Stein a/Rh
den 23. Juni 1884.
Mein
lieber Franklin!
Herzlichen
Dank für Deinen Brief, den ich gestern erhielt. Ich glaubte wirklich ich sei
Dir einen Brief schuldig, und hätte Dir auch schon lange geschrieben, wenn ich
erstens Deine Adresse nicht erst vor 2 Tagen von Deiner Mutter erhalten hätte,
und wenn ich zweitens nicht erst hätte mein Buch wollen einbinden laßen, damit
Du es angenehmer lesen könnest, als en brochure,
wo bei größeren Büchern gewöhnlich die Bogen auseinander fallen, wenn man die
Blätter aufschneidet. Also hier ist nun das lang erwartete Machwerk! Lese es
gelegentlich und kritisire es rücksichtslos, es soll mir Freude machen Deine
Meinung zu hören, auch wenn sie | tadeln muß, denn „das Unfehlbar sein überlaßen
wir dem PabstSchreibweise Olga Plümachers. “ – wie Hartmann zu sagen pflegt.
Das Buch hat mir gestern schon einen Brief eingetragen, der mich recht heiter
stimmte. Schreibt mir da ein Herr Dr. August Siebenwitz aus Preßburg: er hätte
mein Buch mit größtem Interesse und Vergnügen gelesen, aber auch mit größtem
Befremden; denn warum in aller Welt schreibe ich „keine Sterbenssylbe“ von
seinem großen Werk „Schopenhauers Philosophie der Tragödie“? Er bitte mich
dringend ihm doch brieflich mitzutheilen, warum ich ihn übergangen habe. Nun,
ich habe dem guten Manne den Wunsch erfüllt und ihm geschrieben, daß ich einen
sehr triftigen Grund gehabt: ich hätte eben bis zur Stunde nichts von der
Existenz seines Buches | gewußt; wenn übrigens mein Buch eine zweite Auflage
erleben sollte, so wollte ich ihn berücksichtigen, falls sein Werk sich der
Oekonomie meines Planes einordnen laße. – Gestern war ein guter Tag; außer
Deinem Briefe (und dem erheiternden des Herrn Siebenwitz) erhielt ich auch eine
sehr schöne, wohlgelungene Photographie meines Jungen, zusamenSchreibversehen Olga Plümachers.
mit zwei Freunden; beides hübsche, intelligent-blickende junge Männer; die
„drei muntere Bursche“ bilden ein hübsches Kleeblatt, denn in dieser
Weise sind sie aufgestellt: zwei sitzend, der Kleinste, zwischen und hinter
ihnen stehend. - Aber auch sonst noch war es ein angenehmer Tag. Dagmar war den
Tag über fort, und da das Wetter äußerst lieblich war, so gedachte ich mir
einmal in freier Luft gütlich zu thun, ganz stille | und friedlich für mich
allein. Ich setzte mich also im Laufe des Nachmittags in den Bahnzug und fuhr
nach dem Dörflein MannebachSchreibweise Olga Plümachers, korrekt Mannenbach. Die Ortschaft im Kanton Thurgau (Schweiz) liegt am Südufer des Untersees (Bodensee) gegenüber der Insel Reichenau und wurde im Jahr 1875 an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Oberhalb davon liegt das Schlösschen Arenenberg. , wo die P BonabarteSchreibweise Olga Plümachers statt "Bonaparte".‘s Bürger
sind. Von dort stieg ich nach dem Schlößchen ArenabergAlternative Bezeichnung/Schreibweise im 19. Jahrhundert für Schloss Arenenberg bei Mannenbach. hinauf, um mir
wieder einmal die Bilder jener vergangenen Größen zu betrachten, zugleich aber
auch mich an der herlichenSchreibweise Olga Plümachers statt "herrlichen". Aussicht zu weiden,
die man von Arenaberg aus über den Untersee hin genießt. Das Gestade ist ein
Wald von Obstbäumen, besonders Mannebach liegt förmlich verstektSchreibweise Olga Plümachers. und verborgen in einem Hain schöner Nußbäume. Gerade vis-a-vis des Arenabergs dehnt sich die Insel ReichenauhSchreibweise Olga Plümachers statt "Reichenau". mit ihren drei Dörfern: Ober- Mittel- und
Unterzell, ihren zwei uralten Kirchen und dem alten weithin leuchtenden
Schloße. Darüber hinaus liegt die |
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B.
Einbuchtung
des Radolfzeller-Sees, im Hintergrund die Berge des Höhgaues; im Vordergrund
aber Dorf an Dorf und Schloß an Schloß, alles von Reben und Obst dicht
bekränzt. Es war auch eine herliche Beleuchtung,
wie ich sie ganz sonders liebe: der Himmel war leicht bewölkt; gerade genug,
daß man weder von grellem Licht noch von Hitze belästigt wurde, und doch nicht
so stark, daß Duster-Schatten auf die lachende Gegend fielen. Alles lag in
silbernem Dufte da, kühl, weich und wonnig. Im Schloße habe ich recht sehr
gewünscht, daß Du und mein Junge mit dabei sein möchtest.
Bevor Du nach Deutschland gehst,
solltest Du doch wirklich noch einmal zu mir kommen. Für längere Zeit wäre es
Dir ja natürlich langweilig, aber | zwei- oder dreimal vierundzwanzig Stunden
glaube ich würdest Du Dich mit der „philosophischen Tante“ ganz ordentlich
amüsiren, wenn wir nach den vielen schönen Orten der Steiner Nachbarschaft unsere
Entdeckungsreise machten. Arenaberg enthält eine ziemliche Anzahl Gemälde der
berühmtesten Maler des ersten Drittels dieses Jahrhunderts; meistens Portraits
der Napoleoniden, aber auch zwei große Landschaften von Calame und etwas MytologieSchreibweise Olga Plümachers statt "Mythologie".. Mich intressiren nur die Portraits. Wie
predigt da alles die Vergänglichkeit in diesen Räumen; warlichSchreibversehen Olga Plümachers statt "wahrlich".
das ist auch ein Capitel aus dem großen „Pessimismus-Buch“ der Weltgeschichte
dieses Schlößleins am Ufer des Untersees.
Das schönste Bild dünkt mich
Napoleon der erste auf der Brücke | von ArkolSchreibweise Olga Plümachers. Bei Arcole, Ort in der italienischen Provinz Verona, kämpften österreichische und französische Truppen gegeneinander. Die Brücke über das Flüsschen Alpon bei Arcole war heftig umkämpft. Schließlich gelang es den Franzosen an anderer Stelle über eine nachts in aller Stille über den Alpon errichtete Pontobrücke den Österreichern in den Rücken zu fallen, die sich daraufhin nach dreitägiger Schlacht (15.-17.11.1796) verlustreich zurückzogen.
mit der Fahne in der Hand. Man sieht nichts als den Kopf, alles andere
verschwindet vor dem Lichte des Genius, welches der Maler verstanden hat hier
auf die Leinwand zu zaubern. Napoleon ist hier noch ganz jung, noch ganz mager,
das bloße Gesicht, mit den dunkel umrandeten, brennenden Augen ist wie aus
Elfenbein genittenSchreibversehen Olga Plümachers statt "geschnitten".; hier ist noch keiner
jener harten Züge wahrzunehmen, die später, als N. stark zu werden anfing die
häßlichen Eigenschaften seines Charakters andeuteten; hier ist er eben nur das
Welteroberer-Genie. Eigenthümlich ist es, daß die schweisfeuchtenSchreibweise Olga Plümachers statt "schweißfeuchten".
Haare, die der Wind in die Stirne bläst dunkelblond gemalt sind. Ist das
eine Phantasie des Malers, oder war N. I in der Jugend hell, wie auch sein
Sohn, der | Herzog von Reichstadt, blond war, und wie Napoleon der III, es nach
allen Berichten, die ich hörte von Leuten die ihn persönlich gekannt haben, es
gewesen sein soll, obgleich er dagegen hier auf einem Bilde sehr dunkel, fast
schwarz erscheint. Es ist übrigens merkwürdig: auch die Haarfarbe ist der Mode
unterworfen; und wenn nun eine Farbe gerade in der Mode ist, so ist auch bei
den modischen Malern die Neigung vorhanden die Leute ein bischenFrühere, noch im 19. Jahrhundert gebräuchliche Schreibweise für "bisschen". dunkler oder ein bischen
heller zu malen, je nach dem, um sie dem Mode-Ideal näher zu bringen. In den
30.er Jahren waren " Schwarze „Locken“ – „mild, dicht
und weich“ in die Stirne „geweht“ die Mode – und
ich glaube, daß Byrons Helden, Giaur, Korsar u.s.w. sehr mitbestimmend
für |
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für diese Mode waren. Auf diesem
Bild ist der Prinz Louis (wie man damals den spätern Napoleon III nanteSchreibweise Olga Plümachers statt "nannte". ) ganz romantisch aufgefaßt: in einer Schnee-
Sturm- und Mondschein-Nacht steigt er, den Hut in der Hand, die „schwarzen
Locken“ vom „Sturm“ verweht den Schloßberg hinauf, den – natürlich auch
schwarzen – schnaubenden Gaul am Zügel führend. – Aus derselben Zeit ungefähr ist
ein Bild der Königin HortenceSchreibweise Olga Plümachers statt "Hortense". Hortense de Beauharnais (1783-1837) war mit Louis Napoléon Bonaparte, dem jüngeren Bruder von Napoleon Bonaparte (1778-1846), König von Holland, verheiratet (1802-1810). , das sie in
Lebensgröße und ganzer Figur am Piano sitzend zeigt. Wenn man einen Sohn hat
der im Mondschein mit einem schwarzen Gaus Schreibversehen Olga Plümachers statt "Gaul".
herum irrt, so ist man gewöhnlich nicht mehr
jung; die Hortence war damals schon sehr „fadet flowerZu deutsch: "verblüht".“;
das Gesicht etwas scharf und farblos. Deshalb setzte sie der Maler in die Nähe
einer farbigen Glasscheibe, so daß | man das Gesicht jetzt durch den rosigen
Lichtstreif hindurch sieht, der von der Scheibe hervorgerufen, schräg durch‘s Gemach
geht. Das Bild ist ganz für virtuos gemalt, die Lichteffecte, der Atlaß,
der Sammt, die Juwelen, alles merkwürdig schön „gemacht“; das ganze Bild aber in
der Gesuchtheit der Beleuchtung und der Abgeschmaktheit des Costüms – es soll à la Marie Stuart sein – wirkt widerwertigSchreibweise Olga Plümachers statt "widerwärtig".. Dagegen ist ein anderes Bild von ihr, auch ganze Figur,
als ganz junge Frau, im sogenantSchreibweise Olga Plümachers statt "sogenannt". griechischen
Gewande der Jahre 1790-1810 sehr anmuthig und auch excelentSchreibweise Olga Plümachers statt "excellent".
gemalt. Von WinterhalterFranz Xaver Winterhalter (1805-1873), Porträt- und Genremaler. Zu den Auftraggebern des sog. Fürstenmalers zählten u.a. der Großherzog Leopold von Baden, der frz. König Louis Philippe, die Königin Isabella von Spanien, Napoleon III., die königliche Familie Belgiens und die Kaiserfamilien Russlands und Österreichs. , dem berühmten Damen-Maler der 50er und
60er Jahre unseres Jahrhunderts, ist ein Portrait der Kaiserin Eugenie,
aus der ersten Zeit ihrer Ehe, da. Es ist schier von hinten aufgenommen, | so daß
sie den Kopf etwas wenden muss, damit man nur eben das Profil rein sieht. Wie
schön ist sie aber! Ganz weiß, wie eine weiße Rose, nicht mehr Farbe auf der
zarten Wange als eine weiße Rose im innersten Kelch hat; das goldige Haar nachläßig in ein paar Locken aufgesteckt, kein Schmuck,
als eine Reihe profaner Perlen um den marmor weißen Hals – und das alles
hingemalt, so leicht, wie nur mit ein paar Pinselzügen auf einem ebenfalls ganz
leichten, silberhellen Hintergrund. Ein Bild vom Prinzen „Lulu“, als Jüngling
von 19-20 Jahren gemalt, im Gesellschaftsanzug mit dem Cordon der Ehrenlegion,
ist nur ansprechend, d.h. rührend wegen dem Traurigen, was sich an die
Erinnerung an diesen Jungen knüpft. Das Bild war noch nicht | da, als ich das
letzte mal auf Arenaberg war, und ich war neugierig darauf, weil man mir gesagt
hatte, es gleiche dem Hermann. Die Ähnlichkeit ist aber nicht groß; beides sind
eben hübsche junge Leute, mit dichtem Haar und feinen Brauen und gutem Gesicht;
der Prinz aber ist feiner in den Zügen, aber hat weniger Festigkeit in
Mund und Kinn. – Doch genug nun! Es ist noch so viel ansprechendes und
interessantes da zu sehn, daß ich noch manchen Briefbogen damit füllen könnte
es zu erwähnen, und vielleicht langweilte Dich das nur – denn Bilder und
Büsten, überhaupt Kunstwerke, kann man ja doch nicht beschreiben. Interessirst
Du Dich aber für das hier eingesargte Stückchen Geschichte, nun so komm eben
einmal und sieh‘ es Dir an. – Den „Traum“ habe ich irgend wie verlegt, will ihn
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aber
suchen und ihn Dir senden. Mußt Dir aber ja keine Gewalt anthun: wenn er Dich nicht
wirklich lockt ihn in metrische Form zu bringen,
so thue es ja nicht, oder benutze ihn nur als Anregung und mache etwas
ganz anderes daraus. Mir liegt an der Sache weiter gar nichts dran, als daß
es eben ein halbwegs gescheiter Traum war, was nicht gar zu oft
vorkommt. Ich glaube Rückert sagt „den Traum magst Du einen Spiegel
nennen, darin kannst Du Dich selbst erkennen – “; wenn das so schlechtweg wahr
wäre (wie es Gott lob nicht ist), so wäre ich ein böses wüstes Weib; denn in
de im Traum raufe ich mich zuweilen mit den Leuten und habe auch schon
Leute umgebracht. Nur in sofern ist der Traum allerdings ein Spiegel, als er | verzerrt
repedirt was einem im Laufe des Tages durch den Kopf geht. So habe ich schon
öfters im Traume ein ganz neues phil. System aufgestellt: wenn ich dann
aufwachte, und ich mochte mich noch an Einzelnes da davon erinnern, so
war es nichts als Bruchstücke der Phil. d. Unb.
Nein, ich halte gar nichts auf dem TräumenSchreibweise Olga Plümachers. , und
bin froh, wenn ich des Nachts recht tief in Nirwana versinke. Adieu nun lieber
Franklin! Siehst Du, meine Dinte schlägt auch durchs Papier – es
wird eben alles schlecht, billig und auf den Schein heut zu Tage gemacht. – Ja so, jetzt hätte ich Dir noch über Nachsommer schreiben
sollen – das ist aber ein zu langes Thema, da will ich es auf ein ander mal
verschieben. Bleibe gesund und vergnügt und glaube an Dich selbst, und
denn: der Glaube ist es der den Willen beschläußet“ sagt ParacelsusOlga Plümacher zitiert Paracelsus nach Eduard von Hartmanns 1869 erstmals veröffentlichten Schrift "Philosophie des Unbewußten". Dort heißt es: "wie Paracelsus wunderschön sagt: 'Der Glaube ist's, der den Willen beschleusst.'" (S. 138) .
– / d.h. wer nicht glaubt, daß er etwas
tüchtiges werden könne, der will auch nicht aus tiefstem
Wesensgrunde, und im Willen liegt die Kraft. Behalte /
lieb Deine alte Tante
O.Plümacher.