Kennung: 1228

München, 15. Juli 1915 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Engel, Fritz
  • Kienzl, Hermann
  • Land, Hans
  • Reuter, Gabriele

Inhalt

München, 15. Juli 1915.


Sehr verehrte gnädige Frau!
Sehr verehrte Herren!

Empfangen SieDer Schutzverband Deutscher Schriftsteller e. V. (kurz: SDS) war am 11.1.1910 als Interessenvertretung der Schriftstellerinnen und Schriftsteller deutscher Sprache in Berlin gegründet worden. Wedekind war dem Verein bereits im März 1911 beigetreten und gehörte zusammen mit Theodor Etzel, Karl Henckell, Kurt Martens, Erich Mühsam, Alexander Roda Roda u. a. zur vorbereitenden Kommission für die Gründung der Münchner Ortsgruppe des SDS, die am 11.7.1913 in das Vereinsregister eingetragen wurde. Der SDS unterstützte Wedekind in seinen Auseinandersetzungen mit den Zensurbehörden des Kaiserreichs [vgl. KSA 5/III, Sp. 492, zur Geschichte des SDS ausführlich Fischer 1980]. aufrichtigen Dank für die Ehre und Auszeichnung, die Sie mir durch Ihre Aufforderungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Schutzverband Deutscher Schriftsteller, Fritz Engel, Hermann Kienzl, Hans Land, Gabriele Reuter, an Wedekind, 10.7.1915. Die Aufforderung betraf Wedekinds Mitarbeit an der „Kriegsmappe des SDS“, einem durch den Schutzverband Deutscher Schriftsteller e. V. initiierten Publikationsunternehmen zur Unterstützung notleidender Schriftsteller*innen. Der Text der verschollenen Aufforderung an Wedekind dürfte weitgehend mit dem eines diesbezüglichen Schreibens vom 10.7.1915 übereingestimmt haben, das sich im Nachlass des Leipziger Nationalökonomen Karl Bücher erhalten hat und von den Berliner SDS-Mitgliedern Fritz Engel, Hermann Kienzl, Hans Land und Gabriele Reuter unterzeichnet ist. Wedekinds Anrede im vorliegenden Brief – an eine Dame sowie mehrere Herren – legt nahe, dass es dieselbe Gruppe war, die sich – vermutlich ebenfalls um den 10.7.1915 – an ihn gewandt hatte. In dem maschinenschriftlichen Brief an Bücher, der auf dem Briefpapier des SDS abgefasst ist, heißt es u. a.: „Die Notlage der freien Berufe steigt mit der Dauer des Krieges von Tag zu Tag – am schwersten von allen sind ohne Zweifel die freien Schriftsteller betroffen. [...] Seit Beginn des Krieges hat der Schutzverband Deutscher Schriftsteller [...] sich der notleidenden Kollegen mit größtem Eifer angenommen. [...] Da aber zur Zeit unsere Mittel völlig erschöpft sind, so beabsichtigen wir, eine Mappe mit Autogrammen von Dichtern, Gelehrten, Schriftstellern, Musikern und bildenden Künstlern zum besten unserer Hilfskasse herauszugeben. Diese Mappe soll Prosa oder Verse und Zeichnungen in guter Faksimile-Wiedergabe enthalten. Die Beiträge brauchen nicht unbedingt auf die Kriegszeit Bezug zu nehmen. Wir hoffen, daß auch Sie unsere gute Sache gern unterstützen werden und bitten Sie daher, uns geeignetes Material zur Verfügung zu stellen. [...] da jeder Beitrag auf einer besonderen Seite zum Abdruck kommen soll, so müßte Ihre Niederschrift oder Zeichnung gütigst auf diese Abmessungen eingestellt sein. [...] Wir wollen die Herstellung der Mappe sofort in Angriff nehmen; wir wären Ihnen daher für eine möglichst baldige Erledigung unserer Bitte besonders dankbar.“ [Universitätsbibliothek Leipzig, NL 183/4/Scho-Schw 73-88 : Kasten S, Blatt 73-88. Digitalisat: https://histbest.ub.uni-leipzig.de/rsc/viewer/UBLNachlassBuecher_derivate_00003911/nl_183_4_sc_073.jpg; Abruf: 9.7.2020]. Dem Schreiben an Bücher liegen außerdem eine maschinenschriftliche Liste mit den Verfassern der bisher eingegangenen Beiträge sowie ein gedrucktes Mitgliederverzeichnis des Schutzverbands bei. zuteil werden lassen. In der Einlage beehre ich mich Ihnen ein AutogrammDer von Wedekind eingesandte Autograph – eine kurze, aphorismenartige Stellungnahme zum Ersten Weltkrieg – ist nicht überliefert. Wortlaut und Gestalt der Handschrift (entweder ein Einzelblatt oder ein Doppelblatt mit einseitiger Beschriftung) sind jedoch durch den faksimilierten Abdruck als Blatt 23 der „Kriegsmappe des SDS“ bekannt. In Wedekinds Nachlass hat sich außerdem ein Entwurf des Beitrags erhalten. Anders als in der kritischen Ausgabe, die noch nicht auf den vorliegenden Brief Wedekinds zurückgreifen konnte, kann die Niederschrift des Manuskripts nunmehr genauer, nämlich auf die Tage zwischen dem 10. und dem 15.7.1915, datiert werden [vgl. KSA 5/III, S. 490f.]. Wedekinds kritischer Unterton zu den Losungen der offiziellen deutschen Kriegspropaganda, die in seiner Stellungnahme ironisch als „volkstümliche Überlieferung“ abgetan werden, soll – nach der Erinnerung Joachim Friedenthals – die Zensur auf den Plan gerufen haben; jedoch konnte eine „Beschlagnahme der ‚Kriegsmappe‘ [...] offenbar gerade noch abgewendet werden“ [Fischer 1980, Sp. 165; vgl. Friedenthals Nachwort in GW 9, S. 467]. zu übersenden. Ein von Herrn Geheimrat Reicke und Herrn Dr Presber gezeichneter Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Schutzverband Deutscher Schriftsteller, Rudolf Presber und Georg Reicke an Wedekind, März 1915. Wedekind gehörte vermutlich zu den ersten potenziellen Beiträgern der „Kriegsmappe“, die bereits im Frühjahr 1915 angeschrieben worden waren. Die Datierungen einzelner Manuskripte innerhalb der „Kriegsmappe reichen von März bis August 1915; der größte Teil der Beiträge war offenbar im Rahmen einer zweiten Aussendung im Juni/Juli 1915 eingeworben worden [vgl. die Hinweise bei Fischer 1980, Sp. 164]. läßt sich in meinen Papieren nicht finden. Ich | würde den Brief sonst auch kaum unbeantwortet gelassen haben. Indem ich Ihrem schönen UnternehmenDie „Kriegsmappe des SDS“ erschien Anfang 1916 in Form einer limitierten Auflage von 100 Exemplaren. Diese sogenannte „große Ausgabe“ in wohlfeiler Ausstattung konnte zum Subskriptionspreis von 100 Mark über die Berliner Geschäftsstelle des SDS bezogen werden. Eine wesentlich günstigere Buchausgabe erschien zeitgleich im Verlag Deutscher Kurier (Berlin). Das Mappenwerk enthält rund 100 faksimilierte handschriftliche Beiträge, die neben Wedekind u. a. von Peter Altenberg, Ferdinand Avenarius, Hermann Cohen, Richard Dehmel, Ludwig Fulda, Max Halbe, Ernst Haeckel, Maximilian Harden, Gerhart Hauptmann, Karl Henckell, Hermann Hesse, Arno Holz, Alfred Kerr, Klabund, Ernst Lissauer, Thomas Mann, Erich Mühsam, Gabriele Reuter, Peter Rosegger, Richard Schaukal, René Schickele, Johannes Schlaf, Arthur Schnitzler und Wilhelm Wundt stammen. Hinzu kommen ganzseitige Bildbeigaben, u. a. von Ernst Barlach, Max Beckmann, Käthe Kollwitz und Max Liebermann. In seinem kurzen Vorwort charakterisierte der Grafiker August Hajduk die Wortbeiträge als ein „Spiegelbild des deutschen Geistes aus der Zeit seiner Auseinandersetzung mit einem geschichtlichen Geschehen, das neue Sichtbahnen in den Bestand der Welt treiben will“ [Kriegsmappe des SDS, Bl. 2]. Tatsächlich weisen etliche der Beiträge die zeittypischen kriegspropagandistischen Topoi auf, was einzelne distanziertere Stellungnahmen nicht ausschloss. Allein mit der großen Ausgabe der „Kriegsmappe“, die bereits im Februar 1916 zu rund drei Vierteln abgesetzt war, wurde ein Reingewinn von 5822 Mark erwirtschaftet [vgl. ausführlich Fischer 1980, Sp. 162-168]. von ganzem Herzen bestes Gelingen wünsche und mit der Bitte, den Ausdruck ausgezeichneter Hochschätzung entgegennehmen zu wollen

Ihr ergebener
Frank Wedekind.


[Entwurf der Beilage:]


Ruhmvoller als die Version landläufige Ansicht volkstümliche Überlieferung daß Deutschland von seinen Feinden eingekreist und überfallen wurde die erste Kriegsmacht der Welt von ihren Feinden eingekreist und überfallen wurde, erscheint die Auslegung Deutung Auffassung daß das deutsche Volk die bedeutende Mehrheit des Volkes seit Jahren einen Krieg ersehnte hat in durch den sich seine Kraft und sein hoher Lebensgenuß in politische Macht umwandeln läßt werden, die von anderen Mächten nicht mehr länger übersehen und übergangen werden kann.


[Druck der Beilage:]


Ruhmvoller als die volkstümliche Überlieferung, daß die erste Kriegsmacht der Welt von ihren Feinden umkreist und überfallen wurde, steht die Auffassung da, daß die bedeutende Mehrheit des Volkes seit seiner Erstarkung einen Krieg ersehnte, durch den gesteigerte Kraft und gesteigerter Lebensgenuß sich in politische Macht umwandeln, die von anderen Mächten nicht länger mehr verächtlich übersehen oder gar übergangen werden kann.

Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Brief: Feder. Tinte. Entwurf der Beilage: Bleistift.
Schriftträger:
Brief: Papier. Doppelblatt. 1 Seite beschrieben. Seitenmaß 17 x 21,5 cm. Entwurf der Beilage: Papier. 1 Blatt, 1 Seite beschrieben. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Brief befindet sich in Privatbesitz. Der Entwurf der Beilage befindet sich in der Aargauischen Kantonsbibliothek, Wedekind-Archiv B, Nr. 161 (wir danken der Aargauischen Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks). Die abgesandte Beilage ist nicht im Original überliefert, sondern nur als faksimilierter Druck des Manuskripts.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    15. Juli 1915 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Kriegsmappe des SDS

Herausgeber:
Schutzverband Deutscher Schriftsteller e. V., Berlin
Verlag:
Berlin: Verlag Deutscher Kurier
Jahrgang:
1916
Seitenangabe:
23
Kommentar:
ohne Titel [„Ruhmvoller als die volkstümliche Überlieferung ...“]. In: Kriegsmappe des SDS. Hrsg. vom Schutzverband Deutscher Schriftsteller e. V., Berlin. [Berlin:] Verlag Deutscher Kurier [1916], Blatt 23. Es handelt sich um den faksimilierten Druck der reinschriftlich nicht überlieferten Briefbeilage. Innerhalb der Darmstädter Wedekind-Ausgabe erschien der Text 2013 unter dem Titel „Kriegsmappe des SDS“ [KSA 5/II, S. 534; Abbildung: KSA 5/III, S. 491]. Der Entwurf der Beilage wurde erstmals im Kommentar hierzu ediert [vgl. KSA 5/III, S. 491].
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Privatbesitz Dr. Mirko Nottscheid (Hamburg)

Danksagung

Wir danken Herrn Dr. Mirko Nottscheid (Hamburg) für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Fritz Engel, Hermann Kienzl, Hans Land, Gabriele Reuter, 15.7.1915. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Zuletzt aktualisiert

14.07.2020 22:21