Lenzburg,
10 August 1911
Meine liebe Tilly und mein lieber Frank!
Heute ist der erste Tag, – seit Wochen, – daß ich ohne meine
lieben GästeEmilie (Mati) Wedekind und ihr Mann Eugène Perré unternahmen mit ihrer Köchin einen Tagesausflug an den 50 Kilometer entfernten Vierwaldstättersee (s. u.). bin. Sie kommen zwar heuteabendSchreibversehen, statt: heute abend. wieder, sodaß mir nicht viel Zeit
vergönnt ist, um Euch endlich ausführlich zu schreiben, wie ich mich
über die Nachricht freute, daß Ihr mir eine liebe EnkelinFrank und Tilly Wedekinds Tochter Kadidja wurde am 6.8.1911 geboren: „Fannykadidja geboren.“ [Tb] geschenkt habt.
Besonders froh war ich, meine liebe Tilly, durch die Depeschenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.8.1911. zu erfahren,
daß es Dir und der Kleinen gut geht, und daß Ihr Euch zusammen freut über Euer
liebes Töchterchen. Möge es wachsen u. gedeihen zu seinem eigenen und seiner
Eltern Glück. – Ich habe nun seit dem 14. Juli
immerfort meine lieben Kinder | bei mir. Erst kamen Mieze u Evchen. Gleich, am ersten Sonntag darauf kamen die Zürcher. Armin sen mit Emma von Zürich, Armin jun. von Genf, – d/b/epakt mit seinem 30 Kilo schweren Tornister und in der Uniform eines CorporalsArmin Wilhelm Gottlieb Wedekind leistete offenbar seinen Wehrdienst, zu dem er in der Schweiz mit dem Beginn des Jahres verpflichtet war, in dem er zwanzig wurde (1910) und diente inzwischen im Rang eines Unteroffiziers.. Er
ist ein strammer und sehr ernster Mensch geworden, schwärmt für sein
Clavierspiel in dem er ganz o/O/rdentliches leistet und behauptet,
großes IntresseSchreibversehen, statt: Interesse. für seinen künftigen Beruf zu haben. Bis jetzt hat er es zum cand. med.(lat.) candidatus medicinae = Medizinstudent. Armin Wilhelm Gottlieb Wedekind absolvierte sein „Medizinstudium in Zürich, Genf, Zürich und München, Promotion mit einer Arbeit über ‚Kasuistik der Psychischen Infektionen‘ (Leipzig 1917). Das Doktordiplom wurde ihm am 7.8.1917 von der Universität Zürich ausgestellt.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 247f.] gebracht. Hoffentlich vollzieht sich
der Rest seines Studiums ebenso geregelt, wie es bis jetzt gewesen ist und wird
er recht bald für
seinen Vater, der sich jetzt weidlich plagen muß –, eine tüchtige Stütze u.
Hülfe. – Wir verbrachten diesen ersten Sonntag in großer Fröhlichkeit und ohne
jede Trübung. Es war so nett, daß man sich entschloß, | 14 Tage späteram 28.7.1911., bei der
Ankunft Walthers nochmals bei’nander
zu sein. Auch dieser Tag war schön. Wir hatten allerlei Geschäftliches
miteinander zu besprechen, herbeigeführt durch die Bauten und ihre Kosten, die,
wie es ja immer geht, die Voranschläge um eine tüchtige Summe überschritten.
Trotzdem aber blieb die Stimmung gut und man trennte sich mit dem Gefühl, an
Anhänglichkeit und Zusammengehörigkeit reicher geworden zu sein. Seit dem 27.
Juli war auch Armins Jüngste, die Lotta bei mir und wird bleiben bis nächste
Woche. Und gleich nach Mieze’s, Walthers u. Evchens Abreise in’s Engadin kamen Eugène und Mati. Sie bleiben bis zum 18. August. Da sie ihre
Köchinnicht identifiziert. mitbrachten, | fällt nicht so viele Arbeit mir zu. Ich bin auch darüber
sehr froh, denn seit 6 Wochen leide ich an einem schlimmen Bein, das viel
Pflege mit Massieren, Verbinden etc. beansprucht und mich recht in meiner gewohnten
Thätigkeit behindert. Heute früh 5 Uhr fuhren nun die PariserEmilie (Mati) Wedekind und Eugène Perré lebten in Neuilly-sur-Seine bei Paris. mit ihrer Köchin
an den VierwaldstätterseeDer in vier Kantonen gelegene Vierwaldstätter See, an dem sich mit dem Rütli und der Tellsplatte Schauplätze der Wilhelm Tell-Sage befinden, war ein beliebtes Ausflugsziel., und so kommt es, daß ich Zeit finde, Euch meine
Lieben zu schreiben.
Vorgesternam 8.8.1910. war aber wieder eine große Festlichkeit bei uns.
Der alte Justizrath Wedekind, unser FamiliensyndikusEin Syndikus ist „der von einer Korporation (Stadtgemeinde, Stiftung, Verein, Aktiengesellschaft) zur Besorgung ihrer Rechtsgeschäfte aufgestellte Bevollmächtigte“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 19. Leipzig, Wien 1909, S. 243]. Erich Wedekind aus Danzig war als Syndikus der Familie Wedekind der Nachfolger von Frank Wedekinds Onkel, dem Landgerichtsrat Theodor Wedekind. kam auf seiner Rückreise von St. Moritz
mit sämmtlichen ZürchernArmin Wedekind und Familie. hierher. Wir hatten ein wundervolles Mittagessen mit
Rheinsalmim Rhein gefangener Lachs. MeajonnaiseSchreibversehen, statt: Mayonnaise. und Roastbef/e/f
etc und nach
dem Cafe gingen wir aufs Schloß. | Der
neue Schloßherr„1911 erwarb James W. Ellsworth […], amerik. Großindustrieller und Kunstsammler, das Schloss für 550.000 Franken von seinem vorherigen Besitzer August E. Jessup“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 248]. –, weniger rüppelhaft als der alte –, zeigte uns mit viel
Liebenswürdigkeit alle Räume, sodaß unser Gast ganz entzückt von der Schönheit
der Natur und der Größe des Schloßes, den denkbar besten Eindruck empfing. Auch
unser Steinbrüchli überstieg seine Erwartungen. Die beiden Mädchen Armins, Eva u. Lotta sangen und spielten ihre
schönsten Weisen, nicht minder Armin jun. So verging der Tag, der sicherlich Allen eine
schöne Erinnerung bleiben wird.
Wir haben seit vielen Wochen eine unerhörte Hitze und
Trockenheit. Ueberall verdorren die Obstbäume. Unser Garten schaut gelb u.
verbrannt aus, sodaß ich immer | an San
FranziskoEmilie Kammerer lebte vom 31.12.1858 bis zu ihrem Umzug mit Friedrich Wilhelm Wedekind nach Oakland im Oktober 1862 als Sängerin in San Francisco [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 291f.]. errinnertSchreibversehen, statt: erinnert. werde,
wie es mit seinen abgedörrten Culturen im Sommer aussieht. Es gibt keinen
Salat, kein grünes Gemüse, ganz wenig u nur schlechtes Obst. Dafür aber ist die
Frucht, – Weizen u. Roggen u. die Kartoffeln, besonders aber auch der Wein gut
gediehen, sodaß man hofft, wenigstens damit eine kleine Entschädigung zu erhalten.
Mati u. Eugène sind recht froh, ihrem Brutofen
in Neuilly entronnen zu sein. Sie genießen,
– trotz der Hitze –, unsere frischere Schweizerluft mit großem Behagen. Mati sieht schon ganz verparisert
aus in ihrem engen weiß u. blauen Costum, den feinen weißen Schuhen u. weißem,
großen Hut, der ihr sehr gut steht. | Ihr Mann hält viel darauf, daß
sie sich schikSchreibversehen, statt: schick. und fein anzieht und auch mit der Frisur hat sie sich sehr zum
Vortheil verändert. Seit ihrem Hiersein wird wieder französisch gegessen, –
viele viele
Teller und immer nur ein Gericht nach dem andern.
Habt Ihr Mieze auch eine Anzeige von der Geburt Eures
Töchterchens geschiktSchreibversehen, statt: geschickt.? Und wie soll denn die junge Dame heißen?
Ich hoffe, liebe Tilly daß Dich diese Zeilen
verhältnißgemäß wohl antreffen, – ebenso Deine beiden Töchterchen u. Frank. Allen
Euch Lieben sende ich
meine herzlichsten Grüße, indem ich wie immer verbleibe
Eure getreue Mama
u. Großmama!
P. S. Deinen lieben Eltern meine besten
Empfehlungen. Auch sie werden sich freuen?! – |
Schreibt mir bitte, recht bald wieder, wie es geht!!