Kennung: 1028

Zürich, 29. November 1898 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Weinhöppel, Hans Richard

Inhalt

Zürich, 29.XI.1898.


Lieber Freund,

Herzlichen Dank für deine beiden Briefenicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke, 14.-28.11.1898., die ich bis heute nicht beantwortete, weil ich täglich mit L.vgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 14.11.1898.(angen)Ergänzung des Herausgebers im Erstdruck des Briefs. zusammen bin, der mich in der unerträglichsten Weise enervirt. Wenn das nicht wäre, ginge es mir ausgezeichnet. Voraussichtlich werde ich auch in einigen Wochen nach ParisWedekind reiste am 22.12.1898 von Zürich nach Paris. verschwinden. Ganz unter uns, ich bitte dich es niemandem zu sagen, ich habe auf ein Jahr einen Vertrag mit ihm zu M 300 monatlichmit Albert Langen über Wedekinds weitere Mitarbeit am „Simplicissimus“ [vgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 14.11.1898].. Dadurch bin ich gesichert und werde Donald auch eventuell helfen können.

Von Stollberg bekam ich eines Tages einen 10 Seiten langen ……Auslassung des Herausgebers im Erstdruck des Briefs. Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Stollberg an Wedekind, 20.11.1898. Zu den Auseinandersetzungen zwischen Wedekind und Georg Stollberg und dem dahinterstehenden Konflikt zwischen Stollberg und Wedekinds Bruder Donald vgl. bereits Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 14.11.1898., in dem er mir mit einer Gehässigkeit sonder gleichen die Mordgeschichte erzählte. Ich antwortete ihmvgl. Wedekinds ausführlichen Brief an Georg Stollberg vom 21.11.1898. umgehend und zwar mit der einzigen Absicht, ihm für diese und jene Welt über den Vorfall das Maul zu stopfen. In meiner Antwort erwähnte ich die Thatsache, daß er in München nach meiner Abreise sehr nachtheilig über mich gesprochen habe, fügte aber ausdrücklich hinzu, daß ich die Nachricht weder von dirnoch von Donald erhalten habe. Von Frida habe ich seit drei Wochen nichts mehr gehört. Ohne daß ich gerade untröstlich darüber wäre, durchkreuzen die sonderbarsten Vermuthungen meinen Kopf.

Ich freue mich darüber, daß du dich in der Münchner Gesellschaft entfaltest und beneide dich darum. Ich freue mich auch darüber, daß du Lanzen für mich gebrochen hast; mehr noch würde ich mich freuen, wenn du in dieser Gesellschaft Lanzen für dich selber brichst. Das Bild hinkt, denn ich meine nur die eine Lanze Hasta virilis(lat.) männliche Lanze (Penis)., bei der man schließlich auch nicht von Brechen reden kann.

Paniza, der sehr nahe daran ist, seine letzte Unze Gehirn zu verlieren, ist vor 8 Tagen nach Paris abgereist, nachdem es ihm hier mit Aufbietung seines ganzen Scharfsinnes gelungen war, ausgewiesen zu werdenDer Schriftsteller Oskar Panizza, den Wedekind aus der Münchner Boheme kannte, hatte 1895/96 in Bayern infolge der Veröffentlichung seines antikatholischen Dramas „Das Liebeskonzil“ (1894) eine einjährige Haftstrafe wegen Blasphemie verbüßt. Anschließend war er im Oktober 1896 von München nach Zürich übergesiedelt, wo er die libertäre politisch-literarische Zeitschrift „Zürcher Diskußjonen“ (1897ff.) herausgab. Am 27.10.1898 erhielt Panizza, der zuvor das Schweizer Bürgerrecht beantragt hatte, den für die gesamte Schweiz geltenden Ausweisungsbeschluss des Regierungsrates von Zürich, offiziell aufgrund seiner Kontakte zu einer minderjährigen Prostituierten. In der Forschung wird vermutet, dass die Entscheidung in Zusammenhang mit den Maßnahmen gegen unliebsame Ausländer und Exilanten gestanden haben könnte, die die Schweizer Behörden nach dem tödlichen Attentat auf die österreichische Kaiserin Elisabeth (10.9.1898 in Genf) ergriffen [vgl. Bauer 1984, S. 198-200]. . Ich habe die Ueberzeugung, daß ihm das Kunststück auch in Paris gelingen wird und er sein Ziel, berühmt zu werden, auf diese Weise endlich erreicht. Sobald L. von hier abgereist ist, werde ich Mizerl in Luzern besuchenDiesen Plan hatte Wedekind bereits in seinem Brief an Weinhöppel vom 14.11.1898 geäußert., wo ein großer Diplomat wohnt mit dem ich in Beziehungen treten werde.

An meinem DramaGemeint ist das Dramenfragment „Ein Genussmensch“ mit dessen Ausarbeitung Wedekind am 1.11.1898 – unmittelbar nach seiner Flucht von München nach Zürich – begonnen hatte. Den Stoff des Fragments benutzte Wedekind – mit deutlich veränderter Dramenkonzeption – für sein Stück „Ein gefallener Teufel“ (späterer Titel: „Marquis von Keith“), das von Ende Dezember 1898 bis Mai 1899 in Paris entstand [vgl. KSA 4, S. 411f.]. habe ich seit 14 Tagen keine Zeile mehr gearbeitet. Die Zeit ist verloren, alles in Folge des Umganges mit diesem Ungeheuer. Heute ist Gott sei Dank seine Frau eingetroffen und ich habe für einige Tage Ruhe. Du mußt es dem Stil meines Briefes anmerken, in welch unbehaglicher Enervation ich mich befinde. N. B. haben wir in diesen 14 Tagen jeden Abend Champagner gekneipt, Austern gefressen und uns mit Weibern herumgetrieben. Welch eine Herrlichkeit hätte das für mich in anderer Gesellschaft sein können.

Ich bitte dich, lieber Richard, vergiß mich nicht. Schreib mir dann und wann wieder. Voraussichtlich ist ja jetzt der nächste Schauplatz unseres Wiedersehens Paris. Daß des Lebens ungetheilte Freude keinem Verfluchten zu theil wird, habe ich in diesen Tagen mehr denn je, erfahren.

Was Donald betrifft, so hat mich der Vorfall eigentlich mehr gefreut als geärgert. Wenn man dem Leben so völlig apathisch gegenübersteht, ist eine Unannehmlichkeit jedenfalls immer noch besser als wenn gar nichts geschieht. Ich danke dir sehr dafür, daß du für ihn eingestanden bist und bitte dich, ihn im Auge zu behalten. Daß es sehr schlimm mit ihm steht, habe ich auch gesehen. Langen will ihm Uebersetzungennicht ermittelt. Donald Wedekind hatte bereits in den Jahren 1896/97 Beiträge für Langens Zeitschrift „Simplicissimus“ geliefert. geben und hätte ihm schon zwei Bücher geschickt, wenn seine Unterhandlungen über dieselben nicht gescheitert wären.

Ich bin eben im Begriff meine Arbeit wieder aufzunehmen und schrieb vorher an dich, um in gute Stimmung zu kommen. Ich fühle, daß das Mittel gewirkt hat und danke dir dafür.

Herzliche Grüße an Frida und Donald. Mit 1000 Grüßen und den besten Wünschen dein dir getreuer
Frank.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Zürich
    29. November 1898 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Zürich
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
320-323
Briefnummer:
147
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort..

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 29.11.1898. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Zuletzt aktualisiert

11.02.2020 06:53