Kennung: 1109

Berlin, 18. Juni 1905 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Weinhöppel, Hans Richard

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Berlin, den 18. Juni 1905


Lieber Frank

Du hast mir Geld geschicktAm Vortrag, den 17.6.1905, hatte Wedekind, der soeben von einem Gastspiel in Wien zurückgekehrt war, Weinhöppels brieflichen Hilferuf aus Berlin vorgefunden und ihm sofort telegraphisch Geld nach Berlin angewiesen. Im Tagebuch hielt Wedekind fest: „Ankunft in München. Brief von Weinhöppel in Berlin. Ich schicke ihm 100 Mark [...]“. – telegraphisch noch dazu! Was soll ich Dir sagen? Dankschön? Das genügt nicht. Du hast in mir eine Welt von Gedanken, Wünschen, Träumen und Befürchtungen wachgerufen. Erlass es mir, mich heute schon darüber auszusprechen. Hast Du auch nicht hässlich von mir gedacht als Du meinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Weinhöppel an Wedekind, 12.-16.6.1905. erhieltest? Hast du nicht gelacht?

Ich weiss nicht mehr genau was ich Dir geschrieben habe. Es war ein plötzlicher Impuls. Ich schrieb in grosser Hast u. brachte den Brief zur Post im Laufschritt, als fürchtete ich einen Umschlag meiner Stimmung u. somit meines Entschlusses. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, | als könnte ich Dir nichts lieberes schreiben, als – mir zu helfen. Ich war in schlimmer Lage. Du kennst dieses unheilvolle Labyrinth Berlin u. weißt, wie man sich in seinen tausend Wandelgängen von Hoffnungen und Gelegenheiten verirrt, zu Tode verirrt. Es wird nun ruhiger weiter gehen. Ich habe einen etwas er/er/höhten Punkt gefunden, von dem aus ich die Situation überblicken kann.

Neues kann ich Dir leider noch nicht berichten. Durch Empfehlungen Meister JoachimsGemeint ist – mit großer Wahrscheinlichkeit – der ungarische Violinist und Komponist Joseph Joachim, einer der prominentesten Musiker der Epoche, der – inzwischen hochbetagt – seit 1868 in Berlin lebte. Der Violinvirtuose Joachim wurde bereits seit seiner Jugend häufig als „Meister Joachim“ angesprochen. Als beliebiges Beispiel kann hier die Anfangspassage eines Nachrufs auf den im August 1907 Verstorbenen angeführt werden, die zugleich sehr typisch für zeitgenössische, ihm entgegengebrachte allgemeine Verehrung ist: „Nun ist Meister Joachim tot und mit ihm wohl auf lange hinaus der Geist Beethovens, bis vielleicht wieder einmal Mutter Natur in ein begandetes Menschenkind soviel Erkenntnis des Höchsten und Edelsten in der Kunst versenkt [...]“ [F. C. Lußtig: Josef Joachim. In: Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie (Wien), Jg. 48, Nr. 224, 17.8.1907, Morgenblatt, S. 1-2, hier S. 1]. Über persönliche Kontakte zwischen Joachim und Weinhöppel ist indes nichts bekannt. werde ich schon langsam meinen Weg machen, – nur ist der Sommer eine tote Zeit. Und heiss, – verdammt heiss.

Ich sitze in Unterhosen in einem unmöblierten Zimmer. | Ein Tisch, ein mit einem Teppich überdeckter Reisekorb, ein Stuhl, ein aufgespannter Regenschirm (dessen Knauf noch nicht wackelt) – voilà tout(frz.) Das ist alles..

Ich werde mir Möbel ausleihen. Man kommt schliesslich billiger weg wie mit möblierten Zimmern. –

In München konnte ich nicht bleibenIn München hatte Wedekind Weinhöppel ausweislich seines Tagebuchs zuletzt an zwei aufeinander folgenden Tagen Ende Mai getroffen: „Mittags treffe ich Weinhöppel [...]“; „Abend[s] treffe ich Weinhöppel [...] in der Torggelstube.“ [Tb 24.-25.5.1905]. Es waren dies die ersten Begegnungen nach einer längeren Phase der Entfremdung gewesen [vgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 8.3.1905]. Kurz danach dürfte Weinhöppel München in Richtung Berlin verlassen haben. . Du kannst das nicht verstehen, denn Du bist in dieser Hinsicht wie eine Frau: der Wunsch, mit mir dort zu kneipen schlägt alle Erwägungen tot.

In mir sieht es wüst aus. Diese Frau Stella hat mir arg mitgespieltEiner der Auslöser für Weinhöppels „Flucht“ aus München war offenbar das hier angedeutete Zerwürfnis mit seiner langjährigen Lebensgefährtin und zweiten Ehefrau (seit 1900), der Amerikanerin Stella Brokow. Die Ehe wurde im Laufe des Jahres 1906 geschieden.. Ich will nicht klagen; es ist doch alles meine Schuld. Dass Du dort verkehrstWedekinds Tagebuch verzeichnet für Mai 1905 parallel zu seinen Treffen mit Weinhöppel auch zwei Treffen mit Stella Brokow, am 23.5.1905 („Besuch bei Stella Weinhöppel. Sie zeigt mir Briefe von Richard über mich“) und 25.5.1905 („Nachmittags Kaffee bei Stella Weinhöppel“)., that mir sehr weh. Jetzt denke ich ruhiger darüber. Es ist falsch wie ein bissiger Köter auf alle loszufahren, die anders empfinden und handeln wie wir. |

Ich bin mit allem absolut einverstanden.

Ich glaube, ich würde morgen vor dem Papst auf den Knien rutschen, um mich übermorgen beschneiden zu lassen.

Von Bekannten habe ich den Schaumberger (eingetrocknet im Mumienzustand) und den Welisch (angeschwollen) aufgefunden. Beide sind recht liebe Menschen. Man trank Pilsener und sprach von Dir. Man spricht überhaupt immer von Dir. Ich werde mich zweier Dinge enthalten müssen hier in Berlin: 1.) nicht über S. M. Anspielung auf Wedekinds Festungshaftstrafe wegen Majestätsbeleidigung.zu sprechen. 2.) nicht mit Deiner Bekanntschaft zu renommieren. Für’s erste würde ich eingesperrt, für’s zweite für einen Lügner gehalten werden. Also Vorsicht!

Mahlzeit für heute! Die meine ist genommen: Lachsschinken, Grahambrotnach dem US-amerikanischen Prebyrterier-Geistlichen, Abstinenzler und Diätreformer Sylvester Graham benanntes Weizenbrot aus Vollkornschrot. mit Butter u. Himbeerwasser. – Vielen herzlichen Dank –

Dein alter Richard


Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 17 x 12 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Berlin
    18. Juni 1905 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 180
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Hans Richard Weinhöppel an Frank Wedekind, 18.6.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Zuletzt aktualisiert

13.04.2020 13:10