Leipzig, 23.XII.1897.
Lieber Freund,
Ihr Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 19.12.1897. Wedekind dürfte den Brief am 20.12.1897 erhalten haben, drei Tage, bevor er mit dem hier vorliegenden Brief antwortete. hat mich mit großer Betrübnis erfüllt. Ich bedaure,
Ihnen vor der Hand nichts schreiben zu können, was geeignet wäre, Sie zu
erheitern, denn mir geht es nicht viel besser und die trübe Stimmung ist immer
die vorherrschende. Ich habe AussichtenWedekind hatte die Uraufführungen seiner Tragödie „Der Erdgeist“ (1895) und seiner Tanzpantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897) durch die Literarische Gesellschaft in Leipzig in Aussicht [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 9.10.1897], wobei die dann nicht realisierte Aufführung der Tanzpantomime bereits vorbereitet wurde [vgl. Frank Wedekin an Emilie Wedekind, 10.12.1897], außerdem ein Engagement am Theater der Literarischen Gesellschaft, geleitet von Carl Heine (siehe unten)., aber das ist auch alles, und meine
Energie ist so gut wie zum Teufel. Ich habe, trotzdem mir Ihr Brief eine große
Freude war, wie Sie sehen drei Tage gebraucht, um nur die Feder in die Hand zu
nehmen. Ich hörte von MorgensternDer mit Wedekind befreundete Varietékünstler Willy Rudinoff (Pseudonym von Wilhelm Morgenstern), der seit einiger Zeit im Leipziger Kristallpalast gastierte: „Im Variété-Theater des Krystall- Palastes sind bereits wieder neue Kräfte mit bestem Erfolge aufgetreten. [...] Aus dem früheren Ensemble sind in das neue mit eingetreten: Willy Rudinoff, Universalartist“ [Krystall-Palast. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 91, Nr. 597, 23.11.1897, Morgen-Ausgabe, S. 8606], hatte Wedekinds Lesung am 26.11.1897 bei der Literarischen Gesellschaft in Leipzig besucht [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 2.12.1897]., daß Sie sehr krank waren; Ihnen fehlt auch
nur das Eine, hinauszukommen in die Oeffentlichkeit und deshalb gratuliere ich
Ihnen von Herzen zu der Aquisitionrecte: Akquisition. eines zahlenden Verlegersnicht identifiziert. Drucke von Kompositionen Hans Richard Weinhöppels sind erst 1902 im neu gegründeten Scharfrichter-Verlag in München (zunächst vom Musikalienverleger Wilhelm Salzer in Leipzig betrieben, dann vom Leipziger Verlag Friedrich Hofmeister übernommen) nachzuweisen.. Von mir kann ich
Ihnen wirklich wenig anderes schreiben, als daß ich in ekelhafter Weise
LohnsklavenarbeitWedekind schrieb Gedichte für Albert Langens Münchner Wochenschrift „Simplicissimus“ [vgl. KSA 1/II, S. 2235]. verrichte, dabei habe ich Aussichten auf alle möglichen
Herrlichkeiten, doch wage ich kaum mehr davon zu sprechen. Ich glaube an nichts
mehr, außer wenn es geschehen ist. Sie sehen der Brief wird sehr traurig. Sie
haben wenigstens Frauen, die Ihnen gut sindAnspielung auf Sophie Schröter (siehe unten), die am 15.12.1897 in München auf einem Wohltätigkeitskonzert zwei Lieder des Komponisten Hans Richard Weinhöppel (Pseudonym: Hans Richard) gesungen hat. Die Presse berichtete: „Das Auftreten von Sophie Schröter im Kaimsaal am 15. ds. (großes Wohlthätigkeits-Konzert) bedeutete einen durchschlagenden Erfolg, den die Künstlerin in unserer Stadt errungen. [...] Die Begabung der [...] Künstlerin ist eine in eminentem Sinne dramatische. Ihr Organ ist ein mächtiger, umfangreicher, dabei den feinsten Schattierungen fähiger Mezzosopran; ihre Auffassung wird jeder Stilart gerecht, ihre Beherrschung des jeweiligen Gegenstandes ist eine vollkommene. [...] Nur in diesem Sinn ist es aufzufassen, daß die Künstlerin [...] ihr ganzes reichhaltiges Programm auswendig vortrug; kein Notenblatt kam in ihre Hand – sie lebte in ihren Liedern wie in ihrem vollständig assimilierten geistigen Eigentum. [...] Als Novität brachte die Sängerin zwei mit Genialität und feiner Empfindung komponierte Lieder von Hans Richard [...]. Es war ein Konzert-Abend seltener Art, und wir bezweifeln nicht, daß Sophie Schröter sich mit demselben bei unserem Konzert-Publikum Bahn gebrochen hat.“ [Konzert Sophie Schröter. In: Münchener Künstler-Theater-Anzeiger, Jg. 10, Nr. 3578, 21.12.1897, S. 1] Die beiden Lieder wurden auch genannt: „Zum Besten des hiesigen Arbeiterinnenheims veranstaltete die Konzertsängerin Fräulein Sophie Schröter gestern (Mittwoch) im sehr gut besuchten großen Kaimsaale [...] ein Konzert, das einen äußerst gelungenen Verlauf nahm. [...] Eine echt lyrische Begabung zeigen auch die beiden Lieder von Hans Richard: ‚Glückes genug‘ und ‚Schlummere Kind‘, welche alle Aussicht haben, populär zu werden.“ [Konzert Sophie Schröter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 50, Nr. 58, 17.12.1897, Vorabendblatt, S. 3]. Grüßen Sie bitte Frl. S.Sophie Schröter, Konzertsängerin und Gesangslehrerin in München (Schönfeldstraße 17, 1. Stock rechts) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1897, Teil I, S. 457]. Eine ihrer Schülerinnen war Maria Biller (Maria Joséphine Billère), wie aus Münchner Pressenotizen hervorgeht: „Frl. Maria Biller, Schülerin des Frl. Sophie Schröter“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 101, Nr. 19, 20.1.1898, 2. Morgenblatt, S. 6], später unter ihrem Pseudonym Marya Delvard der Star des Münchner Kabaretts Die Elf Scharfrichter (dort war Weinhöppel alias Hannes Ruch ihr Kollege). Sie erinnerte sich in einem Interview an ihre erste Münchner Zeit, als sie noch „Schülerin der Sophie Schröter“ [Rose Poor Lima: Besuch bei Marya Delvard. In: Neues Wiener Journal, Jg. 42, Nr. 14469, 4.3.1934, S. 12] war, außerdem an die Bekanntschaft ihrer Lehrerin mit Weinhöppel: „Gesang lernte ich bei Sophie Schröter, die Hauptinterpretin von Hans Richard Weinhöppel (später Hannes Ruch) war. Weinhöppel besuchte oft Sophie Schröter“ [Marya Delvard: Wie „Die toten Augen“ entstanden. In: Neues Wiener Abendblatt, Jg. 69, Nr. 348, 17.10.1935, S. 4].
herzlichst von mir, vielleicht komme ich gegen den Frühling nach München,
vielleicht, vielleicht auch nicht. Weiß der Teufel, ich bin flügellahm von dem
ewigen Reißen an meiner Kette; wer weiß, ob Sie mich überhaupt wiedererkennten;
ich bin energielos, hart, zerschlagen. Wie gesagt, ich habe wieder einmal
Aussicht aufgeführt zu werden, auch eine Stellung zu bekommenam Theater der Literarischen Gesellschaft (Direktion: Carl Heine) in Leipzig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 435], wo Wedekind bald darauf als Dramaturg und Schauspieler (unter dem Pseudonym Heinrich Kammerer) engagiert wurde [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408]., aber daran
glauben kann ich noch nicht.
Kann ich Ihnen irgend etwas bei meiner Schwester helfenbei der Vermittlung von Hans Richard Weinhöppels Liedkompositionen an die erfolgreiche Dresdner Hofopernsängerin Erika Wedekind [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 8.10.1897]., für den
Fall daß Ihre Sachen gedruckt sind, dann schreiben Sie es mir bitte.
Von Bierbaum hörte ichWedekind hatte Otto Julius Bierbaums Lesung am 17.12.1897 in Leipzig besucht (und mit ihm gesprochen), in der Presse angekündigt: „In der Literarischen Gesellschaft in Leipzig, deren zweiter Vortrags-Abend [...] heute Freitag 8 Uhr im oberen Saale des Hotel de Pologne stattfindet, wird [...] der Dichter Otto Julius Bierbaum eigene Gedichte und die lebendigsten Abschnitte aus seinem neuesten Roman ‚Stilpe‘ lesen.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 91, Nr. 642, 17.12.1897, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 9353] allerhand über Dr. Conradüber Dr. phil. Michael Georg Conrad, Schriftsteller in München [vgl. Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1898, Teil II, Sp. 207]; was genau Wedekind über ihn am 17.12.1897 von Otto Julius Bierbaum (siehe oben) hörte, ist nicht ermittelt. e. ct. Wenn Sie
mir darüber schreiben wollen, dann schreiben Sie mir bitte aufrichtig.
Wenn es sich in der That so verhält, dann kann ich ja nur zufrieden darüber
sein.
Ich hoffe sehr darauf, daß uns das Schicksal bald wieder
zusammenführt. Was mich betrifft, würde der erste freie Athemzug, den ich thun
darf, dazu genügen.
Ich wünsche Ihnen gesundheitlich das allerbeste. Lassen Sie es
sich nicht nahekommen, daß Sie auch körperlich leiden. Ihre Nerven sind
vielleicht doch die Hauptschuld, und daran mag die versumpfte Luft in München
und die Eintönigkeit der Menschen Ursache sein. Sie glücklicher, daß Sie wenigstens
eine Frau haben, die mit Ihnen fühltwohl wiederum Anspielung auf Sophie Schröter (siehe oben).. Ich habe hier sehr liebe Leute gefundenLeute im Umkreis der Literarischen Gesellschaft in Leipzig, darunter der Vorsitzende Kurt Martens sowie Carl Heine und dessen Frau Beate Heine (geb. Wüerst), später Wedekind langjährige Brieffreundin (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Beate Heine).,
aber bis jetzt noch nichts vorsöhnendeswohl Überlieferungsfehler, statt: versöhnendes., nichts Weibliches. Lange werde ich
nicht hier bleiben, vielleicht bis 1. März, dann gehe ich nach München oder
nach Berlin zurück, oder auch sonst wohin. Ich sehne mich ungeheuer nach
München, aber ich wage nicht hinzugehen, ohne das geringste erreicht zu haben,
d.h. wagen würde ich es schon, aber ich mag das gleiche Hundeleben dort nicht
von neuem beginnen, und doch habe ich seit MünchenWedekind hatte München vor gut einem Jahr Ende 1896 verlassen. so schöne Tage nicht mehr
erlebt. Ich schicke Ihnen tausend herzliche Grüße und die besten Wünsche, auch
für die Feiertage.
In alter Freundschaft Ihr
Frank Wedekind.