                                                             1886.
Mein lieber Franklin!

Empfange meinen beßtenSchreibweise Olga Plümachers statt "beste" Dank für Deinen Brief vom III. April. Es freut mich daraus zu vernehmen, daß Du wohl bist und ein reges inneres Leben führst viel aufnehmend und verarbeitend. Ebenso freut es mich, daß Du noch länger in München bleiben kannst, wo Dir so viel Kunstgenüße zu theil werden.
            Was nun Deine tragisch-komische Posse betrifft, so wünsche ich dieser bucklichen Gracie (denn ein solches Gebilde dünkt mich eine tragisch angehauchte Posse) alles | Gute auf ihren Lebensweg. Möge sie Gnade finden vor den Augen eines Schauspielintendanten oder Directors und vor das Publikum gelangen. Hast Du nur einigen Erfolg damit, d.h. wenn sie nur überhaupt aufgeführt wird, nicht ausgezischt wird und so viel Honorar einträgt, daß es Dir das Papier und die bei deren Unterbringung ausgelegten Porto-Unkosten und abgelaufenen StiefelsolenSchreibweise Olga Plümachers statt "Stiefelsohlen". zahlt, so brauchst Du gar nicht so ängstlich die Anonymität der Autorschaft zu wahren. Denn wenn man eine wirkliche wizigeSchreibweise Olga Plümachers statt "witzig". Posse zu schreiben vermag, so ist das ein Zeichen, daß man ein ganz gescheiter Bursch ist, und wohl das Zeug dazu besitzt | auch auf einem andern Felde seinen Gaul zu tummeln. Was nun Deine Eigenthümlichkeit betrifft, daß aus den als Novellen geplanten Geschichten Romane (dem Umfang nach) werden, so ist das eben eine Wirkung der zu ungebändigten jugendlichen Sprudelkraft des Geistes: es will alles was in Kopf und Herz gärt mit einem mal heraus strömen in die eine Form, die dann, dafür sich zu rege erweist, und auseinander getrieben wird. Dazu kommt vielleicht noch ein Anderes. Kannst Du, wenn Du die Hand auf‘s Herz legst, mit gutem literarischem Gewissen sagen: „ich weiß den Unterschied zwischen demjenigen, | was ein richtiger Romanstoff, und demjenigen was ein Novellenstoff charakterisirt; ich weiß ganz genau den Unterschied zwischen Roman u. Novelle, so daß auch meine längste Novelle kein Roman, mein kürzester Roman keine Novelle wird?! Kannst Du so sagen? Vielleicht nicht; es giebt sehr gute, und sehr beliebte Schriftsteller, die es nicht können. Insbesonders Frauen können keine Novellen schreiben, und die meisten englischen „Novells“ sind richtige „Romane“. Dagegen werden in Amerika für die feinen „Periodicals“ reizende, ganz knapp gehaltene Novellen geschrieben. Ich vermuthe es |
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hängt etwas von der Nationalität ab, ob es einem fabulirenden Geiste näher liegt eine Novelle oder einen Roman zu produciren. Hast Du Freude an Deinem Stoff, so lasse ihn ja nicht deßwegen liegen weil er Dir die Novellenform gespregtSchreibversehen Olga Plümachers statt "gesprengt". hat. Schreibe einen (im Detail nur flüchtig ausgearbeiteten) Roman; und dann wenn dieser fertig ist, dann concentrire und destilire ihn im Geiste zur Novelle – wenn‘s geht. In sehr vielen Fällen gehts; in vielen Fällen aber wird der Roman den Stoff zu verschiedenen Novellen bieten. Will beides nicht gelingen, dann ist der Stoff auch kein Romanstoff, sondern er bildet | (aus dem Groben, im Rohguß) | nur eine Erzählung. Aber eine Erzählung ist auch was schönes; sind doch die liebenswürdigsten sogenanten Novellen von Gottfried Keller nichts anderes als Erzählungen. So in den „Züricher Novellen“, die alle sammt u. sonders keine Novellen sind, sondern Erzählungen, oder „Geschichten“ wie diejenigen der „Leute von Seldwyla“. Die Novelle ist die nächste VerwanteSchreibweise Olga Plümachers statt "Verwandte". zum Drama; so wenig wir uns nun auch veranlaßt sehen können für die reichen Stoffe, welche unser modernes Bewußtsein verlangt, um daran Genuß finden zu können, an der klassisch-zopfigen Regel von der „Einheit der Zeit u. des Ortes“ | festzuhalten, eben so wenig streng können wir diese Regel auf die „Novelle“ anwenden. Aber ganz vergeßen, daß diese Regel doch ihre Berechtigung, daß sie eines der grundlegendsten Charakteristicens für Drama u. Novelle bildet, das dürfen wir nicht. Götz v. Berlichingen ist eine dramatisirte Rittergeschichte und kein Drama, gerade so wie „Romeo u. Julia auf dem Lande“ („Leute von Seldwyla“) keine Novelle, sondern eine Erzählung, wenn auch eine, in der zweiten Hälfte novellistisch krystallisirte Geschichte, resp. Erzählung ist. Einheit von Zeit u. Ort bleibt für das Drama wie für die Novelle die ideale Forderung, d.h. derjenige | Stoff ist der beßteSchreibweise Olga Plümachers statt "beste". Stoff für das eine oder das andere, der sich willig dieser Regel fügt; Ein Stoff, dessen Handlung innerhalb eines ganz engenr räumlicher und zeitlicher Grenzen verläuft ist ein Novellenstoff, wenn er hauptsächlich innerlich und durch bloßes Reden vermittelt verläuft; er ist ein Dramenstoff, wenn er dabei in energischen Handlungen sich kund giebt.
            Verzeihe, wenn ich da Dinge geschwazt habe, die Dir natürlich auch geläufig sind. Aber ich meinte meine durch Deinen Brief erregten Gedanken aussprechen zu müßen, weil das zuweilen das schon längst bekannte u. gewußte in anderer Form |
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und zu anderer Zeit wieder vernommen eine andere Wirkung hat. Es ging mir darum Dich dadurch zu ermuthigen der/ie/ begonnenen Arbeit deßwegen nicht liegen zu lassen, weil sie ein Roman zu werden drohe, statt einer Novelle; denn vielleicht ist der Roman, den sie in erster Linie vorstellt nur der punctirte und roh zurecht gehauene Block, aus dem dann erst unter der Hand des Bildhauers die Statur, respective unter der concentrirenden Bearbeitung die Novelle entsteht. –
            Ich hätte Dir schon früher geschrieben, aber es ist eine so gar kummervolle Zeit für | mich mit Hermanns Erkrankung angegangen. Mein Herz war all‘ die Monate so schwer belastet, daß auch mein Kopf dadurch behindert ward; ich habe nur immer die eine bange Frage ventilirt: wie soll es mit meinem armen Jungen werden. So habe ich denSchreibweise Olga Plümachers statt "den". nicht nur nicht an meinem Buche gearbeitet, sondern auch meine Correspondenz hat darunter leiden müßen; nur das Nothwendigste wurde erledigt. Deinen Brief an Hermann habe ich sofort an denselben weiter dirigirt; er ist seidSchreibweise Olga Plümachers statt "seit". dem 20 März in Gersau und lauten die zwei letzten Briefe etwas | tröstlicher als die früheren. Er habe auch wieder 2 Pfund an Gewicht zugenommen – immerhin ein gutes Zeichen.
            Ich erlaube mir Dir hier einige Zeilen an Conrad von der „Gesellschaft“ einzulegen, mit der Bitte dieselben gelegentlich abzugeben und Antwort in Empfang zu nehmen. Die Katzengeschichte kannst Du im Sommer mit zurück bringen; es liegt weiter ja nichts daran, und bedaure nur Dir damit so viel Mühe gemacht zu haben.
            Doch nun will ich schließen, denn irgend etwas Neues weiß ich Dir doch nicht zu berichten; mein Leben ist von | der größten Einförmigkeit; ich sticke den größten Theil des Tages, Abends spaziere ich mit Dagmar und Louise ein Bischen und Aben nach dem Thee lese ich noch ein wenig (Zeller‘s Geschichte d. griechischen Phil.) und dann danke ich Gott, daß wieder ein Tag abgeleiert ist – und wenn‘s der letzte wäre, so wäre es mir auch sehr gleichgültig, denn die Zukunft liegt grau in grau vor mir.
            Lebe wohl mein lieber Franklin; genieße das Leben in vollen Zügen, so lange es Dir noch genüßlich erscheint; producire lustig drauf los: erst aus dem rohen und vollen, und nachher seihe u. sichte und scheide aus, was beßer anderweitig verwerthet werden kann, nach dem Worte: „in der Beschränkung zeiget sich der Meister"!             Schreibe mir auch / gelegentlich wieder; junge Briefe thun meinSchreibweise Olga Plümachers statt "meinem". alten, müden Kopfe wohl.   Deine alte Freundin O. Plümacher.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 12 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 11,5 x 18,5 cm. Klein-Oktav. Gelocht.
Schreibraum:
Auf Seite 12 sind am linken Seitenrand der Schluss und der Gruß des Briefes zweizeilig niedergeschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Stein am Rhein
    2. Mai 1886 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort


    Datum unbekannt

  • Empfangsort


    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek. Monacensia (München) et Olga Plümacher

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 130
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken dem Literaturarchiv der Monacensia, München, für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Olga Plümacher an Frank Wedekind, 2.5.1886. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (08.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Prof. Dr. Hartmut Vincon

Zuletzt aktualisiert

01.07.2019 09:48