Kennung: 1381

Lenzburg, 16. August 1903 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Uhl, Marie

Inhalt

Hochgeehrte gnädige Frau!

Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist übermorgen den 18. Fritzis GeburtstagFriedrich Strindberg, der 1897 geborene Sohn aus Wedekinds Beziehung mit Frida Strindberg, wurde am 21.8.1903 (nicht am 18.8., wie Wedekind irrtümlich annahm) sechs Jahre alt. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in der Obhut von Fridas Mutter Marie Uhl. Wedekind lernte seinen Sohn erst im September 1913 in Berlin persönlich kennen [vgl Tb 14.9.1913]. und dabei möchte ich mich wenigstens mit einem Zeichen meines guten Willens einfinden. Ich übersende ihm deshalb den HänsekenWedekinds illustriertes Bilderbuch „Der Hänseken. Ein Kinderepos“ ‒ entstanden als Geschenk für die Schwester Emilie (genannt Mati) zu Weihnachten 1879 ‒ erschien 1896 als Buchausgabe im Verlag Albert Langen (München). Die Verse stammen von Frank Wedekind, die Zeichnungen von seinem Bruder Armin.. Fritzi hätte allerdings als erster ein Recht auf die KinderspieleWedekind hatte 1902 eine Reihe von Kinderspielzeugen – einen Diskus, eine Fahrradschaukel, ein Einrad für Kinder, ein für Radfahrer entwickeltes Ringelstechspiel und eine nach allen Seiten drehbare Kugel – entworfen zur Herstellung bei den Dresdener Werkstätten für Handwerkskunst eingereicht [vgl. KSA 6, S. 854]. Artur Kutscher berichtet, die Produkte seien „im Dezember“ 1902 „fertiggestellt und durch eine Musterrolle beim Amtsgericht geschützt. 1¼ Jahr später lief ein Honorar von 50 Mark ein.“ [Kutscher 2, S. 111f.] Die Verkauf verlief indes schleppend, wie die Firma Schmidt und Müller der Dresdener Werkstätten für Handwerkskunst Wedekind am 15.3.1904 mitteilte. die in Dresden nach meinen Angaben verfertigt worden sind. Ich selber habe | aber bis jetzt noch keines derselben in Wirklichkeit zu Gesicht bekommen sondern mich mit den Photographien der hergestellten Modelle begnügen müssen. Sobald die Sachen in mehreren Exemplaren hergestellt sind, wird sie Fritzi sofort erhalten. Wollen Sie ihn bitte die besten Glückwünsche von seinem ihm unbekannten Papa sagen. Wollen Sie ihn versichern, daß ich mich sehr darauf freue, ihn so bald als möglich kennen zu lernen. | Dieser Frühling als die Saison eben zu Ende ging hatte ich das Misgeschick den Fuß zu brechenWedekind war Mitte April 1903 in München auf der Straße ausgeglitten und hatte sich einen Unterschenkelbruch zugezogen.. Andernfalls hätte ich die Erfolge des letzten WintersWedekind dürfte vor allem auf die erfolgreiche Inszenierung seines Dramas „Erdgeist“ unter der Regie von Richard Vallentin am Kleinen Theater in Berlin (Direktion: Max Reinhardt) anspielen, die nach der Premiere am 17.12.1902 bis weit in das Jahr 1903 hinein gespielt wurde. in diesem Sommer besser ausnutzen können. Da ich aber einstweilen noch stark hinke, habe ich auch die Reise zu Ihnen immer noch verschoben und mich hier in eine lautlose Einsamkeit zurückgezogen, um ein neues StückVon Juli bis September 1903 arbeitete Wedekind in Lenzburg an seinem Stück „Hidalla oder Haben und Sein“ (1904). zu schreiben. Wie ich kurz vor meiner Abreise in München von Bekannten Fridas | hörte, waren Kerstin Kerstin Strindberg, die 1894 geborene Tochter aus der Ehe von Frida und August Strindberg, die 1897 geschieden wurde. Wie ihr Halbbruder Friedrich wuchs auch sie in der Obhut ihrer Großmutter auf.und Fritzi während des Sommers bei ihrem Großpapa in MondseeDie Familie Uhl besaß eine Sommervilla in Mondsee (Oberösterreich).. Fritzi ist jetzt sechs Jahr alt und wird wohl nächstens die Schule besuchen müssen. Seien Sie überzeugt, gnädiSchreibversehen, statt: gnädige. Frau, daß ich für jedes Wort, daß ich über ihn höre, so wenig Anspruch ich mich bis jetzt darauf erworben habe, sehr dankbar sein werde. Ich selber bin jetzt nahezu vierzig Jahr alt und in Anbetracht der Thatsache, daß man in dieser Hinsicht mit dem Alter nicht im Werthe | steigt, wird mir die Wahrscheinlichkeit immer größer, daß ich mich nicht mehr verheiraten werde. In diesem Falle wäre es selbstverständlich, daß Fritzi und ich noch einmal sehr gute Freunde werden. Fritzi kann mir mit Recht darauf erwidern, daß das alles Zukunftsmusik ist und nicht im entferntesten gegenüber dem in Betracht kommt, was seine AdoptivelternGemeint sind offenbar Marie und Friedrich Uhl, die jedoch seit geraumer Zeit getrennt voneinander lebten. bis jetzt für ihn gewesen sind und für ihn gethan haben. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur das eine | sagen, daß für mich das ganze Leben bis jetzt nur Zukunftsmusik war. Ich hoffe sehr, daß sich Fritzi sein Leben einmal etwas vernünftiger einrichtet und demzufolge mehr Dank davon hat, als es seinem Vater gelungen ist. Ich möchte durch diese Äußerung aber nicht den Anschein erwecken, als wollte ich Ihnen, gnädige Frau, etwas vorjammern. Ich sage das nur vom rein praktischen Gesichtspunkt aus.

Zu meinem großen Bedauern hörte ich von dem unersetzlichen Ver|lustDie Schriftstellerin und Journalistin Marie Weyr (geb. Uhl), die ältere Tochter von Marie und Friedrich Uhl und Ehefrau des prominenten Bildhauers Rudolf von Weyr, war am 19.4.1903 im Alter von 38 Jahren in Wien gestorben., der Sie im Laufe des letzten Winters betroffen hat, und bitte Sie, den Ausdruck meines erfüchtigen Beileids entgegenzunehmen.

Ich bitte Sie, trotz der obwaltenden Verhältnisse, mir Ihr Wohlwollen nicht entziehen zu wollen und grüße Sie und die beiden Kinder als Ihr ergebenster

Frank Wedekind


Lenzburg, Ct. Aargau, Schweiz.
16. August 1903.


[Kuvert:]


Frau Marie Uhl
Amstetten
Post Kammer
Oberösterreich |


Absender Wedekind. Lenzburg
Schweiz

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 9 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse auf dem Kuvert in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. 2 Doppelblatt. 7 Seiten beschrieben. Seitenmaß 13 x 21 cm. Kuvert. 14 x 11 cm. Alle gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf die Vorderseite des Kuverts ist ein Datierungsvermerk von Wedekinds Hand mit Bleistift geschrieben: „17.8.3“. Das Kuvert ist mit einer Briefmarke von 25 Rappen frankiert. Wedekinds Unterschrift auf Seite 6 des Briefs wurde herausgeschnitten. Darauf bezieht sich ein handschriftlicher Vermerk, den Tilly Wedekind mit blauer Tinte auf die folgende, von Wedekind nicht beschriebene letzte Seite des Briefs geschrieben hat: „Die Unterschrift Frank Wedekind von mir entfernt, für einen armen, kranken Verehrer von Frank, dem ich damit eine Freude machen wollte. | Tilly Wedekind.“

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der Brief konnte nicht zugestellt werden und wurde Wedekind nach Lenzburg zurückgesandt. Tatsächlich macht die Adresse auf dem Kuvert „Amstetten | Post Kammer | Oberösterreich“ wenig Sinn, da die Stadt Amstetten (Niederösterreich) mehr als 100 Kilometer von der oberösterreichischen Ortschaft Kammer (heute Teil der Gemeinde Schörfling am Attersee) entfernt liegt. Möglicherweise handelte es sich bei „Amstetten“ um den Namen einer Person, bei der die Adressatin in Kammer logierte? Auf dem Kuvert finden sich die folgenden Vermerke, welche die verschiedenen Zustellversuche dokumentieren: (1) Vorderseitig. Streichung der Adresse sowie Rücksendevermerk: „Retour Lenzburg“. (2) Rückseitig. Beim Zwischenstempel Seewalchen: „Seewalchen unbekannt [Unterschrift]“. (3) Beim zweiten Zwischenstempel Kammer: „unbekannt [Unterschrift]“. (4) Beim Zwischenstempel Amstetten: „In Amstetten NÖ unbekannt | R. [= Unterschrift]“. Uhrzeit im ersten Zwischenstempel Kammer: „8 N.“ (= 20 Uhr). Uhrzeit im zweiten Zwischenstempel Kammer: „3 N.“ (= 15 Uhr). Uhrzeit im Zwischenstempel Amstetten: „10 – 12 V“ (= 10 bis 12 Uhr).

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
101-103
Briefnummer:
212
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 210
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Marie Uhl, 16.8.1903. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Zuletzt aktualisiert

06.02.2024 13:15