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Sieben Fragen
Zensurbeirat
von
Frank Wedekind.
An jedes einzelne Mitglied des Münchner Zensurbeirates, an
die Herren:
1. Frage:
Kennen Sie meinen Einakter „ Die Zensur“ und wissen Sie, was
ich darin über die Beziehungen zwischen Sittlichkeit und Schauspiel gesagt
habe? Nein!
Was haben Sie über die Beziehungen zwischen
Sittlichkeit und Schauspiel geschrieben oder veröffentlicht, woraus ich meine
Ansichten über diesen Gegenstand korrigieren könnte? Gar nichts!
2. Frage:
Wie vereinbaren Sie es mit dem Charakter des anständigen
Menschen, einen Kollegen oder gar Konkurrenten eventuell zu schädigen durch ein
Gutachten, das niemals zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangt, das vor Ihrem
Kollegen oder Konkurrenten geheim
gehalten | wird, gegen das sich zu verteidigen Ihr Kollege oder Konkurrent
nicht die allergeringste Möglichkeit hat? Meine abgegebenen
Ansichten kann der Betreffende lesen! Man wird sie ihm, wenn er es wünscht,
auch nicht vorenthalten.
3. Frage:
Billigen Sie das Inquisitionsprinzip, das von der Münchner
Polizeibehörde in Zensurangelegenheiten insofern Anwendung findet, als die
Beweise nicht von dem zu Beurteilenden, sondern vom Richter aufgesucht und
beschafft werden, als die Gründe, die die Entscheidung bestimmen, vor dem
Verurteilten aufs strengste verheimlicht werden, als dem Beurteilten jede
Möglichkeit, sich zu erklären oder zu verteidigen, benommen ist?
Der Beurtheilte darf sich ja Aufschluß von der
4. Frage:
Welcher wesentliche Unterschied besteht zwischen dem
Geheimverfahren eines Inquisitionsgerichtes und demjenigen des Münchner
Zensurbeirates? Daß sich hier der Beurtheilte ja die Gründe
angeben lassen kann! Und Änderungsvorschläge ihm gemacht werden.
5. Frage:
Welche Gründe haben Sie dafür anzuführen, daß ich, Frank
Wedekind, dem Münchner Zensurbeirat nicht angehöre, sondern für diese
Institution nur als Begutachteter, nur als Be- und Verurteilter in Betracht
komme? Darüber müssen Sie den Herrn
6. Frage:
Da das Verhältnis vom Gutachter zum Begutachteten zwischen
Ihnen und mir kein gegenseitiges, sondern ein durchaus einseitiges ist, wollen
Sie mir die Frage verzeihen, durch welches besondere Verdienst Ihrerseits und
durch welches besondere Verschulden meinerseits Sie diese für mich sehr
nachteilige Einseitigkeit für begründet und ge|rechtfertigt halten?
Wenn ich Ihre Stücke lobe, sind Sie doch nicht „benachtheiligt“.
– Über öffentliche Aufführung gewisser Scenen oder Situationen
hat die Polizeibehörde zu entscheiden, nicht ich!
7. Frage:
Da ich in Ihren persönlichen Mut keinen Zweifel setze, frage
ich Sie, ob Sie mir die Ehre erweisen wollen, mir gegenüber für die Urteile
einzutreten, die Sie zu Handen der Münchner Polizeibehörde über meine
Theaterstücke gefällt haben. Natürlich! Jeden
Augenblick!
Wenn ja, wie lauteten Ihre Urteile?
Können Sie zu jeder Zeit auf dem Bureau ja einsehen!
Diese sieben Fragen wurden durch die beschimpfende,
menschenunwürdige Behandlungsweise veranlaßt, die ich mir seit drei Jahren von
der Münchner Zensurbehörde bieten lassen muß und die sich nach der Aussage des
Münchner Polizeipräsidenten auf die Urteile gründet, die der Zensurbeirat über
meine literarischen Arbeiten gefällt hat.
Erst die „Urtheile“ von mir lesen, − resp.Ansichten,
− dann richten!
Mit Hochachtung und ErgebenheitErnst v. Possart.
München
29/12.1911. |
Nachträglich möchte ich im Allgemeinen hier wiederholen, was ich der hohen Polizeibehörde als meinen prinzipiellen Standpunkt kundgegeben habe:
„Über den aesthetischen Werth eines Dramas ein Urtheil abzugeben, ist nicht die Aufgabe der
Polizeibehörde noch des Zensurbeirathes; der letztere soll nur
darüber befinden, ob in den zur Prüfung ihm zugesandten Stücken Scenen oder
Stellen enthalten sind, die bei öffentlicher Aufführung anstößig wirken
und das Schamgefühl verletzen
dürften; und ob und wie solche Scenen oder Stellen im Interesse einer
öffentlichen Aufführung zu mildern sind?
Nach dieser Auffassung habe ich meine Ansichten der königlichen Polizeibehörde von Fall zu Fall kundgegeben.
Ergebenst Possart.
[Kuvert:]
Herrn Frank Wedekind.
Hochwohlgeboren,Hier.
fr.
Bestehend aus 3 Blatt, davon 5 Seiten beschrieben
Uhrzeit im Postausgangsstempel München: „8 – 9 N“ (= 20 bis 21 Uhr).
München
29. Dezember 1911 (Freitag)
Sicher
München
29. Dezember 1911 (Freitag)
Sicher
Datum unbekannt
Historisches Museum Schloss Lenzburg
CH-5600 Lenzburg
Schweiz
Schloss Lenzburg
Wir danken dem Historischen Museum Schloss Lenzburg für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.
Ernst von Possart an Frank Wedekind, 29.12.1911. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (08.12.2025).
Ariane Martin