Stein a/Rh den 21/XII
1884.
Mein
lieber Franklin!
BeßtenSchreibweiser Olga Plümachers statt "besten".
Dank für Deinen lieben interessanten Brief. Es hätte von Deiner Seite durchaus
keiner Entschuldigung wegen spätem Schreiben gebraucht. Die Correspondenz mit
mir soll Dir durchaus keine Last und keine übernommene Pflicht sein. So sehr
mich Deine Briefe freuen, bin ich doch nicht so selbstsüchtig, um solche zu
beanspruchen. Fühlst Du Dich angeregt dazu
mit mir über Gesehenes, Gehörtes, Gelesenes oder Empfundenes zu plaudern, so ist es mir
eine Freude und ein Genuß und kannst du meiner Theilnahme immer gewiß sein; wenn
Dich aber das Leben lustig schaukelt auf blauen Wogen des geistigen und ästhetischen
Genußes, dann | nimmt‘s die philosophische Tante auch nicht schief, wenn Du sie
mal für einige Wochen oder Monate vergißest.
Also Du gefällst Dir in München hast
viel schönes gesehen und viel interessantes gehört und findest auch
Jurisprudentia nicht gar zu ledern. Das freut mich alles herzlich. Dein
Fachstudium kann dir in jedem Falle nur nützen, auch wenn Du bestimmt sein
solltest in ganz anderem Gebiete dereinst zu schaffen und zu wirken. Gottf.
Keller, Conrad Ferd. Meier waren Juristen; so die Philosophen Lasson und v.
Kirchmann; nicht minder der geistvolle Journalist v. HolzendorfGemeint ist der Jurist Prof. Dr. Franz von Holtzendorff (1829-1889), Hochschullehrer in Berlin und München. Neben seinen zahlreichen Veröffentlichungen zum Strafrecht ist auch seine Schrift "Wesen und Werth der öffentlichen Meinung " (München 1879) zu nennen, weshalb Olga Plümacher wohl an dessen journalistische Arbeiten erinnerte. Holtzendorff war außerdem 1861-1873 Herausgeber der "Allgemeinen deutsche Strafrechtszeitung". und der Dichter und Culturhistoriker Felix Dahn
– und so noch sehr viele bedeutende Schriftsteller und Dichter. Also nur gedultigIm 19. Jahrhundert bereits veraltete Schreibweise für "geduldig". auch das Trockene an dem Fache mit geschluckt
– es giebt daneben auch so viel Historisch- und Kulturhistorisches in diesem
Gebiete, | das sich auch dichterisch sehr gut verwerthen läßt. – Was Du mir
über G. Max schreibst, war mir sehr interessant. Bezüglich des Mädchens mit dem
Tod im Auge, hast Du vollständig recht; das ist nicht mehr Kunst, sondern Kunststückchen,
das ästhetisch nicht höher steht als jene dreifachen Bilder, die man oft in der
Schweiz bei Bauern und kleinen Bürgern in der Stube hängen sieht, und von vorne
gesehen den Luther, von links den Calvin, von rechts den ZwingeGemeint ist der Reformator Huldrych (Ulrich) Zwingli (1484-1531), noch im 19. Jahrhundert auch genannt und geschrieben: Zwingel und Zwinge. (oder Kaiser, BismarkSchreibweise Olga Plümachers statt "Bismarck" (Otto von Bismarck, 1815-1898), erster deutscher Reichskanzler.
und MolkeSchreibversehen Olga Plümachers. Gemeint ist der Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke (1800-1891), Mitglied des Deutschen Reichstages. u.s.w.) sehen laßenSchreibweise Olga Plümachers statt "lassen". ; du kennst sie
gewiß! Ich hoffe, daß es Dir nicht an
Gelegenheit fehlen wird noch andere Stücke von R. Wagner zu hören als Rienzi
und die Meistersinger, und daß <DuSchreibversehen Olga Plümachers. Fehlendes "Du". > dann einen
beßerenSchreibweise Olga Plümachers statt "besseren". EindrukSchreibweise Olga Plümachers statt "Eindruck". von Wagner und seiner Kunst
erhalten wirst. Rienzi ist noch kein Drama nach Wagners Theorie; im Anfang der
40 Jahre | entstanden, ist es noch ganz nach dem Muster und Recept der „grand opera“, wie sie MeierbeerGiacomo Meyerbeer (1791-1864), Komponist. für Paris erfand (in den 30 Jahren)
gearbeitet. Um „Rienzi“ gerecht zu werden, muß man dieses Stück mit Meierbeer‘s
„Hugenotten“, „Robert der Teufel“ und „Prophet“, mit Auber‘s „Stummen“ und
„Halevy‘s „Jüdin“ vergleichen. Dann erkennt mannSchreibweise Olga Plümachers statt "man". ,
wie der junge Wagner schon die Alt-Meister überragte. „Tannhäuser“ ist
dann das Werk, wo Wagner‘s Genius die Form der grand
opera sprengt und in „Lohengrin“ hebt er zum ersten mal unbehemmt
die Schwingen.
Ich bin fest überzeugt, wenn Du
diese Stücke siehst und hörst, dann beginnst Du auch für Wagner zu schwärmen,
denn hier ist er eben schon ganz Wagner der Einzige, und doch bewegt er
sich noch in solchen Bahnen der Musi
musikalischen Form, daß ihn gewöhnliche Ohren, |
2.
d.h. das Ohr das nicht vorher
schon für seine Werke herangebildet ist, unmittelbar f genießend
folgen kann. Von seinen späteren Werken kenne ich leider so gut wie nichts.
Bloß noch die Einleitung z. Parsifal – die mich entzückte und die noch immer
ganz lebendig in mir lebt. Die Ouvertüre zu den „Meistersinger“ habe ich auch
gehört, weiß aber nichts davon, als daß sie verworren, und sehr herbe
und hart klang. Sehr viele Leute stoßen sich an den Meists. und an den
selben Scenen wie Du. Das Werk ist wohl auch nicht aus einem Guße. Es wurde
conciptirt in den 40. Jahren, als es Wagner, nach bösen Jahren, in Dresden
anfing wohl zu werden im Frieden bürgerlicher Auskömmlichkeit; dann kam die
Revolution (49) und es folgten die künstlerisch so fruchtbaren Jahre des Schweizer-
| exiles. Aber in diesen Jahren gingen die Wogen der Tragik hoch, und erst als
W. amnestirt war und wieder deutsches Land betrat, wurde rasch die/as/ seidherSchreibweise Olga Plümachers statt "seither". liegen gelaßene humoristische Opus wieder
hervorgezogen und nun vollendet. „Tristhan u. Isolde“ wirst Du wahrscheinlich
auch Gelegenheit haben zu hören; es wird von Vielen über die Niebelungen
gestellt und nebst „Parsifal“ als das Schönste was W. geschaffen erklärt. –
Wenn Du wieder in die Schack‘sche Gemälde-Gall.Schreibweise Olga Plümachers statt "Gal(erie)".
gehst, so sieh‘ doch mir zu liebe nach Bildern von Böcklin um. G. Schack
hat nämlich Böcklin sozusagen entdeckt und sehr protegirt, und wenn Du mir dann
wieder einmal schreibst, so sage mir was Du gesehen und s was für einen
Eindruck Dir das Geschaute gemacht hatt. – | Ich danke Dir und Deinem Bruder
Armin herzlich für die freundliche Einladung meines Jungens. Ich sende ihm
heute genügend Geld, daß er nach München reisen kann, wenn sein Principal ihm
Urlaub geben kann. Ich weis aber noch nicht wie es damit stehen wird. –
Anbei sende <ichSchreibversehen Olga Plümachers. Fehlendes "ich". >
Dir ein Büchlein von G. Lorm; die Sachen von Lorm, noch mehr als sie einem
direct geben, regen sehr wirksam zum Denken an.
Und nun lebe wohl lieber Franklin!
Sammle Weisheit und genieße das Schöne in vollen Zügen! Hoffentlich haben Dir
die frischen Winde, die in München wehen sollen, die Spinnengewebe etwas etwelchen g ungesunden Empfindens, welche sich in Lenzburg um Dein
junges Herz zu legen drohten, radikal fortgeweht. – Wenn mein Junge zu Euch
| kommt, so verführt mir ihn nicht; zeigt ihm nicht gar zu hübsche Münchenerinen
und schwärmt ihm nicht gar zu schönes vor vom freien Studentenleben, damit ihm,
zurückgekehrt, seine Schreibstube nicht gar zu grau vorkommt! Also adieu, u.
mögen Dich die Musen und die Gracien – aber die echten, klassischen, nicht
die mit den Riegelhauben – unter ihren Schutz u. Schirm nehmen!
Empfehle mich Deinem Bruder Armin.
Ich verbleibe Deine Dich aufrichtig
liebende Tante
O. Plümacher.