Stein a/Rh
d. 2 Mai
1886.
Mein
lieber Franklin!
Empfange
meinen beßtenSchreibweise Olga Plümachers statt "beste" Dank für Deinen Brief vom III. April.
Es freut mich daraus zu vernehmen, daß Du wohl bist und ein reges inneres Leben
führst viel aufnehmend und verarbeitend. Ebenso freut es mich, daß Du noch
länger in München bleiben kannst, wo Dir so viel Kunstgenüße zu theil werden.
Was nun Deine
tragisch-komische Posse betrifft, so wünsche ich dieser bucklichen Gracie (denn
ein solches Gebilde dünkt mich eine tragisch angehauchte Posse) alles | Gute
auf ihren Lebensweg. Möge sie Gnade finden vor den Augen eines
Schauspielintendanten oder Directors und vor das Publikum gelangen. Hast Du nur
einigen Erfolg damit, d.h. wenn sie nur überhaupt aufgeführt wird, nicht
ausgezischt wird und so viel Honorar einträgt, daß es Dir das Papier und
die bei deren Unterbringung ausgelegten Porto-Unkosten und abgelaufenen StiefelsolenSchreibweise Olga Plümachers statt "Stiefelsohlen". zahlt, so brauchst Du gar nicht so
ängstlich die Anonymität der Autorschaft zu wahren. Denn wenn man eine wirkliche
wizigeSchreibweise Olga Plümachers statt "witzig". Posse zu schreiben vermag, so ist das ein
Zeichen, daß man ein ganz gescheiter Bursch ist, und wohl das Zeug dazu besitzt
| auch auf einem andern Felde seinen Gaul zu tummeln. Was nun Deine
Eigenthümlichkeit betrifft, daß aus den als Novellen geplanten Geschichten
Romane (dem Umfang nach) werden, so ist das eben eine Wirkung der zu
ungebändigten jugendlichen Sprudelkraft des Geistes: es will alles was in Kopf
und Herz gärt mit einem mal heraus strömen in die eine Form, die
dann, dafür sich zu rege erweist, und auseinander getrieben wird. Dazu
kommt vielleicht noch ein Anderes. Kannst Du, wenn Du die Hand auf‘s Herz
legst, mit gutem literarischem Gewissen sagen: „ich weiß den Unterschied
zwischen demjenigen, | was ein richtiger Romanstoff, und demjenigen was
ein Novellenstoff charakterisirt; ich weiß ganz genau den Unterschied
zwischen Roman u. Novelle, so daß auch meine längste Novelle kein Roman,
mein kürzester Roman keine Novelle wird?! Kannst Du so sagen?
Vielleicht nicht; es giebt sehr gute, und sehr beliebte Schriftsteller, die
es nicht können. Insbesonders Frauen können keine Novellen schreiben, und
die meisten englischen „Novells“ sind richtige „Romane“.
Dagegen werden in Amerika für die feinen „Periodicals“ reizende, ganz knapp
gehaltene Novellen geschrieben. Ich vermuthe es |
2.
hängt etwas von der
Nationalität ab, ob es einem fabulirenden Geiste näher liegt eine Novelle oder
einen Roman zu produciren. Hast Du Freude an Deinem Stoff, so lasse ihn ja nicht
deßwegen liegen weil er Dir die Novellenform gespregtSchreibversehen Olga Plümachers statt "gesprengt".
hat. Schreibe einen (im Detail nur flüchtig ausgearbeiteten) Roman; und
dann wenn dieser fertig ist, dann concentrire und destilire ihn im Geiste zur
Novelle – wenn‘s geht. In sehr vielen Fällen gehts; in vielen Fällen
aber wird der Roman den Stoff zu verschiedenen Novellen bieten. Will beides
nicht gelingen, dann ist der Stoff auch kein Romanstoff, sondern er bildet |
(aus dem Groben, im Rohguß) | nur eine Erzählung. Aber eine Erzählung ist auch
was schönes; sind doch die liebenswürdigsten sogenanten Novellen von
Gottfried Keller nichts anderes als Erzählungen. So in den „Züricher Novellen“,
die alle sammt u. sonders keine Novellen sind, sondern Erzählungen,
oder „Geschichten“ wie diejenigen der „Leute von Seldwyla“. Die Novelle ist die
nächste VerwanteSchreibweise Olga Plümachers statt "Verwandte". zum Drama; so wenig wir uns nun
auch veranlaßt sehen können für die reichen Stoffe,
welche unser modernes Bewußtsein verlangt, um daran Genuß finden zu können, an
der klassisch-zopfigen Regel von der „Einheit der Zeit u. des Ortes“ | festzuhalten,
eben so wenig streng können wir diese Regel auf die „Novelle“ anwenden. Aber
ganz vergeßen, daß diese Regel doch ihre Berechtigung, daß sie eines der
grundlegendsten Charakteristicens für Drama u. Novelle bildet, das dürfen wir
nicht. Götz v. Berlichingen ist eine dramatisirte Rittergeschichte und kein
Drama, gerade so wie „Romeo u. Julia auf dem Lande“ („Leute von Seldwyla“)
keine Novelle, sondern eine Erzählung, wenn auch eine, in der zweiten Hälfte
novellistisch krystallisirte Geschichte, resp. Erzählung ist. Einheit von Zeit
u. Ort bleibt für das Drama wie für die Novelle die ideale Forderung,
d.h. derjenige | Stoff ist der beßteSchreibweise Olga Plümachers statt "beste". Stoff für das eine oder das andere,
der sich willig dieser Regel fügt; Ein Stoff, dessen Handlung innerhalb eines
ganz engenr räumlicher und zeitlicher Grenzen verläuft ist ein
Novellenstoff, wenn er hauptsächlich innerlich und durch bloßes Reden
vermittelt verläuft; er ist ein Dramenstoff, wenn er dabei in energischen
Handlungen sich kund giebt.
Verzeihe, wenn ich da Dinge
geschwazt habe, die Dir natürlich auch geläufig sind. Aber ich meinte meine durch Deinen Brief erregten Gedanken
aussprechen zu müßen, weil das zuweilen das schon längst bekannte u.
gewußte in anderer Form |
3.
und zu anderer Zeit wieder vernommen eine
andere Wirkung hat. Es ging mir darum Dich dadurch zu ermuthigen der/ie/
begonnenen Arbeit deßwegen nicht liegen zu lassen, weil sie ein Roman zu
werden drohe, statt einer Novelle; denn vielleicht ist der Roman, den sie in
erster Linie vorstellt nur der punctirte und roh zurecht gehauene Block, aus
dem dann erst unter der Hand des Bildhauers die Statur, respective unter der
concentrirenden Bearbeitung die Novelle entsteht. –
Ich hätte Dir schon früher
geschrieben, aber es ist eine so gar kummervolle Zeit für | mich mit Hermanns
Erkrankung angegangen. Mein Herz war all‘ die Monate so schwer belastet, daß
auch mein Kopf dadurch behindert ward; ich habe nur immer die eine bange Frage
ventilirt: wie soll es mit meinem armen Jungen werden. So habe ich denSchreibweise Olga Plümachers statt "den". nicht nur nicht an meinem Buche gearbeitet,
sondern auch meine Correspondenz hat darunter leiden müßen; nur das
Nothwendigste wurde erledigt. Deinen Brief an Hermann habe ich sofort an
denselben weiter dirigirt; er ist seidSchreibweise Olga Plümachers statt "seit". dem 20
März in Gersau und lauten die zwei letzten Briefe etwas | tröstlicher als die
früheren. Er habe auch wieder 2 Pfund an Gewicht zugenommen – immerhin ein
gutes Zeichen.
Ich erlaube mir Dir hier einige
Zeilen an Conrad von der „Gesellschaft“ einzulegen, mit der Bitte dieselben
gelegentlich abzugeben und Antwort in Empfang zu nehmen. Die Katzengeschichte
kannst Du im Sommer mit zurück bringen; es liegt weiter ja nichts daran, und
bedaure nur Dir damit so viel Mühe gemacht zu haben.
Doch nun will ich schließen,
denn irgend etwas Neues weiß ich Dir doch nicht zu berichten; mein Leben ist
von | der größten Einförmigkeit; ich sticke den größten Theil des Tages, Abends
spaziere ich mit Dagmar und Louise ein Bischen und Aben nach dem Thee lese
ich noch ein wenig (Zeller‘s Geschichte d. griechischen
Phil.) und dann danke ich Gott, daß wieder ein Tag abgeleiert ist – und wenn‘s
der letzte wäre, so wäre es mir auch sehr gleichgültig, denn die Zukunft liegt
grau in grau vor mir.
Lebe wohl mein lieber
Franklin; genieße das Leben in vollen Zügen, so lange es Dir noch
genüßlich erscheint; producire lustig drauf los: erst aus dem rohen und
vollen, und nachher seihe u. sichte und scheide aus, was beßer anderweitig
verwerthet werden kann, nach dem Worte: „in der Beschränkung zeiget sich der
Meister"! Schreibe mir
auch / gelegentlich wieder; junge Briefe thun meinSchreibweise Olga Plümachers statt "meinem".
alten, müden Kopfe wohl. Deine alte Freundin O.
Plümacher.