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Kennung: 5668

Lausanne, 6. August 1884 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm

Inhalt

Lausanne 6.VIII.1884.


Lieber Papa,

Verzeih, daß ich dir erst so spät auf Deinen lieben Briefvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884. antworte. Meinen wärmsten Dank für deinen herzlichen Glückwunsch und dein schönes GeschenkFrank Wedekind hatte zu seinem 20. Geburtstag am 24.7.1884 von seinem Vater 10 francs als Geschenk und 5 francs zum Feiern erhalten [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884].. Ich hab’ es auch auf möglichst beste Weise angewendet. Schon seit bald 14 Tagen sind wir jetzt ganz allein zu Hause. Mr. Gros, Willy und ich, denn die KinderEmilie und Hortense Gros, bei denen Frank und William Wedekind in Lausanne wohnten (Villa Mon Caprice, Chemin de Montchoisy), hatten vier Kinder. bringen die Ferien mit der Bonne(frz.) Kindermädchen. in Corvontder Ort mit diesem Namen ist nicht belegt, Wedekind notierte die französischen Ortsnamen überwiegend nach Gehör; seiner Mutter schrieb er, das Kindermädchen verbringe die Ferien bei seinen Eltern in den Bergen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 26.7.1884], daher ist vermutlich die Ortschaft Cuarnens am Fuß des Jura gemeint, 25 Kilometer nordwestlich von Lausanne. zu und Madame ist zu einer | Freundin nach Bièreschweizerische Ortschaft am Fuß des Jura, 30 Kilometer westlich von Lausanne. verreist. Auch die alte Tantenicht identifiziert; Wedekind hatte sie bereits früher schon getroffen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. hält sich gegenwärtig dort auf. In der Stadt Lausanne ist bei der drückenden Hitze alles todt und stille und oft vergingen Tage, ohne daß ich hinaufgestiegenDie Villa Mon Caprice (Chemin de Montchoisy), in der Frank und William Wedekind Zimmer gemietet hatten, lag unterhalb des Stadtzentrums von Lausanne in Richtung des Hafenvororts Ouchy. bin. Um so häufiger aber nahm mich Monsieur auf seine LandpraxisWedekinds Vermieter Emile Gros war Tierarzt. mit. und gerade mein Geburtstag gehörte in dieser Hinsicht zu den bewegtesten Tagen. Am Abend vorher hatten wir im Keller dem Philisterstudentensprachlich für Vermieter. geholfen, Wein abzuziehen, als plötzlich die Nachricht kam, er möge am andern Morgen um halb sechs Uhr bei einem kranken Pferde sein. RosaHausangestellte bei Familie Gros; nicht näher identifiziert. weckte uns schon um halb 5 Uhr und dann stiegen wir hinauf zusammen, da ich ihn am Abend gefragt hatte, ob er mich | brauchen könne. Das Pferd war bald geheilt und nach dem frischen Morgenspaziergang schmeckte das Frühstück excellent. Um Vor Mittag war ich wieder in der Stadt um einen Zeichnungsbogen zu kaufen. Da att findet mich Monsieur vor einem Putzladen stehen und fragt, ob wir zusammen nach Hause gehen wollten, er müsse nur noch eben nach einem Pferde sehen. Ich schlug vergnügt ein und folgte ihm. Der Besuch dauerte aber über Erwarten lange und da es schon recht spät war fuhren wir per Kutsche nach Hause. Nach dem Essen begleitete ich ihn wieder, da ich keine Zeit zu verlieren hatte, zu einer kranken Kuh und half ein Kalb auf die Welt bringen. Es war übermäßig groß und starb schon nach wenigen Minuten. Erst | als wir von dieser Operation zurückgekehrt waren, sagte mir ein poetischer Glückwunsch in Knittelversen auf einer Cartevgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 23.7.1884. von Minna, daß ja heute mein Geburtstag sei. Doch hatt’ ich nicht lange Zeit darüber nachzudenken, denn Monsieur hatte mich eingeladen, mit ihm zum Begräbniß eines Freundesnicht identifiziert. nach LütryLutry, Ortschaft 5 Kilometer östlich von Lausanne. zu fahren. Der Fiaker fuhr vor und fort gings in pleine Carriereen pleine carrière (frz.) in gestrecktem Galopp (wörtlich: in vollem Lauf). denn schon um 5 Uhr sollte die Feierlichkeit stattfinden. Unterwegs stieg noch ein Schmied von Py/u/llyin der Mitte zwischen Lausanne und Lutry gelegen Ortschaft. ein, ein urgemüthliches Hausim Sinne von: ein braver Kerl; „der menschliche leib, als wohnung der seele, wird einem hause verglichen [...] so wird auch in traulicher rede der mensch nach seiner äuszern erscheinung in solchen vergleich gesetzt: wie geht dirs, altes haus?; du bist ein braves haus!“ [DWB 10, Sp. 644f.], der den/as/ gleichen Ziel hatte und erst spät AbensSchreibversehen, statt: abends. kamen wir zu Hause an. –– Am anderen Tage erhielt ich Deine freundliche Sendungdie Geldsendung und die Glückwünsche zum Geburtstag [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884]. und den schönen Kuchen von Mammadas Begleitschrieben zur Sendung der Mutter ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884., mit dem wir uns auf unserer Bude güt|lich thaten. Einige Tage darauf waren wir in EvianÉvian-les-Bains, französische Ortschaft auf der Lausanne gegenüberliegenden Seite des Genfer Sees, der für seine Mineralwasserquellen bekannt ist.. Wenn die schöne Natur hier im Wadtlandder Schweizer Kanton Waadt, mit Lausanne als seinem Verwaltungszentrum. schon ein wonniger, niegetrübter Himmel ist, so kommen mir die savoyschen Seegestadedas Südufer des Genfer Sees, das zur französischen Region Savoyen gehört. vor wie das herrlichste Paradies. Dabei sind die Bewohner träge, gemüthlich und bequem, und in Folge dessen alles etwas wild, verfallen und unordentlich. Ausgewitterte Ruinen von Brücken, Häusern und Schlössern verleihen der ganzen Gegend eine düstere Romantik. Aber wie das dichte Grün, das in üppiger Fülle überall an den geborstenen Mauern hinunterfließt, die zackigen Formen rundet und das häßliche Grau mit dunkelm Laube verschleiert, so reichen auch die kahlen unwirthlichen Höhen der nahen Savoyeralpensüdlich der Genfer Sees gelegener Teil der Westalpen mit dem Mont Blanc (4810 m) als höchstem Berg. nicht erschreckend hinunter in das | lachende Seegestade. Hohe, kühle Waldungen, lauter kräftige Eichen, ziehen sich vom Thal aus aufwärts und umkränzen die weiten Bergeshalden. Dazwischen liegen duftige Wiesengründe, belebt und beweidet von den munteren kleinen Savoyerpferden, von Ochsen und Kühen, Schafen Ziegen Eseln, von Maulthieren und Mauleseln. Und mitten darunter steht der schmutzige Savoyarde, die zi strumpflosen Füße in zierlichen Atlasschuhenmit Satin bezogene Schuhe., und sein Auge ruht gedankenlos auf der Pracht und Herrlichkeit rings um ihn her während sein Ohr an den Klängen der HandharmonikaAkkordeon. lauscht, die der im Abendwind vom Dorfe aus zu ihm hinaufklingen. –– Wir fuhren nach Abondancefranzösischer Bergort in Savoyen, 30 Kilometer südlich von Évian. wo einst RousseauMit Madame de Warens lebte Jean-Jacques Rousseau in Annecy und Chambéry zusammen, vermutlich eine Verwechslung Wedekinds (ebenso unten). mit Mdm. d. Warens gelebt und geliebt | hat. Es liegt tief in den Bergen drin in einem lieblichen Waldthal und überall waren wir freundlich aufgenommen und gastlich bewirthet, denn der Ruf seines Namens und seiner Geschicklichkeit übertönt das Rauschen und Brausen des weiten See’s und dringt bis weit/tief/ ins Land hinein auf französischer Seite. – In Saint Prex Ortschaft am Ufer der Genfer Sees, 15 Kilometer westlich von Lausanne.ist ein prachtvolles Gut am See mit herrlichen Stallungen, acht Luxuspferden, mit Reitbahn, und eigenem Dampfschiff. Hier residirt ein sehr freundlicher Herr, Mr. Bürki, dessen eines Wagenpferd wir schon zwei Mal besuchten. Er zeigte uns dabei sein ganzes Besitzthum und seine Frau Gemahlin seh servirte indessen einen kühlen Labetrunk. –– So haben wir noch manche schöne Thur Tour gemacht, denn ich dachte, so bald wirst du wol nicht wieder den Fuß in dieses Paradies setzen können | und da die schönen Tage jetzt so rasch zu Ende gehen, so suchte ich sie anzuwenden, so gut es möglich war. Auch nach TononThonon-les-bains, französischer Kurort am Südufer des Genfer Sees, gegenüber von Saint-Prex. Hier traf sich 1764 Jean-Jacques Rousseau mit seinen Freunden [vgl. Ferdinand Brockerkoff: Jean Jacques Rousseau: Sein Leben und seine Werke. Bd. 3, S. 253]. fuhren wir einmal herüber und erlebten dabei einen imposanten Sturm. Dort wohnte ja Rousseau lange zusammen mit Mdm. de Warens, und einige große Hotels abgerechnet, s/m/ag sich die ganze Gegend seit jener Zeit nicht sehr verändert haben. –– Unsere Abreise von hier ist auf den 16.tatsächlich brachen William und Frank Wedekind bereits am 15.8.1884 von Lausanne auf [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 16.8.1884]. festgesetzt. Wir können auch darum kaum einen Tag länger hier bleiben, weil Willy später vie keinen Urlaub mehr erhielte da Mr. RuffieuxWilliam Wedekinds Lehrherr in Lausanne. in Kriegsdienstdie verpflichtenden regelmäßigen Kurse für schweizerische Reservisten. muß. Ich habe demnach Mdm Gros durch ihren Herrn Gemahl kündigen lassen. Nächsten Sonntagam 10.8.1884. kommt sie wieder zurück mit sammt den Kindern. Ich werde also ihre angenehme Gesellschaft, ihre freundliche Unter|haltung und ihren hinreißenden Gesang noch volle 8 Tage lange genießen können. –– Nächsten Sonnabendam 9.8.1884. kommt also HammiArmin Wedekind resite von seinem Studienort Göttingen aus offenbar gemeinsam mit seinem Onkel Erich Wedekind und dessen 22-jähriger Tochter Helene aus Hannover nach Lenzburg. mit Onkel Erich und Cousine Lenchen bei euch an. O, wie freue ich mich, ihn wiederzusehen! Und dann erst noch Helene! Ich kenne sie ja zwar noch gar nicht weiter, als durch Hammis BriefeKorrespondenz zwischen Armin und Frank Wedekind vor dem Jahr 1885 ist nicht überliefert., aber desto größer wird die Überraschung, desto herzinniger die Freude sein. –– Von Minna habe ich auf einen langen Briefvgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 24.7.1884. immer noch keine Antwort erhalten und muß fürchten, ihr darin nicht gefallen zu haben. Vermuthlich stimmte ich die Saiten meiner Laute um eine Oktave zu hoch, als ich eine feurige Apotheose der Freundschaft zwischen Minna und Blanch Z.Blanche Zweifel, geborene Gaudard, eine Schwester von Minna von Greyerz’ Freundin Mary Gaudard, seit 1882 verheiratet mit dem Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel. intonirte. –– Doda gratulire ich zu seinem Avancement(frz.) Beförderung. „Wahrscheinlich handelt es sich um eine Beförderung des Bruders Donald im Lenzburger Kadettenkorps. Aufsteigen konnte man vom einfachen Soldaten zum Wachtmeister und dann zum Leutnant. Donald nahm 1885 am Kadettenfest in Baden teil“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 51]. und wünsche seiner militärischen Laufbahn mehr GlückFrank Wedekind war nach einer Reihe von Anschuldigungen „auf Gesuch der Lehrerschaft der Lenzburger Bezirksschule als Hauptmann des Lenzburger Kadettenkorps am 19.6.1878 zum einfachen Soldaten degradiert worden, vgl. Sitzungsprotokolle der Lenzburger Kadettenkommission, Stadtarchiv Lenzburg, Wedekind-Archiv, III LC1“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 51f.]. Daraufhin verfasste er das Spottgedicht „Hauptmann’s Leiden“ [KSA I/1, S. 33f. und I/2, S. 1648f.]. | und Segen, als ich seiner Zeit genossen habe. Was Du mir über die Besserung in Tante Jahns gefährlichem Zustand schreibstvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884., hat mich sehr beruhigt. Noch bei weitem mehr aber freute es mich, daß auch ihr, zu Haus, alle gesund und wohl seid, daß es euch gut ergeht und daß ihr die lachende Sommerszeit genießet. Und von ganzem Herzen wünsche ich, daß es füer/r/derhin so bleiben möge, und stets eine gütige Sonne ihre milden Strahlen auf euch herniedersende, wenn auch düstere Wetterwolken den klarblauen Himmel längst umschleiert haben, wenn tiefer Schnee das weite Land umher bedeckt und die rauhen Winterstürme heulen und toben um die alten Mauern und Thürme der/von/ von Lenzburg. –– Mit herzlichen Grüßen Dein treuer Sohn
Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. 2 Doppelblatt + 1 Einzelblatt. Alle Seiten beschrieben. Seitenmaß 13 x 20,5 cm. Alle gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Das zweite Doppelblatt ist oben rechts mit der römischen Ziffer „II“, das Einzelblatt mit „III.“ nummeriert (hier nicht wiedergegeben).

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Lausanne
    6. August 1884 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    Lausanne
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
64-68
Briefnummer:
16
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 55-58 (Nr. 19).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 190
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 6.8.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (12.03.2025).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

19.12.2024 16:20
Kennung: 5668

Lausanne, 6. August 1884 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm
 
 

Inhalt

Lausanne 6.VIII.1884.


Lieber Papa,

Verzeih, daß ich dir erst so spät auf Deinen lieben Briefvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884. antworte. Meinen wärmsten Dank für deinen herzlichen Glückwunsch und dein schönes GeschenkFrank Wedekind hatte zu seinem 20. Geburtstag am 24.7.1884 von seinem Vater 10 francs als Geschenk und 5 francs zum Feiern erhalten [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884].. Ich hab’ es auch auf möglichst beste Weise angewendet. Schon seit bald 14 Tagen sind wir jetzt ganz allein zu Hause. Mr. Gros, Willy und ich, denn die KinderEmilie und Hortense Gros, bei denen Frank und William Wedekind in Lausanne wohnten (Villa Mon Caprice, Chemin de Montchoisy), hatten vier Kinder. bringen die Ferien mit der Bonne(frz.) Kindermädchen. in Corvontder Ort mit diesem Namen ist nicht belegt, Wedekind notierte die französischen Ortsnamen überwiegend nach Gehör; seiner Mutter schrieb er, das Kindermädchen verbringe die Ferien bei seinen Eltern in den Bergen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 26.7.1884], daher ist vermutlich die Ortschaft Cuarnens am Fuß des Jura gemeint, 25 Kilometer nordwestlich von Lausanne. zu und Madame ist zu einer | Freundin nach Bièreschweizerische Ortschaft am Fuß des Jura, 30 Kilometer westlich von Lausanne. verreist. Auch die alte Tantenicht identifiziert; Wedekind hatte sie bereits früher schon getroffen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. hält sich gegenwärtig dort auf. In der Stadt Lausanne ist bei der drückenden Hitze alles todt und stille und oft vergingen Tage, ohne daß ich hinaufgestiegenDie Villa Mon Caprice (Chemin de Montchoisy), in der Frank und William Wedekind Zimmer gemietet hatten, lag unterhalb des Stadtzentrums von Lausanne in Richtung des Hafenvororts Ouchy. bin. Um so häufiger aber nahm mich Monsieur auf seine LandpraxisWedekinds Vermieter Emile Gros war Tierarzt. mit. und gerade mein Geburtstag gehörte in dieser Hinsicht zu den bewegtesten Tagen. Am Abend vorher hatten wir im Keller dem Philisterstudentensprachlich für Vermieter. geholfen, Wein abzuziehen, als plötzlich die Nachricht kam, er möge am andern Morgen um halb sechs Uhr bei einem kranken Pferde sein. RosaHausangestellte bei Familie Gros; nicht näher identifiziert. weckte uns schon um halb 5 Uhr und dann stiegen wir hinauf zusammen, da ich ihn am Abend gefragt hatte, ob er mich | brauchen könne. Das Pferd war bald geheilt und nach dem frischen Morgenspaziergang schmeckte das Frühstück excellent. Um Vor Mittag war ich wieder in der Stadt um einen Zeichnungsbogen zu kaufen. Da att findet mich Monsieur vor einem Putzladen stehen und fragt, ob wir zusammen nach Hause gehen wollten, er müsse nur noch eben nach einem Pferde sehen. Ich schlug vergnügt ein und folgte ihm. Der Besuch dauerte aber über Erwarten lange und da es schon recht spät war fuhren wir per Kutsche nach Hause. Nach dem Essen begleitete ich ihn wieder, da ich keine Zeit zu verlieren hatte, zu einer kranken Kuh und half ein Kalb auf die Welt bringen. Es war übermäßig groß und starb schon nach wenigen Minuten. Erst | als wir von dieser Operation zurückgekehrt waren, sagte mir ein poetischer Glückwunsch in Knittelversen auf einer Cartevgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 23.7.1884. von Minna, daß ja heute mein Geburtstag sei. Doch hatt’ ich nicht lange Zeit darüber nachzudenken, denn Monsieur hatte mich eingeladen, mit ihm zum Begräbniß eines Freundesnicht identifiziert. nach LütryLutry, Ortschaft 5 Kilometer östlich von Lausanne. zu fahren. Der Fiaker fuhr vor und fort gings in pleine Carriereen pleine carrière (frz.) in gestrecktem Galopp (wörtlich: in vollem Lauf). denn schon um 5 Uhr sollte die Feierlichkeit stattfinden. Unterwegs stieg noch ein Schmied von Py/u/llyin der Mitte zwischen Lausanne und Lutry gelegen Ortschaft. ein, ein urgemüthliches Hausim Sinne von: ein braver Kerl; „der menschliche leib, als wohnung der seele, wird einem hause verglichen [...] so wird auch in traulicher rede der mensch nach seiner äuszern erscheinung in solchen vergleich gesetzt: wie geht dirs, altes haus?; du bist ein braves haus!“ [DWB 10, Sp. 644f.], der den/as/ gleichen Ziel hatte und erst spät AbensSchreibversehen, statt: abends. kamen wir zu Hause an. –– Am anderen Tage erhielt ich Deine freundliche Sendungdie Geldsendung und die Glückwünsche zum Geburtstag [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884]. und den schönen Kuchen von Mammadas Begleitschrieben zur Sendung der Mutter ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884., mit dem wir uns auf unserer Bude güt|lich thaten. Einige Tage darauf waren wir in EvianÉvian-les-Bains, französische Ortschaft auf der Lausanne gegenüberliegenden Seite des Genfer Sees, der für seine Mineralwasserquellen bekannt ist.. Wenn die schöne Natur hier im Wadtlandder Schweizer Kanton Waadt, mit Lausanne als seinem Verwaltungszentrum. schon ein wonniger, niegetrübter Himmel ist, so kommen mir die savoyschen Seegestadedas Südufer des Genfer Sees, das zur französischen Region Savoyen gehört. vor wie das herrlichste Paradies. Dabei sind die Bewohner träge, gemüthlich und bequem, und in Folge dessen alles etwas wild, verfallen und unordentlich. Ausgewitterte Ruinen von Brücken, Häusern und Schlössern verleihen der ganzen Gegend eine düstere Romantik. Aber wie das dichte Grün, das in üppiger Fülle überall an den geborstenen Mauern hinunterfließt, die zackigen Formen rundet und das häßliche Grau mit dunkelm Laube verschleiert, so reichen auch die kahlen unwirthlichen Höhen der nahen Savoyeralpensüdlich der Genfer Sees gelegener Teil der Westalpen mit dem Mont Blanc (4810 m) als höchstem Berg. nicht erschreckend hinunter in das | lachende Seegestade. Hohe, kühle Waldungen, lauter kräftige Eichen, ziehen sich vom Thal aus aufwärts und umkränzen die weiten Bergeshalden. Dazwischen liegen duftige Wiesengründe, belebt und beweidet von den munteren kleinen Savoyerpferden, von Ochsen und Kühen, Schafen Ziegen Eseln, von Maulthieren und Mauleseln. Und mitten darunter steht der schmutzige Savoyarde, die zi strumpflosen Füße in zierlichen Atlasschuhenmit Satin bezogene Schuhe., und sein Auge ruht gedankenlos auf der Pracht und Herrlichkeit rings um ihn her während sein Ohr an den Klängen der HandharmonikaAkkordeon. lauscht, die der im Abendwind vom Dorfe aus zu ihm hinaufklingen. –– Wir fuhren nach Abondancefranzösischer Bergort in Savoyen, 30 Kilometer südlich von Évian. wo einst RousseauMit Madame de Warens lebte Jean-Jacques Rousseau in Annecy und Chambéry zusammen, vermutlich eine Verwechslung Wedekinds (ebenso unten). mit Mdm. d. Warens gelebt und geliebt | hat. Es liegt tief in den Bergen drin in einem lieblichen Waldthal und überall waren wir freundlich aufgenommen und gastlich bewirthet, denn der Ruf seines Namens und seiner Geschicklichkeit übertönt das Rauschen und Brausen des weiten See’s und dringt bis weit/tief/ ins Land hinein auf französischer Seite. – In Saint Prex Ortschaft am Ufer der Genfer Sees, 15 Kilometer westlich von Lausanne.ist ein prachtvolles Gut am See mit herrlichen Stallungen, acht Luxuspferden, mit Reitbahn, und eigenem Dampfschiff. Hier residirt ein sehr freundlicher Herr, Mr. Bürki, dessen eines Wagenpferd wir schon zwei Mal besuchten. Er zeigte uns dabei sein ganzes Besitzthum und seine Frau Gemahlin seh servirte indessen einen kühlen Labetrunk. –– So haben wir noch manche schöne Thur Tour gemacht, denn ich dachte, so bald wirst du wol nicht wieder den Fuß in dieses Paradies setzen können | und da die schönen Tage jetzt so rasch zu Ende gehen, so suchte ich sie anzuwenden, so gut es möglich war. Auch nach TononThonon-les-bains, französischer Kurort am Südufer des Genfer Sees, gegenüber von Saint-Prex. Hier traf sich 1764 Jean-Jacques Rousseau mit seinen Freunden [vgl. Ferdinand Brockerkoff: Jean Jacques Rousseau: Sein Leben und seine Werke. Bd. 3, S. 253]. fuhren wir einmal herüber und erlebten dabei einen imposanten Sturm. Dort wohnte ja Rousseau lange zusammen mit Mdm. de Warens, und einige große Hotels abgerechnet, s/m/ag sich die ganze Gegend seit jener Zeit nicht sehr verändert haben. –– Unsere Abreise von hier ist auf den 16.tatsächlich brachen William und Frank Wedekind bereits am 15.8.1884 von Lausanne auf [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 16.8.1884]. festgesetzt. Wir können auch darum kaum einen Tag länger hier bleiben, weil Willy später vie keinen Urlaub mehr erhielte da Mr. RuffieuxWilliam Wedekinds Lehrherr in Lausanne. in Kriegsdienstdie verpflichtenden regelmäßigen Kurse für schweizerische Reservisten. muß. Ich habe demnach Mdm Gros durch ihren Herrn Gemahl kündigen lassen. Nächsten Sonntagam 10.8.1884. kommt sie wieder zurück mit sammt den Kindern. Ich werde also ihre angenehme Gesellschaft, ihre freundliche Unter|haltung und ihren hinreißenden Gesang noch volle 8 Tage lange genießen können. –– Nächsten Sonnabendam 9.8.1884. kommt also HammiArmin Wedekind resite von seinem Studienort Göttingen aus offenbar gemeinsam mit seinem Onkel Erich Wedekind und dessen 22-jähriger Tochter Helene aus Hannover nach Lenzburg. mit Onkel Erich und Cousine Lenchen bei euch an. O, wie freue ich mich, ihn wiederzusehen! Und dann erst noch Helene! Ich kenne sie ja zwar noch gar nicht weiter, als durch Hammis BriefeKorrespondenz zwischen Armin und Frank Wedekind vor dem Jahr 1885 ist nicht überliefert., aber desto größer wird die Überraschung, desto herzinniger die Freude sein. –– Von Minna habe ich auf einen langen Briefvgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 24.7.1884. immer noch keine Antwort erhalten und muß fürchten, ihr darin nicht gefallen zu haben. Vermuthlich stimmte ich die Saiten meiner Laute um eine Oktave zu hoch, als ich eine feurige Apotheose der Freundschaft zwischen Minna und Blanch Z.Blanche Zweifel, geborene Gaudard, eine Schwester von Minna von Greyerz’ Freundin Mary Gaudard, seit 1882 verheiratet mit dem Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel. intonirte. –– Doda gratulire ich zu seinem Avancement(frz.) Beförderung. „Wahrscheinlich handelt es sich um eine Beförderung des Bruders Donald im Lenzburger Kadettenkorps. Aufsteigen konnte man vom einfachen Soldaten zum Wachtmeister und dann zum Leutnant. Donald nahm 1885 am Kadettenfest in Baden teil“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 51]. und wünsche seiner militärischen Laufbahn mehr GlückFrank Wedekind war nach einer Reihe von Anschuldigungen „auf Gesuch der Lehrerschaft der Lenzburger Bezirksschule als Hauptmann des Lenzburger Kadettenkorps am 19.6.1878 zum einfachen Soldaten degradiert worden, vgl. Sitzungsprotokolle der Lenzburger Kadettenkommission, Stadtarchiv Lenzburg, Wedekind-Archiv, III LC1“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 51f.]. Daraufhin verfasste er das Spottgedicht „Hauptmann’s Leiden“ [KSA I/1, S. 33f. und I/2, S. 1648f.]. | und Segen, als ich seiner Zeit genossen habe. Was Du mir über die Besserung in Tante Jahns gefährlichem Zustand schreibstvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884., hat mich sehr beruhigt. Noch bei weitem mehr aber freute es mich, daß auch ihr, zu Haus, alle gesund und wohl seid, daß es euch gut ergeht und daß ihr die lachende Sommerszeit genießet. Und von ganzem Herzen wünsche ich, daß es füer/r/derhin so bleiben möge, und stets eine gütige Sonne ihre milden Strahlen auf euch herniedersende, wenn auch düstere Wetterwolken den klarblauen Himmel längst umschleiert haben, wenn tiefer Schnee das weite Land umher bedeckt und die rauhen Winterstürme heulen und toben um die alten Mauern und Thürme der/von/ von Lenzburg. –– Mit herzlichen Grüßen Dein treuer Sohn
Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. 2 Doppelblatt + 1 Einzelblatt. Alle Seiten beschrieben. Seitenmaß 13 x 20,5 cm. Alle gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Das zweite Doppelblatt ist oben rechts mit der römischen Ziffer „II“, das Einzelblatt mit „III.“ nummeriert (hier nicht wiedergegeben).

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Lausanne
    6. August 1884 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    Lausanne
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
64-68
Briefnummer:
16
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 55-58 (Nr. 19).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 190
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 6.8.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (12.03.2025).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

19.12.2024 16:20