Briefwechsel

von Frank Wedekind und Oskar Schibler

Frank Wedekind schrieb am 27. November 1879 in Aarau folgendes Briefgedicht
an Oskar Schibler

[1. Entwurf:]


November 1879.

Amico(lat.) Dem Freund Oskar Schibler gewöhnlich genannt Hildebrand von Kater.
Oscaro Schibleri
v/o Hildebrand
a
Katre |


Seinem vielgeliebten, nie vergessenen Schul- und Kneipgenossen
Hildebrand

November 1879.

KaterKneip- oder Biername, den Wedekind auch bei den wöchentlichen Klassenkneipen benutzte [vgl. KSA 1/II, S. 1425]..


1. Philosophirender,
Nie präparirender,
Immer abfahrender,
Tugend bewahrender
Göttlicher Mensch!


2. Durch die schwersten Schicksalsschläge
Fliegst du ohne umzusehn,
Doch steht eine Kneip’ am Wege
Kannst du nicht vorübergehn.


3. Gern carisiren/st/der, du,
Besen verführen/st/der du,
Herrlich trompetest du,
Öfters auch betest du,
Großes Genie!


4. Also träumst du durch das Leben
Mit dem Bierglas in der Hand,
Und rauchst O.... daneben
Viel gepries’ner Hildebrand!


5. Nicht zu vergessen ist
Daß Du ein Turner bist,
Und den gefüllten Wanst
Mörderisch krümmen kannst
Wie das Gewürm |


6. Doch aus einer edlen Sphäre
Stammet diese Riesenkraft,
Saufst wie wenn es Wasser wäre,
Schnaps u. Wein und Gerstensaft.


7. In der vollen Kneipe zu cantiren,
Den Dreibatzigen zu tribuliren,
Mit den Besen zu correspondiren,
Das ist dein Genuß.
Wenn sie auch die Briefe refüsiren,
Wenn du Sonntags darfst den Carcer zieren,
Kannst du Deinen Muth doch nicht verlieren,
Dier/r/ ist’s kein Verdruß.


8. Wenn dann die ganze Welt
Einstmals in Trümmer fällt,
Gerstensaft, Schnaps und Wein
Fließt in das Meer hinein


9. Dann erhebt sich aus dem Grabe,
In der dürren Todtenhand
Ein Glas Bier, die einzge Habe,
Unser vulgo Hildebrand.


10. Auf das Wohlsein seiner Brüder
Leert er es auf selbger Stelle
Bis zum Grund, und setzt es nieder,
Wird zu Staub, und fährt zur
Hölle.


In Ewigkeit
Kater


[2. Abgesandter Brief:]


OdaOda sacrata amico, condiscipuloque, compotorique Hildebrand in summa amicitia a Katere. (lat.): Die dem Freund, Mitschüler und Kneipbruder Hildebrand in höchster Freundschaft von Kater geweihte Ode.
sacrata
amico, condiscipuloque, compotorique
HildebrandKneip- oder Biername Oskar Schiblers.
in summa amicitia
a
Katere. |


1. Philosophirender,
Nie präparirender(lat.) sich (auf den Unterricht) vorbereitender.,
Immer abfahrender,
Tugend bewahrender
Göttlicher Mensch!


2. Durch die schwersten Schicksalsschläge
Fliegst du ohne umzusehn;
Doch steht eine Kneip am WegeDer „Wirthshausbesuch“ war den jüngeren Schülern bis zur ersten Klasse des Gymnasiums und der Gewerbeschule der Kantonsschule Aarau nur mit Erziehungsberechtigten (insbesondere Eltern, Lehrer) erlaubt. Oskar Schibler und Wedekind besuchten die erste Gymnasialklasse. Die Schüler der zweiten bis vierten Klasse des Gymnasiums und der Gewerbeschule hatten beim Besuch der erlaubten Kneipen, deren Namen die Lehrerversammlung zu Beginn eines Schuljahres bekanntgab, strenge Auflagen einzuhalten. Die Schüler durften die Kneipen nur zwischen 6 und 10 Uhr abends aufsuchen, die Besuche nicht zur Gewohnheit werden lassen und nicht „in regelmäßiger Gesellschaft“ erscheinen. Der Rückzug in nichtöffentliche Räumlichkeiten war nicht gestattet und das Kartenspielen war zu meiden [vgl. u. a. das Programm der Aargauischen Kantonsschule. Aarau 1880, S. 8f.; Zitat, S. 8].,
Kannst du nicht vorübergehn.


3. Gern carisirest(schweiz.) schmeichelst, machst den Hof. du,
BesenIn der Verbindungssprache nicht pejorative Bezeichnung für Frauen [vgl. https://www.zofingia-aarau.ch/warum-beitreten/vocabular/, 25.8.2021]. verführest du,
Herrlich trompetestAn der Kantonsschule Aarau wurde gegen Aufpreis von 25 Franken Instrumentalunterricht angeboten. Im Schuljahr 1879/80 waren zwei Schüler für Blasinstrumente angemeldet, die von einem Herrn Frei unterrichtet wurden. du,
Öfters auch betest du
Großes Genie!

verte!(lat.) wenden! |


4. Also träumst du durch das Leben
Mit dem Bierglas in der Hand,
Und rauchst O.... daneben
Viel gepriesener Hildebrand!


5. Nicht zu vergessen ist,
Daß du ein TurnerDer Turnunterricht fand zweistündig zusammen mit der Parallelklasse der Gewerbeschule statt. Der Lehrplan sah neben Turnspielen „Riegenturnen“ im Sommer und „Gemeinübungen an den Geräthen“ im Winter vor. Im Turnen weit übertroffen haben dürfte Oskar Schibler seinen Freund Wedekind, der über die Noten 3-4 (genügend bis schwach) nicht hinauskam und ab Herbst 1881 – zunächst durch ärztliches Attest – von dem Fach dispensiert wurde [vgl. Wedekinds Zeugnisse 1779/84 in der Aargauer Kantonsbibliothek. Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170 sowie Staatsarchiv Aargau. Bestand: Erziehungsdirektion und Erziehungsrat. Signatur: DE02/0167/03]. bist
Und den gefüllten Wanst
Mörderisch krümmen kannst
Wie das Gewürm.


6. Doch aus einer edlen Sphäre
Stammet diese Riesenkraft:
Saufst, wie wenn es Wasser wäre
Schnaps und Wein und Gerstensaft.


7. In der vollen Kneipe zu cantirenWortschöpfung, in Anlehnung an cantare (lat.): singen und cantus (lat.): Gesang. Wedekind dürfte im vorliegenden Kontext das Anstimmen von (Verbindungs-) Liedern gemeint haben.,
Den DreibatzigenGemeint war vermutlich der Pedell (Schulhausmeister) der Kantonsschule Aarau. In ihre Abschrift fügte Sophie Haemmerli-Marti zum Dreibatzigen die Erläuterung „Pedell“ ein. Das Wort ist aus dem Adjektiv dreibätzig, was drei Batzen kostet, abgeleitet und dürfte sich auf die Geldstrafe beziehen, die mit dem Arrest verbunden war und die Schüler dem Pedell bezahlen mussten. In der Disziplinarordnung vom 16.8.1870 war im Paragraphen §.27 festgelegt, dass für „jede bis auf sechs Stunden gehende Einsperrung [...] dem Pedell eine Gebühr von 30 Cents. und für mehr als sechs Stunden eine solche von 50 Cents. zu entrichten“ war [vgl. Staehlin 2002, S. 91]. zu tribulirenplagen, quälen.,
Mit den Besen zu correspondiren
Das ist dein Genuß.
Wenn sie auch die Briefe refüsirenablehnen, zurückweisen.,
Wenn du Sonntags darfst den Carcer(lat.) Kerker, Gefängnis; der Arrestraum in Schulen und Universitäten. In der Kantonsschule Aarau wurden die Schüler vom Pedell in Klassenzimmer eingesperrt [vgl. KSA 1/II, S. 980]. zieren,
Kannst du deinen Muth doch nicht verlieren,
Dir ist’s kein Verdruß.


8. Wenn dannDie folgenden beiden Verse sind einer seit dem frühen 19. Jahrhundert gesungenen Fassung der ersten Strophe des Kirchenlieds „O Jesu, einig wahres Haupt“ (gesungen nach der Melodie „Ein feste Burg ist unser Gott“) des Reformators Johann Menzer entlehnt. Im Jauerschen Gesangbuch von 1813 lautet die Strophe „O Jesu, einig wahres Haupt der heiligen Gemeine! die an dich, ihren Heiland glaubt, und nur auf dir alleine, als ihren Felsen steht, der nie untergeht, wenn gleich die ganze Welt dereinst in Trümmer fällt: erhör’, erhör’ uns, Jesu!“ [Johann Wilhelm August Scherer: Sammlung christlicher Lieder für die kirchliche Andacht evangelischer Gemeinen. Zunächst derer zu Jauer. Breslau und Jauer 1813, S. 449, Nr. 586]. die ganze Welt
Einstmals in Trümmer fällt
Gerstensaft, Schnaps und Wein
Fließt in das Meer hinein: |


9. Dann erhebt sich aus dem Grabe,
In der dürren TodtenhandDas schon aus Sagen und Märchen bekannte Motiv der „dürren Todtenhand“ wurde auch in und seit der Romantik wiederholt aufgegriffen, zum Beispiel in den Novellen Ludwig Tiecks „Das Zauberschloß“ oder „Abdallah“, die Wedekind bekannt gewesen sein dürften.
Ein Glas Bier, die einzge Habe,
Unser vulgo Hildebrand.


10. Auf das Wohlsein seiner Brüder
Leert er es auf selbger Stelle
Bis zum Grund, und setzt es nieder,
Wird zu Staub und fährt zur Hölle.


November 1879.

Frank Wedekind schrieb am 31. Dezember 1880 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

[1. Entwurf:]


Das alte Jahr mit seinen großen Töpfen
Mit Pfeifen u. Cigarrenetuis
Es ist hinunter u. in unsern Köpfen
Entwickelt sich ein neues Paradies. –


Wir suchen unsere Glückseeligkeit
Noch suchen wir nicht die Vergangen Glückseeligkeit
In Wa/Ki/nderschuen, die wir erst zertraten
Auf Schaukelpferden u. bei Zinnsoldaten
Verachtung nur trifft d. Vergangenheit.


In ferne Zukunft schweifen unsere Blicke
Und leichten Herzens ziehen wir verwegen
An Plänen Schwanger aller Welt entgegen
Und kämpfen mit des Schicksals arger Tücke.


So/Drum/ ist uns jedeSchreibversehen, statt: jedes. neue Jahr willkommen.
Wir frangenSchreibversehen, statt: fragen. nicht: was bringt es uns auf Erden
er/Er/st fragen WirUmstellung der Reihenfolge „Wir fragen erst“ durch die Ziffern 3, 2, 1.: was wir ihm bringen werden.
Der Freiheit Wahn ist uns nicht nicht genommen. |


So können wir noch hoffnungsvoll Sylvestern
Und würden die lieben guten Väter
An nichts so gerne denken als an gestern
Versetzte wir uns 20 Jahre später
Wir träumen immer 20 Jahre später.


Doch weiß IchUmstellung der ursprünglichen Reihenfolge „Doch Ich weiß“ durch die Ziffern 1, 3. 2., die Jugendträume es sind nur Schäume
Und gern verzichte ich auch auf aller Andern
Erfüllung, wenn es das warSchreibversehen, statt: wahr. wird, was ich träume,
Daß ich mit dir soll durch das Leben wandern.


[2. Abgesandter Brief:]


Zum neuen Jahr 1881


caro amico(lat.) dem lieben Freund.
Hildebrand
Biername Oskar Schiblers, den er bei den Klassenkneipen trug..


Das alte Jahr mit seinen großen Töpfen,
Mit Pfeifen und Cigarrenetuis,
Es ist hinunter, und in unsern Köpfen
Entwickelt sich ein neues Paradies. –


Noch suchen wir nicht die Glückseeligkeit
In Kinderschuhen, die wir erst zertraten,
Auf Schaukelpferden und bei Zinnsoldaten –
Verachtung nur trifft die Vergangenheit.


In ferne Zukunft schweifen unsre Blicke,
Und leichten Herzens ziehen wir verwegen
An Plänen schwanger aller Welt entgegen
Und kämpfen mit des Schicksals arger Tücke.


Drum ist uns jedes neue Jahr willkommen,
Wir fragen nicht, was bringt es uns auf Erden?
Erst fragen wir, was wir ihm bringen werden?
Der Freiheit Wahn ist uns noch nicht genommen.


So können wir noch hoffnungsvoll sylvestern.
Und währenddem die lieben alten Väter
An nichts so gerne denken, als an gestern –
Wir träumen immer zwanzig Jahre später.


Zwar weiß ich, Jugendträume sind nur SchäumeAbwandlung der sprichwörtlichen Redensart: Träume sind Schäume.,
Und gern verzicht ich auch auf aller andern
Erfüllung, wenn nur wahr wird, was ich träume,
Daß ich mit Dir soll durch das Leben wandern.


Auch gratulir’ ich herzlich Deinem Frater(lat.) Bruder. Oskar Schiblers älterer Bruder Wilhelm Schibler besuchte mit Armin Wedekind die dritte Klasse des Gymnasiums an der Kantonsschule Aarau..
Und Von Armin leg’ ich eine KarteDer Verbleib der Beilage ist unbekannt. bei.
Vergiß im Leben niemals Deinen „KaterBiername Frank Wedekinds.
Und stoß Dich nicht an dieser Sudelei.


Sylvester 1880

Oskar Schibler schrieb am 1. Januar 1881 in Aarau folgende Visitenkarte
an Frank Wedekind

Ich gratulire herzlich zum Jahreswechsel!

Gruss |


OSCAR SCHIBLER


AARAU.

Frank Wedekind schrieb am 21. Januar 1881 in Aarau folgendes Briefgedicht
an Oskar Schibler

[1. Entwurf:]


Ich hatte einstmals einen Freund
Er hat mich verlassen.
Ich habe heiße Thränen geweint
Und doch sollte ich ihn hassen.


Ich sollte ihn hassen und konnt es nicht
Und mußte ihn lieben
Er wandte ab sein stolzes Gesicht
Und ist kalt geblieben.


Da ergriff mich ein unendlicher Schmerz
mein Bli Sinn ward umnachtet
Tief bohrte den Dolch ich in sein Herz
denn er hat mich verachtetDie Versöhnung zwischen den Freunden fand vermutlich bei der Lessingfeier am 15.2.1881 in der Kantonsschule Aarau statt, wie Wedekind seinem Freund Walter Laué, der am 8.2.1881 die Schule und die Stadt verlassen hatte, berichtete [vgl. Wedekind an Walter Laué, 11. und 18.2.1881]..


[2. Entwurf:]


Mein ganzes Lieben galt einem Freund
Er hat mich verlassen.
Um ihn hab' ich heiße Thränen geweint
Und doch sollt ich ihn hassen.


Ich sollte ihn hassen und konnt es nicht
Und mußte ihn lieben.
Er/St/olz wandte er von mir sein Gesicht
Und ist kalt geblieben


Da faßte mich ein unendlicher Schmerz.
Mein Geist ward umnachten.
Tief bohrte den DochSchreibversehen, statt: Dolch. ich in sein Herz,
Denn er hat mich verachtet.


FWedekind.


[3. Überreichter Brief:]


Mein ganzes Lieben galt einem Freund.
Der hat mich verlassen.
Ich habe heiße Thränen geweint,
Und doch sollt’ ich ihn hassen.


Ich sollte ihn hassen und konnt es nicht
Und mußte ihn lieben.
Er wendete ab sein stolzes Gesicht
Und ist kalt geblieben.


Da ergriff mich ein unendlicher Schmerz.
Mein Sinn ward umnachtet.
Tief bohrte den Dolch ich in sein Herz,
Denn er hat mich verachtet!


Franklin Wedekind.

Frank Wedekind schrieb am 18. Mai 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler , Oskar Schibler

F. Wedekind.
verte! |

Lieber Oskar, hier schicke ich Dir mein bescheidenes Bildniß. Halte dasselbe in Ehren und bewahre es auf Deinem Busen neben demjenigen der Königin deines fühlenden Herzensnicht ermittelt.. Es verdient diesen hohen Platz wohl, es verdient sogar über jenes gestellt zu werden, denn es ist nicht lüsterner Egoismus, es ist nicht süße Hoffnung, bald in Deinem irdischen Paradies schwelgen zu können, sondern ungetrübte, sich selbst verleugnende Liebe, die Dir dies kleine, aber durch seinen relativen Werth kostbare Geschenk zum ewigen Andenken darbringt.

18.V.1881

Frank Wedekind schrieb am 18. Mai 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler , Oskar Schibler

Schloß Lenzburg, 18. Mai 1881.


Lieber Oskar,

Ohne viele Entschuldigungen oder Entschuldigungsversuchen gestehe ich Dir in kindlichem Vertrauen meinen großen Fehler ein, Dich so lange vernachlässigtAm 14.4.1881 hatte Wedekind bei der öffentlichen Bekanntgabe der Prüfungsnoten an der Kantonsschule Aarau erfahren, daß er nicht in die dritte Gymnasialklasse versetzt worden war. Offenbar hatte er sich bei den Schulfreunden weder in den anschließenden Schulferien, die bis zum 30.4.1881 dauerten, noch danach gemeldet. zu haben, aber wenn Du mich wirklich so liebst, daß Dich Diese Vernachlässigung schmerzte, so wirst Du sie mir auch ohne viel Bedenken auf meine aufrichtige Reue hin vergessen. Zudem wirst Du es mir auch gnädigst verzeihen, daß ich in meinem principiellem/n/ Egoismus meistens nur von mir spreche in diesen/m/ Brief. So höre nun!: Aus meiner FahrtWedekind beabsichtigte, die schulische Ausbildung an der Kantonsschule Solothurn fortzusetzen [vgl. Kutscher 1, S. 33]. nach Solothurn wurde es diesen Frühling noch nichts, sie ist bis zum Herbst verschoben aus verschiedenen Rücksichten. Nun führe ich hier ein idyllisches, glückliches Landleben, indem ich bei 2 ½ fr. Gehalt di per Woche Privatstudien treibe. | Obgleich ich auch wenig unter die Leute komme, so schützt mich dennoch meine lebhafte Phantasie in Verbindung mit einer phantastisch-schönen Natur vor alles/r/ Langeweile. Auch die Muse hat sich aus den philisteriösennicht studentischen, (spieß)bürgerlichen. Stadtbezirken, zurückgezogen, sie verachtet nun ihre früheren, trockenen BierpoesieenWedekinds Dichtungen, die er eigens für die wöchentlichen Klassen- oder Vereinskneipen angefertigt hatte. und streift durch Felder und Wälder, dem Flug der Vögel und dem Rauschen des Baches nach indem sie in idyllischen Schäfergedichtenseit der Antike beliebte Gattung der Poesie, die das Leben der Rinderhirten und Schäfer idealisiert; nach den Hauptwerken der Gattung auch als bukolische, arkadische oder pastorale Dichtung bezeichnet. mich und meine schöne Schäferin Galatea(lat.) die Milchweiße; in der griech. Mythologie eine Nymphe (Naturgottheit), die unter anderem aus den bukolischen Dichtungen Theokrits (Idyllen) und Ovids (Metamorphosen) bekannt ist [vgl. KSA 1/II, S. 1572f.]. besingt. Galatea ist nämlich ein ganz abstracter Begriff, dem durchaus kein nichts in der Wirklichkeit entspricht; sie lebt nur als Ideal Ideal einer schönen Schäferin in meiner Phantasie. Du wirst begreifen, daß ich in dieser Schäfersphäre auch viel mit Nymphenin der griech. Mythologie weibliche Naturgottheiten des Wassers (Najaden), der Bäume (Dryaden) und der Berge (Oreaden). und Oreaden zusammens/k/omme, welches ein leichtes Volk ist und sehr gern mit sich Bockspringen läßt. Ich kann übrigens nicht umhin dir das schönste alles/r/ meiner BucolicenWedekind hatte für seine „Felix und Galathea“ genannte Hirtendichtung ein blaues Büchlein, betitelt „Bucolica“ angelegt, dass ihm in der Zeit seiner Flucht nach Zürich im Herbst 1898 abhanden kommen sollte [vgl. Wedekind an Weinhöppel, 8.3.1905]. mitzutheilen. Dasselbe stammt aus der 1. Periode meines Schäferlebens, wo ich mich noch erst an den Schafen erquickte und noch keinen Br/e/griff hatte von dem Genuß einer Galatea, die mich überhaupt erst in die lockeren Cirkel | der Nymphen und Oreaden hineinlockte. Dies BucoliconDas folgende Gedicht [abgedruckt in KSA 1/I, S. 54] hat Wedekind nicht in die publizierten Fassungen „Felix und Galathea“ übernommen. [vgl. zur fragmentarischen Überlieferung der Bucolica KSA 1/II, S. 1546-1554]. lautet:


Des Morgens mit ihrem Blöcken
Thun mich die Schafe erwecken
Im herrlichsten Sonnenschein.
Und Abends blöcken die Schafe
Mich in den süßesten Schlafe. –
O seelig, ein Schäfer zu sein!


„Entzückend! – Bezaubernd!“ höre ich Dich ausrufen, aber im nächsten Briefe schreibe ich Dir ein Lied aus der 2. Periode. Jenes wirst Du nicht mehr höhren, jenes wirst Du fühlen am ganzen Leibe. Gestern war ich Bei meinem Frater(lat.) Bruder; Frank Wedekinds Bruder Armin.(lat.) Bruder. und Sutermeister in Zürich und habe mit ihnen Ca++/oll/egiaArmin Wedekind und Moriz Sutermeister hatten nach der Matura am 27. April 1881 gemeinsam das Studium in Zürich aufgenommen [vgl. http://www.matrikel.uzh.ch/active/static/21661.htm und http://www.matrikel.uzh.ch/active/static/23376.htm, abgerufen 4.8.2021]. geschunden und flott geknippen. Daß sie Beide bald in weißen MützenDie beiden Freunde traten am 18.5.1881 in die nichtschlagende Studentenverbindung Zofingia ein [vgl. ebd.]. Die Mitglieder trugen weiße Tellermützen und rot-weiß-rote Bänder und waren dem Wahlspruch Patriae, Amicitiae, Litteris (für Vaterland, Freundschaft und Wissenschaft) verpflichtet. aufrücken werden, sollte ich Dir eigentlich nicht mittheilen./,/ aber Du hast es wohl schon lange geahnt. Es wäre nicht unmöglich, le daß ich in nächster Zeit vielleicht einmal nach Aarau komme. Darum schreibe mir wann ihr Classen- oder VereinskneipeOskar Schibler war Mitglied des Kantonsschülerturnvereins Aarau (KTV Aarau), der ältesten Mittelschulverbindung der Schweiz. habt. Grüße die ganze 3. Gym. von ihrem alten Haus, besonders den sentimentalen Durrer und den unschuldigen Bryner und vor allein/m/ Deine eigene Herrlichkeit. Auch an Zschocke darftSchreibversehen, statt: darfst. Du in | meinem Namen Deine edlen Worte verschwenden, H. Prof. Dr. Samuel Uphues nicht zu vergessen, der, wie ich höreDer Hintergrund dieser wohl witzig gemeinten Behauptung Wedekinds bleibt unklar. Möglicherweise steht sie im Zusammenhang damit, dass der unverheiratete, ehemalige Priester Dr. Goswin Karl Uphues, der Deutsch und Griechisch an der Kantonsschule Aarau unterrichtete, 1881 zur evangelischen Kirche übergetreten war., glücklicher Vater unglücklicher Zwillinge einer Un unglücklichsten Mutter sein soll geworden ist. H. LeupoldEdward Leupold unterrichtete seit Oktober 1879 am Gymnasium der Kantonsschule Aarau Geschichte und in der ersten Klasse auch Latein. Er hatte ausschlaggebend dazu beigetragen, dass Wedekind im Frühjahr 1881 nicht versetzt worden war, indem er ihm eine „5“ (ungenügend) in Geschichte ins Zeugnis schrieb [vgl. 1879/1884 Aargauische Kantonsschule Gymnasium: Zeugnissheft für Franklin Wedekind in Aargauisches Kantonsarchiv. Wedekind Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170]., dem guten Jungen, darft Du in meinem Namen einen Fußtritt in effigie(-m)(lat.) in effigie (Ablativ): bildlich; in effigiem (Akkusativ): in das Abbild. verabreichen, und ich ließe ihn/m/ ein wohlgemeinteSchreibversehen, statt: wohlgemeintes.Gehe in DichBeliebte Redewendung; hier vielleicht in Anlehnung an Ludwig Tieck: „Geh in dich, beßre dich, mein lieber Sohn“ [Ludwig Tieck: Leben und Tod der heiligen Genoveva. Drama 1799. In: Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Bd. 2, München 1963, S. 461]. und bessre Dich“! zurufen. – Ich brauche Dir doch wohl nicht noch auf die Seele zu binden, Du möchtest mir doch recht bald alles n/N/eue und Interessante aus Aarau und Umgebung in meine Einsamkeit berichten, Du möchtest Deinen ganzen FamilienkreisOskar Schibler, dessen leiblicher Vater 1872 tödlich verunglückt war, lebte in in einer Patchworkfamilie am Zollrain 179 in Aarau [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau 1881, S. 13; Adress-Buch Aarau 1884, S. 31]. Zum Familienkreis gehörten der Stiefvater, Obergerichtsschreiber Joseph Keller-Franke, die Mutter Wilhelmine, geborene Franke, verwitwete Schibler, der jüngere Bruder Alfred Schibler und der Stiefbruder Hermann Keller. Der ältere Bruder Wilhelm Schibler, der mit Armin Wedekind eine Klasse besucht hatte, studierte seit dem Frühjahr 1881 in Genf. ergebenst von mir grüßen? – Auch vergiß nicht unsere projectirte C/K/unstreise, die ich nunmehro als Schäfer aus der Campanie antreten werde. Und nun leb wohl! seih herzlich Vergieß niemals Deinen unendlich treuen Freund:

Franklin Wedekind a/g Kater, Schäfer aus der K/C/ampania, Privatdocent auf Schloß Lenzburg, Nachtstuhlfabrikant mit Schaukelvorrichtung, nebst Familie.


Datum XIIX, 18.V.1881.

in arce veris cum maxima amicitia.(lat.) auf dem Gipfel des Frühlings in größter Freundschaft. Amen!


[am linken Rand:]


Grüße auch Calr Carl Schmidt und ich ließe ihn nochmals um Verzeihung bittenDer Schulfreund Carl Schmidt, der schon die vierte Gymnasialklasse besuchte, hatte sich bei Wedekind beschwert, daß er und Schibler durch Fremde erfahren mussten, welche Pläne Wedekind, nachdem er nicht in die dritte Klasse der Aarauer Kantonsschule versetzt worden war, verfolgte [vgl. Schmidt an Wedekind, 6.5.1881]..

Frank Wedekind schrieb am 18. Mai 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler , Oskar Schibler

F. Wedekind.
verte! |

Lieber Oskar, hier schicke ich Dir mein bescheidenes Bildniß. Halte dasselbe in Ehren und bewahre es auf Deinem Busen neben demjenigen der Königin deines fühlenden Herzensnicht ermittelt.. Es verdient diesen hohen Platz wohl, es verdient sogar über jenes gestellt zu werden, denn es ist nicht lüsterner Egoismus, es ist nicht süße Hoffnung, bald in Deinem irdischen Paradies schwelgen zu können, sondern ungetrübte, sich selbst verleugnende Liebe, die Dir dies kleine, aber durch seinen relativen Werth kostbare Geschenk zum ewigen Andenken darbringt.

18.V.1881

Oskar Schibler schrieb am 22. Mai 1881 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

Aarau 22 Mai 81.


Lieber Freund!

Ich hatte mir zuerst in den Kopf gesetzt dich ein wenig zu strafen für dein langes mir unerklärlich gewesenes StillschweigenOffenbar hatte sich Wedekind, der nach Ostern nicht in die dritte Klasse der Kantonsschule Aarau versetzt worden war, weder in den Schulferien (14.4.1881 bis 30.4.1881) noch danach bei den Schulfreunden gemeldet. Carl Schmidt beschwerte sich schon Anfang Mai darüber, dass er und Schibler von Dritten die Zukunftspläne ihres Freundes Wedekind erfahren mußten [vgl. Carl Schmidt an Wedekind, 6.5.1881]. & zwar durch ebendasselbe Experiment; aber ich konnte es nicht übers Herz bringenSchibler antwortete nur wenige Tage nach Erhalt des Briefes [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 18.5.1881]. mich mit dir altes Haus wider ein wenig zu unterhalten. Doch warum diese lange Vorrede.

Preise die Götter & alle Heiligen, dass du von Aarau fort bist denn ein solches Hundeleben hab ich seit meinem gewiss einmal stattgefundenen Geburtstag noch nicht gführt. Man hat den ganzen Tag zu ochsen im reinsten Sinne des Wortes. Und besonders ich in einzelnen Fächern wie Mathematik & Französisch. Dies mög der Teufel holen! |

Ich beneide dich wahrlich in deinem Schäferidylischen LLeben. Dolce far niente!(ital.) Das süße Nichtstun! Doch immer den Kopf oben alter Bursch nicht versumpfen in diesem nichts sagenden geistunterjochenden Schulbeben. Man lacht! Es verdient nicht, dass man sich ärgert. Wegen der kurzen Spanne Zeit, welche man sich durchzuschlagen hat lässt man d/s/ich gewiss keine grauen Haare wachsen besonders wenn man noch jung ist.

Wie gesagt sei froh, dass du aus diesem Staub & Moder fort bist. Die Chemie mo/a/cht einen fast verrückt. Da schanzt man die Formel ein & m/w/as für ein Gewinn schaut heraus? Zeitverlust den man angenehm verbummeln könnte in die tiefsten Tiefen der wollüstigen Melancholie versenkt. |

Doch ich will dich auch mit meinen neusten poetischen Ergüssen bekannt machen. recensire scharf & bald:Die Aufforderung dürfte der Idee des von Walter Laué und Wedekind gegründeten Dichterbundes senatus poeticus geschuldet gewesen sein, dem Oskar Schibler im Februar beigetreten war [vgl. Wedekind an Walter Laué, 11. und 28.2.1881].


Felix, qui poterit mundum contemnere!(lat.) Glücklich ist in der Welt, wer sie verachten kann!


1. Es kämpfen in meinem Herzen
Der bösen Geister viel
Sie bringen Freuden & Schmerzen
Sie alle kommen ans Ziel!


2. Im Innern die Leidenschaft wühlet;
Ein Drang ich kenn’ ihn nicht
Mein sehnendes Herz es fühlet
Es ist der Drang nach Licht!


3. Dies unnennbare Sehnen
Das all mein Sein erfüllt?!
Es ist ein menschlich Waehnen
von tiefer Nacht umhüllt.


4 Eine Seele hab ich gefunden
in meiner dunklen Nacht
Mit ihr hab ich ganz empfunden
In ungeahnter Macht. |


5 Sie allein hat mich verstanden
In meinem dunklen Drang,/./
Durch sie ist mir erstanden
Des Lebens erster Klang.


6. Drum Starke an dir ich mich halte
Dir ganz vertrau ich mich an
Du kennst meines Herzensfalte
ohne dich ich nichts machen kann!


7. Drum k/w/ollen zusammen wir streben
In kühnem Geistesflug
Nicht an g/G/emeinem kleben
Hinauf! mit einem Zug.


fecit(lat.) geschaffen von. Hildebrand


Ich mache dir hiemit einen Vorschlag, den du in deiner geruhsamen Schäferei ganz leicht ausführen kannst.

Schreib mir ein kleines fideles ziemlich Schund enthaltendes, passendes StückWedekind schrieb das Stück nicht. für den nächsten MaturitätswixAbiturabschlussfeier, bei der die Verbindungsschüler und die Wildenschaft (die zu keiner Verbindung gehörenden Schüler) ihre Trachten (Wixe) trugen; das nach Regularien mit Festrede, Liedern und witzigen Redebeiträgen veranstaltete Trinkgelage (Kommers), zu dem auch die Schüler der unteren Klassen eingeladen waren, fand traditionell am Abend der Zeugnisübergabe statt [vgl. Staehelin 2002, S. 75 u. 204]. Die Gymnasiasten der Kantonsschule Aarau erlangten die Maturität im Frühjahr eines Jahres, die Gewerbeschüler im Herbst. Der nächste Maturitätswix fand also im Herbst 1881, am 30.9.1881, statt [vgl. zum Datum auch Oskar Schibler an Wedekind, 17.9.1881]. |

Frank Wedekind schrieb am 26. Mai 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Schloss Lenzburg, im schönen Monat Mai. 1881.


Lieber Oscar,

Zu meinem grossen Bedauern seh ich aus Deinem ganzen Briefevgl. das Brieffragment Oskar Schibler an Wedekind, 22.05.1881. Wedekind verweist im Folgenden auch auf Textpassagen, die nicht aus dem überlieferten Teil des Briefes stammen., dass i/I/hr in der That viel zu schaffen habt, dass Du wenigstens sehr beschäftigt bist. Inmassen dieser Erwägung werd ich Dir auch gnädig alle die Mängel verzeihen, die ich an Deinem Werthen Schreiben entdeckt habe. Aber vor allem Anderen: Nichts für ungut! Auf d/D/einen Antrag hin, ich solle einen Vorschlag machen, über eine allfällige Zusammenkunft, wiederhole ich Dir die Bittevgl. Wedekind an Oskar Schibler, 18.5.1881., mir zu schreiben, wann ihr Vereinst- oder Klassenkneipe abzuhalten geruhet, auf dass ich altes Haus wieder einmal meine alten treuen Kameraden, vor | Allen aber Dich meinen getreuen Oscar, Auge in Auge herzlich begrüssen kann. Was Deinen Bitte wegen einem Stück für den Maturitätswix anbelangt, so frg/a/ge ich Dich nach Stoff und Art (tragisch, sentimental, fideel, picant); übrigens ist es bis dahin noch ein gehöriger ZeitraumErst am 30.9.1881 wurde an der Kantonsschule Aarau die nächste Abiturabschlussklasse, das war die IV. Klasse der Gewerbeschule, verabschiedet, die dann traditionsgemäß an demselben Abend ihre erlangte Hochschulreife mit einem Festcommers feierte., in welchem wir uns wohl einmal sehen werden. Das versprochene LiedVielleicht war der „Zwiegesang zwischen Felix, dem Schäfer, und Galathea, der Schäferin“ gemeint [vgl. KSA 1/II, S. 1543 – Text in KSA 1/I, S. 573f.]., welches Du am ganzen Leibe fühlen solltest, schicke ich Dier lieber nicht in Hinsicht auf die Schwäche deines Nervensystems. Hingegen schicheSchreibversehen, statt: schicke. ich Die/r/ das getreue Abbild meiner schönen Schäferin GalateaDie Beilage fehlt. – Eine mit „Galatea“ betitelte Bleistiftzeichnung, die „ein ernstes, gereiftes Frauenporträt im Halbprofil“ zeigt [KSA 1/II, S. 1543], befindet sich in einem Skizzenbuch mit der Aufschrift „Album“, das Einträge zwischen Weihnachten 1882 und September 1897 enthält [Blatt 3r, vgl. auch KSA 1/I, S. 778]., wel von meiner eigenen Hand, welches ich einst in einer süssen Schäferstunde ihr abgenommen habe. Du wirst mir ihre Schönheit scharf rezensiren, ebenso, wie ich Dir den/in/ Carmen(lat.) Lied. nunmero scharf rezensire: Ich, Franklin Wedekind o/g KaterBier- oder Kneipname Wedekinds bei den Klasssen- und Vereinskneipen., gebe folgendes, unmassgebliches Urtheil über HildebrandBier- oder Kneipname Oskar Schiblers.s Carmen: felix e. ct:Felix, qui poterit mundum contemnere! ist der Schlußvers aus einem Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Lied: „Nil tuum dixeris Quod potes perderé, Quod mundus tribuit Intendit rapere. Superna cogita, Cor sit in aethere: Felix qui potent Mundum contemnere. (lat.) Was sich verlieren läßt, eigne sich keiner an! Die Welt nimmt ihr Geschenk wieder von jedermann. Denk’ an das Bleibende, Herz, strebe himmelan: Selig ist in der Welt, wer sie verachten kann!“ [zitiert nach Johannes Scherr: Allgemeine Geschichte der Literatur: ein Handbuch in zwei Bänden. Bd. 1, Stuttgart 1875, S. 155]. ab, un|massgeblich, l weil ich, als Epiker, einen Meister in Lyrik nicht wage entgültig zu recensiren, sondern eben nur unmassgeblichst zu berathen: Nun scheint mir aber, dass Überschrift und Text nicht übereinstimmen, weil Hildebrand eben in der Welt ein Geschöf/p/f gefunden hat, was ihn fesselt, was ihn emporzieht. Er kann mithin nicht die Welt verachten. Ich rufe ihm aber zu: „Verlangend HerzSchlussvers aller Strophen aus dem Gedicht „Entsagung“ (1857) des 1879 in Zürich gestorbenen Schweizer Dichters Heinrich Leuthold [vgl. Die Deutsche Gedichtebibliothek, in: https://gedichte.xbib.de/Leuthold_gedicht_009.+Entsagung.htm, 2.8.2021]., sei Du Dir selbst genug.“ Wenn der Verfasser diesen Rath befolgt hat, dann mag er von Weltverachtung sprechen. Setze also eine andere Überschrift und das Carmen ist nach meinem unmassgeblichsten Urtheil untadelhaft in Form und Inhalt. Ich lobe Dich nicht, Hildebrand, aber das soll d/D/ir das grösste Lob sein, dass ich über dem Gedicht den Meister und das ihm gebührende Lob vergessen habe. – Dass euer werther VereinHier dürfte Wedekind den Kantonsschülerturnverein Aarau (KTV Aarau) gemeint haben, in dem Oskar Schibler aktives Mitglied war. Neben dem KTV – Wahlspruch: mens sana in corpore sano (lat.) ein gesunder Geist in einem gesunden Körper – existierten hier noch zwei weitere Aarauer Mittelschulverbindungen, die Industria – Wahlspruch: Amicitia et Scientia. (lat.) Freundschaft und Wissenschaft – und die Argovia – Wahlspruch: Litteris et Amicitiae et Patriae. (lat.) Gelehrsamkeit, Freundschaft, Vaterland. so bedeutend gewachsen ist, freut mich von ganzem Herzen, Du hast mir aber auch nicht geschrieben, wie Bryner, Zschokke, DurrerDrei Schüler der dritten Gymnasialklasse, die mit Wedekind und Oskar Schibler befreundet waren., Uphues und LeupoldDie beiden Lehrer hatten Wedekind bis zu seiner Nichtversetzung im Frühjahr 1881 unterrichtet, Uphues in Deutsch und Leupold in Geschichte. meine Grüsse auf|genommen haben. Der III. Gymnasi wollte ich als Ersatz ihrer für ihre Treue mir gegenüber ein Present machen, nähmlich eine klassische Uebersetzung des aargauischen KantonsschulreglementAktuell gültig war vermutlich das 18-seitige „Reglement für die Kantonsschule vom 18. April 1876“, das der Regierungsrat des Kantons Aargau 1876 herausgegeben hatte. Eine „Zusammenstellung der wichtigsten reglementarischen etc. Bestimmungen“ wurde alljährlich zum Schuljahresbeginn im „Programm der Aargauischen Kantonsschule“ abgedruckt [vgl. ebd. zum Beispiel aus dem Jahr 1881, S. 4-8]. in anmuthige Knittelverse. Das Werk kam aber nicht zu Stande und deshalb muss sich die III. GymnasiSchreibversehen, statt: Gymnasii. – Von den ursprünglich 17 Schülern der zweiten Gymnasialklasse waren in der dritten nur noch 11 übriggeblieben. mit meinem guten Willen begnügen. Hingegen lasse ich Sie wiederum herzlich grüssen und ebenso d/D/ich, meinen lieben Oskar und Dank sei Dir für d/D/einen lieben Brief und ich erwarte in Bälde wider so einen mit poetischer Beilage. Nun erlaube mir aber die Frage, die mir unwillkürlich bei d/D/einem Carmen aufgestossen ist, ob Du nämlich noch immer ein gläubiger Theïst bist, oder ein ob d/D/u, wie ich ahne ein zweifelnder Atheïst geworden. Nun leb wohl und ke nim meine aufrichtige CondulationSchreibversehen, statt: Condolation (lat.) Beileidsbekundung. deines Hundelebens in Aarau wegen hin.

In alle Ewigkeit Dir treu ergeben Dein
Kater, Schäfer auf S. Lenzburg.

Oskar Schibler schrieb am 1. Juni 1881 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

Aarau 1 Juni 81.


Lieber Franklin!

Du weisst nicht wie glücklich du bist, im Genusse deiner ländlich idylischen Ruhe. Ich würde jeden Augenblick mit dir tauschen. Da sitz ich in meiner Bude wie ein nach f/F/reiheit ringender Vogel der den Aetherpoetisch: Luft. durchstreifen möchte & nun gebunden & mit lahmen Flügeln in seinem Kerker sitzen muss. Da verduftet die Lust zum DichtenOskar Schibler war im Februar dem von Wedekind und Walter Laué gegründeten Dichterbund „Senatus poeticus“ beigetreten [vgl. Wedekind an Walter Laué, 11.2. bis 28.2.1881].. Höchstens macht sich etwa dann & wann ein Seufzer aus der gedrängten Brust los, der hohnlacht der strebenden, lächerlichen Menschheit, die stolz auf ihre Thaten & Anstrengungen schaut die doch im Grunde sehr wenig zu bedeuten haben. Ja es ist lächerlich dass man gebunden ist die paar Jahre welccheSchreibversehen, statt: welche. man auf der Erde zu vegetiren hat. |

Wahrlich mit der Erkenntnis & Einsicht kam das Unglück auf die Erde. Doch wozu diese weltschmerzlichen Gedanken. Verlachen wir sie so lange wir noch jung sind; sie kommen auch ans Ziel.

Um auf den Inhalt d/D/eines letzten BriefesWedekind an Oskar Schibler, 26.5.1881. überzugehen, so glaube ich, dass da/er/ Stoff das StückWedekind schrieb das Stück nicht. für den Maturitäs/t/swixDer Festkommers, den die Abiturienten am Abend der Zeugnisübergabe mit den Schülern der unteren Klassen feierten, war auf den 15.4.1882 terminiert. alles zusammen enthalten soll gerade das conglomerat reizt & macht das ganze Stück pikant. Es ist allerdings ziemlich schwierig ein passendes Stück zu schreiben das tragisch, sentimental fidel, picant sein soll. Du musst hiezu schon eine Studentengeschichte wählen. Was machst du eigentlich den ganzen Tag? In höheren Sphären schweben oder in ganz prosaischen? |

Ich wollte ich könnte auch mit d/D/ir im HerbstOskar Schibler wünschte sich, die Schullaufbahn in Solothurn fortzusetzen, wie Wedekind dies vorhatte [vgl. Carl Schmidt an Wedekind, 6.5.1881].! Das hätten aber unsere Altendie Eltern. wieder nicht gern. Item(schweiz.) kurz, „wenn man eine längere Rede über einen Gegenstand als unnötig abbricht“ [Schweizerisches Idiotion Bd. 1, 1881, S. 601: https://digital.idiotikon.ch/idtkn/id1.htm#!page/10601/mode/1up/search/item]. wir wollen sehen. Kommt R/Z/eit kommt Rath.Redewendung.

Hast du vielleicht einige Fragmente der poetisch behandelten DisciplinarordnungDiese gehörte zum Reglement der Kantonsschule Aarau, das Wedekind in Knittelverse übersetzt den ehemaligen Mitschülern im Mai hatte schenken wollen [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 26.5.1881].? Wenn ja so schick mir sie gefälligst. Ich kann sie vielleicht verwenden ohne dem Ruhme des Namens des Autors Abbruch zu thun. Wenn du Zeit & Lust hast so können wir uns ja Sonntagder 5.6.1881, Pfingstsonntag. Nachmittags irgendwo treffen zwischen Aarau & Lenzburg. Wir kehren dann nach Lenzburg zurück kneipen ein wenig herum & ich fahre dann Abends nach | Hause. Überlegs & schreib mir bald die Antwort. Wie steht es mit unserer Sommerkunstreise? Hoffentlich kommt sie zu Stande. Wenn du mir eine definitive Antwort geben kannst so will ich dann mit dir im Einverständniss die Route studiren. Aber nur wir 2 dann wirds fidel.

Brüner & DurrerKarl Briner und Abälard Durrer, zwei ehemalige Mitschüler Wedekinds, die jetzt mit Oskar Schibler die III. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau besuchten. ochsen auch immer noch an einem Reiseplan herum; aber mit den 2 wollt ich nicht gehen.

Leb wohl bis Sonntag wo wir uns hoffentlich wieder einmal sehen werden & einige Augenblicke zusammen sein können. Dein getreuer
HildebrandBier- oder Kneipname Oskar Schiblers..

Oskar Schibler schrieb am 21. Juni 1881 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

Aarau 21 Juni 81.


Lieber Franklin!

Anstatt dringender Arbeiten obzuliegen da sinne ich Träumereien nach. Das anatomische Gehirn zu studiren ruft verschiedenerlei Gedanken auf. Betracht folgende & lache, doch glücklich derjenige der in ihnen lebt!


–––


Was ist das Leben?!
Ein Todeskampf
Ein Ringen nach Oben
Ein Streben zum Unendlichen!
Fluch! dem Gotte
Der uns schuf
Uns Vernunft gab |
einzusehen
Und uns so verliess!
Gott der Gepriesene
ist er allgütig?
Nein’ unser Feind!
Fluch der Vernunft!
Zwitterwesen der Schöpfung
Halb lebend halb todt!
Thier & Gott
Mehr Thier & durch Gott!
Ein Hohnlachen der Hölle
Durchschüttert mich?
Eitler Thor!
Gott ist ewig
Du ein Zufallsgebilde!
Er schuf die Welt
Die Erde & Du entstundt |
Gott sei allmächtig
Wo der Beweis
an uns Vernünftigen!
Hinsiechen lässt er uns
selbstverzehrend.
Mittel giebt er uns
zu erkennen
& verschliesst jeden Weg!
Gott der Gepriesene
ist er allmächtig!
Sieh um dich
seine Macht
was nicht offenbart!
Alles wird sich einigen
wir vergehen in nichts!
Verachte die Welt |
Nichts! ist die Lösung
unsers Erdenräthsels!
Nichts! gellt es uns in
die Ohren der Menschheit!
Und die Wahrheit ist göttlich
An dieser einzgen Offenbarung
unsers Schöpfers
erkenn ich Gott!


–––

Felix qui poterit mundum contemnere?(lat.) Ist glücklich, wer die Welt verachten kann?

Im Leben dein dir getreuer H.


Gieb bald Nachricht. Grüsse an alles Grüssbare!

Frank Wedekind schrieb am 24. Juni 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Schloss Lenzburg, Juni 1881.


Lieber Freund.

Verzeih mir dass ich über Deinem/n/ lieben Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 21.6.1881. nicht gelacht, sondern bittere Thränen des Mitleides geweint habe. Im innersten Herzen hat es mich gekränkt zu entdecken auf welch schwindelndem Wege d/D/u dahineilst ohne zu bedenken, dass ein einziger Fehltritt Dich Dein glückliches Dasein auf dieser Erde kosten würde. Es wird d/D/ich befremden, solch ernste Worte aus meinem Munde zu hören, aber schreibe es meiner unermesslichen Liebe zu, dass ich nicht um hin kann, Dir einen warnenden Lichtstrahlvermutlich in Anlehnung an die Anthologie „Lichtstrahlen aus Ed.[uard] v.[on] Hartmann’s sämmtlichen Werken“, die mit einer Einleitung von Max Schneidewin soeben in Berlin erschienen war [vgl. Börsenblatt des deutschen Buchhandels. Jg. 48, Bd. 2, Nr. 108, 12.5.1881]. Zur intensiven Auseinandersetzung mit der Philosophie Eduard von Hartmanns war Wedekind angeregt worden durch seinen Deutschlehrer Goswin Karl Uphues, einem Schüler des Philosophen, und durch die philosophierende „Tante“ Olga Plümacher, die sich seit 1874 mit Eduard Hartmann beschäftigte, und die Anthologie Wedekind zum Geburtstag (24.7.1881) schenkte [vgl. Kutscher 1, S. 46]. in Deine tief-dunkele f Finsterniss zu senden. |

Du erinnerst Dich villeichSchreibversehen, statt: vielleicht. noch daran, dass ich in früheren Zeiten vergeblich Deinen streng christlichen Glauben bekämpfte, dass Du noch ganz vertrauensvoll in dem s/S/choose der Kirche ruhtest. Damals wutt/ss/te ich im v/V/oraus, dass auch Du bald umschlagen werdest, wie es nunmehr auch eingetroffen ist.

Nun aber bitte ich Dich inständig um Deines Seelenheils w/W/illen, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben und nicht an einen Gott zu glauben, der kein g/G/ott mehr ist, und dadurch, dass Du ihn Dir als feindliche Macht einbildest, d/D/einer Freiheit vollständig zu Grunde zu richten. In Deinem Briefe bejahst Du D die Allmacht Gottes, verneinst aber Seine Güte. So bist Du ein der moralisch am tiefsten gesunkene Mensch Weg, denn der Böse (Gott) hat vollständige Macht über Dich; | seiner Allmacht kannst Du nicht widerstehen, Du bist ein Sclave. Nun frage ich Dich aber, was kann Gott nur sein, was ist sein Wesen? – Sein Wesen, er sl selbst, ist D die Liebe! – Wenn Du also einen Gott (Liebe zu Dir) anerkennst und diesen Gott Deinen Feind nennst, so bist Du ein Gotteslästerer. Mit Deiner e/E/rlaubniss ziehe ich noch weitere Folgen daraus: Wenn Du als Gotteslästerer auf diesem falschen Wege bist, so muss Gott, in seiner Liebe besonders freundlich und wohlwollend Dir entgegentreten, denn Du bist ein verirrtes Schaf. Du erkennst nun aber seine Güte nicht und bist ein Dummkopf. – Nun will ich Dich aber mit Deiner Erlaubniss aus einem Sclaven, einem Gotteslästerer, einem Dumkopf zu einem Freien, einem Frommen und einem Weisen machen. Der Stein über welchen Du bei d/D/einen atheistischen Bestrebungen ge|stolpert bist, war Deine Ohnmacht und Gottes Allmacht. Ich frage Dich: „warum hast gehört Dir Du keine Allmacht? – Deine Antwort: „Weil ich nicht Gott sein kann!“ Nicht wahr? – Nun kehre ich die Sache um: „Warum hat Gott keine Allmacht?“ Die Antwort: „Weil er nicht Mensch sein kann!“ Er kam/nn/ nicht Alles, er ist nicht allmächtig. Ein Gott aber ohne Allmacht und Liebe, (Letzteres brauch ich Dir ja nicht mehr zu beweisen.) ein solcher Gott ist widerspruchsvoll, er existirt also nicht! Wer ist nun aber noch das höchste Wesen in der Schöpfung? – Das bist Du, denn Du kannst andere unter z wohl hie und da zwingen zu etwas; Du selbst dagegen bist unbezwinglich, der Tod würde d/D/ich frei machen. Du bist ein Freier! Als höchstes Wesen in Deiner Umgebung hast Du Dich selbst am meiss/s/ten zu ehren, zu | verehren, (möchte ich lieber sagen). Du bist also fromm. Und wenn Du Dies begriffen hast, so wird Dein verlangend HerzWedekind nahm hier Bezug auf seinen Ausruf „Verlangend Herz, sei Du Dir selbst genug.“ [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 26.5.1881]. Das Zitat stammt aus dem Gedicht „Entsagung“ (1857) des Schweizer Dichters Heinrich Leuthold [vgl. Die Deutsche Gedichtebibliothek, in: https://gedichte.xbib.de/Leuthold_gedicht_009.+Entsagung.htm, 2.8.2021]. sich selbst genug sein, d/D/u bist ein Weiser. – Ich denke, ich habe mein Wort gehalten. –

Nun aber noch etwas. Ninn/mm/ mir den altklugen Ton, in dem ich diesen Beweise d/D/ir schreibe nicht übel und wenn Du etwas einzuwenden hast so werde ich Dir für die baldige Mittheilung sehr dankbar sein. Beiläufig will ich Din/r/ nur noch mittheilen, dass ich in 14 Tagen hoffentlich in Solothurn bin. Der Antike hat so viel wie eingewilligt. Mam/ein/e Antike wird dies auch thun. Ich erwarte nur noch Nachricht Von R KunzDer ehemalige Klassenkamerad Richard Kunz, der 1879/80 zu den engsten Freunden Wedekinds gehört haben dürfte, hatte im Juli 1880 die Kantonsschule Aarau verlassen. In seinem tabellarischen Lebenslauf von 1864 bis 1895, der sich am Ende seines zweiten „Münchner Tagebuchs“ (1890) befindet [S. 114-115], wird Richard Kunz 1879 neben wichtigen Ereignissen und Personen aufgeführt: „Gymnasium. Oskar Schibler. Kunz. Egypter. xxX. Hans Rauchenstein“ [Tb 1889 (S. 114)]., den ich um einige Winke gebetennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Richard Kunz, 6.6.1881. habe. Ebenso trug ich ihm auf nach Aarau ein ProgrammWedekind dürfte das zuletzt erschienene „Programm der Kantons-Schule von Solothurn für das Schuljahr 1880/81“ (Solothurn 1881) gemeint haben. zu schicken an O. S. Kantonsschule A. Falls er noch nicht Zeit gefunden hat, | Dir, lieber Oskar, diesen Gefallen zu erweisen, so wie auch ich schon seit geraumer Zeit auf Antwort von ihm harre, so möchte ich Dich erinnern, dass Du dass Programm jedenfalls auf der Cantonsschulbibliotek finden wirst. – Was Deinen projectirten Wix anbelangt, so kannst Du mir villeicht mittheilen, wannAm Abend des 30.9.1881 wurde der nächste Maturitätswix genannten Festkommers von den Absolventen der Gewerbeschule ausgerichtet. derselbe stattfinden soll. Wir könnten bei der Gelegenheit noch herzlich von einander Abschied nehmen. Nun leb wohl.

Zuvor jedoch sende ich Dir noch meinen Klage-GesangDas Gedicht [Erstdruck in KSA 1/I, S. 54] legte Wedekind leicht abgeändert auch einem Brief an Adolph Vögtlin [vgl. Wedekind an Adolph Vögtlin, 5.7.1881] bei. beim Tode Galateas. Es ist Dies das letzte Product aus meinem Schäferleben:


Es weht durch die Bäume ein kalter Wind,
Die Blätter fallen herab,
Und Galatea, das liebe Kind
Ich trug sie soeben in’s Grab |


Still deckt’ ich sie zu, ich weinte nicht,
Sie war ja noch immer so schön.
Ich küsste ihr freundliches Angesicht
Auf baldiges Wiedersehn.


Sei versichert, dass ich auf recht baldige Antwort hoffe et nunc(lat.) und nun leb wohl und bleib mir, Deinem Freund Franklin Wedekind (Waldkind), gewogen. vale faf/v/eque mihi amico
Franklino Infanti Silvae.


[Im Halboval:]


Felix qui(lat.) Glücklich ist, wer die Welt verachten kann. Liebe Dich selbst, und Du wirst die Welt lieben. poterit mundum contemnere. Se ipsum ama, amabis mundum.


[Kuvert:]


Herrn Oskar Schibler, stud. jurhumoristische Anspielung auf einen möglichen Studienwunsch Oskar Schiblers.
Cantonsschule
Aarau


franco.

Oskar Schibler schrieb am 1. Juli 1881 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

1 Juli Aarau 81.


Lieber Franklin!

Endlich soweit! Uphues protestirtDas bedeutete, dass Goswin Karl Uphues, der Deutschlehrer am Gymnasium der Kantonsschule Aarau, die Leistungen Oskar Schiblers im Fach Deutsch als nicht ausreichend für eine Versetzung beurteilte, was im aktuell anstehenden Quartalszeugnis vermerkt werden würde. & ich habe ihm erklärt er solle meinem VaterOskar Schiblers Stiefvater Joseph Keller-Franke [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau 1881, S. 13; Adress-Buch Aarau 1884, S. 31]. nur den Rath geben mich eine andere Schule besuchen zu lassen. Ich fühle mich nämlich auf so schwankendem unterhöhltem Boden, dass ich in ein Gefühl der Unsicherheit gerathen bin & zwar in einem solchen Grade, dass es auf meinen Gemüthszustand bedenkliche Folgen gehabt. Denn Lieber einmal ganz brechen & dann mit neuer Energie an die Arbeit. Ich bin hier ganz erschlafft. Arbeite das a/A/llernothwendigste z. B. gerade den Aufsatz bei Uphues. Er wurde verfertigt Sonntaga/A/bendsden 26.6.1881. nachdem ich die Absicht gehabt denselben gar nicht zu machen. Es ist eigenthümlich. Kein Lehrer macht mir eine Bemerkung aber ich | selbst kann nicht weiter. Es scheint mir wie wenn ich ein Patient wäre, im Gehirn frisches pulsirendes Geistesleben und der Puls der äussere Hemmschuh immer schwächer & schwächer bis er zuletzt ganz ausbleibt. Aber soweit lass ich es nicht kommen. Um höheres vor Schaden zu bewahren opfere ich das Äussere.

Meine Eltern wissen noch nichts von meinem Entschluss, sie werden unangenehm überrascht sein besonders weil letzthin auf mein Drängen eine Liste circulirte & das Resultat nicht so ganz ungünstig lautete. Alle klagen über Fleiss keiner protestirt. Aber die Sachlage hat sich geändert. Ich kann nicht mehr!

Thu mir den Gefallen & sende mir das Programm v. Solothurndas „Programm der Kantons-Schule von Solothurn für das Schuljahr 1880/81“ (Solothurn 1881).. Ich mache dir hiemit den Vorschlag uns Sonntagden 3.7.1881; an diesem Tag war Wedekind mit anderen ehemaligen Klassenkameraden bei Fritz Rauber in Brugg eingeladen [vgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 5.7.1881]. nachmittags zu treffen zwischen Aarau & Lenzburg. z.B. in Suhr. Was sagst du dazu.

Schreib bald & vernichte
diese Zeilen sofort
dein
H.

Oskar Schibler schrieb am 20. Juli 1881 in Aarau folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn Franklin Wedekind.
Schloss
Lenzburg. |


Lieber Freund!

Es zieht mich in diesen heiterSchreibversehen, statt: heiteren. FerientagenDie 4-wöchigen Sommerferien hatten gerade (Montag, 18.7.1881) begonnen. Sie endeten am Montag, 15.8.1881. ganz zu dir hin wann soll ich wider einmal mit dir einen idylischenSchreibversehen, statt: idyllisch, Anspielung auf Wedekinds bukolische Hirtendichtung. EselsrittAuf Schloss Lenzburg gab es Esel, auf denen die Kinder ausgeritten sind. machen. Bitte um Antwort & Weiteres. Dein
amicus in aeternaFreund in Ewigkeit.
H

Frank Wedekind schrieb am 23. Juli 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Lieber Oskar.

Thut mir leid Dir erst jetzt antwortenvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.7.1881. zu können; da wir BesuchDie philosophische Tante Olga Plümacher, eine Schulfreundin von Wedekinds Mutter, verbrachte mit ihren Kindern, dem 17-jährigen Hermann und der 15-jährigen Dagmar, einige Tage auf Schloss Lenzburg. haben kann ich nicht so von oft Gelegenheit bekommen anʼs Schreiben zu denken. Der/m/ Boten der d/D/ir dies Blatt überbringen wird soll wirst Du mein Lorgna/o/nStielbrille, „Augenglas für Ein Auge“ [Meyers Konversationslexikon, 1905-1909, Bd. 12, S. 714]. gut eingepackt übergeben, denn mein Antikerder Vater. weiß daß ich dasselbe noch immer nichtWedekinds Lorgnon dürfte seit einem Treffen der Freunde Anfang Juli im Besitz von Oskar Schibler gewesen sein [vgl. zur Verabredung Oskar Schibler an Wedekind, 1.7.1881]. habe und möchte gerne daß du es mir schickest. Wenn Du bei Ankunft dieses Briefes nicht zu Hu/a/use bist, so wirt/d/ der Bote nach wenigen Stunden wiederkommen W bis wann Du es zurechtgelegt haben wirst. Die Bucolicadie von Mai bis Juli 1881 entstandene Hirtendichtung, für die Wedekind ein blaues Heft mit dem Titel „Bucolica“ angelegt hatte. magst Du am Dienstagder 26.7.1881. oder MitwochSchreibversehen, statt: Mittwoch, der 27.7.1881. zur gewohnten Zeit selber bringen, denn. Nicht früher, denn erst Montagder 25.7.1881. Am 24.7.1881 wurde Wedekind 17 Jahre alt. Olga Plümacher schenkte dem philosophisch Interessierten die soeben erst erschienene Anthologie „Lichtstrahlen aus Ed. v. Hartmann’s sämmtlichen Werken“ herausgegeben von Max Schneidewin [vgl. Kutscher 1, S. 46]. gehen PlümachesSchreibversehen, statt: Plümachers. fort. Dem Boten gieb Antwort mit, wann Du kommen wirst. Mit großer Freude werde ich Dich am | Bahnhof empfangen. D/U/nterdessen sei mir herzlich gegrüßt von Deinem

Kater


Der Bote wird von mir bezahlt werden.


[Kuvert:]


Herrn Oskar Schibler, stud. jur.
p. a. Herrn Keller Franke
wohnhaftOskar Schibler lebte mit Stiefvater Joseph Keller-Franke, Mutter Wilhelmine Keller-Franke sowie den Geschwistern Alfred Schibler und Hermann Keller am Zollrain 179 in Aarau. Der Bierbrauer Thomas Fischer betrieb im Haus auch eine Bierwirtschaft [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau 1881, S. 13] in der Brauerei v. Fischer, 3 Treppen hoch
am Zollrain
in Aarau. |

Oskar Schibler schrieb am 27. Juli 1881 in Aarau folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn Franklin Wedekind. stud. hum.(lat.) Student der freien Künste, humoristische Anspielung auf einen möglichen Studienwunsch Wedekinds.
Schloss
Lenzburg |


27 Juli 81.


Lieber Franklin!

Eben erst von einem Abstecher nach Bern zurückgekehrt beeile ich mich, dir dein gewissUmstellung der ursprünglichen Reihenfolge „gewiss dein“ durch Umstellungszeichen. schon längst ersehntesvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 23.7.1881. LorgnonStielbrille für ein Augenglas. persönlich zuzustellen indem ich morgenDonnerstag, 28.7.1881. Mittag zur gewöhnlichen Stunde mich einfinden werde. Wenns schön Wetter ist so wollen wir dann einen kleinen EselrittSchreibversehen, statt: Eselsritt. Auf Schloss Lenzburg gab es Esel, auf denen die Kinder ausgeritten sind. machen auf dem ich dir Verschiedenes mitzutheilen habe.

Leb wohl bis Morgen 1 Uhr
dein H.

Frank Wedekind schrieb am 29. August 1881 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Oskar Schibler

[Hinweis in Wedekinds Brief an Oskar Schibler vom 3.9.1881 aus Lenzburg:]


[...] leider muß ich noch immer, trotz meiner allmähligen Besserung, das Bett hüten und so wirst Du wohl auch heute wieder meine Bleistift-SchriftHinweis auf ein früheres – das hier erschlossene – Korrespondenzstück, das Wedekind ebenfalls mit Bleistift (statt Feder und Tinte) an Oskar Schibler schrieb, vermutlich Wedekinds erste Nachricht an den Freund seit Beginn seiner Rippenfellentzündung Mitte August. entschuldigen.

Oskar Schibler schrieb am 2. September 1881 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

L/A/arau 2 Au/Se/pt. 81.


Lieber Franklin!

Wie geht es dir, hoffentlich besserFrank Wedekind befand sich „wenn auch noch sehr schwach doch im Zustand allmählicher Besserung“ [Armin Wedekind an Oskar Schibler, 1.9.1881]. Er lag mit einer Rippenfellentzündung im Bett, worüber Armin Wedekind den gemeinsamen Freund Mitte August informierte. Oskar Schibler antwortete: „Du wirst begreifen, dass mich deine in aller Kürze abgefasste Karte sehr erschreckt hat. Ich bitte dich desshalb mir so bald als möglich eine genauere u bestimmte Beschreibung von Franklins Zustand zukommen zu lassen. Denn ich könnte nicht ruhig sein wenn ich meinen Franklin in wirklich ernster Gefahr schwebend wüsste.“ [Oskar Schibler an Armin Wedekind, 19.8.1881 (Mü. Nachlass Frank Wedekind. FW B 156)], hast nun lange genug in den oft so langweiligen Bette zubringen müssen! Ich bin auh/c/h nicht ganz wohl gewesen & sonst nicht immer zufrieden, denn das Solothurn spuktder Wechsel von der Kantonsschule Aarau an die Kantonsschule Solothurn, die auch Wedekind ab Herbst 1881 besuchen wollte [vgl. auch Wedekinds Korrespondenz mit Adolf Vögtlin]. mir immer noch im Schädel herum. Das quartal ist nun mit ganz gehörigen Ansprüchen schon wider ziemlich weit vorgerücktDas zweite Quartal des Schuljahrs 1881/82 hatte an den Aarauer Schulen am Dienstag, 16.8.1881, begonnen [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 190, 13.8.1881, S. (4)].; schon winken wider von Ferne die Feriennach dem Punkt nachträglich eingefügte Absatzmarkierung. – Die Herbstferien begannen am 1.10.1881..

Weisst du schon dass in Aarau sich ein MusentempelDas neu erbaute Sommertheater im Aarauer Ortsteil Schachen wurde am 11.8.1881, abends um 8 Uhr, mit dem Schauspiel „Der Goldbauer“ von Charlotte Birch-Pfeiffer eröffnet. In großformatigen Anzeigen wurde das Haus beworben und ein rundum angenehmer Aufenthalt versprochen: „das Theater und die Lokalitäten sind von Herrn Tapezierer Plüß auf das Vortheilhafteste decorirt. Die Bühnen-Einrichtung von Herrn Strafehl, Decorations-Maler vom Zürcher Actientheater dirigirt, kurz, es ist alles geschehen um dem geehrten Publikum einen Kunstgenuß zu bieten, wie es in Aarau noch nicht dagewesen. Die Gesellschaft des neuen Kurhaustheaters in Baden unter Direction des Herrn v. Ebeling (fast alle Mitglieder des Zürcher Actientheaters) wird hier 2 bis 3 Mal gastiren [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 187, 10.8.1881, S. (4)]. in der Militärcantine von EgloffDer Postangestellte und Wirt Franz Egloff-Meier (von Wettingen) betrieb im Schachen zunächst im Haus Nr. 728, ab 1881 auch in der ehemaligen Scheune (Nr. 727) die Militärkantine. Des Weiteren besaß er im Haus Nr. 731 eine Speisewirtschaft [Verzeichnis der Einwohner Aarau 1880, S. 34; 1881, S. 36 u. 55; Adressbuch Aarau 1888, S. 48 und 1892, S. 52]. in Schachenein Ortstteil von Aarau. aufgethan hat. Die Leute spielen wirklich vortrefflich. Ich gehe öfters hin. Ich sah bereitsVon den drei Schauspielen, die alle von Charlotte Birch-Pfeiffer stammen, wurde „Die Waise von Lowood“ (Dienstag, 30.8.1881 um 8.15 abends) in der Presse angezeigt. Direktor R. von Ebeling erklärte das mit der außerordentlichen Qualität der Darbietung: „Erlaube mir ganz besonders auf diese Vorstellung hinzuweisen, da dieselbe, wie ich wohl dreist behaupten darf, mit zu der Besten unseres Ensembles gehört“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 204, 30.8.1881, S. (4)].: Stadt u Land, die Grille, Die Waise v. Lowood & gesternAls „Grosse Extra-Vorstellung“ beworben wurde Ludwig Ganghofers Schauspiel „Der Herrgottschnitzer von Oberammergau“, für das „Herr Eichholz vom Actientheater in Zürich“ mit dem gesamten Ensemble aus Baden kam [Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 205, 31.8.1881, S. (4)]. Das im Juni 1880 neu erschienene und seitdem viel gespielte Schauspiel war in Aarau sehnsüchtig erwartet worden: „Während des letzten Jahres hörten und lasen wir überall das Lob dieses Stückes, das über alle deutsche Bühnen seinen Triumphzug hielt. In Zürich wurde es an beiden Theatern oft gegeben und alle Blätter waren voll des Lobes über das Stück, dessen Darstellung im Actientheater besonders geradezu als brilliant bezeichnet wurde“ [ebd., Nr. 206, 1.9.1881, S. (2)]. der Herrgottskrämer. Die I Liebhaberin eine Fräul. Schneider spielt famos & ist nebenbei ein brillanteSchreibversehen, statt: brillantes. Kind. | Sie hat ihre Sprache & ihre Geberden vollständig in der Gewalt. In der Waise von Lowood hat sie so recht allseitig ihr Talent entfalten können. Ein junges armes gekränktes Ki/M/ädchen. Die gebildete demüthige & doch stolze Gouvernante die auf einen Lord ein zum heiraten verlockenden Eindruck machtPunkt und Absatzmarkierung nachträglich eingefügt..

Es ist morgen ich schreibe dir diesen Brief & sollte Chemie lernen, erschickteSchreibversehen, statt: erstickte. aber fast daran & erleichtere mir, indem ich ein wenig mit dir plaudere meine geegten(schweiz.) bedrohlichen, bevorstehenden. Verhältnisse. Diese Chemie ist ekelhaft! Zschokke E. ist davon dispensirt. Ich weiss nicht aus welchem Grunde. Nächsten Samstagder 3.9.1881. sind die VorstandswahlenWahlen im Kantonsschülerturnverein (KTV Aarau), dem Oskar Schibler angehörte. Der Vorstand der Schülerverbindung bestand aus den 8 Funktionsstellen: Präsidium (X), Quästor (XX) und Aktuar (XXX), Suppleant (Stellvertreter), Vorturner, Freimütiger, Cantusmagister und Fuxmajor [KTV Aarau. Archiv. Protokollbuch 1879/85, S. 94]. nimmt mich Wunder wer Contrepräsidiumder zweite Vorsitzende des Vereins. – Bei einer Kneipe war das Contrepräsidium an der im Hufeisen angeordneten Kneiptafel, an deren Kopf das Präsidium saß, verantwortlich für den Tisch der Burschen, den Vollmitgliedern des Schülervereins, die durch Trinkfestigkeit, kleinere Wortbeiträge, Wortgefechte und Gesang (eigene und Studentenlieder) mit dem gegenüberstehenden Fuxentisch konkurrierten. wird, wahrscheinlich der KnopfBiername von Sebastian Urich, der im vierten Wahlgang mit 6 von 12 Stimmen zum Quaestor (Kassierer) gewählt wurde [KTV Aarau. Archiv. Protokollbuch 1879/85, S. 94].. VielleichtsSchreibversehen, statt: Vielleicht. werde ich mit der Würde eines FuxmajosSchreibversehen, statt: Fuxmajors. Oskar Schibler wurde von den Burschen zum Fuxmajor gewählt und darüber hinaus zum Freimütigen im ersten Wahlgang mit 7 Stimmen [vgl. Protokollbuch 1879/85, S. 94]. – Der Fuxmajor hatte die Aufgabe, die als Füxe bezeichneten neuen Mitglieder der Schüler- oder Studentenverbindung in einer wöchentlich abzuhaltenden Fuxenstunde in den Regularien der Verbindung und speziell der Kneipe zu unterrichten. Bei der Kneipe war er verantwortlich für den Fuxentisch, stand dem Contrepräsidium des Burschentisches gegenüber, sorgte für Ruhe unter den Füxen und den ebenfalls am Fuxentisch sitzenden Gästen, regelte deren Wortbeiträge, verteidigte und unterstützte sie im Wortgefecht mit den Burschen. betraut wenn die Sch. nicht hindert. | Letzthin raffle(schweiz.) raffe. ich mich wider einmal auf & liess mich begeistern; hier das Resultat.


Im Becher da ruht das Glück der Erde
In ihm ist Seligkeit allein
Drum sprach der Schöpfer auch „er werde“
Du sollst des Menschen Tröster sein.


–––


Sei du ihm Freund in trüben Tagen.
Wenn Noth ihn drückt & Qual & Pein,
Dann wohl verstummen seine Klagen
Dann stimmt er mit Begeistrung ein.


–––


An unsre Kneipe.


Die treuste Freundin ist gefunden
Hier hat sie alle uns vereint,
In ihr nur werden wir gesunden
Ich glaub, dass sie es treulich meint!


–––


Drum halten wir sie lieb & theuer.
Schaut ihr recht tief ins Aug hienein
Durch unsre Adern fliesst dann Feuer
es tobt in uns wie junger Wein.


–––|


Dann lasst uns helle Lieder singen
Von Lieb & Freude Freundschaft Treu
Lasst hell dann unsre Gäser klingen
Der Wahn ist kurz, lang ist die Reu.


Bereits hat die Glocke 8/7/ Uhr geschlagen

Leb wohl mein lieber Franklin.
Werde gesund & erfreu bald d.
O.


Gruss an die werthen Eltern & Armin.

Frank Wedekind schrieb am 3. September 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Schloß Lenzburg 3.IX.81.


Lieber Oskar

Nicht finde ich Worte, mein Entzücken auszudrücken, welches mein geduldiges Herz über Deinen lieben Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 2.9.1881. empfand. Aber leider muß ich ich noch immer, trotz meiner allmähligen Besserung, das Bett hütenWedekind war Mitte August 1881 an einer Rippenfellentzündung erkrankt und lag seitdem im Bett. und so wirst Du wohl auch heute wieder meine Bleistift-SchriftHinweis auf ein nicht überliefertes Korrespondenzstück; Wedekind an Oskar Schibler, 29.8.1881 – den letzten überlieferten Brief hatte Wedekind – noch vor seiner Erkrankung – mit Tinte geschrieben [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 23.7.1881]. entschuldigen. – Du wirst begreifen, daß ich Dir aus Meine meiner Einsamkeit nicht viel Neues mittheilen kann, denn selbst das Seele/n/leben ist in di steht bei derartiger Langweile still. Da Der Doctorvermutlich Dr. Jakob Bertschi aus Dürrenäsch, Direktor der Strafanstalt und Arzt in Lenzburg; er praktizierte seit den 1860er Jahren in Lenzburg, wo er sich 1877/78 in der nördlichen Vorstadt (Poststrasse 13) ein spätklassizistisches Haus erbauen ließ. – Im 4 Kilometer entfernten Lenzburger Ortsteil Seon hatte der Arzt Dr. Joseph Martin Kuhn Wohnung und Praxis. hat mich an der Brust angestochendas Absaugen der angesammelten Flüssigkeit gehört zur üblichen Behandlung einer Rippenfellentzündung mit größerem Pleuraerguss. und wollte mich auspumpen; Leider aber ohne Erfolg. Nun muß ich warten bis sich die Natur selbst geholfen hat. – Also die Musenin der griech. Mythologie die Schutzgöttinnen der Künste; hier: das neueröffnete Sommertheater in der Militärkantine im Aarauer Ortsteil Schachen. haben sich in dem prosaischen Aarau niedergelassen, das freut mich ungemein, denn ich kenne Deine Liebe für Musen. Aber f vor der ersten Liebhaberin nimm Dich in Acht, denn Deine von Xnicht ermittelt. könnte sich tödtlich beleidigt fühlen. Bedenke doch, eine Comödiantin!!! |

Wie geht es Marta Fleinerviertes von fünf Kindern des 1877 verstorbenen Aarauer Zementfabrikanten Albert Fleiner und der Leontine Zschokke-Fleiner. Die Familie wohnte in Aarau in der Laurenzenvorstadt (Nrn. 586-588), zwischen der Kantonsschule Aarau (Nr. 585) und der Aargauischen Kaserne (Nr. 589) [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau S. 29]. 1887 heiratete sie den 25 Jahre älteren Maler Hermann Hunziker. In einem Lebenslauf heißt es: „Martha wächst im fröhlichen Kreis der Geschwister Fanny, Albert, Hans und Fritz an der Laurenzenvorstadt 28 in Aarau auf. Mit 22 Jahren heiratet sie Hermann Hunziker, ein hochgebildeter, musisch veranlagter Mann, der sich nach Aufgabe seiner Fabrik ganz dem Malen hingibt. Die lebhafte junge Frau ist für Kunst und Musik sehr aufgeschlossen. Man liest Dramen mit verteilten Rollen, spielt 4 und 8händig Klavier. Reges gesellschaftliches Leben. Am 29. Juni 1894 werden Zwillingssöhne geboren. Diese erhalten schon früh künstlerische Anregung und Impulse. Mutter und Söhne sind leidenschaftliche Reiter. Martha arbeitet während dem 1. Krieg in Genf an der „Agence des Prisonniers“ (Croix Rouge). Allzu früh wird Martha Witwe (1910), führt aber weiterhin ein offenes Haus, 1918-1939 auf dem Distelberg bei Aarau, später am Rain in Aarau. [Else Rath-Höring u. Karl Fleiner: Fleiner. Neustadt a.d. Aisch 1961 zitiert nach https://www.wikitree.com/photo.php/3/3a/Fleiner-48.jpg, abgerufen 31.10.2022].? – Das gute Kind ist mir jüngst in meiner Krankheit wieder im Traum erschienen: Stolz gien/n/g sie an mir vorüber, als ich gerade aus dem HolzachDie um 1860 von dem Bierbrauer Dietrich Holzach gegründete Brauerei und Gastwirtschaft war eines der Aarauer Stammlokale, die von den Kantonsschülern regelmäßig zu Verbindungs- und Klassenkneipen aufgesucht wurden. trat, wo ich einige Großeauch Schoppen Bier, das Glas (in der Schweiz) zu 0,375 Liter. vertilgt hatte. „Martha, darf ich Dir meinen Arm anbieten“? sprach ich, und lehnte mich an den Laternenpfeiler, denn ich bedurfte einer Stütze. Ein Blick, der mich beinahe zu Boden schleuderte, war ihre Antwort. Sie ging weiter und bald kam Schäfervermutlich Georg Schäfer, der, mit Wedekind gleich alt, im Schuljahr 1879/80 die I. Klasse und im Schuljahr 1880/81 die II. Klasse des Progymnasiums der Kantonsschule Aarau besucht hatte, letztere zusammen mit dem jüngeren Bruder von Wedekinds Freund Walter Laué., der sie auf ihrem Wege begleitete.

„Marta, Marta, gleite nicht aus auf dem schlüpfrigen Wege!!“ sprach ich bei mir und hielt mich fester an der Laterne. Bald aber ging ich trüben Sinnes von hinnen. –

Prosit FuxmajorOskar Schibler Hoffnung, bei den Vereinswahlen des Kantonsschülerturnvereins (KTV Aarau) am 3.9.1881 zum Fuxmajor gewählt zu werden, erfüllten sich. Der Fuxmajor hatte die Aufgabe, die als Füxe bezeichneten neuen Mitglieder in einer wöchentlich abzuhaltenden Fuxenstunde in den Regularien der Verbindung und speziell der Kneipe zu unterrichten.!!! Ich hoffe gratuliren zu dürfen. Nun magst Du Dich üben an Deinen Füxen, damit Du später einst Kinder erziehen kannst! –

Nun Deine Poesien: Die erste, die Becher-PoesieGemeint sein dürfte Oskar Schiblers Gedicht „Menschlicher Trost“ vom 27.8.1881, das mit den Versen beginnt: „Im Becher da ruht das Glück der Erde / In ihm ist Seligkeit allein / Drum sprach der Schöpfer auch ‚Es werde‘! / Du sollst des Menschen Tröster sein.“ [Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 13, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler, Schulheft, S. 3r]. gefiel mir nicht ausnehmend (Ich bin offenherzig) sei es, weil ich gewöhnlich aus Gläsern trinke, sei es weil der Cyniker Diogenes, der GlücklicheDiogenes von Sinope lebte nach dem Prinzip, dass nur der glücklich sein könne, der selbstgenügsam, bedürfnislos und unabhängig von Konventionen handle. Nach einer Anekdote soll er seinen Trinkbecher weggeworfen haben, nachdem er Kinder aus den Händen trinken sah. unter den Menschen, seinen Becher w/f/ortschleuderte und noch glücklicher ward. | Nun das „Lied an die Kneipenicht ermittelt.“. Ich hatte es eben gelesen, da verfiel ich wieder in einen fieberhaften Schlaf – Da saßen wir wieder um den runden Tisch. Alle die frohen Gesichter. Auch Oberli war noch dabeiFranz Oberle war am 9.7.1881 tödlich verunglückt [vgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 10.7.1881. – Wedekind hatte den ehemaligen Mitschüler, der im Schuljahr 1881/82 die IV. Klasse der Gewerbeschule an der Kantonsschule Aarau besuchte und im Herbst die Matura ablegen sollte, in zwei Gedichten „Nacht ists, die Stürme brausen sehre“ (12.1880) [vgl. KSA 1/II, S. 1912] und „Was ist das für Gesang und Schall“ [vgl. KSA 1/II, S. 2157] verewigt.. Golden glänzte das Bier in den majestätischen t/T/öpfen. Lechzend goß ich es die brennende ++ Kehle hinunter. Ach, wie das labte! Wie urgemüthlich es mir vom Glase die Hosen herabträufels/t/e! –G Alles ganz so, wie einstmals! – Da saSchreibversehen, statt: sah. ich den Schaum im Glase vergehn. „Träume sind Schäume“ dachtʼ ich und nun tratest d/D/u zu mir. „Franklin, sprachst Du, wir müssen scheiden. Leb wohl!“ – „Leb wohl, Oskar!,“ sprach ich, und Du drücktest mir die Hand, und d/D/u schütteltest sie und drücktest sie noch einmal und warst verschwunden und alles war verschwunden u. ich au war aufgeweicht. Vor mir stand meine Mamma mit einem Löffel voll Jodkalium, den ich alsbald hinunterwürgte. D – Dies war ein trauriger Tausch, aber Träume sind SchäumeTräume sind bedeutungslos, nichtig – sprichwörtliche Redensart..

Nun leb wohl, lieber Oskar. Schreibe bald wieder in meine Einsamkeit. Armin läßt Dich freundlichst grüßen und ebenso Dich und Deine werthen ElternOskar Schiblers leiblicher Vater (Jakob Schibler) war 1872 verstorben, die Mutter (Wilhelmine Franke, verwitwete Schibler) heiratete in zweiter Ehe den Gerichtsschreiber Joseph Keller. u Geschwister Dein Dich innigst liebender Franklin.

Oskar Schibler schrieb am 8. September 1881 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

A. 8 Sept. 81.


Lieber Franklin!

Vor allem wie geht es dir? hoffentlich bedeutend besserWedekind lag seit Mitte August mit einer Rippenfellentzündung im Bett., so dass du die anscheinend kommen werdenden, schönen Herbsttage geniessen kannst. Was hast du eigentlich im Sinne zu thun. Willst du dein trautes Heim in Solothurnnach den Sommerferien hatte Wedekind das Gymnasium der Kantonsschule Solothurn besuchen wollen, was durch seine Rippenfellentzündung verhindert worden war [vgl. auch seine Korrespondenz mit Adolf Vögtlin]. gründen oder wie einzelne sagen wider Aarau beglücken. Lassen wir dies ruhen! rip. Wie du wissen wirst haben wir unsre Kneipbude in Aff Bierbrauerei von Ernst-Pfisterer in der vorderen Vorstadt, Nr. 672 [vgl. Adressbuch Aarau 1884, S. 73], Kurzwort für den Aarauer „Affenkasten“, der gutbürgerliches Restaurant im vorderen Teil, Schankwirtschaft im hinteren war. „Zum Raumangebot gehörten im Parterre neben einer Kegelbahn auch ein Säli und in der Mitte eine offene Gartenwirtschaft mit einem Kastanienbaum“ und einem „Käfig mit zwei bis drei lebenden Affen“ als „Attraktion im Innenhof“ [Hermann Rauber: In «Affenkasten» kehrten sogar Albert Schweitzer und Bundesräte ein. Aargauer Zeitung, 24.12.2015; https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/aarau/in-affenkasten-kehrten-sogar-albert-schweitzer-und-bundesrate-ein-ld.1740475, abgerufen 31.10.2022].verlegt, sie gefällt mir f/v/iel besser. Es ist bedeutend gemüthlicher. Man kann so recht biesselig(schweiz.) im Sinne von gemütlich leicht angetrunken. darin sitzen. |

Gestern sassen unsere vermutlich wie das „Z!“ vereinfachte Darstellung eines Verbindungs-Zirkels, hier dürften die Aktiven des Kantonsschülerturnvereins (KTV Aarau gemeint sein. aus der Klasse darin & da gedachten wirdie Aktiven des Kantonsschülerturnvereins (KTV Aarau), sie hatten ihr Stammlokal zuvor in der Bierbrauerei Siebenmann jenseits der Aare und zogen 1881 in den Affenkasten um [vgl. David Pfister: Die Aktivitas des KTV Aarau 1830 – 1930 (Maturaarbeit), http://www.ktv-aarau.ch/ah/geschichte/vereinsgeschichte/Kapitel5.pdf] sowie Nik Brändli (Hg) et al.: 150 Jahre Kantonsschülerturnverein Aarau (1830-1980). (Aarau 1980), S. 161]. auch deinesSchreibversehen, statt: deiner. & FassensFritz Rauber, der sich den Biernamen Fass zugelegt hatte [vgl. seine Unterschrift im Brief: Fritz Rauber an Wedekind 12.9.1883]. – Einen Mitschüler oder Lehrer Wedekinds und Oskar Schibler namens Fass(e/en) gab es zwischen 1879 und 1881 nicht. 1881 hatten die Klassenkameraden Walter Laué (Februar), Wedekind (April) und Fritz Rauber (April) die Schule verlassen. Wilhelm Hünerwadel, der wie Wedekind die Versetzung in die dritte Klasse nicht geschafft hatte, wiederholte die zweite Klasse. & kneipten etwas auf euer Wohlergehen. Komm wenn du kannst bald wider einmal zu mir aber am Morgen, damit wir den ganzen Tag für uns haben. Wir könnten einen gemüthlichen Bummel zusammen machen oder wie es dir beliebt auch in Aarau bleiben. Die Ferien rücken schon näher; ich wollt wenn sie mir auch ganz die Freiheit brachten. So ungebunden hinaus. Das Herz empfänglich für die schöne Natur & Abenteuer | in Menge. Mach es deine Eltern plausibel du bedürfest zu deiner Erholung einer kleinen Reise im Herbst. Ich werde mich mit deiner gütigen Erlaubniss wahrscheinlich anschliessen & dann frei wie der Vogel in der Luft einige Tage hinaus. Wie schön winkt doch von Ferne die goldene Studentenzeit. Doch warum mach ich mir selbst das Herz noch schwerer? Es ist leider [4 Zeilen Textverlust] |

Ich kann nicht weiter schreiben. Ich weiss selbst nicht warum.

Leb wohl & schreib bald deinem
O.

Viele Grüsse an deine werthen Eltern.

Frank Wedekind schrieb am 14. September 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Schloß Lenzburg, September 81.


Innigst geliebter Herzens-Oskar.

Es ist heute das erste Mal, das ich mein Bett auf einige Stunden verlassenWedekind war Mitte August an einer Rippenfellentzündung erkrankt. habe und so nehme ich denn die Gelegenheit wahr, Dir auf Deinen Liebe athmenden Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 8.9.1881. zu antworten. Vier Wochen das Bett hüten, das hat mich arg angegriffen, besonders das entsetzliche Fieber. Ich bin so mager, wie eine alte Geis, thue jetzt aber auch mein m/M/öglichstes, um das Corpus(lat.) Körper, Leib. wieder in Stand zu setzen. Die Lage der Dinge ist durch meine Krankheit natürlich sehr verändert worden, | nächsten Winter muß ich auf Befehl des Doctors noch zu Hause bleiben u. im Frühling will ich sehn nach Solothurn zu gelangenan die Kantonsschule Solothurn, wohin auch Oskar Schibler wollte.. Von Aaraugemeint ist die Kantonsschule Aarau, die Wedekind, nachdem er im Frühjahr 1881 nicht in die III. Klasse des Gymnasiums versetzt worden war, verlassen hatte. wird k ist keine Rede. Aber warum hast Du mir nichs/t/s von M. FleinerWedekind hatte in seinem letzten Brief [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 3.9.1881] um Nachricht über seinen Schwarm Martha Fleiner gebeten, Sie war viertes von fünf Kindern des 1877 verstorbenen Aarauer Zementfabrikanten Albert Fleiner und der Leontine Zschokke-Fleiner. Die Familie wohnte in Aarau in der Laurenzenvorstadt (Nrn. 586-588), zwischen der Kantonsschule Aarau (Nr. 585) und der Aargauischen Kaserne (Nr. 589) [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau. Aarau 1881 S. 29]. geschrieben? Sie ist doch hoffentlich nicht gestorben, oder (Gott segne sie!) anderweitig verunglückt – Im nächsten Brief wirst Du diese Mittheilungen über sie nicht vergessen, denn sie liegen mir sehr am Herzen. Wenn ich nun wieder gehörig auf den Beinen bin und das Wetter schön ist dann wirst d/D/u wohl wieder herüberkommen qa/u/am primum(lat.) möglichst bald. und wir werden auf dem/n/ sanften Thieren des Friedensdie Schlossesel der Familie Wedekind, auf denen die Kinder auch ausritten. das Land durchziehen. Aber eine FerienreiseOskar Schibler hatte in seinem letzten Brief die Anregung dazu gegeben [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 8.9.1881]. werde ich nicht | machen dürfen, denn ich muß mich gar gewaltig in Acht nehmen. Hingegen werde ich wohl wieder ein Mal gen Aarau ziehen um mit Dir einen einige angenehme Stunden zu verbringen und wenn es möglich ist das Licht meiner Seele (Gott segne sie!) zu sehen. O, wie schön wäre es doch auf einer gemeinschaftlichen Ferienreise, aber es geht nicht. Ich mag d/D/ir nicht gern das Vergnügen verderben, indessen ziehe hin in Frieden, Du wirst schon Gesellschaft finden, und meinen Segen nimmst Du auch mit. Was ist denn am 16. SeptemberOskar Schibler wurde an diesem Tag 19 Jahre alt. los? Ich habe jenes Wort nicht lesen können; ich schicke Dir deswegen | jene Stelle wieder zurückdas Papierstück von 11 x 6,5 cm, das Wedekind aus dem letzten Brief Oskar Schiblers herausgeschnitten hatte [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 8.9.1881], liegt dem Brief nicht bei., damit Du dazu schreiben magst was es heißen soll. Nun bin ich zu Ende. Schreibe mir recht bald wieder, dennDer Brief endet mit einem aus Bibelstellen und literarischen Versatzstücken zusammenmontierten Text. die Zeit wird mir langRedewendung. und der Herr ist großTeil biblischer und sakraler Verse [vgl. unter anderem Jesus Sirach 43,5]., wie da stehet geschriebenhäufig verwendete Redewendung in theologischen Kontexten. im 3. Buch SirachDas Buch Jesus Sirach, eine alttestamentarische Spätschrift bestehend aus 51 Kapiteln, wird meist in drei Teile (1. Teil: Kapitel 1-23; 2. Teil: Kapitel 24-42,14; 3. Teil: Kapitel 42,15-51,30) unterteilt. – Martin Luther ordnete das Werk den Apokryphen zu und übernahm den Text nicht in seine Bibelübersetzung. 4.25vermutlich Schreibversehen, statt: 43.5 [vgl. die Anmerkung zu „der Herr ist groß“].. „Du sollst beugen Dein Knie vor dem HerrnBibelzitat [vgl. Epheser 3,14]., auf daß erTeil biblischer Redewendungen. über Dich weg hinwegsehen kann, denn er wird denn nicht ungestraft lassenBibelzitat [vgl. Exodus 20,7; Deuteronomium 5,11]., der über ihn hinweg sieht. Sela!(schweiz.) Wir werden sehen! – (hebr.) ein Musikzeichen „in den poetischen theilen des alten testaments, wahrscheinlich bezeichnung einer musikalischen pause bez. eines zwischenspiels“ [DWB Bd 16, Sp. 429].“ Jetzt also leb wohl und folge Deinem TriebeVers in Johann Wilhelm Ludwig Gleims Gedicht „Klage an die Liebe“., denn der Herr sagt: „Sehet die Lilien auf dem FeldeBibelzitat [vgl. Matthäus 6,28].; sie säen nich, sie ernten nicht und ihr Vater im Himmel nährt sie dochin Anlehnung an Matthäus 6,26. – „nich“: Schreibversehen, statt: nicht..“ – Gott segne Dich, Lilie auf dem FeldeAnalogie zum Schlussvers „Röslein auf der Heiden“ in Goethes Heideröslein (1827)., und denk zuweilen an Deinen auf Antwort harrenden Freund Franklin.


[Seite 3 am unteren Rand um 180 Grad gedreht:]


p. s. Vielen Dank für den Regenschirm. Amen!

Oskar Schibler schrieb am 15. September 1881 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

15. Sept 81. Aarau.


Lieber Franklin!

Es hat mich sehr gefreut zu vernehmen, dass du wider dich von deinem SchmerzenslagerWedekind hatte 5 Wochen mit einer Rippenfellentzündung im Bett gelegen. erheben darfst. Mögen deine Kräfte uns bald wider einmal gestatten uns persönlich zu treffen.

Ich habe immer mehr Sehnsucht di/en/ hiesigen Verhältnissen valet(lat.) Lebewohl. – Oskar Schibler wollte die Kantonsschule Aarau verlassen und seine Schullaufbahn an der Kantonsschule Solothurn fortsetzen; diese wollte auch Wedekind nach seiner Gesundung besuchen. zu sagen und die alte burgund. ResidenzstadtSolothurn, die Hauptstadt des Kantons Solothurn, gehörte im frühen Mittelalter zum Königreich Burgund. zu beglücken. Aber wie soll ich das bei meinen Eltern durchsetzen. Ich will versuchen ob ich meinen FraterOskar Schibler dürfte an den älteren Bruder, den Studenten Wilhelm Schibler, gedacht haben. zu meiner Ansicht bekehren kan & somit neue wirksame Truppen ins Feld rücken. Pläne hätte ich allerdings genug, aber die sind für den Nothfall in Reserve. Schreiben will ich sie Dir auch nicht – mündlich lässt sich über solch ein beides interessirdesSchreibversehen, statt: interessirendes. Thema besser sprechen |

Morgen (16)Wedekind hatte den Freund gefragt, was am 16. September sei [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 14.9.1882]. – Oskar Schibler wurde 19 Jahre alt. ist mein Geburtstag da wirst du mich hoffentlich auch mit einem Poema,Schreibversehen, statt: Poēma (griech.) Gedicht. Wedekind beschenkte Oskar Schibler wiederholt zu besonderen Anlässen mit Gedichten [vgl. u.a. Wedekind an Oskar Schibler, 27.11.1879]. überraschen. Meine MuseAuch Oskar Schibler schrieb Gedichte, er hatte dem von Wedekind und Walter Laué gegründeten Dichterbund „Senatus poeticus“ angehört [vgl. Wedekind an Walter Laué, 11, und 24.2.1881]. ist niedergeschlagen, es ist mir hier alles so öd, so kalt, so fremd. Eine Täuschung – ich glaube, dass es an einem andern Orte besser würde. Sprechen wir wieiter davon. Gib mir einen Rath & schreibe mir einen Brief, den ich vorlesen werde um die Antiquen(lat.) Alten, hier: Eltern. zu, wenn nicht zu einem Schritte zu bewegen sie doch zum Nachdenken verleiten soll & dies ist immerhin schon viel.

Nun leb wohl
Sei herzlich gegrüsst &
xxxxmehrfach durchgestrichen. v. d O.


Schreib bis morgen


[Am linken Rand um 270 Grad gedreht:]


frd Gruss an die werthen Eltern & Armin.

Frank Wedekind schrieb am 16. September 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

An Oskar.


I.


Ha, wie durchbebt es meine Glieder,
Daß heuteAm 16.9.1881 wurde Oskar Schibler 19Jahre alt. Dein Geburtstag ist!
Die Musegriechisch römische Mythologie; hier: Personifizierung der Dichtung. schmettert ihre Lieder;
Sie hat gerastet kurze Frist.
Es wird der Pegasusin der griechisch-römischen Mythologie das geflügelte Pferd; hier: das Dichterross. bestiegen;
Auch er genoß der süßen Ruh.
Und schneller, als die Aare fliegen,
Ging es dem reinen Äther zu.


Hoch über dem Geräusch der Erde,
Fern von der Menschheit wildem Schwarm
Hielt ich auf meinem Flügelpferde
Die schönste Göttin(griech.) Aphrodite, (lat.) Venus; die Göttin der Schönheit, Liebe und Erotik. kühn im Arm.
Ha, wie da meine Pulse flogen,
Den Augenblick vergeß ich nie:
Tief hab’ ich Liebe eingesogen,
Berauscht von ihrer Melodie. |


Ja, Oskar, das war eine Wonne,
Wenn auch für wen’ge Stunden nur:
Ein Liebchen, wie die lichte Sonne
In unverschleierter Natur.
Natürlich war ihr ganzes Wesen,
e/E/in jeder Zwang war ihr verhaßt.
In ihren Blicken konnt ich lesen,
Was du noch nie gelesen hast. –


Und nun bedenke: Dieser Busen,
Von edler Leidenschaft bewegt,
In dem die s/S/chönste aller Musen
Ein zärtlich liebend Herze trägt!
Und diese Glieder, weich und sphärisch;
Von scharfen Kanten keine Spur,
Der TeinSchreibversehen, statt: Teint. Von Bertha Jahn mit Bleistift korrigiert. Durchsichtig und Ätherisch –
Das schafft nicht irdische Natur. |


So ließ sie vor mir auf dem Rücken
Des edeln Thiers sich aufwärts ziehn;
Und ich ließ trunken mich entzücken
Von ihren süßen Melodien. –––
So nimm denn diese kleine Gabe
Als Zeichen meiner Freundschaft hin;
Es ist das Beste, was ich haben:
Ein Lied von meiner Königin.


II.Wedekind publizierte den folgenden Teil des Briefgedichts überarbeitet und gekürzt als Gedicht unter dem Titel „Stallknecht und Viehmagd. Carmen bucolicon“ zuerst in der Sammlung „Die vier Jahreszeiten“ (1905) [vgl. KSA 1/I, S. 798].


Die Bärin wohnt im tiefen Walde,
Im tiefen Wald wohnt auch der Bär.
Und an demselben Aufenthalte,
Da wohnen bald darauf noch mehr.
Doch im Olympder Sitz der Götter., da wohnen Götter,
Darunter Venusdie Göttin der Schönheit und der erotischen Liebe. und ApollGott des Lichts, Beschützer der Künste und der Musik..
Dort hat man ewig schönes Wetter,
Und jeder Gott ist – liebevoll. |


Auf ödem Felde schafft die Viehmagd,
Thut ob der Arbeit manchen Schrei.
Jedoch CupidoGott und Personifikation der Liebe (Cupido erweckt die Liebe in einem Menschen, indem er einen Pfeil in dessen Herz schießt); auch: Amor; (griech.) Eros., der sich nie plagt,
Sitzt freundlich lächelnd nebenbei.
Er sitzt dabei auf einem Steine,
t/l/t Pfeil und Bogen in der Hand
Und spreitzt gemüthlich seine Beine,
Als wärs in seinem Vaterland. –


Nun kommt der Stallknecht mit den Kühen,
Auch Ochsen ziehen an dem Pflug.
Doch muß er selbst am meisten ziehen,
Dann geht es eben schnell genug. –
Da duckt se/ic/h AmorSynonym für Cupido. listig nieder;
Er legt den Bogen an mit Lust
Und schießt die ViemagdSchreibversehen, statt: Viehmagd. durch das Ni/M/ieder
In ihre ahnungslose Brust. |


Der Stallknecht kommt herbeigesprungen,
Auf daß er rasche Hülfe bringt.
Doch Amor trifft den armen Jungen,
Daß er mit ihr zu Boden sinkt.
Da liegen Stallknecht nun und Viehmagd
Und schauen sich verwundert an;
Vollführen freudig, was man nie sagt,
Doch was man leicht errathen kann.


17.IX.1881.Vermutlich ein Schreibversehen, statt: 16.IX.1881. (siehe oben Anmerkung „heute“), dem Geburtstag Oskar Schiblers, der sich zu diesem Anlass ein Gedicht Wedekinds gewünscht hat [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 15.9.1881], für das er sich am 17.9.1881 bedankte [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 17.9.1881].

Oskar Schibler schrieb am 17. September 1881 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

17.9.81. Aarau.


Mein lieber Franklin!

Vielen Dank für deinen poetischen Grussdie unter dem Titel „An Oskar“ zusammengefassten Gedichte „Ha, wie durchbebt es meine Glieder“ und „Die Bärin wohnt im tiefen Walde“, die Wedekind Oskar Schibler zu dessen Geburtstag zugeschickt hatte [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 16.9.1881].; er enthält sehr viele gefühlvolle, zarte, ansprechende Stellen so dass es einem kalt über die Haut rieselt & dann wider siedend heiss ins Gehirn steigt. Deine Muse ist reizend nur zu reizend, in einem duftigen, leichten Gewande, hebt sie eher ihre Schönheiten als dass sie dieselben verschleiert. Dies das Urtheil über die erste Abtheilung.

Hier ist das Gewand gefallen & damit der Reiz verschwunden. Ein Weib ohne Reiz was ists – Fleisch, & dieses Fleisch reizt auch nicht.

Wende dich wider(schweiz.) wieder; wider. einmal einem lyrischen Gedicht zu, du wirsdSchreibversehen, statt: wirst gewiss etwas brillantes zu Stande bringen. |

Nun bitte ich dich um einen Rath. Der MaturitätswixAm 30.9.1881 feierten die Kantonsschüler mit einem Kommers die Verabschiedung der Abiturienten der Gewerbeschule. steht unmittelbar vor der Thür & ich hab, nicht durch meine Schuld fast gar nichts zum AufführenAls Freimütiger des Kantonsschülerturnvereins (KTV Aarau) hatte Oskar Schibler die Aufgabe, die Ideen für Präsentationen zu entwickeln, mit Füxen und Burschen einzustudieren und in Konkurrenz zu den anderen Schülerverbindungen zur bestmöglichen Aufführung zu bringen.. Es bleibt mir somit in den 14 Tagen, die noch übrig sind nichts anders als ein WachsfigurencabinetSammlung von „Wachsfiguren“: „die meist lebensgroßen, plastischen Darstellungen von merkwürdigen Persönlichkeiten und Gruppen, an denen das Nackte von Wachs, die Gewandung aber wirklich, der Körper darunter ausgestopft ist.“ [Brockhaus’ Konversationslexikon 14. Auflage, Bd. 16, 1903, S. 426] Berühmt waren die Tussaudsche Sammlung (1780 in Paris eröffnet, seit 1802 in London) sowie das Panoptikum der Brüder Castan in Berlin (1869). (zur andern dramat. Aufführung) zu arrangiren. Du wirst begreifen, dass die Wahl der vorzustellenden Persönlichkeiten nicht gleichgültig ist, sondern quasi die Hauptsache ist. So bitte ich dich wenn du vielleicht einen glücklichen Gedanken hast mir ihn bis nächsten Mittwochden 22.9.1881. Zu Wedekinds Ratschlag in der Angelegenheit vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 18.9.1881. mittheilen zu wollen). Ich habe bis jetzt nur 2.

Auffindung MosesDie Tochter des Pharaos, die mit ihren Dienerinnen zum Baden an den Nil geht, findet im Wasser das Kleinkind Moses (den späteren jüdischen Propheten), der, um ihn vor der Ermordung zu retten, zuvor von seiner Mutter in einer Schachtel ausgesetzt wurde [vgl. Exodus 2, 1-10]. – Das Motiv begegnet verschiedentlich in der bildenden Kunst, unter anderem in den Gemälden „Die Auffindung des Moses“ von Peter Paul Rubens und „Auffindung Moses durch die ägyptische Königstochter“ des zeitgenössischen Historien- und Porträtmalers Bernhard Plockhorst, einem Vertreter der Spätnazarener. durch die egyptische Königstochter.

Es sollten noch einzelne classische Gestalten zugezogen werden welche recht profanirt werden können. Wenn du Zeit & Lust hast kannst du ja gerade einige | Worte dazu machen, welche zur Erklärung dienen. Ich bin nämlich bis Montagden 20.9.1881 verflucht mit Arbeit überlastet, so dass mir keine freie Zeit übrig bleibt. Drum bitt ich dich mit Herzen, Mund & Händen mir hiebei etwas an die Hand zu gehen.

Du wirst bald einmal denken ich sei ein unverschämter Mensch. Bitten nichts als Bitten schreibt er hieher. Doch entschuldige mich ich baue auf deine Freundschaft wie auf die Felsen des Lebanon.

In 14 Tagen haben wir nun FerienDie Herbstferien, die das Ende des ersten Schulhalbjahres einläuteten, dauerten drei Wochen, vom 1.10.1881 bis zum 22.10.1881. In welchen wir hoffentlich nun öfters Gelegenheit haben werden uns zu treffen. & dann


Weit werf ichOskar Schibler zitiert die vier Schlussverse aus Heinrich Leutholds Gedicht „Entsagung“ (1857). weg das klagende Erinnern
An eine Welt, die mir nur Wunden schlug‘.
Trag ich nicht selber eine Welt im Innern?

Verlangend Herz, sei du dir selbst genug! |


Noch einmal meinen Dank für das Zeichen deiner Freundschaft, herzlich sei gegrüsst von deinem
O.


Schreib mir also bald.


Gruss an deine werthen Eltern & Armin. Wenns dir möglich ist so komm nächste Woche einmal. Schick aber vorher eine Carte.

in aeternum(lat.) in Ewigkeit. Dein

F.

Frank Wedekind schrieb am 18. September 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Am eidgenössischen Buss- und BettagSonntag, der 18.9.1881., 1881


Edler Oskar.

Den besten Dank für deinen werthen Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 17.9.1881. und die ComplimenteOskar Schibler hatte den erste Teil von Wedekinds poetischem Geburtstagsgruß „An Oscar“ positiv rezensiert., die Du mir darin machst. Aber wie kommst du dazu, gegen den II. Theildas Gedicht „Die Bärin wohnt im tiefen Walde“, der zweite Teil von Wedekinds poetischem Geburtstagsgruß „An Oscar“. Es folgt Wedekinds Replik auf die schriftliche Kritik des Freundes an dem Gedicht. meines letzten Briefesvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 16.9.1881. aufzutreten. Du hast ganz recht, dass das Fleisch an und für sich keinen Reiz habe, im Gegentheil: Wenn Du Deine GeliebteWedekind nennt sie an anderern Stelle „Deine von X“ [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 3.9.1881]. nur mit sinnlichen Augen betrachtest, so wirst Du gerade in dem Moment, wo die Sinnlichkeit ihren Triumph feiern sollte, sie verabscheuen, und das vorher angebetete Fleisch wird in Deinen Augen zu Aas. Aber meinst du denn wirklich, (bitte, verzeih’ meinen Schulmeisterton) zwischen Bär und Bärin herrsche kein anderes Verhältniss, als Sinnlichkeit? – | Nein, glaube mir der Bär bedarf eher einer Lebensgefährtin, einer Gesellschafterin in seiner Einsamkeit, als der Mensch in der interessanten, belebten Welt. Was nun Venusrömische Göttin der Liebe. und Apollin der griechisch römischen Mythologie Gott der Künste, der Weissagung, der sittliche Reinheit und Mäßigung, des Frühlings und des Lichts. betrifft, so bedenke, daß Apoll ein Künstler ist, dem wir es nicht verargen dürfen, wenn er an seiner Venus die Schönheiten der Natur sucht, um die Menschen in Lied und Bild damit zu entzücken. Nun kommt noch die Viehmagd und der Stallknecht, und da weisst Du nicht, welch interessante Unterhaltung vielleicht ihre menschenfreundliche (nach pessimistischen Begriffen allerdings menschenfeindliche) Handlung gewürzt hat. Also von bloss fleischlichen Genüssen ist hier durchaus nicht die Rede, da sie dem Menschen gar nicht verliehen sind, weil eben das Fleisch, sinnlich betrachtet, zu faulem Aas wird. – Verzeih mir nun noch einmal meinen Schulmeisterton, aber Du wirst mir erlauben meine Kinder und diejenigen meiner Muse zu verteildigen.

Über den MaturitätswixAm 30.9.1881 feierten die Kantonsschüler mit einem Kommers die Verabschiedung der Abiturienten der Gewerbeschule. Oskar Schibler hatte den Freund um Ideen für eine Aufführung gebeten. habe ich nachgedacht und auch mit Armin darüber gesprochen. Ein WachsfigurenkabinetSammlung von „Wachsfiguren“: „die meist lebensgroßen, plastischen Darstellungen von merkwürdigen Persönlichkeiten und Gruppen, an denen das Nackte von Wachs, die Gewandung aber wirklich, der Körper darunter ausgestopft ist.“ [Brockhaus’ Konversationslexikon 14. Auflage, Bd. 16, 1903, S. 426]. geht nicht. Zu abgedroschenBei der nächsten Sitzung des KTV am 24.9.1881 brachte Oskar Schibler die Kritik der Freunde vor. „Der Freimüthige beantragt, man solle das auf den Maturitätswix projektirte Wachsfigurenkabinet nicht ausführen, weil wir schon am letzten ein solches gegeben haben und weil einige alte Häuser ([Armin] Wedekind u Schübel.) ihm aus dem nämlichen Grunde davon abriethen. Er meint man könne dafür mit einem Freimüthigen steigen, der sich auf den ganzen Verein beziehe. Urech erwiedert darauf, daß ein bloßer Freimüthiger den Verein zuwenig auszeichne, und daß es sehr wichtig ist ob man auf der Bühne erscheine oder nicht. Er glaubt daher, daß man ein kleines dramatisches Stück aufführen müße. Es erheben sich nun mehrere Mitglieder gegen diesen Antrag, weil die Schule es ihnen nicht erlaube in dieser kurzen Zeit noch etwas zu lernen. Hasler meint, daß es immer noch Zeit genug übrig bleibe, um etwas rechtes zu lernen, wenn man seine Zeit recht abmeße. Es wird nun abgestimmt und beschloßen ein Wachsfigurenkabinet aufzuführen.“ [KTV Aarau. Archiv. Protokollbuch 1879/85, S. 96f.]. Nun dachte ich, man könne den Handschuh von Schiller aufführenDie Idee griff Oskar Schibler offenbar auf, klagte in der Vereinssitzung bezüglich der Vorbereitungen allerdings „über das Betragen zweier junger Mitglieder, welche aus nichtigen Gründen an dem dramatisirten „Handschuh Schiller’s nicht mitspielen wollen. Das Präsidium ermahnt daher Alle mit Ernst hinter die Sache zugehen, und beantragt eine Schwänzung von 2 Fr.[anken] für denjenigen, welcher bis Montags 1 Uhr den Text nicht gelernt und bis Mittwoch 1 Uhr sich kein Kostüm verschafft hat, was denn auch beschloßen wird.“ [KTV Aarau. Archiv. Protokollbuch 1879/85, S. 97]. Armin geht Dienstagden 20.9.1881. nach Aarau. Verschmähe seinen Rath nicht. Er kann dir sehr nützlich sein. Wenn irgend möglich, komme ich zum Maturitätswix. Nun Adee, auf Wiedersehn Dein alter
KaterBiername Frank Wedekinds.

Frank Wedekind schrieb am 13. Oktober 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Schloss Lenzburg 13. NovOct. 81.


Lieber Freund,

Nun bin ich von Schaffhausen zurückgekeht/rt, wo ich einige sehr glückliche Tage verlebteIn Schaffhausen wohnte seit dem Frühjahr 1881 Olga Plümacher, Wedekinds philosophische Tante, mit ihren Kindern Hermann und Dagmar [vgl. [Hermann Plümacher an Wedekind, 23.4.1881].. Bei bester Unterhaltung und unerschöpflichen Bierkrügen wurde uns die Zeit so kurz, dass sie fast in das theoretisch nur einmalige Zeitmoment Kant’s„Die Momente der Zeit scheinen sich nicht zu folgen, weil auf diese Weise noch eine andere Zeit für die Folge der Momente vorausgesetzt werden müßte; vielmehr scheint das Wirkliche vermittelst der sinnlichen Anschauung wie vermittelst einer stetigen Reihe von Momenten herabzusteigen“ [Immanuel Kant: De Mundi Sensibilis (1770). In: Immanuel Kant’s Sämmtliche Werke hrsg. (und übersetzt) von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert. Bd. 5. Leipzig 1839, S. 120 Anm.; zitiert nach Rudolf Eisler: Kant-Lexikon (https://www.textlog.de/eisler/kant-lexikon/zeit)]. zurücktrat. Wie verflossen Dir, l. Oskar, diese 8 Tageseit Mitte der ersten Herbstferienwoche.? – Wenn sie Dir nicht so schnell verflossen, wie mir, so glaube ich nicht mehr an eine Zeitausdehnungkontrovers diskutierte Problematik der Kantischen Theorie von Raum und Zeit.. – Über Deine jetzigen Verhältnisse hab ich von Armin erfahren was ich erfahren konnte. Soll ich bemitleiden, oder glücklich preisen? – Du wirst mir diese Zweifel lösen. Du gehst nach SolothurnOskar Schibler verließ die Kantonsschule Aarau und besuchte ab Herbst 1881 die Kantonsschule Solothurn. Das Schuljahr dauerte dort vom 15.10. bis zum 15.8. des Folgejahres [vgl. Reglement für die Kantonsschule (Vom 10. Oktober 1874), in: Amtliche Sammlung der Gesetze und Verordnungen des eidgenössischen Standes Solothurn. Bd. 57, 1871-75, Nr. 85, S. 299, §31].. – O, könnt ich doch auch mit! Aber es soll nicht seinWedekind, der ein halbes Jahr Privatunterricht auf Schloss Lenzburg erhalten hatte, kehrte nach Ende der Herbstferien an die Kantonsschule Aarau zurück und wiederholte hier das zweite Schulhalbjahr der II. Gymnasialklasse.. Das Schicksal ist hart. Es will mich noch tiefer stürzen. Ich muss Dich noch einmal sehen bevor d/D/u von dannen ziehst, aber es geht nicht hier in Lenzburg. So will ich denn, falls es Dir Recht ist, morgen, Freitagden 14.10.1881. Nachmittags nach Aarau kommen. Eine Stunde im RynikerPintenwirtschaft des Friedrich Ryniker in der Metzgergasse 102 [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau. Aarau 1881, S. 8]. hinter einem grossen TopfSchüler- und Studentensprache: Bierkrug. kann uns auf viele Jahre der Trennung hin fest verbinden. Mit frohem Herzen werd ich nach dieser glücklichen | Stunde wieder in die Heimath zurückkehren um von goldener Erinnerung zu leben. Sollte aber diese Zusammenkunft durch irgend einen Zufall vereitelt werden, so sag ich Dir mit diesem Briefe Ade und wünsche Dir alles Gute, was Erde und Himmel hervorbringen. – Es wird Dich befremden, dass ich Dich nicht zu mir einlade; Aber die ganze Familie ist noch mit der WeinleseZum Schloss Lenzburg gehörte ein Weinberg von 6 Juchart [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 286], etwa 1800-2400 Quadratmeter. beschäftigt, deren nicht gerade glänzender Ertrag die Gemüther Aller und zumal meines Vaters bedeutend verstimmt. Dazu haben wir noch seit einigen Tagen Kinder von zürcher Bekanntennicht identifiziert. zu bBesuch, welche auch wegen ihres geringen Alters die Gemüthlichkeit einigermassen beeinträchtigen. – Morgen Nachmittag um ein Uhr werde ich also Dich in Aarau aufsuchen. Wenn es Dir irgendwie nicht recht ist, so bring heute Abend nocht eine Karte auf die Post, damit ich morgen früh Antwort habe. Nun leb wohl auf Wiedersehn. Dein
treuer Freund
Franklin Wedekind.


Eritis sicut Deus, Scientes malum et bonum.(lat.) Ihr werdet sein wie Gott, wenn ihr das Böse und Gute erkennt. Wedekind vertauscht „bonum“ und „malum“ in diesem berühmten Bibelspruch (1. Mose 3,5), den Mephisto in Goethes „Faust I“ einem Schüler ins Stammbuch schreibt [vgl. Goethes Werke (WA), Bd. 14, S. 95 = V. 2048].

Du kennst nun Beides.

Frank Wedekind schrieb am 10. November 1881 in Aarau folgenden Brief
an Oskar Schibler

10.XI.81.


Geliebter!!

Endlich komme ich einmal dazu, Dir mein überströmendes Herz zu ergiessen. Einsam und verlassen steh ich da unter einer Schaar wildfremder MenschenGemeint waren vermutlich die neuen Klassenkameraden. Wedekind, der ein halbes Jahr Privatunterricht auf Schloss Lenzburg erhalten hatte, war nach Ende der Herbstferien an die Kantonsschule Aarau zurückgekehrt, wo er das zweite Schulhalbjahr der II. Gymnasialklasse wiederholen musste. und der Einzige, der mir theuer und lieb ist, weilt fern von mir. Oskar, es ist nicht gut, wenn T dass uns das Schicksal getrennt hatOskar Schibler besuchte seit Ende der Ferien die Kantonsschule Solothurn.. Wir lernen uns entbehren und unsere Freundschaft geht reist ad patres(lat./frz.) zu den Vätern; ins Jenseits.. Darum wollen wir, wenn auch unsere Leiber nicht eodem loca/o/(lat.) an demselben Ort. weilen können, mit dem g Geiste doch recht häufig einander in unseren Briefen nahe treten. Du er|innerst Dich vielleicht noch an jene goldenen Tage, da wir selbandern(schweiz.) zu zweit. in Scherr’s menschlicher Tragiecomoedie lasen. Du erinnerst Dich w vielleicht noch daran, was er bei Anlass von Heloise über die Liebe sagte, dass sie einzig und allein auf GeschlechtstriebScherr schreibt einleitend im Kapitel „Heloise“: „Der [...] Geschlechtstrieb, stirbt beim Erwachen der Liebe keineswegs, im Gegentheil! Er weckt sie ja, er ist die Liebe selber. [...] Auch das Weib sucht in der Liebe zunächst nur die Geschlechtsbefriedigung, weil es muß, weil die Natur sie tyrannisch dazu zwingt.“ [Johannes Scherr: Menschliche Tragikomödie. Gesammelte Studien, Skizzen und Bilder, Bd. 1, Leipzig 1874, S. 155] zurückzuführen sei. Oskar, ich glaube nicht mehr, was Scherr uns vorschwefelte„blauen dunst vormachen, vorlügen“ [DWB, Bd. 26, 1938, Sp. 1539].. Ich erkläre mir die Liebe vielmehr als subjectiven Idealismu„Der Begriff wurde erstmals von Schelling zur Charakterisierung der Philosophie Fichtes verwendet. Er bezeichnet – zumeist mit polemischer Absicht – philosophische Positionen, die den Erkenntnisprozeß stärker von den Vorstellungen des Subjekts beeinflußt sehen als von den Gegenständen selbst, die also unterstellen, daß die Dinge an sich hinter den subjektiven Vorstellungen verborgen bleiben (vgl. Ritter/Gründer 4, S. 43). – Wedekind dürfte die Bezeichnung durch die Vermittlung seines Lehrers Carl Uphues geläufig gewesen sein. Uphues, der bis Herbst 1881 an der Kantonsschule Aarau unterrichtete, hatte in den 70er Jahren selbst erkenntnistheoretische Schriften publiziert (vgl. Uphues 1874 u. Uphues 1876).“ [KSA 1/II, S. 2069]s, indem der Liebhaber in seiner Geliebten die absolute Vollkommenheit erblickt, obschon sie das Kind in unseren Augen sich nicht über Mittelmässigkeit empor heben mag. Diese Anschauung hab’ ich nun in folgende Verse gebracht, deren gnädige Kritik ich in Deinem nächsten Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 15.11.1881. erwarte: |


Es mussDas Gedicht „Subjectiver Idealismus“ ist in einer späteren, leicht überarbeiteten Fassung erstmals in der Wedekind Werkausgabe publiziert worden [vgl. KSA 1/I, S. 62; Kommentar KSA 1/II, S. 2066-2070]. der Gottheit nicht gefallen haben,
So sprach ich oft zu mir in trüben Stunden,
Die Weisheit mit der Tugend zu vereinen.
Ich suchte einen Freund, doch hab’ ich keinen,
Der meinem Ideale gleicht gefunden.


Ich suchte fort und fort wohl viele Jahre,
Bis ich mich niederliess in diesem Tah/ha/le.
Da sah ich sie, kaum traut’ ich meinen Blicken.
Ich liebt’ – und fand mit freudigem Entzücken
Die w/W/irklichkeit zu meinem Ideale.


Es macht den Menschen doch bedeutend glücklicher, wenn er die Welt mit idealistisch verblendeten Augen ansieht, und E. v. Hartmann hat recht, wenn er behauf/p/tetnicht ermittelt., die Aufklärung sei an dem Unheil unserer Zeit schuld. Mit frommen Kinderglauben betrachteten die m/M/enschen die g/G/es Geschichte Christi. Da kommt dann so ein VogtPapst Gregor I, der vor seiner kirchlichen Karriere Stadtpräfekt (Vogt) von Rom war. und sagtIn seinen Magdalenenpredigten verschmolz Gregor I. Maria Magdalena, die Apostelin der Apostel, mit der namenlosen Sünderin, die Jesus die Füße salbt (Lukas 7,36-50) und mit Maria von Bethanien, der Schwester von Martha und Lazarus von Bethanien. Seine damit verknüpfte Deutung Maria Magdalenas als Prostituierte und Prototyp für die in der Sexualität begründeten Sündhaftigkeit der Frau schlechthin blieb bis 1969 Lehrmeinung der weströmischen Kirche., Maria und Magdalena Martha seien Metzenveraltete Bezeichnung für Prostituierte. | gewesen und alsbald ist die Zufriedenheit, das Glück zum Teufel und frecher Spott tritt an des/r/en Stelle, wie Du aus f/F/olgendem ersehen wirst:


Fernhin, nach dem heil’gen Lande
Lass mich ziehn von diesem Strande,
An den See Genezareth,
Wo mit seiner Martha weiland
Jesus Christus, unser Heiland,
Sich gewälzt in einem Bett.


Wo Maria, S/d/ie gescheidte,
Liebevoll an si/e/iner Seite
Horchte auf sein Christenthum,
Und er selber zwischen beiden
Huldigte des Lebens Freuden
Auf dem weichen Canapum.
Dahin, Alter, lass mich ziehen!

––––– |

„Gräulich, entsetzlich!!“ hör’ ich Dich ausrufen, aber ich weiss noch Entsetzlicheres: – Das Einzige, das Beste, was ich auf dieser Welt mein wähnte, sollte mir entrissen werden. Alle grossen Gefühle, die eine men Menschenbrust bewegen können, stürmten auf mich ein. – Vor mir eine dunkle, unbestimmte, freudlose Zukunft; hinter mir die gold’nen Tage der Vergangenheit, von der ich scheiden sollte. Oskar, ich Tr hätte Thränen heulen mögen über diesen Gedanken, und doch wieder die Wonne, die unbeschreibliche Wonne, Dich noch jetzt zu geniessen, noch diesen Augenblick, kurze Minuten zu sehen – Nein, es war zu viel für mich, ich konnte es nicht fassen, nicht begreifen. Die Gedanken vergingen mir. Ich fühlte nur, fühlte tief; ich fühlte mich unendlich glücklich. – Sterben, | Dach dacht’ ich; jetzt sterben, in diesem Augenblick seliger Wonne! – Das Leben wäre ein schöner Traum gewa/e/sen und der Tod wäre Göttertrank!

So dachte ich, – und Du? – O, ewige GerectigkeitSchreibversehen, statt: Gerechtigkeit.!! – und Du? – schissest meine ZündhölzerOskar Schibler geht auf die Angelegenheit in seinem Antwortbrief ein [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 15.11.1881].. –––

Denke Dir einmal, lieber Oskar, d/D/u schwelgtest in süsser Liebe, Dein Blut kocht und Deine Pulse fliegen. Nun giesst man Dir einen Eimer kalten Wassers in Dein warmes Bett über den heissen Leib. So ungefähr wirkte Deine Handlungsweise damals auf meine Gefühle. ––– Ich verzeihe Dir, obschon ich Dich nicht begreife. Behalte die Zündhölzer, es klebt kein Fluch daran. Aber, Oskar, ich appelire an Deine Ehre, an Dein Manneswort und an Deine Freundschaft, Oskar, ich bitte Dich | In inständig, sende mir so schellSchreibversehen, statt: schnell. als möglich meine BucolicaGemeint ist ein (heute verschollenes) blaues Heft betitelt „Bucolica“, in das Wedekind seine von Mai bis Juli 1881 auf Schloss Lenzburg entstandenen Schäferdichtungen schrieb und das ihm im Herbst 1898 während seiner Flucht in die Schweiz abhanden kommen sollte [zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte vgl. KSA 1/II, S. 1538-53]. Einzelne Bucolica hatte Wedekind seinen Dichterfreunden des Senatus poeticus im Frühsommer 1881 zur kritischen Würdigung zugesandt [vgl. die Korrespondenzen mit Walter Laué, Oskar Schibler und Adolph Vögtlin].! – MeinSchreibversehen, statt: Meine. Gründe zu dieser Forderung kennst Du, und es sind noch andere hinzugekommen, die ich hier nicht zu erleutern wage. Oskar, Du würdest durch Zögerung mich unglücklich machen; bitte, säume nicht; brauch’ keine Entschuldigungen, mein Dasein steht auf dem Spiele. – Du sollst noch Alles erfahren, wie es sich zugetragen hat, aber jetzt eile mit der Sendung. Schick Schicke es mir in die Kantonsschule, Aarau; ich wäre ruinirt, wenn es in falsche Hände käme. und Daran will ich Deine wahre Freundschaft erkennen, dass Du mir diesen Bitte sofort erfüllst. Nun ade! Grüsse KunzRichard Kunz hatte im Juli 1880 die Kantonsschule Aarau verlassen und besuchte jetzt die Kantonsschule Solothurn. e. ct. PlüssGottfried Plüß, der ebenfalls die Kantonsschule Solothurn besuchte, war im ersten Halbjahr des Schuljahrs 1879/80 Klassenkamerad von Oskar Schibler und Frank Wedekind gewesen. vor Allen aber Dich selbst von Deinen/m/ treusten Freunde
Franklin Wedekind.

Oskar Schibler schrieb am 15. November 1881 in Solothurn folgenden Brief
an Frank Wedekind

Nov. 15. 81. Solothurn.


Lieber Franklin!

Dein Briefvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 10.11.1881. hat mich sehr gefreut indem ich daraus ersah, dass du trotz deiner miserablen StellungOskar Schibler dürfte auf die schulische Situation angespielt haben. Wedekind wurde nach einem halben Jahr Privatunterricht auf Schloss Lenzburg nicht in die III., sondern in die II. Klasse des Gymnasiums eingestuft. die Elasticität deines Geistes bewahrt hast. Deine Poesiendie beiden im vorangegangenen Brief mitgeteilten Gedichte „Subjectiver Idealismus“ und „Fernhin, nach dem heil’gen Lande“ [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 10.11.1881]. sind haarig. Wirf dich einmal auf ein idealeres Gebiet du wirst selbst mehr Freude daran haben. Man merkt es gährt & schafft in d/D/ir –, du fühlst dich nicht wohl nicht in deiner SpähreSchreibversehen, statt: Sphäre..

Mein PhilisterBei Oskar Schiblers Pensionsvater dürfte es sich um Walther von Arx handeln, der 1878 (mit 29 Jahren) zum Professor für deutsche Sprache und Literatur an die Kantonsschule Solothurn berufen wurde [vgl. Hans Brunner: Die Reihe „Solothurner Klassiker“ in: Oltener Neujahrsblätter, Bd. 76, 2018, S. 62]. kennt dich beritsdialektal für: bereits. aus meinen über dich geführten Gesprächen, er ist sehr gespannt deine Bekanntschaft zu machen. | Frass & Bett erwarten dich schon lange komm desshalbSchreibversehen, statt: deshalb. quam celerrime(lat.) möglichst schnell. in meine Arme.

Vorletzten Sonntagden 6.11.1881. tagte ich mit dem Philister in einer Kneipe auf einem Dorfe, Du siehst er ist ein fideles Haus trotz Professor. Als ich ihm Deine BucolicaGemeint ist ein (heute verschollenes) blaues Heft betitelt „Bucolica“, in das Wedekind seine von Mai bis Juli 1881 auf Schloss Lenzburg entstandenen Schäferdichtungen schrieb und das ihm im Herbst 1898 während seiner Flucht in die Schweiz abhanden kommen sollte [zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte vgl. KSA 1/II, S. 1538-53]. Einzelne Bucolica hatte Wedekind seinen Dichterfreunden des Senatus poeticus im Frühsommer 1881 zur kritischen Würdigung zugesandt [vgl. die Korrespondenzen mit Walter Laué, Oskar Schibler und Adolph Vögtlin]. zu lesen gab sagte er: Das ist ein verfluchter Kerl er interessirt mich! Viens vite(frz.) Komm schnell.. Du kannst ja kommen unter irgend einem Vorwande du brauchst ja zu Hause nicht zuu> sagen wohin du gehst. O über die manchmal verdammt zärtliche lästige vorsorgliche Liebe der Mütter!

Wenn du hier wärest würde dich ein ganz anderer Geist anwehen | du fühltest dich wohl. Du weisst ich kann nicht viel & trotz der eigent. guten Klasse in die ich gerathen bin, bin ich doch einer der Besseren. Allerdings muss man arbeiten. Wie gehts in Aarau? nichts neues pikantes. Deine Flammenicht ermittelt.?

Was die Bucolica anbetrifft so ist dein Grund ein entschiedener Schwindel du willst sie einfach wider haben damit dein Schmerzenskind nicht verloren geht. So behalt sie ich wollte sie als Andenken an fidele Zeit anecxirenSchreibversehen, statt: anektiren (entsprechend der damals üblichen Orthographie)..

Was sagt UphuesGoswin Karl Uphues, der Deutschlehrer Frank Wedekinds (und ehemals auch Oskar Schiblers).? Was macht die Klassedie Schüler der III. Klasse des Gymnasiums (Schuljahr 1881/82), die ehemaligen Klassenkameraden Frank Wedekinds bis zu seiner Nichtversetzung im Frühjahr 1881 und Oskar Schiblers bis zu seinem Wechsel an die Kantonsschule Solothurn.? Wie stehtsSchreibversehen, statt: stehst. du zu ihr? Sieh alles interessirt mich. Was aus dem langweiligen Aarau kömmt. |

Du hast die GeschichteWedekind hatte in seinem Brief dein Freund darauf angesprochen [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 10.11.1881]. mit der Zündhölzchen Büchse falsch aufgefasst. Da ich die brennende Liebe nicht in meiner Nähe haben kann so wollte ich wenigstens einin> Symbol derselben besitzen. Sieh wie unschuldig.

Meine Poesie ist auf den Hund ich habe keine Zeit & keine Anregung. Das hiesige Vereinsleben ekelt mich an & doch tretgeh ich vielleicht in einen ein. Mann muss dies thun der Gesellschaft wegen. Meine ganze Klasse mit Ausnahme von 1 ist in der ZofiAn der Kantonsschule Solothurn bestand seit 1823 eine Sektion des schweizerischen Studentenvereins Zofingia.

Leb wohl lieber Franklin Gruss & Kuss von deinem Fr. O.


Grüss alle Grüssbaren.

RohrFriedrich Rohr war im Schuljahr 1881/82 Schüler der III. Klasse und einer der ehemaligen Klassenkameraden Oskar Schiblers und Frank Wedekinds. Auch war er Mitglied im Kantonsschülerturnverein (KTV Aarau), in dem Oskar Schibler bis zu seinem Weggang nach Solothurn Funktionsstellen (Fuxmajor, Freimütiger) innehatte. soll mir mal schreiben.


<Am linken Rand um 90 Grad gedreht:>


Schreib bald denk an die feierlichen Eid alle 14 Tage!!!

Oskar Schibler schrieb am 11. Dezember 1881 in Solothurn folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Oskar Schibler vom 18.12.1881 aus Lenzburg:]


[...] in Deinem letzten Briefe [...] die Nachricht, daß wir uns am 23. December, das wäre Freitag, sehen können.

Frank Wedekind schrieb am 18. Dezember 1881 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Schloß Lenzburg, December 1881


Lieber Oskar.

Wenn Menschen auseinander gehnSchlussverse des Gedichts „Es ist bestimmt in Gottes Rath“ von Ernst von Feuchtersleben, vertont (1839) von Felix Mendelssohn-Bartholdy.
So sagen sie auf Wiedersehn‘“ So dachte auch ich als wir in Aarau von einander Abschied nahmen, und was mich in Deinem letzten Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Oskar Schibler an Wedekind, 11.12.1881. am meisten freute, war die Nachricht, daß du wir uns am 23. December, das wäre Freitag, sehen können. Wenn Du Ich dachte es wohl, daß Du in Solothurn nicht die gleiche Gemüthlichkeit finden werdest, die d/D/u in Aarau genossen, aber da Deine Umgebung nun einmal so beschaffen ist, wie Du mir schreibst, so freut es mich das/ß/ du dort keine Gemüthlichkeit gefunden hast. Was nun die Vereine anbetrifft, so möchte ich dir rathen, in keinen zu gehen. Du würs/d/est Dich durch den Eintritt auch für Dein späteres Studienleben an eine gewisse Menschen|gesellschaft binden, die dir vielleichSchreibversehen, statt: vielleicht. nicht immer angenehm wäre. Zudem weiß ich auch zu gutFrank Wedekinds Bruder Armin und der gemeinsame Freund Moritz Sutermeister waren am 18.5.1881 in Zürich der Studentenverbindung Zofingia beigetreten [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 118]., daß die Universitätssectionen der Zofingia am liebsten ihre Mitglieder auf dem Gymnasium abschütteln würden und diese daher doch nur einen sehr zweifelhaften Stand in der Verbindung behaupten.

Du erinnerst Dich vielleicht noch an Herrn JacobiDer aus Ostpreussen stammende und in Berlin aufgewachsene Literaturhistoriker Daniel Jacoby war vom Herbst 1873 bis 1877 Professor für griechische und deutsche Sprache an der alten Kantonsschule in Aarau, seit 1876 zugleich Privatdozent für deutsche Literatur in Zürich. Im Herbst 1877 folgte er einem Ruf an das neu gegründete Königstädtische Gymnasium in Berlin, wo er bis 1910 lehrte, ab 1881 als Oberlehrer, ab 1890 als Professor. v/g TschakelEs dürfte sich um den Biernamen Daniel Jacobys handeln., den Vorgänger von UphuesAm 18.12.1881 verließ Wedekinds Deutschlehrer, Prof. Goswin Karl Uphues, die Aargauer Kantonsschule, um in Breslau die Direktion der höheren Töchterschule zu übernehmen [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1881/82, S. 6].. Es geht nun das Gerücht, daß eben dieser Tschakel wieder nach Aarau kommen werde um seine verlassene Stelle von Neuem allhier sein Segensreiches Wirken zu beginnenDaniel Jacoby kam nicht zurück an die Kantonsschule Aarau. Stattdessen vertrat Hans Herzog ab Neujahr die vakante Stelle [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 8.1.1882]..

Du verlangst von mir eine nähere Auskunft über mein öffentliches Auftreten. So höheSchreibversehen, statt: höre. denn .. Ich Er erfuhr also von Carl SchmidtSchüler der IV. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau und gemeinsamer Freund Wedekinds und Adolf Vögtlins, der seit Frühjahr 1881 in Genf studierte., daß Adolh/p/h Vögtlin seine ProductAdolf Vögtlin schrieb Gedichte, Erzählungen und Romans.e in das Thuner UnterhaltungsblattDas waren die „Erholungsstunden“, die von Carl August Küng redigierte Sonntagsbeilage der Zeitung Thuner-Blatt. Exemplare des 1880 bis 1883 erschienen Wochenblatts sind bisher nicht bekannt [vgl. aber den Nachruf auf Carl August Küng in Thuner-Blatt, Jg. 46, Nr. 90, 10.11.1883, S. (3)] einsandte und da dachte ich, warum ich könne das auch einmal versuchen. Ich schriebnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl August Küng, 14.11.1881. also dem Redakteur desselben und auf sein Verlangenvgl. Carl August Küng an Wedekind, 15.11.1881. sandte ichnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl August Küng, 21.11.1881. ihm eine/i/ge Manuscripte, die er | wie er mir schreibtvgl. Carl August Küng an Wedekind, 22.11.1881. mit großer Freude gelesen und habe/t/. Letzten Samstag schickte er mirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: C. August Küng an Wedekind, 10.12.1881. auch schon ein Exemplar seiner „Erholungsstunden mit meinem „Eduard von HartmannWedekinds erste Publikation, das Gedicht „Eduard von Hartmann“ dürfte am Sonntag, den 11.12.1881 in den „Erholungsstunden“, der Sonntagsbeilage des 44. Jahrgangs des „Thuner Wochenblattes“ erschienen sein. Ein Exemplar der Beilage konnte bislang nicht ermittelt werden.“ darin. Wie groß mein Vergnügen war, endlich einmal etwas Gedrucktes von aus meiner Fabrik zu lesen kannst Du Dir bei meiner Dir wohl bekannten Eitelkeit wohl denken. Es überrascht d/D/ich vielleichSchreibversehen, statt: vielleicht. ein Wenig mehr, wenn ich Dich versichere, daß außer Dir, Carl Schmidt u meiner Wenigkeit, noch kein Mensch etwas von diesem meinem Schritt erfahren hat.

Du räthst mir, ich möge mich von der Chemie dispensiren lassen. Sei ohne Sorge. Chemie wird nicht mich nimmermehr belästigen denn (höre und staune!) sie ist vom nächsten Frühling an ein facultatives FachDie Hoffnung Wedekinds erfüllte sich nur teilweise. Die im Winter 1881/82 von der Lehrerschaft der Kantonsschule erarbeiteten Reformvorschläge für einen schlankeren Lehrplan traten (in überarbeiteter Form) erst zum Schuljahr 1883/84 in Kraft. Für die „mit Lernstoff und Stundenzahl überhäuften Classen“ der Kantonsschule Aarau wurde „die Zahl der wöchentlichen Stunden um etwas“ herabgesetzt, in einigen Fächern das bisher über die „Anforderungen der Maturitätsprüfung für die Gymnasien [...] hinausgehende Pensum ermäßigt, in andern dagegen in bescheidenem Maße erweitert“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1882/83, S. 9]. Die in Klasse III und IV unterrichtete Chemie wurde von 3 auf 2 Wochenstunden reduziert. Die anorganische Chemie blieb obligatorisch, die Organik wurde aus dem Lehrplan gestrichen. Nur noch fakultativ angeboten wurde in der IV. Klasse des Gymnasiums Theorie der Chemischen Analyse (1 Wochenstunde im Sommerhalbjahr) und das chemische Praktikum (3 Wochenstunden im Winterhalbjahr). Das Fach Philosophie gab es während der Schulzeit Wedekinds nicht [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1883/84, S. 21]. und welches in der vierten Classe durch Philosophie ersetzt werden soll.

Du schreibst mir in Deinem l. Briefe nichts von R. C/K/unzRichard Kunz, ehemals Klassenkamerad von Wedekind und Oksar Schibler, hatte im Juli 1880 die Kantonsschule Aarau verlassen und besuchte jetzt die Kantonsschule Solothurn.. Wie geht es ihm und l wie steht er in seiner Classe? – Auch von Plüß, dem Poetenvielleicht Gottfried Plüß, der im ersten Halbjahr des Schuljahrs 1879/80 mit Oskar Schibler und Frank Wedekind die I. Klasse des Gymnasiums besucht hatte., möchte ich etwas vernehmen und was macht Deine Muse. In einer so großen Stadt mit | so viel Unterhaltung sollte sie doch wahrhaftig nicht auf der faulen Haut liegen. Sende mir etwas von Ihr ihr. Deinem werthen Herrn PhilisterOskar Schiblers Pensionsvater, vermutlich Walther von Arx, Deutschlehrer an der Kantonsschule Solothurn. lasse ich vielmals danken für seinen freundlichen Gruß.

Nun leb’ wohl schreibe bald und berichte mir auch ob Du am Freitag, den 23 schon hier sein kannst, denSchreibversehen, statt: denn. am 24. Morgens werden wir wohl Censur habenZeugnisse des III. Schulquartals [vgl. Wedekinds Brief an Oskar Schibler vom Januar 1882]..

Grüße alles zu Grüßende; vor allem aber grüße Dich selbst von Deinem threuen Freunde
Franklin Wedekind.

Oskar Schibler schrieb am 1. Januar 1882 in Aarau folgende Visitenkarte
an Frank Wedekind

OSCAR SCHIBLER
AARAU
SOLOTHURN
|


L. F.

Dir & Deinen werthen Eltern nebst FamilieVermutlich sind die 5 Geschwister Frank Wedekinds gemeint, das sind Armin, William Lincoln (Willy), Erika, Donald und Emilie (Mati). wünsche ich zum Beginne des neuen JahresNeujahr 1882. – Oskar Schibler besuchte die Kantonsschule Solothurn von Herbst 1881 bis Sommer 1883. In diese Zeit fallen die Jahreswechsel 1881/82 und 1882/83. Da Wedekinds Antwortbrief zweifelsfrei im Januar 1882 geschrieben ist [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 8.1.1882], dürfte es sich bei der nachträglichen Datierung der Visitenkarte („1.1.83“) um ein Schreibversehen handeln. herzlich Glück!

Schreibe mir bald einmal wie es Dir geht & wie Du Dich in den FerienDie einwöchigen Weihnachtsferien dauerten an der Kantonsschule Aarau vom 26.12.1881 bis 3.1.1882. amüsirst. Rege irgendeine StreitfrageWedekind nahm in seinem Antwortbrief die Idee auf [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 8.1.1882]. an damit sich eine lebhaftere Correspondenz entwickelt. Für heute Leb wohl! Prosit!

Frank Wedekind schrieb am 8. Januar 1882 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Schloß Lenzburg, Januar 1882.

Lieber Freund.

Mit großem Bedauern vermißte ich an dem letzten Samstag vor Weihnachtenden 24.12.1881. eine verabredete Zusammenkunft mit Dir. Eine Reklamation wegen der Note Schlufi’smöglicherweise Spitzname für Isidor Guttentag, der am Gymnasium der Kantonsschule Aarau Griechisch unterrichtete. In Wedekinds Zeugnis (III. Quartal 1881/82) ist im Fach Griechisch eine „2-1“ (statt „1-2“) eingetragen, was auf eine nachträgliche Korrektur hinweisen könnte [vgl. Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170]. – Auf die mögliche Kollision mit dem Treffen wies Wedekind schon in einem früheren Brief hin [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 18.12.1881]. in meinem Zeugniß hielt mich davon ab, Dich an jenem Morgen aufzusuchen. Desto mehr freuten mich Deine l. Wortevgl. Oskar Schibler an Wedekind, 1.1.1882. am beim Jahreswechsel und der Bericht Deines Bruders AlfredAlfred Schibler, der jüngere Bruder Oskar Schiblers, war nicht Schüler der Kantonsschule, dürfte aber in Aarau bei den Eltern gelebt haben., daß Du ein exemplarisch gutes Zeugniß erhalten habest. Ich gratulire Dir von ganzen Herzen zu dieser Errungenschaft und habe mir vorgenommen, ihr mit allen Kräften nachzueifernDas gelang; Wedekind steigerte seine Leistungen, so dass sein Versetzungszeugnis im Frühjahr 1881/82 keine 4 oder 5 enthielt, sein Betragen mit der Note „sehr gut“ beurteilt und er „definitiv promovirt“ wurde. Erst im 4. Quartal 1882/83 ließen seine Leistungen wieder merklich nach und auf seinem Zeugnis stand der Vermerk „provisorisch promovirt“ [vgl. Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170].. Es | können solche Bestrebungen u. ihre Folgen nur guten Einfluß auf unsere Freundschaftsverbindung haben und es wäre dann unsere jetzige Trennung nur ein kleines Hinderniß, gegen diejenigen, die während unseres Zusammensein’s uns im w/W/ege lagen.

OhneVor dem Wort befindet sich, durch zwei senkrechte Striche gekennzeichnet, eine Absatzmarkierung. Zweifel interessirt es Dich, zu erfahren, daß UphuesAm 18.12.1881 hatte Wedekinds Deutschlehrer, Prof. Goswin Karl Uphues, die Aargauer Kantonsschule verlassen, um in Breslau die Direktion der höheren Töchterschule zu übernehmen. nun einen Stellvertreter bis im nächsten Mai in HE. Hans HerzogGoswin Karl Uphues wurde „seit Neujahr vertreten durch Hrn. Cand. Phil. Herzog, für deutsche Sprache und Litteratur am Gymnasium, für Griechisch an Cl. IV Gymnasii“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1881/82, S. 5]. Hans Herzog hatte in Zürich und Leipzig Germanistik und Geschichte studiert und stand kurz vor dem Abschluss seiner Promotion (1882). Seit 1881 war er am Staatsarchiv beschäftigt; 1885 wurde er Staatsarchivar, 1889 Leiter der Kantonsbibiothek. und einen Nachfolger alsdann in HE. FreyAdolf Frey aus Gontenschwyl, der in Zürich, Bern (Promotion 1878), Leipzig und Berlin studiert hatte und mit Gottfried Keller und C.F. Meyer befreundet war, wurde im neuen Schuljahr 1882/83 Wedekinds Deutschlehrer an der Kantonsschule Aarau und Privatdozent an der Universität Zürich. Die Presse berichtete über seine am 4.1.1882 erfolgte Wahl [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 28, Nr. 5, 6.1.1882, S. (1)]. stud. in Berlin gefunden hat. Ich weiß nicht ob d/D/u diesen Frey kennst; er ist der Sohn des gleichnamigen schweizerischen SchriftstellersVater von Adolf Frey war der Volksschriftsteller und Redakteur Jakob Frey, der vor seinem Tod einige Jahre in Aarau gelebt hatte. und soll gegenwärtig ein guter Freund von Albert FleinerAlbert Fleiner war der älteste Bruder von Martha Fleiner, für die Frank Wedekind und sein Schulfreund Walter Laué schon 1880 geschwärmt hatten [vgl. die Korrespondenz mit Walter Laué]. Die Freundschaft zwischen Albert Fleiner und Wedekinds künftigem Deutschlehrer Adolf Frey dürfte auf die gemeinsame Jugend im Aargau zurückgehen. Denn Adolf Frey hatte seinen jüngeren Bruder Alfred Frey und dessen gleichaltrigen Freund Albert Fleiner seit dem Sommer 1878 zum Studium der Rechte und Nationalökonomie an die Universitäten Zürich, Leipzig und Berlin begleitet. Im Frühjahr 1882 kehrte Adolf Frey nach Aarau zurück. Seit etwa 1883 arbeitete Albert Fleiner zunächst sehr erfolgreich als Redakteur, dann als Kunstkritiker durchaus umstritten bei der Neuen Zürcher Zeitung. Er starb 1902 in Rom [vgl. u.a. Zur Erinnerung an Albert Fleiner. Geboren den 10. August 1859 in Aarau. Gestorben den 17. Juni 1902 in Rom. https://doi.org/10.20384/zop-133, 23.6.2021]. in Berlin sein. Der VegaHauptstern des Sternbilds Leier; vermutlich Biername des Mathematik- und Physiklehrers Prof. Dr. Hermann Krippendorf, dem die erbetene Entlassung zu Ostern 1882 gewährt wurde [vgl. Programm der Aargauer Kantonsschule 1882, S. 6]. Auch die Presse berichtete: „Aargau. Die Regierung hat dem Professor Dr. H. Krippendorf die von ihm nachgesuchte Entlassung als Lehrer an der aargauischen Kantonsschule unter bester Verdankung der geleisteten Dienste ertheilt.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 62, Nr. 5, 5.1.1882, Erstes Blatt, S. (2)]. hat „mit Verdankung seiner geleisteten Dienste“ nun endlich auf nächsten Frühling seine | Entlassung erhalten.

Dieses ist so ziemlich das Mus/Neus/te Neueste aus unserer Musenstadt. Du wirst mir nun dasjenige aus Solothurn schreiben, was mich vielleicht interessiren könnte. Wie stehst Du nunmehr Deinen Comilitonen gegenüber? – Ich bitte Dich, bleibe Deinem Vorsatz treu, geh in keinen Verein, in keine ZofingiaOskar Schibler dachte über seinen Eintritt in den Schülerverein der Kantonsschule Solothurn nach [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 15.11.1881].. Es befremdet Dich diese WahrnungSchreibversehen, statt: Warnung. vielleicht, aberseiSchreibversehen, statt: aber sei. überzeugt, sie kommt aus treuer Seele.

Du bittest mich in Deiner Karteeine Visitenkarte [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 1.1.1882]., eine Streitfrage anzuregen und mit Freuden ergreife ich diese Gelegenheit, um unsere Correspondenz ein wenig flüssig zu machen. Es sind mir 2 solche Fragen eingefallen, die dich gewiß interessiren werden. | Dies erste lautet:

Welche Empfindungen hat ein schönes Mädchen bei ungestörter Betrachtung ihres Körpers? – Denke nun darüber nach ob, wie, und warum die Empfindungen dieses Mädchens gleich, oder verschieden sind von den Empfindungen des Jünglings, der denselben gleichen weiblichen, schönen Körper betrachtet. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Ich habe schon einigermaßen darüber nachgedacht; bin aber noch weit davon entfernt sie beant lösen zu können. Ich will Dich aber jetzt schon auf die weitgreifenden Folgen der Lösung aufmerksammachen. Wenn nämlich erwiesen werden kann, daß die Gefühle derSchreibversehen, statt: des. Mädchens gleich, oder auch nur ähnlich sind denjenigen des Jünglings, so ist da fällt damit die | Unschuld des Weibes vollständig in Nichts zusammen und ist geradezu unmöglich. – Das wäre eine große Entdeckung!!!

Nun die zweite Frage:

Du weißt wohl, daß sich in allen Irrenhäusern unter den vielen hunt/d/erten Unglücklichen auch wahrhaft glückliche befinden, welche in de kindlicher Einfalt die Welt nur in einem ideal vollkommenen Lichte sehen, keinen schlechten d Menschen kennen und in Folge dieses Glückswahns ihres kranken Gehirnes nur Tage der Freude d erleben. Nun kommt da ein gelat/a/rtesSchreibversehen, statt: gelahrtes (gelehrtes). Haus, ein der ArtztSchreibversehen, statt: Arzt. und fö/i/ndet, daß der Glückliche krank sei. Er wendet nun seinen ganzen Witzim Sinne von: Geist, Vernunft. an, um das glückli seelige Geschöpf, das die V gütige Vorsehung ausnahmsweise mit dem | Fluche verschont hat, Mensch zu sein, – um dieses seelige Geschöpf, sage ich, in einen unglücklichen Menschen zu verwandeln, um/nd/ den der/s/ Bösen Unbewußten in den Fehlern u. Lastern der Menschheit zu unterrichten und ihm die Augen zu öffnen, daß er sehe was gut u. böse ist. Es entsteht nun die Frage, ob das Bestreben des Artztes zu billigen oder zu verfluchen ist? – E Die Antwort scheint nahe zu liegen. Sie ist aber dennoch nicht leicht zu finden; denn Bedenke, daß der Artzt, gelingt ihm sein Vorhaben, aus einem Sclaven der Natur einen freien Mann geschaffen hat. Über diese Frage habe ich noch gar nicht nachgedacht, und ich bin desto mehr auf Dein weises Urtheil gespannt. Ich h Wähle dir nun eine dieser | Probleme zur Besprechung in unseren künftigen Briefen aus. Ich hoffe daß d/D/ir entweder das eine picant, oder dann das andere interressantSchreibversehen, statt: interessant. genug scheint, daß Du es Deiner eines davon, deiner Einsicht würdigest.

Es ist jetzt zwei Uhr in der Nacht, die Augen fallen mir zu und mein Papier geht zu Ende. Vor 4 Stunden hatte ich daßSchreibversehen, statt: das. Vergnügen die „Karlsschüler“ (von Laube) in Lenzburg über die Bretter gleitenim 1. Stock des Lenzburger Gemeindesaals; vermutlich handelt es sich um eine Aufführung des Lenzburger Laientheaters [vgl. Kieser 1990, S. 117ff]. zu sehen. Ich sah den Tyrannen Carl von Würtemberg; ich sah ein fühlendes Weib in Francisca von Hohenheim und ich sah den leibhaftigen Schiller, den freien Dichter. Der freie Dichter besiegt den Tyrannen, aber er legt seinen LorbeerK/kra/nz zu Füßen des schönen Weibes, denn ihm hat er den Sieg | zu verdanken. Die natürliche Menschlichkeit Franziskas bildet eine Brücke üb zwischen den Extremen: Freiheit und Sclaverei, auf der sie sich berühren können und erkennen können. So siegte die Freiheit.

Nun lebe wohl. Sei guten Muthes und schreibe mir recht bald. Du hast Stoff genug und Zeiht wirst Du auch finden wenn Du bedenkst daß es jetzt 2 Uhr Nachts ist.

Die besten Grüße an Dich von meinen Eltern und ein derber Bruderkuß und Handschlag von Deinem treuen Freund
Franklin Wedekind.

Oskar Schibler schrieb am 12. Februar 1882 in Solothurn folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn
Franklin Wedekind Kantonsschüler
Aarau |


L. F.

Ich komme nächste Woche. Niemand erwartet mich. Bald werde ich Dir noch Eine Kartevgl. Oskar Schibler an Wedekind, 16.2.1882. schicken damit Du Tag & Stunde weisst.

Also auf frohes Wiedersehen
D.
O.


Solothurn, 12. Febr. 82

Oskar Schibler schrieb am 16. Februar 1882 in Solothurn folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.

Herrn
Franklin Wedekind Kantonsschüler
Aarau |


L. F.

Ich werde Samstag 4.14 in Aarau einrücken. Wenn Du dann nicht in der Stadt sein wirst so können wir uns ja Sonntags treffen. Bestimme Du also Zeit & Ort des R.V.(frz.) Verabredung. Theile es meinem frater(lat.) Bruder; vermutlich der Stiefbruder Hermann Keller, der die I. Klasse der Gewerbeschule der Kantonsschule Aarau besuchte. mit, damit ers mir dann sagen kann. Wir sind hier schon ziemlich in der FeststimmungFastnacht; Schibler schrieb am Schmotzige Dunnschtig, dem letztem Donnerstag vor dem Beginn der Fastenzeit (Aschermittwoch, den 22.2.1882). Die Festtage dürften die Heimreise nach Aarau veranlasst haben.. Fast jeden Abend Tz.

Also auf fröhliches Wiedersehen
Dein treuer
O.


Solothurn 16 Feb. 82.


[Am linken Rand:]


Grüss alles Grüssbare. SeidelBiername, vermutlich von Léon Ettinger, der 1881 Präsident des Kantonsschülerturnvereins (KTV Aarau) war.. Rohr. Ziegler.Friedrich Rohr und Alfred Ziegler waren ebenfalls Mitglieder des KTV Aarau und ehemalige Mitschüler Oskar Schiblers und Wedekinds im Schuljahr 1880/81 in der II. Klasse. etc.

Frank Wedekind schrieb am 23. April 1882 in Aarau folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an , Oskar Schibler

[Hinweis in Wedekinds Brief an Oskar Schibler vom 3.5.1882 aus Aarau:]


Nachdem ich in den Ambulant-Wagen Deines Zuges eine Corresp:Karte eingeworfenHinweis auf das hier erschlossene Korrespondenzstück. [...]

Frank Wedekind schrieb am 3. Mai 1882 in Aarau folgenden Brief
an Oskar Schibler

Aarau 3V 82.


Geliebter!

Heute von 10tägigem Krankenlagerseit Sonntag, den 23.4.1882. auferstanden, beglückt mich noch jetzt die Erinnerung an Deinen freundlichen Gruß, den Du mir vom Zug ausauf der Fahrt nach Solothurn, wo Oskar Schibler die Kantonsschule besuchte. gespendet. Nachdem uns an jenem Freitagden 21.4.1882. infolge Deines Nichterscheinens bei bewußtem Fabrikgebäude die Spur verloren ging (ich bummelte getreulich ¾ Std. dort) und verschiedene Versuche, dieselbe wiederaufzufinden gescheitert waren, blieb mir kein anderer Anhaltspunkt mehr als d. Tag Deiner Abreisevermutlich Sonntag, der 23.4.1882, das Ende der Osterferien an der Kantonsschule Solothurn., d. Zug wußte ich nicht einmal! Nachdem ich in den Ambulant-Wagen Deines Zugesdas fahrende Postamt der Bahn. eine Corresp:Karte eingeworfennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Oskar Schibler, 23.4.1882., traf mich vom Wartsaal aus d. vorwurfsvolle Blick d. Pachasauch: Pascha. Gemeint war vermutlich Emil Schmuziger, der Pedell (Hausmeister) der Kantonsschule Aarau, möglicherweise auch der Rektor, das war seit 1879 Kaspar Maier., der mich beinahe abgehalten hätte, meinen wohlberechneten Umweg um s Schulhaus z. machen. Deiner Devise getreu „dem Muthigen gehört die Weltnach Heinrich Laube „den Mutigen gehört die Welt“ [Heinrich Laube: Das junge Europa, Bd. 1.2, Mannheim und Leipzig 1833, S. 138].“, führte ich jedoch mein Vor|haben aus & wurde auch reich belohnt hiefür, denn Dein deutlicher Gruß überstieg in der That meine kühnsten Erwartungen. – Wie gesagt war ich vom Tag d.Abreise an ernstlich krank. Wärest Du noch MedizinerGemeint sein dürfte der Studienwunsch Oskar Schiblers. würde ich detailliren! Dem Me Juristen gegenüber geht das nicht. Factum ist, daß ich wieder an einen KurortIn der ersten Jahreshälfte 1882 machte Wedekind eine „große Reise“ [vgl. Hermann Plümacher an Wedekind, 8.6.1882], vermutlich nach Stuttgart. Diesen Ort notierte Wedekind neben anderen Stichworten für das Jahr 1882 in einen tabellarischen Lebenslauf [vgl. Tb, nach dem 22.10.1890]. In Stuttgart, wo sich auch die Bäder Cannstatt und Berg befanden, wohnte Wedekinds Großmutter Johanna Kammerer, die in 2. Ehe mit dem Buchdruckereibesitzer Joseph Kreuzer verheiratet war [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 20]. muß, und zwar allein, denn in diesen obscuren Winkel Erde wird man mich wohl nicht begleiten wollen. Um Dich nun hier nicht etwa während kürzern oder längern Aufenthalts zu verfehlen, ersuche Dich folgende Frage zu beantworten: 1.) Wann kommst Du voraussichtlich nächstes Mal hieher???

2.) Sag mir zugleich auch, ob ich meine nächste Sendung auch an’s Ständli adressiren soll? | Sobald Deine Antwort eingetroffen, wird Sendung ob Stappel gelassen werden. Ich erwarte von nun an d. Berichte, und natürlich auch diesen nächsten sub S. K. (S. K.) poste restantepostlagernd. Aarau, und werde nächsten Montagden 8.5.1882., Morgens früh auf hiesiger Post nachsehen abholen lassen./,/ so daß Du längstens Sonntagden 7.5.1882; ein Tag für den Postweg von Solothurn nach Aarau gerechnet. Morgens absenden mußt. –

Hoffend, daß d. Nächstes etwas mehr als blos die beiden Antworten enthält, nämlich auch Einiges über d. letzten Tage hier, & Grund d. Nichterscheinens s+++t+, grüßt Dich herzlich
.–/

Frank Wedekind schrieb am 13. Mai 1882 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

W. O.

Mit meiner „Herstellung“ ist’s noch nicht weit her, indem ja bald drei Wochen seit der VerwundungVon einer ernsten Erkrankung schreibt Wedekind dem Freund im Mai 1882 [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 3.5.1882] – das einzige (bisher) belegte ‚Krankenlager‘ während Oskar Schiblers Schulzeit in Solothurn (Oktober 1881 bis August 1883). – Über Art und Hintergründe der Verwundung ist nichts ermittelt. verflossen und ich erst einige Stunden per Tag aufstehen darf. Die Wunde ist immer noch 3 cm. offen und der Verband ein dreifacher.

Deinem Wunsche nach Solothurn zu kommen kann ich vor 4 Wochen auf keinemSchreibversehen, statt: keinen. Fall entsprechen, da ich sonst Folgen davon tragen könnte. Ein anderer und wohl der Hauptfaktor dieses Hinausschiebens ist wohl der, daß ich vor jener Frist weder Bier noch Wein kneipen darf. Daß unter solchen Auspizienbildungssprachlich: Aussichten. unser rendez – vousrendez-vous (frz.) Verabredung. höstSchreibversehen, statt: höchst. troken sich gestalten würde, wirst | Du einsehen und mit mir finden, die Fastenzeit sei ruhig abzuwarten. Allerdings werde ich Dir Vieles zu berichten haben und erst Du!!! An pikanten Episoden in deinem Leben und Treiben wird’s dir in der alten WengestadtBeiname Solothurns in Erinnerung an Niklaus von Wengi, den Jüngeren, der als Schultheiss von Solothurn 1533 einen Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Reformierten in Solothurn verhindert haben soll [vgl. Franz Haffner: Der klein Solothurner allgemeine Schaw-Platz. Tl. 2. Solothurn 1666, S. 213-218]. auch nicht gefehlt haben.

Freundschaftlicher Gruß
D. F.
W

Oskar Schibler schrieb am 6. Juli 1882 in Solothurn folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn
Franklin Wedekind Kantonsschule
Aarau |


L. F.

Es thut mir leid, dass ich ohne Abschied & EntschuldigungMöglicherweise handelt es sich um dasselbe Ereignis, von dem Wedekind schon im Mai schrieb [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 3.5.1882]. Dich verlassen musste doch wenn Du die Gründe gehört hast wirst Du zugeben müssen, dass ich nicht anders handeln konnte. Doch vergagneSchreibversehen, statt: vergangene. Dinge. Samstag 15.der 15.7.1882. werde ich nach Hausenach Aarau, zu den Eltern und jüngeren (Stief-)Geschwistern. Die Patchworkfamilie des Obergerichtsschreiber Josef Keller-Franke und der Wilhelmine Keller, geb. Franke, verwitwete Schibler, wohnte in Aarau am Zollrain, Nr. 179, im Haus des Bierbrauers Thomas Fischer [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau, 1881, S. 13]. kommen bei welcher Gelegenheit ich Dich hoffentlich sehen werde. Mein HochzeitspoemaHochzeitsgedicht. – Die Adressaten des Gedichts sind nicht ermittelt. liegt auch bereit, deiner Kritik harrend. Also auf Wiedersehen Dein
F. O.


Grüsse an IV.Gemeint waren die Kantonsschüler der IV. Klasse des Gymnasiums Aarau, die ehemaligen Klassenkameraden Wedekinds und Oskar Schiblers. & Vereinder Kantonsschülerturnverein (KTV Aarau), dem Oskar Schibler bis zu seinem Wechsel an die Kantonsschule Solothurn angehörte.


6 Juli 82

Oskar Schibler schrieb am 13. Juli 1882 in Solothurn folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.

Herrn
Franklin Wedekind Kantonsschule
Aarau |


L. F.

Da wir uns gerade in der Zeit der strengsten Arbeit befinden f/d/a das Examen die Jahresabschlussprüfungen (4.8.-11.8.1882) [vgl. Der Bund, Jg. 33, Nr. 199, 21.7.1882, S. (4)]; an der Kantonsschule Solothurn dauerte das Schuljahr von Mitte Oktober bis Mitte August des Folgejahres [vgl. Reglement für die Kantonsschule (Vom 10. Oktober 1874), in: Amtliche Sammlung der Gesetze und Verordnungen des eidgenössischen Standes Solothurn. Bd. 57, 1871-75, Nr. 85, S. 299, §31].vor der Thüre steht so ist es mir leider unmöglich deinem Wunsche Folge zu leisten & schon Freitag Abendsden 14.7.1882; Oskar Schibler hatte in einem früheren Korrespondenzstück seinen Besuch für Samstag, den 15.7.1882, angekündigt [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 6.7.1882]. zu kommen. Jede Stunde hat jetzt ihren Werth besonders bei dem Repetitorium der Psychologie. Ich bed+/a/ure es sehr einen AbendAm 14.7.1882 wurde das Aarauer Jugendfest gefeiert mit dem abschließenden „Tanz auf der Schanze“, der für die Schüler und Schülerinnen der weiterführenden Schulen um 22 Uhr endete [vgl. das abgedruckte Programm in den Aargauer Nachrichten, Jg. 28, Nr. 160, 9.7.1882, S. (4)]. der gemüthlichsten FidelitätSchüler- und Studentensprache, für: Fröhlichkeit, Geselligkeit. zu verlieren, doch es wär zu schön gewesen. 1) Immerhin erwarte ich, dass Du mir das Opfer bringst Samstag Abends oder SonntagSamstag, den 15.7.1882, oder Sonntag, den 16.7.1882. Am Sonntag dürfte Oskar Schibler wieder nach Solothurn, wo er während der Schulzeit ein Pensionszimmer hatte, zurückgefahren sein. einige Stunden mir zu widmen. Wenn dein Besuchnicht ermittelt. weniger Wichtigkeit hat so wird Dir dies eine Kleinigkeit sein. Ich bitte dich desshalb mir noch mit einer Karte anzuzeigen ob es Dir möglich ist noch Samstag Abends in Aarau zu bleibenWedekind wohnte in der Woche bei Frau Regula Huber-Aeschmann am Zollrain in Aarau. Samstags, nach der Schule, fuhr er gewöhnlich zur Familie nach Lenzburg. wenn ja so werde ich mit dem Zuge der hier um 5 Uhr abgeht erscheinen & Sonntag früh hast Du immer noch Gelegenheit Deine Goldkörner(bildlich) „für wertvolle gedanken, grundsätze, erkenntnisse, wahrheiten, die sich vereinzelt in äuszerungen, schriften und reden finden“ [DWB, Bd. 8, Sp. 805]; in diesem Sinn oft in Titeln von Anthologien verwendet. Hier dürften Gedichte Wedekinds gemeint sein. an die Köpfe deines staunenden Besuchs zu werfen 1/2/) Komm Samstag Nachmittag nach Olten schreibe mir wann, ich werde Dir zu Liebe mit Überei noch 2 Std. aussetzen. Dann haben wir den ganzen NachmittagVerschleifung. für uns & die lieblichsten Gestalten, ich versichere es Dir, werden uns umschweben. Ich halte dies für das Vernünftigste & Gründe kenne ich SeineSchreibversehen, statt: keine. & werde keine anerkennen, die dich abhalten können. Die Bedingungen sind gleich auf beiden Seiten & auf jeden Fall wird uns o/O/lten mehr bieten als das aufgergteSchreibversehen, statt: aufgeregte. Aarau am Freitag. Fass einen heroischen Entschluss ich bitte dich, es soll mir ein Zeichen Deiner aufrichtigen VerzeihungVerschleifung. für meinen schnödenVerschleifung. AbschiedDavon schrieb Oskar Schibler auch im vorangegangenen Brief [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 6.7.1882]. Möglicherweise handelt es sich um dasselbe Ereignis, von dem Wedekind schon im Mai berichtete [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 3.5.1882]. sein! Dein
F.

Oskar Schibler schrieb am 24. Juli 1882 in Solothurn folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn
Franklin Wedekind stud. jur.
Lenzburg. Schloss. |


L. F.

Ich komme Samstag Abendden 29.7.1882. nach Aarauzu den Eltern und jüngeren (Stief-)Geschwistern. Die Patchworkfamilie des Obergerichtsschreiber Josef Keller-Franke und der Wilhelmine Keller, geb. Franke, verwitwete Schibler, wohnte in Aarau am Zollrain, Nr. 179, im Haus des Bierbrauers Thomas Fischer [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau, 1881, S. 13]., wann habe ich das Vergnügen d/D/ich zu sehen? Brich das lange StillschweigenOffenbar hatte Wedekind die letzten Postkarten des Freundes [Oskar Schibler an Wedekind, 6.7.1882 und 13.7.1882] nicht beantwortet. & sei wieder vernünftig. Mädchen kannst Du ewig zürnen in Anlehnung an Schillers „Dom Karlos“: „Mädchen, kannst du ewig hassen? / Verzeiht gekränkte Liebe nie?“ [Friedrich Schiller: Dom Karlos. Infant von Spanien. Leipzig 1787, 4. Akt, 16. Auftritt (Ders: Don Karlos. Infant von Spanien. Ein dramatisches Gedicht, 1805, 4. Akt, 15. Auftritt)]verzeiht gekränkte Liebe nie?

Dein alter in fidia(lat.) in Treue..


[Um 45 Grad gedreht:]


Sol. 24. Juli 82.

Frank Wedekind schrieb am 25. Juli 1882 in Lenzburg folgende Postkarte
an Oskar Schibler

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn Oskar Schibler stud. jur.
Ständli
Solothurn. |

Lieber Freund.

Besten Dank für Deine l. C.vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 24.7.1882. Mein langes Stillschweigen werde ich bei unserem nächsten WiedersehnOskar Schibler hatte in der Postkarte seinen Besuch für Samstag, den 29.7.1882, angekündigt. nicht auf/ent/schuldigen, aber doch einigermaßen begründen. Ich werde das ganze Turnfest übervom 29.7.1882 bis 2.8.1882. – In Aarau liefen seit Wochen die Vorbereitungen für das 50-jährige Jubiläum des eidgenössischen Turnfestes, zu dem 2000 Gäste erwartet wurden. Wedekind beteiligte sich an den Festvorbereitungen [vgl. auch Wedekinds Korrespondenzen mit Eduard Leupold und Hermann Huber vom Juli 1882]. das mit Gründung des schweizerischen Turnverbandes am 24.4.1832 ebenfalls in Aarau veranstaltet worden war. in Aarau sein und hoffe Dich also dort zu treffenOskar Schibler ist im Verzeichniß der am 29.7.1882 „beim Jubiläumsbankett anwesenden ‚alten Turner‘“ aufgelistet [vgl. Festblatt für das Eidgenössische Turnfest in Aarau, Nr. 2, 31.7.1882, S. 11].. Ich bin in größter Eile. Entschuldige deshalb meine Kürze. Mit bestem Gruß und freundschaflichstemSchreibversehen, statt: freundschaftlichstem. Handschlag Dein ewig
treuer
Franklin.

Oskar Schibler schrieb am 17. Oktober 1882 in Solothurn folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[1. Hinweis in Wedekinds Brief an Oskar Schibler vom 24.10.1882 aus Lenzburg:]


Heute vor 8 Tagen erfuhr ich [...] daß Du Aarau verlassen habest [...] als mich diese HiobspostHinweis auf das vorliegende erschlossene Korrespondenzstück. traf.


[2. Hinweis in Oskar Schiblers Brief an Wedekind vom 8.11.1882 aus Solothurn:]


[...] dass meine BriefeHinweis auf das vorliegende erschlossene Korrespondenzstück und mindestens einen weiteren nicht überlieferten Brief. nicht mehr denjenigen entsprechen, welche ich dir früher geschickt habe.

Frank Wedekind schrieb am 24. Oktober 1882 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Schloß Lenzburg, 24.X.82.


Lieber Freund,

Heute vor 8 Tagen erfuhr ich zu meinem großen Schrecken, daß Du Aarau verlassen habest und wiederum Deiner alma mater(lat) nährende Mutter; studentensprachlich für Gymnasium, Universität – hier die Kantonsschule Solothurn. zugesteuert seiest. Ich wußte noch nicht einmal, daß Dein KriegsdienstOskar Schibler dürfte in den Schulferien die sechswöchige Rekrutenschule in Aarau besucht haben. zu Ende war, als mich diese Hiobspostnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Oskar Schibler an Wedekind, 17.10.1882. traf.

Da es uns nun also nicht vergönnt war, einander mündlich unsere Herzen mit all’ den Steinen und Lasten darauf auszuschütten, so sehe ich mich genöthigt, | zu Tinte und Feder zu greifen, um unsere auf dem letzten Loch zu pfeifen scheinende Correspondenz wieder zu beleben. Thu also auch Du Dein Möglichstes, um dem/n/ ehmaligen lebhaften Briefwechsel wieder energisch auf die Beine zu helfen.

Sähest du jetzt deinen Franklin vor Dir stehen, oder säßen wir selbandern(schweiz.) zu zweit. hinter dem Biertische, so würdest du mit Schmerzen ausrufen: „Herrogott v. Manheime!Redensart (Herr o Gott von Mannheim!); Ausdruck der Verwunderung., wie ist mein Franklin verphilistertverspießbürgerlicht.!“ – Ja, ich bin zum Philister geworden; das glaube mir! Denn die Athmosphäre in Aarau ist drückenSchreibversehen, statt: drückend. und für einen Menschen, der kenn/ine/n ihm genügenden Umgang findet, gradezu unerträglich. Ich empfand es, | je tiefer ich in die Trunkenboldenhaftigkeiten der Industria hineingeriethWedekind war seit März 1882 Mitglied der Schülerverbindung Industria Aarau., desto herber, daß in meiner ganzen Umgebung keine Seele sei ist, die mit mir fühlen, mich verstehen könnte, ich fühlte, daß alles, was mir lieb und theuer war, mich verlassen hat.

Welch ein süßer, erquickender Trost war unter solchen düsteren Gedanken das Bewußtsein, einen Freund zu besitzen. Ich, schwärme nicht gern in sentimentaler, platonische idealer HingebungDer griechische Philosoph Platon unterscheidet 3 Arten der Liebe: agape (die begehrungslose), philia (die freundschaftliche), eros (die begehrende, erotische). Wedekind dürfte sich hier auf eine sich in der Epoche der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert entwickelnde Rezeptionslinie beziehen, in der zwischen einer auf das Sinnlich-Körperliche reduzierten und einer geistig-seelischen (platonischen) als einzig wahrer Liebe unterschieden wurde., aber detnnoch glaube halte ich, daß Freundschaft für das Edele/s/te ist, dessen eine Menschenseele fähig ist. Wer könnte wol die Liebe zum Weibe darüber stellen! Ist sie denn etwas anderes, als nur die von der Natur errichtete Brücke, über welche wir in das | schönere Jenseits, in das Paradies der Freundesliebe eintreten S/s/ollen; er fällt und zerrt/hrt/ die sexuelle Liebe nicht, als eitle Sinnlichkeit, sei/ich/ selbst Du auf durch den dem Genusse auf dem Fuße folgenden Ekel, wenn sie nicht im Stande ist, uns in jenes Elisium(Elysium) griechische Mythologie: Insel der Seligen. zu leiten, wenn sie uns nicht zur wahren Freundschaft verhelfen kann?!

Verzeih mir, lieber Oskar, diese philosophisch-moralische Auseinandersetzung, welche eigentlich gar nicht hierher gehört. Ich wollte Dir nur Folgendes sagen: Unsere Freundschaft steht am Abgrunde des Verderbens. Wir haben bei unseren letzten Zusammenkünften regelmäßig in |

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Heine

Wie steht es mit Deiner Muse? Reitest du öfters noch den Pegasusdas Dichterross.? – Bitte, laß mir doch etwas von Deinen Neugeborenen zukommen! – Wenn wir uns das nächste Mal treffen, wirst Du wiederum den freien Menschen, nicht mehr das Präsidium einer IndustriaZum Vorsitzenden (Praesidium oder Praeses) der Schülerverbindung Industria Aarau wurde Wedekind am 9.6.1882 gewählt, am 30.10.1882 trat er von seinem Vorstandsposten zurück und kehrte der Schülerverbindung ganz den Rücken [vgl. Wedekind an die Industria, 30.10.1882]. Erst im März hatte er seinen Aufnahmeantrag gestellt [vgl. Wedekind an die Industria, 12.3.1882], woraufhin er am 14.3.1882 in den Verein aufgenommen worden war. in mir sehen/n/. Ich gedenke mich von dieser Last zu befreien; sie wird mir unerträglich. Will’s Gott, so besuche ich Dich das im nächsten |

ca. 7 Zeilen Textverlust

Gestern träumte mir von Dir, dafür heute ein Brief. Frage nicht, was mir träumte. Träume sind schau Schäume.Redewendung, die in der Korrespondenz zwischen Wedekind und Oskar Schibler häufig Verwendung findet. Immerhin edamus, bibamus, cras moriemur!lat. Sprichwort: Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot! – Was man geliebt, das läßt sich nicht vergessen. – Verachte die Welt und denke an mich! – Wir wollen ihr trö/o/tzen; lache sie dann über uns! – Genießen wir doch dasjenige, was sie im Jenseitz/s/ zu erblicken hofft. Bleibe selbständig! – Solltest du dich wieder verliebenAnspielung auf Oskar Schiblers Affäre mit einer verheirateten Frau („E. v. B.“) im Herbst 1882. wollen, so denke daran, daß das Weib nur eine MaschineMotiv in E.T.A. Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“. ist, die du nur aufgezogen zu werden braucht, um abzulaufen. – Mich schauderts! – Ade! – In alter t/T/reue
Dein
einsamesr Franklin.

Oskar Schibler schrieb am 8. November 1882 in Solothurn folgenden Brief
an Frank Wedekind

8 Nov. 82.


Lieber Freund!

Dein Briefvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 24.10.1882. hat mich gewissermassen aus einer Lethargie wach gerufen. Du hast vollkommen recht mit deinem Vorwurf, dass meine BriefeHinweis auf ein nicht überliefertes Korrespondenzstück: Oskar Schibler an Wedekind, 17.10.1882. nicht mehr denjenigen entsprechen, welche ich dir früher geschickt habe. Wer soll mir aber hieran der Kantonsschule Solothurn, die Oskar Schibler seit Oktober 1881 besuchte. irgend welche Anregung geben das gewöhnliche Alltagsleben zu vergessen & mich nur ein wenig hinaufzuschwingen in jene Höhe welche man nur einmal & in der Jugendzeit geniesst. | Glaube mir ich bin in dem nämlichen Falle wie du. Einsam & verlassen stehe ich da, finde nichteinmalSchreibversehen, statt: nicht einmal. Befriedigung in der Arbeit & doch die bevorstehende MaturitätOskar Schibler besuchte die Abschlussklasse des Gymnasiums; die Maturaprüfungen fanden im Sommer 1883 statt. heisst mich alle Kräfte anspannen. Mein Pegasusin der griech. Mythologie das geflügelte Pferd, hier: das Dichterross. ist bereits zu einem Ackergaul herabgesunken, der sich als Gelegenheits & Zwangs gaul gebrauchen lässt z. B. bei Gelegenheit der HochzeitAm 6.11.1882 waren Oskar Schiblers Stiefschwester Emma Keller („von Wöschnau“) und der in Zofingen ansässige Kaufmann Eduard Carl Franz Bäumle („von Basel“) miteinander getraut worden [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 28, Nr. 269, 13.11.1882, S. (2)]. meiner Schwester carmen nuptiale(lat.) Hochzeitslied., das allerdings wie es scheint gefallen hat; der Bischof HerzogEduard Herzog wurde 1876 auf der christkatholischen Nationalsynode in Olten zum ersten christkatholischen Bischof der Schweiz gewählt. gratulirte nur. Ich habe im Sinn meine Aarauer memoirenOskar Schiblers Affäre mit einer verheirateten Frau („E. v. B.“) im Herbst 1882. zu schreiben als große ConfessionOskar Schibler spielt auf Johann Wolfgang Goethes Bekenntnisse „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ an, in Anlehnung an Jean Jaques Rousseaus „Confessiones“. à la Goethe um mir die Scrupeln vom Halse zu wälzen. Du glaubst | & weisst es nicht warum ich von Aarau weggegangen binOskar Schibler hatte, ohne von Wedekind Abschied zu nehmen, Aarau verlassen [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 24.10.1884].. Aber du wirstgestehenSchreibversehen, statt: wirst gestehen. müssen dass ich recht gehabt habe. Ich muss mich aussprechen ich kann es aber nicht in einem Briefe sondern nur vor dir in deiner Gegenwart. O ich habe dies Sclavenleben des Gymnasiums satt man ist gebunden & gekettet gleich einem nach Freiheit ringenden Wesen, das frei sein muss & nur in der Freiheit gedeihen kann. Diese Schranken beengen mich sie erdrücken mich & lassen keine menschenwürdige Regung in mir aufkommen. Ich hab es wie du niemand versteht mich & zu niemand habe ich Vertrauen. | Ich hab es gedacht, dass dich das VereinslebenWedekind, der am 14.3.1882 in die Schülerverbindung Industria Aarau aufgenommen und am 8.6.1882 zu ihrem Präsidenten gewählt worden war, hatte Ende Oktober seinen Rücktritt eingereicht [vgl. Wedekind an die Industria, 30.10.1882]. der IndustrieSchreibversen, statt: Industria. bald anekeln würde. Du beherrschtest alles, hattest niemand der dir opponirte(lat.) eine gegensätzliche Meinung vertreten; in der Schülerverbindung Industria Aarau schrieben die Mitglieder Erörterungen, deren Argumentationen von einem anderen Mitglied in einer der folgenden Vereinssitzungen kritisch hinterfragt wurden. & imponirte(lat.) jemanden mit etwas beeindrucken., du fandest keinen Reiz mehr & der Ekel ist der unausbleibliche Gefährte einer Errungenschaft, die aus der Ferne betrachtet Reiz besitzt wenn man sie aber selbst beherrscht nichts mehr bietet. Das Gymnasiallebenvereinsleben taugt auch für dich nichts mehr denn du stehst über demselben du siehst die Hohlheit & das Theater desselbenvermutlich Anspielung auf die formalisierten Abläufe bei den Trinkgelagen in den Schüler- und Studentenverbindungen. ein besonders da noch ein anderes Ziel winkt & du belächelst es. Es war eine gute Schule Franklin mit grösserem Genusse wirst du die Universität im Kreise verwandter Seelen geniessen/verbringen/unsichere Lesart.

Dein dich sehnlichst erwartender Freund O.


Gruss. Komm!

Frank Wedekind schrieb am 11. November 1882 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Schloss Lenzburg, 11 XI.82.


Lieber Freund,

Dein lieber Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 8.11.1882. war wiederum eine rechte Herzensstärkung für mich. Daß ich deren bedarf und sehr gut brauchen kann, mußt du wol eingesehen haben, sonst hättest du mir wol nicht all’ deine Leiden hergezählt. „Getheilter Schmerz ist halber Schmerzzweiter Teil der Redewendung: Geteilte Freude ist doppelte Freude, geteilter Schmerz ist halber Schmerz [in Anlehnung an Cicero, Laelius 6, 22].“ und der größte Trost | liegt wol darin, daß man nicht allein im Dreck sitzt, sondern seinen NachbarSchreibversehen, statt: Nachbarn. fragen kann „w/W/ie gehts immer“? – Aequam memento rebus in arduis servare mentem!Denke daran, in schwierigen Dingen Gleichmut zu bewahren! [Horaz, Oden II, 3 (Carmina), 1]. singt der göttliche Horat/z/, und es will mir scheinen, als hätte er durch diesen einen Satz all’ seiner Sünden an CloeHoraz besingt Chloe in dem Gedicht „Vitas inuelo me similis, Chloe,“ [Horaz, Oden I, 23]., Nebulone(lat.) Verschwender, Windbeutel – Horaz entwickelt den Typus in den ersten beiden Satiren als Gegensatz zum Geizigen mit der Empfehlung, den Mittelweg zwischen beiden Extremen zu suchen [vgl. Horaz, Sermones I,1,101-107 (104); I,2,7-22 (12)]., GalateaEs dürfte die Galatea in der Galatea- oder Europaode „Impios parrae recinentis“ gemeint sein [Horaz, Oden III (Carmina), 27]., Lalagevon Horaz besungene Frau [vgl. u. a. Horaz, Oden I, 22 u. Horaz, Oden II, 5]. und wie jene Kinder des Erosgriech. Mythologie: Gott der erotischen Liebe. alle heißen, abgebüßt. Aa/e/quam memet/n/to!(lat.) Denke daran! (siehe oben) Oskar, und laß deinen Kopf nicht hängen! Ein Blick in die Zukunft und einer nach Lenzburg soll dir ebenso tröse/t/lich sein, | wie mir die Hoffnung auf Freiheit und der Gedanke an meinen besten Freund; Denn also lautet unser Contract.

Ich gratulire! – Wozu? – Zu Deinem Vorsatz, Memoiren zu schreibenOskar Schibler hatte die Idee aufgebracht, über seine Affäre mit einer verheirateten Frau (E. v. B.) in Aarau eine Bekenntnisschrift zu verfassen [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 8.11.1882].. Bravo, Oskar, das ist ein Geistesblitz.

Laß’ Deine MaturitäIm Sommer 1883 erlangte Oskar Schibler , der die Abschlussklasse des Gymnasiums der Kantonsschule Solothurn besuchte, seine Matura.t Maturität sein! Sie läuft ja nicht weg und kommt immer noch früh genug. Schreib m/M/emoiren, was das Zeug hält! Stoff hast Du ja die Hülle und Fülle. Du meinst, ich wisse noch nicht, wie/a/rum Du h Aarau verlassen habest? –

Es ist wol möglich, daß ich die einzelnen Details nicht | so genau kenne, aber immerhin weiß ich ebensoviel davon, wie jedes Kind weiß in Aarau weiß. E.v.B.Über die Identität der verheirateten Frau, mit der Oskar Schibler in Aarau eine Affäre hatte, ist nichts ermittelt.Zürich, Einsiedeln – Der Herr Gemahl – Rückzug – DonnerwesserSchreibversehen, statt: Donnerwetter. – Pistolenduell – Schwiegervater – Das sind ja wol so die gröbsten Umrisse, und ich glaubte wahrhaftig nicht, daß ich die Herzensgeheimnisse meitnes Oskars im HolzachgartenDie um 1860 von dem Bierbrauer Dietrich Holzach gegründete Brauerei und Gastwirtschaft in der Bahnhofstraße (563-566) war eines der Aarauer Stammlokale der Kantonsschüler, das regelmäßig zu Verbindungs- und Klassenkneipen aufgesucht wurde. öffentlich verzapfen hören müßte.

Aber so geht es. Das geheimste Geheimniß wird gewöhnlich die zum öffentlichsten Gemeingut, sei es auch nur darum, weil es Geheimniß bleiben sollte und, – weil es ein Weib theilte. – |

Zieh also getrost Deinen Pegasusgriech. Mythologie: das geflügelte Pferd; hier: das Dichterross. aus dem Stall, gieb ihm statt Hafer attisches SalzRedensart für: scharfsinnig reden. zu fressen, und Du wirst bemerken, daß er ganz interessante Sprünge macht. Hör’ einmal, Oskar: Wie wär es, wenn wir beiden einigen Stoff in Ed edelen Poesien, philosophischen Aufsätzen, Räthseln e. ct. sammelten /(/Ich könnte vielleicht auch eine kleine Nouvelle oder Reisegeschichte zusammenschmieren) und auf nächsten Winter mit einem vorgesetzten Kalendarium in Form der früheren Almanache Die ersten Anthologien dieser Art in Deutschland waren der „Musenalmanach für das Jahr 1770(-1804)“ (Göttingen), veröffentlicht von Heinrich Christian Boie, sowie der „Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1770(-1781)“ (Leipzig), den Christian Heinrich Schmid (in Teilen als Plagiat des ersteren) verantwortete. Es folgten bald Musenalmanache in zahlreichen Städten des deutschen Sprachraums, als bedeutendster gilt der „Musen-Almanach für das Jahr 1796(-1800)“ (Neustrelitz), herausgegeben von Friedrich Schiller. Zu den Mitarbeitern zählten Goethe, Herder, Hölderlin, Mereau, Schlegel, Tieck, Reichardt.zu Schillers u. Göthes Zeit herausgäben? – |

Deine Memoiren aus Aarau würden ausgezeichnet in ein solches Werkchen passen. Du änderst Namen und Ort und kümmerst dich einen Teufel drum, ob man in Aarau den wirklichen Thatbestand merkSchreibversehen, statt: merkt., oder nicht. Wen’s juckt, der soll sich kratzen.Sprichwort. Die Sache ist doch s ei jetzt einmal öffentlich. Wenn wir unseren Freundschaftsbund z. B. mit dem interessanten, imposanten Titel „Der Osirisbundin Anlehnung an den Totengott Osiris, den Bruder und Gatten der Göttin Isis, (ägyptische Mythologie) und sinnverwandt zum Göttinger Hainbund, dem Freundschaftsbund der Mitarbeiter des Göttinger Musenalmanachs (siehe Anmerkung „Almanache“) in Anlehnung an den Hain als heiligen Wald und Symbol der Dichtkunst. – An den Osiriskult erinnert auch Mozarts Freimaureroper „Die Zauberflöte“.“ belegten, so dürfte der Almanach auf 1884Zu Wedekinds Vorarbeiten des nicht erschienenen Kalenders in seinem Heft "Memorabilia" vgl. KSA 1/I, S. 776. wohl den Titel führen: „Der Osiristempel, herausgegeben von den Osirispriestern, ein Almanach für die gebildete Welt. | Weniger interessant durch das classische dieses Titels, als vielt/m/ehr durch die Ähnlichkeit, die derselbe mit den Producten des vorigen, goldenen Jahrhunderts unserer Poesie, hat, würde er meiner a/A/nsicht nach die Blicke der Menge bald auf sich ziehen, besonders, wenn wir das Werk in einem respectabeln Verlag, à la Sauerländer in Aarau, suchten erscheinen zu lassen. Würde dieser Versuch ein Jahr gelingen, so könnten wir ihn fortsetzen, und so vielleicht für unser ganzes Leben ein interessantes, edeles Band zwischen uns, den Osirisbrüderndurch den Osirisbund in lebenslanger Freund- oder Bruderschaft verbunden., entstehen sehen.

Denke all’ diese Gedanken noch einmal durch, und schreibe mir die Deinigen darüber. | Schrick’ nur nicht zurück vor der Größe eines solchen Unternehmens! Die Ausführung wäre göttlich. Und hätten wir einmal den Stoff beisammen, so wollte ich die Correctur u. andere mit der Herausgabe zusammenhängende Unannehmlichkeiten, die an/m/ Ot Ort der BuchhandlungAarau, der Sitz der oben erwähnte Verlagsbuchhandlung H. R. Sauerländer. geschehen müssen, schon besorgen, da du dann wol wieder in der Ferne weilen würdest. Du beklagst Dich in Deinem Brief darüber, daß Du keine geistige AnregungAuf den Mangel weist Oskar Schibler in den Anfangszeilen seines Briefes hin [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 8.11.1882]. habest. Nimm diese Gedanken als eine solche. Wenn das Unternehmen einmal geglückt ist, so könnten wir vielleicht auch Carl Schmidt als den Dritten im Bunde in unseren Tempel ziehen. Er würde müßte den folgenden Jahrgang | nathürlich mit einigen naturhistorischen AufsätzenCarl Schmidt, der ehemalige Schulfreund Wedekinds und Oskar Schiblers studierte seit dem Wintersemester 1882/83 in Straßburg Geologie [vgl. Wedekinds Korrespondenz mit Carl Schmidt]. bereichern, in welchem Fach Du sowohl, wie ich wol nichts h/H/ervorragendes leisten würden – eine glänzende Perspective! Sieh, ich bin jetzt wieder frei, und de in den ersten Tagen, als ich aus der Industria entlassen warNachdem Wedekind seinen Abschied von der Schülerverbindung Industria Aarau beantragte [vgl. Wedekind an Industria Aarau, 30.10.1882], beschlossen die verbliebenen drei Aktiven in der 443. Sitzung am 4.11.1882, Wedekind „in Ehren“ zu entlassen [vgl. AIA, Protokollbuch Nr. 7, 1779-1883]., hä/a/tte ich das Gefühl, als sei mir ein das Bewußtsein eines Verbrechens vom Herzen gefallen. – So drückte mich das niederträchtige Vereinsleben. Jes Jetzt bin ich frei und kann mich ungehindert auf meine Lieblingsbeschäftigung werfen. Glaube mir, in solchem Schaffen würden wir beide Befriedigung finden und nicht mehr nach äußerlicher Freiheit lechzen, die ja am Ende doch | nie völlig erreicht werden kann. Eine gemeinsame Schöpfung würde uns, so fern weit wir auch ausvoneinander le entfernt lebten, in fortwährendem Verkehr halten und wie Mann und WeibBruderschaften, wie sie Wedekind wohl im Osirisbund vorschwebten, werden auch als Lebensbund (einer Ehe gleich) bezeichnet. an ein ander knüpfen. Da – Da kommt mir eben der Gedanke: Wie wär es, wenn wir gerade diesen Brief, natürlich, dazu bearbeitet, als Einleitung vor das Werk setzten, da er doch das Unternehmen begründet hat. Im ersten Jahrgang wer müßte natürlich alles und jedes anonym get stehen. Wir würden ägyptische Namen annehmen, um allen Vorurtheilen, die unserer „Schülerhaftigkeit“ hervorrufen würde, vorzubeugen. Nach günstigem Erfolg könnten | wir uns entschleiern. Trotzdem aber würde ein Brief wie dieser ganz dazu geeignet sein, den Leser zu interessi für das Folgende zu interessiren, da er so nicht nur das g neugeborene Kind, sondern sogar die dazu nöthige Befruchtung sehen würde. – Halt! –

Lieber Oskar, ich weiß nicht, ob ich mich noch auf dem Boden der Vernunft, oder schon im Reiche der Träume befinde. Ich will warten wie dieser Brief morgen früh aussieht. Du sagtest mir einmal, man habe AbensSchreibversehen, statt: Abends. und Morgens so verschiedene Augen. Hoffentlich ist es wird es mir ebenso wahr und warm bei einer wiederholten Überlegung vorkommen, denn dann wäre ich sicher, daß er auch bei Dir gute Aufnahme fände.|

So leb’ denn jetzt wol und schreibe mir j recht, recht bald. Meine bange Erwartung kannst Du Dir vorstellen.

Schreibe auch ein wenig weitläufig, damit ich weiß woran ich bin. Ade!

In alter Treue
Dein Freund
Franklin


P. S.(lat.) nach dem Geschriebenen; Ergänzung.


Bewahr’ diesen Brief jedenfalls auf!/,/ und halte diese meine Bitte nicht für Selbstüberhebung!

Oskar Schibler schrieb am 25. November 1882 in Solothurn folgenden Brief
an Frank Wedekind

Solothurn 25. Nov. 1882.


Mein lieber Franklin!

Dein Briefvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 25.11.1882. hat mich sehr interessirt & gefreut. Der Gedanke ist nicht übel & wenn er richtig realisirt werden könnte jedenfalls von weittragenden Folgen. Immerhin muss man nichts überstürzen & alles vorher überlegen wie & was man schreiben will. Offen gestanden könnten die bis jetzt gelieferten ProducteWelche Arbeiten Wedekind für den geplanten Almanach „Osiristempel“ dem Freund zuschickte, ist nicht bekannt. in der geringsten Zahl verwendet werden. Wir müssten uns in ein ganz neues Gebiet werfen, welches wir bis jetzt noch gar nie versucht haben. Hast du oder ich schon etwas producirt was das allgemeine Publicum interessiren würde & wenn ja ist die Form anziehend genug, dass man es der Kritik darbieten dürfte. Jedenfalls muss der Stoff nicht ein alltäglicher sein sonst verschwinden wir sofort wir müssen gleich anfangs durch die Neuheit blenden & gefangen nehmen & wenn einmal dieser Schritt geglückt ist so haben wir den rechten Weg gefunden, auf dem wir ans Ziel gelangen. Ich glaube diese Neuheit wäre gerade im | täglichen Leben zu suchen. Die Leute laufen herum ohne an ihre Umgebung, Verhältnisse private wie sociale zu denken & wenn wir einige interessante di/en/ Leuten die Augen öffnende & für sie überraschende Streiflichter auf das heutige Leben sich beziehende werfen würden so glaube ich wir würde vilSchreibversehen, statt: viel. mehr furore machen als durch irgend eine Novelle Reisegeschichte Gedichte etc. Ich glaube für meinen Theil, dass sich unsere Schrift mehr kritisch-philosophisch verhalten soll als unterhaltend. Allerdings ist eine anziehende Form nicht ausgeschlossen wie auch nicht irgend einmal ein eingeschobenes interessantes unterhaltendes Stück. Der Leser ist heutzutage so von Gedichten & Geschichten überschwemt, dass ihn anekelt, man liest Anfang & Ende & punctum. Indem ich resümire ist dies kurz meine Ansicht: Das Blatt soll 1) heutige Zustände behandeln: Religion Staat sociale Fragen Geschichte Schule Litteratur natürlich nicht schulmeisterlich vom Katheder herab sondern von unserm Gesichtspuncte aus, also Aufsätze & 2) Novellen kl. Dramen & Gedichte. |

Etwas ist erwünscht möglichst strenge Kritik & meine Ansicht ist, dass gegenseitige Kritik die sicherste & beste ist.

Erinnere dich daran wie uns ScherrerGemeint ist der deutsche Kulturhistoriker und Schriftsteller Johannes Scherr, in dessen Werk „Menschliche Tragikomödie“ (1872) die Freunde gemeinsam gelesen hatten [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 10.11.1881]; hier vermutlich eine Verwechselung mit dem österreichischen Germanisten und Goethe-Philologen Wilhelm Scherer. begeisterte. Warum durch die Neuheit seiner Ideen & seiner Sprache. Lässt sich das nicht nachmachen. Wir sind jung & junge Köpfe sind noch keine Schablonen welche urtheilen wie die Alten, Wir sind noch Schüler Stoff genug bietet uns das tägliche Leben in Schule & Haus. Und unsselbst wird dies viel nützen wir lernen nachdenken, schliessen & kritisiren & folgern. Dies ist ein eminenter Gewinn.

Indem ich auf deinen Brief zurückkomme so muss ich gestehen, dass über die E v. B. g/G/eschichteOskar Schiblers Affäre mit einer verheirateten Frau im Sommer/Herbst 1882. sich schwierig Memoiren schreiben lassen. Es gäbe eine Sittenschilderung à la Zolaeine dem Werk Émile Zolas nachempfundene naturalistische Schilderung. & dies passt sich nicht für ein Blatt, das sich im kl. Kreise bewegen soll. Ich frage dich nun als Freund: Was soll ich thun. Sie verfolgt mich noch immer & wenn ich in Aarau bin so muss ich sie sehen. Sie schreibt mir kündigt mir ein Rendez-vous an schickt mir Geschenke. Was soll ich thun? Ich kann mich fast nicht losreissen & doch muss ich’s. Gib mir Rath aber aufrichtig. Du durchsiehst | unparteiisch die Sache. Offen erfülle die Freundespflicht. Meinem VaterJoseph Keller, dem Stiefvater Oskar Schiblers. musste ich schon das Ehrenwort geben, abzubrechen & wie ein Dämon heftet siehSchreibversehen, statt: sie. sich an mich. Es ist ein ungesundes Verhältniss, aber durch die Neuheit für mich reizend.

Ich bin zu Ende. Du hast viel zu antworten sprich deine Ansicht offen aus über beide Punkte & nimm mir nicht übel, dass ich deinen Plan in der Weise modificirt habe. Nur auf sicherem Boden & wenn wir wissen was wir eigentlich wollen kommen wir ans Ziel. Natürlich muss jedes einzelne Projekt vorher besprochen werden, damit der andere immer weis was geht & wie die Sache verwirklicht wird. Für uns selbst ist es gewiss anziehender den Verstand & die Vernunft anzuwenden als die Phantasie, & welche Genugthuung etwas gefunden zu haben, was bis jetzt noch keiner gedacht hat. Allerdings wird man dies nicht aus dem Ärmel schütteln können, es wird sich uns nicht darbieten wie die leichten GedankenassoiationenSchreibversehen, statt: Gedankenassociationen. beim & Reproductionen beim phantasiren wir werden studiren müssen & wenn etwas klar vor uns liegt muss erst noch ein Gewand gefunden werden, dass es von aussen wie von innen werth besitzt.

Leb wohl. Viele Grüsse an deine Eltern und Armin etc. Dein alter treuer Freund Oskar.

Frank Wedekind schrieb am 28. November 1882 in Aarau folgenden Brief
an Oskar Schibler

28.XI.82.

Herzensgeliebter Oskar,

Spät kommst Du, doch du kommst!freies Klassikerzitat aus Friedrich Schillers „Wallenstein. Die Piccolomini“ (1800, I/1): „Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt! Der weite Weg entschuldigt [...] Euer Säumen“ [Schillers sämmtliche Schriften, Bd. 12, S. 63].“ Meinen besten Dank für Deinen freundlichen Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 25.11.1882 – Oskar Schibler hatte sich fast 2 Wochen Zeit für seine Beantwortung von Wedekinds Brief gelassen [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882].. Es war mir eine unerwartete Überraschung, zu sehen, wie eifrig du auf meinen scheinbar so hoch in den Wolken liegenden Plandie Idee, gemeinsam einen Almanach „Der Osiristempel“ herauszugeben. an eingehst. Zur Sache also! – S Trotz deinen/r/ warmen Theilnahme, will es mich dennoch aus d/D/einen werthen Zeilen bedünken, Du zweifelst noch an der Möglichkeit einer Realisirung meiner/s/ Gedankens. Es sei deshalb meine erste, hoffent|lich leichteste Aufgabe, dich von jedem weiteren Zweifel zu befreien.

„Wo ein Wille sind ist, sind auch Wege“ ist ein Sprichwort, welches zwar nicht an in allen Fällen, hier aber ganz ohne Frage seine volle Geltung hat. Denn an der zweitem/n/ Hauptbedingung außer dem Willen, an der nöthigen GrüzeGeist, Verstand [vgl. DWB, Bd. 9, Sp. 1020]. fehlt es weder dir noch mir, u. wirst/d/ es uns dann gar nicht mehr fehlen, wer/n/n wir einmal begonnen haben, unserer Grüze zu verwerthen und mit mehr Übung, wie auch mit mehr Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen auftreten können. Ich bitte dich, daran zu denken, wie kolossal viel dem man dem Publi|cum bieten darf, wie es gleich einer „rechten Sauim Sinne von: unachtsames, ungebildetes Subjekt.“ mit allem vorlieb nimmt und (um in meinem Bildedas oben mit der „Sau“ eröffnete, dann mit den „Perlen“ fortgeführte Bild ‚Perlen vor die Säue werfen’ nach Matthäus 7,6 [vgl. Büchmann 1879, S. 27]. zu Bl bleiben) für wirkliche Perlen gar kein Auge, kein Ohr, keine Nase hat. Sehr richtig bemerkst Du, daß es absolut für unsere Erstlingswerke nothwendig wäre, originell und neu aufzutreten. Es fragt sich nur, in welcher Weise wir diese Originalität suchen sollen. Du meinst wir sollen z. B. suchen, ScherrJohannes Scherr, dessen dreibändige „Deutsche Kultur- und Sittengeschichte“ (Leipzig 1852) 1882 gerade ihre 8. Auflage erlebte. in seiner Sprache nachzuahmen. Es fragt sich, ob man uns bei diesem Experiment nicht sehr bald auf die Eisen kommenDen Ausdruck notierte Wedekind im Notizbuch 18 zu seinem Einakter „In allen Wassern gewaschen“ [vgl. 7/II, S. 754 (Notizen zu III,7)]. würde. Meiner Ansicht nach sind wir noch zu unreif, um in der Form originell zu sein; | besonders da so viele andere darin originell sind, daß ein solches originell sein bald gar nicht mehr originell ist. Ich habe einen anderen Gedanken: Meines Wissens hat seit H. Zschokke kein Mensch mehr Aarau u. Umgebung zum Schauplatz v. NouvellenDie 12 Bände umfassende Novellensammlung des Philanthropen und Wahlschweizers Heinrich Zschokke, der sich 1807 in Aarau niedergelassen hatte, erschien in hohen Auflagen, darunter zum Beispiel die historische Erzählung „Der Freihof von Aarau“ (1822/24). e. ct. gemacht, obschon J/j/ährlich verschiedene JugendschriftenSchriften für die Jugend; im Verlag H. R. Sauerländer (Aarau) erschienen seit 1870 die „Mittheilungen über Jugendschriften an Eltern. Lehrer und Bibliotheksvorstände“ (von der Jugendschriftenkommission des Schweizerischen Lehrervereins herausgegeben). e. ct. von bei Sauerländer erscheinen. Ich glaube wenn wir für irgend einen Stoff (Ich habe mir schon einige derer zurechtgelegt) Aarau u. eine der umliegenden Ruinen zum Schauplatz einer NouvelleIn Notizen zu Wedekinds Erzählfragment „Der Schlossgeist“ [vgl. KSA 5/I, S. 287f.], entstanden zwischen Ende November 1882 und Januar 1883 [vgl. KSA 5/I, S. 462], ist zum Schauplatz, wohl Schloss Lenzburg, festgehalten: „Schlossgeist. Ort in Lenzburg. Zeit der Kreuzzüge. Ein Schloßcaplan [...] sagt, er habe in der Schloßchronik den Untergang des Hauses gelesen.“ [KSA 5/I, S. 288] Zum Auftakt von Wedekinds Erzählung „Der Brand von Egliswyl“ (1897), angesiedelt im „Kanton Aargau“, heißt es über den Handlungsort: „Jeder Berggipfel, jeder Vorsprung des Gebirges ist von einem alten Schloß oder doch wenigstens von einer Ruine gekrönt. [...] Im Umkreis von wenigen Meilen liegen da bei einander Wildegg, Habsburg, Bruneck, Casteln, Wildenstein, Lenzburg, Liebegg und Hallwyl.“ [KSA 5/I, S. 172] des Mittelalters machten, wir schon dadurch die Augen der Menge auf uns zögen. |

Ich glaube kaum, daß, wenn über’s Jahr der Almanach (floreat(lat.) er möge gedeihen.!!) eh erschiene/t/Schreibversehen, statt: erscheint., er weiter greifen würde, als über die aargauischen Gebiete und da möchte sich ein j/J/eder recht angeheimelt fühlen, besonders wenn wir recht genau auf DetailsörtlichkeitenUmstellung im Satz durch Umstellungszeichen, von: auf Detailsörtlichkeiten genau. eingehen würden. Die Kulturquellen zu solch einem Werkchen fänden wir in den beiden QuellenFranz Xaver Bronners zweibändiges Hand- und Hausbuch „Der Kanton Aargau, historisch, geographisch, statistisch geschildert. Beschreibung aller in demselben befindlichen Berge, Seen, Flüsse, Heilquellen, Städte, Flecken, Dörfer und Weiler, so wie der Schlösser, Burgen und Klöster nebst Anweisung, denselben auf die genußreichste und nützlichste Weise zu bereisen“ (1844) und das von Heinrich Boos herausgegebene „Urkundenbuch der Stadt Aarau mit einer historischen Einleitung, Register und Glossar, sowie einer historischen Karte“ (1880).: Bronner, der Aargau u. Boos, Stadt Aarau. Wenn dir damit gedient ist, so sende ich dir einmal den Gedankengang einer solchen Nouvelle zu, und Du magst selber urtheilen, ob sie auszuführen wäre. | Du fragst mich in Deinem lieben Briefe, ob einer von uns schon irgend etwas veröff P Druckfähiges geschrieben habe. Leider kann ich mich bis jetzt noch mit wenigem derart brüsten. Gegenwärtig arbeite ich an Erinnerungen an’s E eidg. Turnfest in italienischen Stanzen.ital. Strophenform mit dem Reimschema ababab/cc, die Goethe im „Faust“ in der „Zueignung“ (V1-32) wählte. – Wedekinds in Versen konzipierter Erinnerungstext ist lediglich als Erzählfragment „Vom Eidgenössischen Turnfest 82. Erinnerungen eines Festbummlers“ [KSA 5/I, S. 284-286] überliefert, nicht aber „Ansätze oder Ausführungen zu einem Versepos“ [KSA 5/I, S. 799]. Ich habe vor, die poetische Erzählung, wenn sie fertig ist, ins Tagblatt zu setze senden u. bin auf den Effect sehr gespannt. + Aber, Oskar, haben wir uns bis jetzt auch M schon jemalsUmstellung im Satz durch Umstellungszeichen, von: jemals M schon. Mühe gegeben, etwas Al allgemein l/L/esenswerthes zu verfassen? Ich glaube kaum, daß es so et entsetzlich schwer wäre. Sieh doch einmal die PoesienZuletzt waren die Gedichte „Zwei Spätherbstrosen an meinem Bett“ von Ernst Scherenberg, der seit 1874 regelmäßig in der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ publizierte [vgl. Jg. 1882, Heft 45, S. 750], sowie „Das letzte Lächeln“ von Anton Ohorn [vgl. Jg. 1882, Heft 47, S. 782] und „Herbstschauer“ von Hermann Lingg [vgl. Jg. 1882, Heft 48, S. 798] erschienen. an, mit welchen | sich die „Gartenlaube“ brüstet die doch in 3000000 ExemplarenDas illustrierte Familienblatt „Die Gartenlaube“, 1853 von Ernst Keil in der Tradition der belehrenden und unterhaltenden moralischen Wochenschriften gegründet, hatte 1875 eine Auflage von 382.000 Exemplaren [vgl. Andreas Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften im Kaiserreich. In: Georg Jäger: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 1.2, Berlin 2003, S. 427]. monatlich über die ganze Erde verbreitet wird. Und sollte uns einmal der Stoff ausgehen, lesen wir nicht Classiker,: Horazeiner der bedeutendsten römischen Odendichter. Catullrömischer Dichter. e. ct. um irgend ein verborgenes Vergißmeinnicht zu übersetzen u. noch eine gelehrte Abhandlung über Übersetzung u. Übersetzungskunst hinzu zu schreiben? – Überhaupt könnten wir dann auch einige unserer eigenen Produkte für ü/Ü/bersetzungen aus dem Englischen, Französischen e.ct. ausgeben. Sei überzeugt, das zieht ganz gewaltig.

Sehr richtig bemerksSchreibversehen, statt: bemerkst. Du, wir müßten die Stoffe zu unseren Arbeiten aus dem Leben nehmen. | Sagt ja schon Göthe: „Greift nur hinein in’s volle MenschenlebenFrei zitiert nach Goethes Faust: „Greift nur hinein ins volle Menschenleben! / Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt, / Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.“ [Faust. Eine Tragödie. Faust I, V 167-169].
„Ein jeder lebts, doch wenigen ists bekannt
„Und wo ihrs packt, da ist es interessant.“

Ich glaube fast, du habest diese Zeilen im Auge gehabt als Du mir jenen guten Rath gabst. Befolgen wir ihn also! Geht man Abends in die Kneipe, ins Theater, aufs Eis; geht man auch nur auf den Bahnhof, oder Markt, so sieht man Menschen und wenn man Menschen hat, so findet sich auch leicht eine Handlung dazu. Das hab’ ich erfahren. Mit etwas Kühnheit geht alles. Du kennst es, glaub ich, auch!

Was die philosophischen Arbeiten anbelangt, so bin ich ganz deiner Meinung. Nur wollen wir | uns s vor exakter Philosophie hüten. Sie gefällt dem Publicum nicht; hingegen gefällt es ihm, elegante Salbadereien„langweilige, alberne schwätzerei oft mit dem nebensinn des frömmelnden tons“ [DWB, Bd. 14, Sp. 1682]. unter dem Mantel exacter Wissenschaft zu vernehmen. Du kennst den Demokritos v. WeberKarl Julius Webers 1832 bis 1859 in Stuttgart erschienener „Dymocritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen (Von dem Verfasser der Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen)“ ist ein 11 Bände umfassendes satirisches „Kompendium der Weltweisheit.[...] des lachenden, satirischen, polit.[ischen], von anthropolog.[ischer] Neugier getriebenen u. positiv die Fülle der Erscheinungen registrierenden, diesseitsverhafteten ‚Philosophen‘“ [Ulfert Ricklefs: Weber, Karl Julius. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 12, 2011, S. 171].. Nehmen wir uns den zum Muster! Die Kraft ausdrücke und kühnen unverschämten Behauptungen hat er mit Joh. Scherr gemein. Und solches Z/z/ieht. Stets aber müssen wir auf ein gefälliges Gewand sehen. Du hast den Philosoph für d. Welt v. EngelDer Aufklärer Johann Jakob Engel gab in 5 Bänden (1775, 1777, 1787, 1800, 1801) die popularphilosophische Zeitschrift „Der Philosoph für die Welt“ heraus, für die führende Spätaufklärer wie Immanuel Kant, Moses Mendelssohn, Christian Garve oder Engel selbst Beiträge zur philosophischen Schul- und Volksbildung lieferten. gelesen. Engel füllt entwickelt in einfachen Situationen sehr tiefe Gedanken. Nehmen wir die Situationen etwas origineller und die Gedanken etwas leichter, so haben wir | einen trefflichen Ohrenschmaus für das heutige denkfaule Publikum. Auch in diesem Fach hab’ ich bereits eine sehr originelle Idee, doch die ich Dir ebenfalls auf deinen WunkSchreibversehen, statt: Wink (oder: Wunsch). zur Kritik übersenden werde. Was die heutigen Zustände u. Sot/c/ialen Verhältnisse anbelangt, so glaube ich, daß wir allerdings auch hierin etwas ins Handwerk pfuschen können müssen, daß aber über solche Punkte fortwährend so viel Gediegenes geschrieben wird, daß wir am besten thun würden, nur dies Gediegene zu benutzen um unsere Leser auch im politisch s/S/ot/c/ialen Fache kennt Wissenschaft zu befriedigen. Ebenso n/N/aturwissenschaft, in welchem Fach ich mich nur auf picuanteSchreibversehen, statt: piquant; (frz.) gewürzt, scharf (ja nicht abstoßend natürliche!) Themata beschränken möchte. |

Überhaupt sei es unser Bestreben, nicht sowohl viel, als vielmehr vielerlei zu bieten; von Gedichten aber nur soviel, als zur Dekoration des ganzen Werkes absolut nothwendig ist, und statt langer Gedichte, lieber kleine Heinische Geistes-blitze (à la Heine) aufzunehmen.

Was die Kritik anbelangt, so glaube auch ichUmstellung im Satz durch Umstellungszeichen, von: ich auch., daß gegenseitige Kritik die beste ist. Vor fremder Kritik brauchen wir uns nicht zu fürchten, denn so bald einmal in neu öffentlichen Blättern über unser Kind geschimpft wird, so soll es uns an ciceronianischen Vertheidigungenden Stil des Rhetorikers, Philosophen und Anwalts Marcus Tullius Cicero nachahmende Verteidigungsreden. (natürlich alles anonym) nicht fehlen und unser Kind wird auf diese Weise wol am | besten in die große Welt eingefüht/r/t. Übrigens könnte, wenn ein solcher Angriff nicht stattfinden sollte, auch einer von uns sich zu dem Geschäft herbeilassen, worauf der andere die Antwort verfaßen würde müsste. Wir hätten d alsdann den Vortheil, das/ß/ wir die beiden Schriftstücke zuerst mit einander vergleichen und so einrichten könnten, daß der Angriff mit einem glänzenden Siege zurückgeschlagen würde.

Also vorwärts lieber Oskar! Unverwandt blick in die Zukunft! Sie ist wahrhaft göttlich! Wir unternehmen nichts Unausführliches L/l/uftschlösserartiges. Bedenke, daß Schiller | im/n/ seinem 17. Jahre die Räuber schrieb1776 mit 16 Jahren hatte Friedrich Schiller mit der Arbeit an seinem Schauspiel „Die Räuber“, ein Lesedrama in fünf Akten, begonnen, 1781 wurde es anonym veröffentlicht und am 13.1.1782 in Mannheim uraufgeführt... Welch eine Schande, wenn wir im 19/8/ noch nicht im Stande wären, einen lumpigen Almanach zusammenzuschmirenSchreibversehen, statt: zusammenzuschmieren.! – Ist das u/U/nternehmen einmal geglückt, so soll es das zweite Mal schon besser werden! Glückt es nicht, so ist am e/E/nde auch nichts verloren.

Die Angelegenheit mit E. v B.Die Initialen einer verheirateten Frau aus Aarau, mit der Oskar Schibler im Herbst 1882 eine Affäre hatte. hat mir mehr zu denken zu gegeben, als du wol meinst. Den letzten Theil Deines l. Briefes habe ich nun schon fünf Mal durchgelesen, was allerdings auch mit Deiner miserabelnSchreibversehen, statt: miserablen. Schrift zusammen hängt. |

Ich bitte Dich, mach Dich los!

Ich kann kaum glauben, daß du dich sonderlich zu solch einem Weibe hingezogen fühlen kannst. Hier genießt sie einen sehr zweideutigen Ruf und jeder Kantonsschülerlaffeeinfältiger, aber eingebildeter junger Kantonsschüler. aus dem neuen Quartierein Stadtteil Aaraus, der in der chronologischen Häuserzählung mit der Nummer 969 (von 1150) beginnt [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau, 1881, S. 46f.]. prahlt damit daß sie jedesmal am FesterSchreibversehen, statt: Fenster. stehe wenn er vorbei gehe. Schön soll sie ja auch gerade nicht sein, die Augen abgerechnet, die Dich ebenso leicht vergiften können, wie den ArmenSchreibversehen, statt: armen. Heine die Thhnen der Donna Clarawohl Anspielung auf eine Strophe im III. Teil von Heinrich Heines Gedicht „Almansor“, wo es über Donna Clara heißt: „Thränenfluth, aus lichten Augen, / Weint die Dame, sorgsam sinnend, / Auf Almansor’s braune Locken – / Und es zuckt um seine Lippen.“ [DHA, Bd. 1 (Buch der Lieder), Die Heimkehr. 1823–1824, S. 325] – Donna Clara ist auch Hauptfigur in Heines Gedichten „Don Ramiro“ und „Donna Clara“ sowie in seiner Tragödie „Almansor“.. Ich sage vergiften. Denn glaube mir, es gl giebt nichts Schrecklicheres, Widerwärtigeres als einen jungen blasirten Greisen, der, nachdem er seine paar Unzen Gehirn bei | irgend einer losen Coquette verpufft hat, als G/g/eistlose Maschine auf der Welt umherirrt. Mach unsern Almanach (crescat!) zu deiner neuen Geliebten u. weise der alten einen Platz darin ein an, so bist du ganz à la GötheAnspielung auf die Gedichte und Gedichtzyklen, die Goethe auf seine Geliebten machte. ihrer los geworden. Du sagst, eine solche Schilderung gäbe ein Zola-artiges SittenbekenntnißMöglicherweise dachte Oskar Schibler bei der Formulierung an Émile Zolas Roman „Nana“ (1880). Den ungewöhnlichen Ausdruck „Sittenbekenntniß“ prägte Goethe im Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, Stuttgart 1821, (2. Buch, 1. Kap.): „der einfachste genusz, so wie die einfachste lehre werden bei uns durch gesang belebt und eingeprägt, ja selbst was wir überliefern von glaubens- und sittenbekenntnisz, wird auf dem wege des gesangs mitgetheilt. Göthe“ [DWB, Bd. 16, Sp. 1248].. Laß es doch geben; sobald es psychologisch richtig ist, so findet es in jeder anständigen Schrift z/Z/ulaß. Las ich doch jüngst in der Gartenlaube einen lange AbhandlungDer Artikel „Die zehnte Muse. Ein Wort über die „fahrenden Leute“ des 19. Jahrhunderts“ von Wilhelm Anthony (Pseudonym des Schauspielers, Schriftstellers und Redakteurs Wilhelm Asmus) war 1879 in der Wochenzeitschrift „Die Gartenlaube“ (Jg. 1879, Nr. 41, S. 684-686) erschienen.. über die 10. Muse, das Tingeltangel„Berliner Ausdruck für Singhallen niedrigster Art mit burlesken Gesangsvorträgen und Vorstellungen. Sie erhielten angeblich ihren Namen nach dem Gesangskomiker Tange, der im Triangelbau sein lange populär gebliebenes Triangellied zum besten gab. Nach andern wäre das Wort T. mit der Sache zuerst in Hamburg (dem Dorado der T.) aufgetaucht. Zum Betrieb eines Tingeltangels ist polizeiliche Erlaubnis nötig (Gewerbeordnung, § 33 a), vorkommendenfalls auch die Konzession als Schauspielunternehmen“ [Meyers Großes Konversationslexikon (6. Auflage), 1905-1909, Bd. 19, S. 559].!

Also, reiß Dich los! Antworte ihr nicht, so werden die Geschenke wol mit der Zeit auch aus bleiben | u. sieh zu, daß, bis Du wieder nach Aarau kommstOskar Schibler kam an Weihnachten 1882 und über den Jahreswechsel 1882/83 nach Aarau; die Liaison machte ihm noch mehrere Monate zu schaffen., übe du über die Geschichte lachen und das schöne Weib bemitleidend verachten kannst.! –––

Jetzt leb’ wol. Auch Du hast nun viel zu beantworten. Ich lege Dir eine Probeeine hektographierte Kopie von Wedekinds Gedicht „Subjectiver Idealismus“ [vgl. die Beilage], das er dem Freund in einer früheren Fassung im Vorjahr zur kritischen Beurteilung zugeschickt hatte [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 10.11.1881]. von meinem neuen Hektographenein Kopierapparat, Geschenk von Hermann Plümacher [vgl. Wedekind an Hermann Plümacher, 27.11.1882]. bei. Schreibe bald, aber überlege zuvor alles gründlich. Noch einmal: Reiß dich los!! Sei ein Mann!! – O; bitte, bitte, denke daran, was du bist, wer du bist, bevor du die Sache weiter treibst.

In alter Treue

Dein Franklin.


[Beilage:]


Subjectiver Idealismus.


Es muß der Gottheit nicht gefallen haben –
So sprach ich oft zu mir in trüben Stunden, –
die Tugend mit der Weisheit zu vereinen.
Ich suchte einen Freund, doch hab’ ich keinen,
der meinem Ideale gleicht, gefunden.


Ich suchte fort und fort wol viele Jahre,
Bis ich mich niederließ in diesem Thale.
Da sah ich Dich, kaum traut’ ich meinen Blicken.
Ich sah und fand mit freudigem Entzücken
die Wirklichkeit zu meinem Ideale. –––


Franklin Wedekind.

Oskar Schibler schrieb am 5. Dezember 1882 in Solothurn folgenden Brief
an Frank Wedekind

Dez. 5. 82 Solothurn


Lieber Franklin!

Gleichwie ein stolzes Schiff, das leichtgebaut mit kräftigem Bug, spielend Wind & Wellen durchbra/i/cht & seine fröhlichen Wimpel in der freien Luft flattern lässt, gleichsam seiner Aufgabe bewusst, neues suchen zu helfen & die alten Anschauungen durchbrechend einen eigenen Schauplatz der Thätigkeit für sich aufzufinden, dann aber herabgewürdigt den Alltagsbedürfnissen, dem ganz gemeinen zu dienen als Handelsschiff schwerfällig Wind & Wagen(schweiz.) Wogen. zum Spiel, seine vorgezeichneten Bahnen zu gehen, die Wimpel herabgesunken da kein freier Hauch sie in der Tiefe der Wagen durchzieht & alles öde & gedrückt schweigend dahin fährt – so war ich befangen & gedrückt & wie froh, während ich unter dem hemmenden Gefühle des Unrechts, ganz verändert gegen früher in düsterem mich selbstverachtendem Sinne dahinlebte. Ich als unerfahrener, junger & leichtsinniger & waghalsiger aber nicht schlechter Knabe traf in verhängnissvoller Weise mit einem Weibeine verheiratete Frau in Aarau, mit der Oskar Schibler im Spätsommer 1882 eine Affäre hatte und die in früheren Briefen „E.v.B.“ genannt wird [vgl. zuerst Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882]. zusammen das Sitte & Anstand & Pflicht verletzte. |

Ich dachte nicht weiter darüber nach & liess mich in das interessante Verhältniss ein. Ich dachte nichts schlechtes sondern in meinem abenteuerlichen Sinne & naiv genug an Liebe zu denken während es nur Leidenschaft war sagte zu ihr: wir wollen fliehen ich will dich ganz besitzen. Ich nahm sogar Karten & Bücher & studirte Reiserouten Land & Volk. Egypten hatte ich auserlesen. Sie hatte etwas anderes im Sinne, sie konnte sich nicht einmal zu der abenteuerlichen Höhe dieses wilden Planes aufschwingen nein sie suchte nichts als fleischliche Lust. Und ich zu wenig Stärke besitzend ihr zu wiederstehenSchreibversehen, statt: widerstehen. fiel & die thierische Natur siegte über die sittliche. Ich wälze jede Schuld dieses Falles von mir ab. Mein letzter Gedanke ging dahin, nachdem aber einmal der erste Schritt meinerseits unter Tritten gethan ward wurde die Leidenschaft immer stärker der Fall immer tiefer. Ich liebte sie nicht. Viel Poesie meiner Jugend habe ich so leichtsinnig verschleudert, ich sehe es erst jetzt ein. Ich habe den Menschen von seiner verwerflichsten rohesten Seite kennen gelernt & bin für diese psychologisch interessante Thatsache, die ich selbst erlebt habe keineswegs beneidenswerth. |

Dies ist das innere Getriebe der den Aarauern zum Gespräche dienendenDie Affäre war Stadtgespräch geworden, wie Wedekind dem Freund schrieb [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882]. wahrscheinlich sogenannten „Liebesgeschichte“. Sie ist überstanden noch leide ich & werde vielleicht noch Jahre öffentlich darunter leiden, aber innerlich will ich mich selbst wieder gewinnen, ich will mich selbst wieder achten lernen. Es waren unglückselige Zusammentreffen: Schlechtigkeit, Leichtsinn. Die einzigen Hilfsmittel die von Erfolg gewesen wären fehlten mir: Kraft & Vertrauen mich energisch loszumachen. Es gibt kein wahreres Wort als, das eben ist der Fluch der bösen That, dass sie fortzeugend Böses muss gebärenZitat aus Schillers „Wallenstein. Die Piccolomini“ (5. Aufzug, 1. Auftritt): „Das eben ist der Fluch der bösen That, / Daß sie, fortzeugend, immer Böses muss gebähren.“ [Schillers sämmtliche Schriften, Bd. 12, 1872, S. 188 (= V. 2452f.)].. Mit einer wahren Lust schreibe ich dies alles nieder, ich finde mich selbst wieder. Mein gerissener Gemüthszustand sammelt sich & hoffentlich gewinne ich mit der Zeit auch meinen frühern Frohsinn. Ich habe viel verschuldet gegenüber der Sitte sowohl derjenigen gegenüber, welche die Welt aufstellt als auch gegen die, welch in jedem EinzelemSchreibversehen, statt: Einzelnen. warnend ruht. Meine Eltern haben manche schmerzliche Stunde gehabt & ich werde ich verhehle mir dies keineswegs, noch viele Unannehmlichkeiten desswegen haben. Doch die Hauptsache ist, dass man | sich selbst wieder gewinnt. Die Selbstachtung ist die Grundlage jeder Handlung & nur auf dieser kann sich ein Character ausbilden. Ich wünsche keinem dass er in diesem Alter in solche Versuchungen kommt, denn wie leicht fällt man. Ich glaubte dir als meinem Freunde diese Erklärung schuldig zu sein. Lasse bei Beratschlagung einzig dein Gefühl & Vernunft walten.

Entschuldige, dass ich dich damit so lange aufgehalten aber was am nächsten liegt muss auch am schnellsten weg gewälzt sein. Vielen Dank für deinen ausführlichen Brief den wir jedoch definitiv bei unserer nicht mehr in weiter Ferne stehenden Zusammenkunft besprechen können. Schicke mir aber immerhin so bald als möglich die mir zur Disposition stehenden Entwürfe ich will sehen ob mich einer vielleicht anspornt. Wir haben keine Ferien hierAn der Kantonsschule Solothurn gab es (nach den Schuljahreszeugnissen) 2 Monate Ferien von Mitte August bis Mitte Oktober und (nach den Halbjahreszeugnissen) 2 Wochen ab Anfang April; dagegen waren an der Kantonsschule Aarau die Ferien aufs Schuljahr verteilt (1 Woche Weihnachtsferien, 2 Wochen nach den Schuljahreszeugnissen ab Mitte April, 4 Wochen Sommerferien und 3 Wochen nach den Halbjahreszeugnissen im Herbst). nur 4 Tage von Samstag vor Neujahrden 30.12.1882. – ein Tag nach NeujahrDienstag, den 2.1.1883.. Du wirst also ohne Frage einmal einen ganzen Tag nach Aarau kommen. Werde dir übrigens noch eine Karte sendenvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 17.12.1882.. Wir verkrichen(schweiz.) verkriechen. uns dann in irgend einer Bierbude und pflegen mit geistanregendem Stoff unsern Gedankenaustausch. Wenn es dir aber möglich ist mich vorher zu besuchenEin Besuch Wedekinds in Solothurn war im Herbst 1882 wiederholt Thema in der Korrespondenz der Freunde. so komm & du wirst nicht bereuen die alte WengistadtBeiname Solothurns: 1546 kamen Schultheiß Niklaus von Wengi und der Rat der katholischen Stadt Solothurn den verbündeten Städten Le Landeron und Cressier im Fürstentum Neuenburg mit 900 Mann zur Hilfe, als dort die Reformation eingeführt werden sollte [vgl. Urs Vigier: Geschichte des Kantons Solothurn. Solothurn 1878, S. 170f.]. 1533 soll der Katholik Wengi den Ausbruch eines Religionskriegs im Kanton Solothurn verhindert haben, indem er sich vor die Mündung einer schussbereiten Kanone stellend seine Religionsbrüder dazu aufrief, nicht auf die Mitbürger zu schiessen. heimgesucht zu haben, es gibt auch hierwie in Aarau. viel schönes & anregendes was man verwerthen kannfür den „Osiristempel“, den von den Freunden für das Jahr 1884 geplanten Almanach [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882].. Leb wohl lieber Franklin. Grüss alles Grüssbare Dein
treuer O.

Frank Wedekind schrieb am 12. Dezember 1882 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Herzensgeliebter Oskar,

Du bist auf dem besten Wege, deine Sünden durch +/r/euiges Insichgehen zu sühnen. Dein lieber Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 5.12.1882. kommt mir vor, wie die plötzliche Explosion einer Pulvertonne, in der das bei der das Feuer lange Zeit geglommen hat. Mit aufrichtiger Freude sah ich, wie du die ganze Lastdurch eine verheiratete Frau (E.v.B.) in Aarau, mit der Oskar Schibler im Spätsommer 1882 eine Affäre hatte. Stück für Stück in logischer Reihenfolge von Deinem gemarterten Herzen wälzest und, wie der Phönix aus seiner AscheRedewendung für den Neuanfang nach einer großen Niederlage; (Mythologie) Phönix steht unter anderem für Auferstehung, Selbsterkenntnis, Unsterblichkeit., neugeboren aus den ErrinnerungenSchreibversehen, statt: Erinnerungen. an eine trübe Zeit emporsah ersteht. Ich gratulire Dir von ganzem/n/ Herzen zu Deinem glorreichen Sieg! |

Gar so kazzenjämmerlich brauchst du nun zwar auch nicht zu kagenSchreibversehen, statt: „klagen“.. Was deinen Ruf in Aarau anbelangt, so ist bist du erstens durch den ganzen Handel bekannt geworden, ein Vortheil, den man kaum in/au/f den ersten Blick in seiner ganzen Tragweite erkennen kann. Zweiter/ns/ ist der ganze Streich doch sehr originnellSchreibversehen, statt: originell., wird deiner Jugend wegen schon als entschuldigt und Jedermann wird sieht in solchen Fällen dem männlichen Theil viel mehr nach, als dem weiblichen. Um dich bei d/D/ir selber von allen üblen Folgen zu beeienfreien, so rathe ich d/D/ir als Freund, dich jetzt mit allen k/K/räften anzustrengen, den Liebeshandel von der lächerlichen Seite zu betrachten. Auf diese Weise könnte er dir am ersten gleichgültig werden. Wenn Du behauptestIm Folgenden bezieht sich Wedekind direkt auf Inhalt und Formulierungen von Oskar Schiblers Brief vom 5.12.1882., daß alle Schuld auf ihrer Seite liege, so | muß ich Dir aufrichtig gestehen, daß, ich solches kaum glauben kann; Du befindest dich jedenfalls in einer zwar nützlichen aber immerhin nicht wahrheitsgemäßen Selbsttäuschung. Jedenfalls war der Leichtsinn auf deiner Seite (Du sagst ja, verliebt seist Du nicht gewesen) ebenso groß, wie die Schlechtigkeit auf ihrer Seite. Daß das ganze Abenteuer Deiner Gemüthsverfassung einen gehörigen Stoß versetzt hat, glaube ich recht gern. Nur begreife ich nicht recht daß du dasselbe nicht schon längst, da es ja von Deiner Seite so großartig angelegt war (Egypten) zu einem interessanten Roman verwerthes/t/ hast. O, hätte ich solche Erfahrung, wie möchte meine Feder auf dem Papier hüpfen! Natürlich mußt du jetzt deinen Vorsatz, in Zukunft da die Sirene(griech. Mythologie) weibliches Fabelwesen; lockt durch ihren bezaubernden Gesang Schiffer, die sie dann tötet– hier in Anspielung auf den Mythos von Herakles am Scheideweg als Verkörperung lasterhaft-verderblicher Verführung gemeint [vgl. auch KSA 2, S. 540f.]. | links liegen zu lassen, mit aller Energie durchführen, und dich wo möglich wieder der alten, gemüthlichen, so oft von uns verspotteten, platonischen LiebeDer griechische Philosoph Platon unterscheidet 3 Arten der Liebe: agape (die begehrungslose), philia (die freundschaftliche), eros (die begehrende, erotische). Wedekind dürfte sich hier auf eine sich in der Epoche der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert entwickelnde Rezeptionslinie beziehen, in der zwischen einer auf das Sinnlich-Körperliche reduzierten und einer geistig-seelischen (platonischen) als einzig wahrer Liebe unterschieden wurde [vgl. auch Wedekind an Oskar Schibler, 24.10.1882]. zuwenden. Wenn sie auch in Wirklichkeit gar nicht besteht, so bietet sie doch eine angenehme Unterhaltung u ist für Leib u. Seele unschädlich.

Die weitere Besprechung des „Osiristempelsden von den beiden Freunden für das Jahr 1884 geplanten Almanach [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882]. versparen wir also auf die FerienOskar Schibler hatte nur die 4 Tage von Samstag, den 30.12.1882 bis Dienstag, den 2.1.1883 frei [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 5.12.1882].. Leider ist es mir immer noch unmöglich, dich in Solothurn zu besuchenEin Besuch Wedekinds in Solothurn war im Herbst 1882 wiederholt Thema in der Korrespondenz der Freunde.. Versparen wir dies Vergnügen noch ein Wenig! – Die Mahnung, deinen Brief aufzubewährenSchreibversehen, statt: aufzubewahren. – Die Mahnung ist nicht überliefert [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 5.12.1882]. war unnöthig, da ich je noch jede Zeile, die du mir seit unserer ersten Trennung schriebst, noch besitze. Also auf Wiedersehn
Dein Freund.
Franklin.

Oskar Schibler schrieb am 17. Dezember 1882 in Solothurn folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn
Franklin Wedekind. Kantonsschule
Aarau.
Suisse. |


17. Dez cuj. anni.


unsichere Lesart; vermutlich Abkürzung für: cujus/cuius anni (lat.) des Jahres.

L. F.

Auf Wunsch meiner ElternOskar Schiblers Mutter Wilhelmine war in 2. Ehe mit dem Gerichtsschreiber Joseph Keller verheiratet. werde ich am 23. AbendsSamstagabend, Abfahrt aus Solothurn nach dem Schulunterricht. nach Hause kommen, nicht wie der früheren Verabredungin seinem letzten Brief [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 5.12.1882]. zu folge erst Samstags vor Neujahram 30.12.1882.. Sei also so gütig deine freie Zeit so zu richten, dass wir von Samstag bis Dienstag23.12 bis 26.12.1882. – An der Kantonsschule Solothurn gab es keine Weihnachtsferien. doch mindestens einige Stunden zusammen verbringen können. Da wir ja uns sehr interessirende & naheliegende Gegenstände zu besprechenDas waren insbesondere der von Wedekind vorgeschlagene Plan zu einem (nicht zustande gekommenen) Almanach mit dem Namen „Osiristempel“ und die Affäre Oskar Schiblers mit einer verheirateten Frau. haben & die Zeit e/d/er Trennung schon ziemlich langeBeim eidgenössischen Turnfest, das vom 29.7.1882 bis 2.8.1882 in Aarau veranstaltet wurde, dürften sich die Freunde – möglicherweise das letzte Mal – getroffen haben [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 24.7.1882 und Wedekind an Oskar Schibler, 25.7.1882]. dauerte so hoffe ich, dass dir dies wohl möglich ist.

Also auf Wiedersehen Samstag!
Dein treuer O.

Oskar Schibler schrieb am 24. Dezember 1882 in Aarau folgende Visitenkarte
an Frank Wedekind

OSCAR SCHIBLER


AARAU

SOLOTHURN |


Lieber Franklin!

Nimm diese kleine GabeDie Beilage liegt der Visitenkarte nicht bei. als Zeichen meiner Freundschaft & zum Andenken an Weihnachten 1882.

Oskar Schibler schrieb am 28. Dezember 1882 in Solothurn folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


<lat>Herrn
Franklin Wedekind stud
Schloss Lenzburg.
A.Schreibversehen; vermutlich Abkürzung für Aarau. Aargau. |


L. F.

Die Götter waren unserer letzten Zusammenkunft nicht günstigOskar Schibler hatte in einem früheren Schreiben einen zusätzlichen Besuch vom 23.12. bis 26.12.1882 bei seinen Eltern in Aarau angekündigt und ein Treffen mit dem Freund in dieser Zeit erbeten [vgl. Oskar Schibler an Wedekind 17.12.1882].. Doch versuchen wir sie nocheinmal. Nächsten Samstag bis Dienstagvom 30.12.1882 bis 2.1.1883.. Es that mir wirklich sehr leid, dass ich dich nicht sah trotzdem dass ich 2mal auf den Bahnhof hinausging. Einen Brief zu schreiben mangelt mir die Zeit, wir haben millionisch zu arbeitenOskar Schibler besuchte die Abschlussklasse der Kantonsschule Solothurn, wo er im Sommer 1883 später die Maturaprüfung bestand. bis Samstag. Ich habe erst nachträglich erfahren, dass du mich eigentlich in Lenzburg erwartet hast. Dich dort aber zu besuchen wäre auch nicht gut möglich gewesen weil die paar Stunden in Aarau schon mit obligatorischem Katerkörperliches Unwohlsein nach großem Alkoholkonsum. ausgefüllt waren. Sonntagden 31.12.1882. ist es nun eher möglich nach Lenzburg zu kommen wenn du keine Zeit oder Lust hast Aarau heimzusuchen. Thu mir deine Ansicht darüber kund, durch eine Karte nach Aarau.

Leb wohl. l. F.


Vivat Samstag!Es lebe der Samstag!


28 Dez

Frank Wedekind schrieb am 13. Januar 1883 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Oskar Schibler , Oskar Schibler

[Hinweis in Oskar Schiblers Postkarte an Wedekind vom 31.1.1883 aus Solothurn:]


Dein Brief enthielt wenig.

Oskar Schibler schrieb am 31. Januar 1883 in Solothurn folgenden Brief
an Frank Wedekind

Solothurn 31 Jan. 82Schreibversehen, statt: 31 Jan. 83..

Lieber, werther Franklin!

Dein Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück Wedekind an Oskar Schibler 24.1.1883. enthielt wenig. Es ist noch das einzige Band, welches uns zusammenhält, behalte dies in Ehren & heg & pfleg dasselbe. Es soll uns gegenseitig verbinden, geistig denn dies überdauert Zeit & Umstände. Allerdings kann ich begreifen, dass man nicht immer disponirt ist neues, überraschendes zu bieten, aber warte bissSchreibversehen, statt: bis. du passenden Stoff zur Hand hast & nur dann schreibe. Ich hatte offengestanden mehr erwartet von unserSchreibversehen, statt: unsrer. letzten ZusammenkunftEs dürfte sich um ein Treffen der Freunde zwischen 30.12.1882 und 2.1.1883 handeln, wo Oskar Schibler bei seinen Eltern in Aarau wohnte [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 28.12.1882]. sowohl in Hinsicht gegenseitigen, fruchtbaren Gedankenaustausches als auch im Interesse unserer Freundschaft. Es scheint mir das Gespenst der ruchlosengewissenlosen, niederträchtigen; die Verletzung dürfte im Zusammenhang mit der Affäre Oskar Schiblers zu einer nicht identifizierten verheirateten Frau („E.v.B.“) stehen, die seit Herbst 1882 Thema der Korrespondenz war. Verletzung steht noch immer im Hintergrund & schiebt eine gewisse Scheidewand zwischen uns, verscheuchen wir dasselbe durch un/da/s aufrichtige Bestreben in Zukunft sowohl in Wort als Schrift (Brief) jegliche | Andeutung an solche Dinge zu vermeiden. Die gegenseitige Achtung leidet & dann leb wohl, Freundschaft. Wir sind keine Griechen, unsere Ansichten über solche Sachen sind zu sehr von unser/der/ Erziehung verändert worden & ich finde zu Gunsten des Individus(frz.) des Individuums.. Also in Zukunft nur Objektives oder Subjektives in soweit es frei von Obscönitäten ist. Entschuldige meine Freiheit, die Liebe & Aufrichtigkeit gegen dich dictirt mir dies.

Dies/ein/e Poesiendarunter vermutlich die Gedichte „Ein Lebenslauf“ (siehe unten) und „Jubilate!“, von dem Oskar Schibler ein auf den 27.1.1883 datiertes Manuskript besaß [vgl. KSA 1/I, S. 1420]. habe ich schon einigemale mit Freude & Genuss durchlesen. Manch trefflicher Gedanke wurde angeregt & oft fand ich mein eigenes Selbst in ihnen. Ich brauche irgend eine äussere Veranlassung um etwas lyrisches hervorzubringen, es ist wie eine Feuersprih/tz/e, die mit dem Strahl die Gefühle schwächt. In der Prosa glaube ich mehr leisten zu können. Das ist mein Feld auf dem vielleicht später noch etwas gedeihen kann. –

Ich war in der letzten Zeit in einem eigenthümlich unzufriedenen, weltzerfallenen Zustande. Alles ekelte mich an & warum weil ich auch angesteckt war von de++/n/ weltschmerzlichen Ideen„eine auf den Grundgedanken der pessimistischen Philosophie basierende, von Enttäuschung, Abscheu und Lebensüberdruß geprägte Stimmungslage, die sich als ‚weltschmerzlicher Ton‘ v.a. in der Dichtung der Romantik – u.a. Byrons, Lenaus und Jean Pauls – niederschlug“ [KSA 1/II, S. 2170]. Wedekind, der im Freundeskreis für seine resignative Lebensanschauung bekannt war, identifizierte sich zwischen Winter 1880/81 und Winter 1882/83 mit den Ideen des Pessimismus und verfaßte eine Reihe von ‚Weltschmerzliedern‘ [vgl. ebd.; vgl. auch die Wedekinds Korrespondenz mit Adolf Vögtlin].. Wie | gross & erhaben & unbegreiflich ist dies Weltall & wie klein & nichtig der Mensch mit seinen Leidenschaften & dann der Tod. Was soll mein Streben & R+/i/ingen wenn dies das Endziel ist. Oft hohnlachteichSchreibversehen, statt: hohnlachte ich. & wünschte nie geboren zu sein & dennoch taucht nach & nach der Gedanke auf, fasse dich errtragsSchreibversehen, statt: ertrag’s. nimm die Welt wie sie ist, bilde dir selbst eine neue & passe sie wenn möglich der äussern an. Man kann ohne glücklich zu leben, interessant leben, vieles Hohe geniessen & so innerlich Genugthuung finden. Ich fand die Menschen verstehen mich nicht, können nicht mit mir fühlen, gut so gebrauche ich sie zur Unterhaltung zum Studium. Ich will versuchen mich ganz in diese Idee hinzuleben; man wird nicht glücklich, vergisst aber doch die andern uns alles zum Ekel machenden Gedanken. Ich bin Mensch & will die Menschheit ertragen. Das „greise KindVermutlich in Anspielung auf Wedekinds Gedicht „Ein Lebenslauf“: „Früh schwand mein Seelenfried. / Ach, ich genoß zu heiß! / Und ward des Lebens müde, – / Ein jugendlicher Greis. // So sah ich die Zeit verfließen. / Was gleitest du jetzt so geschwind? / O, könnt’ ich wieder genießen, – Ich greises Kind!“ [KSA 1/I, S. 74] Das Gedicht befindet sich als Reinschrift auch im Heft „Memorabilia“ (S. 10v), das durch einen Briefentwurf (S. 3) [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882] und einen Eintrag vom 18.5.1883 (S. 65) datiert ist. ist nur durch Gefühle alt geworden hat sich nicht hineinfinden können, hat geglaubt schon alles durchkostet zu haben. Mit Gefühlen wird man unglücklich. Wende man seine Gefühle andern Gegenständen zu so wird man wenn nicht glücklich so doch zufrieden. Glücklich ist ja nur der Thor & zufrieden der sich beschränkende Mensch. | Glücklich ist nur der fühlende Mensch der denkende nicht mehr. Mensch im vulgären, fühlen & denken im extremsten Sinne genommen.

Noch fehlt es viel bis diese auftauchenden Gedanken mein Denken leiten werden, aber die Zeit & die Menschen helfen wacker mit.

Theilen wir uns in der Weise unsere Gedanken mit: Unser Briefwechsel wird dann eine Quelle reichen & nutzbringenden & uns selber eng verbindenSchreibversehen, statt: verbindenden. Ideenaustausches sein. Nur dann fühlen wir dass wir zusammengehören & uns gegenseitig, geneinschaftlichSchreibversehen, statt: gemeinschaftlich. leiten. Eine ideale Freundschaft wird uns verbinden, in der wir den grössten Genuss finden werden.

Leb wohl Franklin, in treuer Freundschaft
Dein O.

Frank Wedekind schrieb am 9. Februar 1883 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Oskar Schibler

[Hinweis in Oskar Schiblers Postkarte an Wedekind vom 14.2.1883 aus Solothurn:]


Du hast mir aus der Seele gesprochen.

Oskar Schibler schrieb am 14. Februar 1883 in Solothurn folgenden Brief
an Frank Wedekind

Solothurn 2. 82Schreibversehen, statt: 83..


Theurer Franklin!

Du bist & bleibst doch mein lieber einziger Freund. Du hast mir aus der Seele gesprochenHinweis auf ein nicht überliefertes Korrespondenzstück: Wedekind an Oskar Schibler, 9.2.1883.. Ich habe es auch schmerzlich gefühlt, dass wir auf so frevelhafte Weise unsere Freundschaft verletztenWiederholt ist der Zustand der Freundschaft Thema in der Korrespondenz der Freunde; die hier gewählten Begrifflichkeiten („unsere Freundschaft“, „verletzten“, „gegenseitige Achtung“) benutzt Oskar Schibler allerdings nur noch in einem anderen Brief („unsere Freundschaft“, „Verletzung“, „gegenseitige Achtung“) [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 31.1.1883].. Es soll nicht mehr vorkommen, denn welche Freundschaft istWort und Hintergrund sind mit Bleistift geschwärzt, die Tinte drückt durch. kann bestehen, die nicht auf gegenseitige Achtung gegründet ist. Es war | unser unwürdig, wir waren nicht wir selbst. Von neun/e/m aus vollem offenem Herzen die Bruderhand.

Die 5 fr auf Pump wirdSchreibversehen, statt: wirst. du So/a/mstag Samstagvermutlich Samstag, der 17.2.1883. – Die Korrektur ist mit Bleistift ausgeführt. benutzen hierher zureisen. Kom

Dein
treuer Oskar.


Ich erwarte Dich.

Prof. Rothvermutlich ein Lehrer von Oskar Schibler an der Kantonsschule Solothurn..

Lass mich aus der Schule holen! |

Du wirst unbedingt Samstag Nachmittag kommen wirst bei mir natürlich pernactirenSchreibversehen, statt: pernoctiren (lat.) übernachten. & das weitere wird sich finden.

Monetenstudentensprachlich für: Geld. besize ich noch für 2 – 3 Tage.

Oskar Schibler schrieb am 28. Februar 1883 in Solothurn folgenden Brief
an Frank Wedekind

Februar 28.83. Solothurn.


Mein Franklin!

Mit Interesse habe ich Dein Glaubensbekenntnissnicht ermittelt. Wedekind dürfte das Gebet dem Freund mit einem nicht überlieferten Begleitbrief zugeschickt haben., gestützt auf Erfahrung, durchlesen. Das gleiche ging auch schon in meinem innern vor aber schon längst habe ich mir abgewöhnt Gott mir so vorzustellen wie Du es vielleicht bis kürzlich gethan hast. Dein Gebet hat mich an Faust erinnert, an die tragische Schuld desselben, dass er sich vermisst alles was der ganzen Menschheit angehört, für Jahrtausende ihr ein Räthsel sein wird, in seiner Brust fühlen, wissen & begreifen zu wollenvgl. in Goethes „Faust I“ die Charakterisierung des Titelhelden Faust zu Beginn der Tragödie; vermutlich Anspielung auf Fausts Monolog (Faust I, Nacht): „Ich, Ebenbild der Gottheit, das sich schon / Ganz nah gedünkt dem Spiegel ew’ger Wahrheit, / Sein selbst genoß in Himmelsglanz und Klarheit, / Und abgestreift den Erdensohn; Ich, mehr als Cherub, dessen freie Kraft / Schon durch die Adern der Natur zu fließen / Und, schaffend, Götterleben zu genießen / Sich ahnungsvoll vermaß, wie muß ich’s büßen! / [...] / Nicht darf ich dir zu gleichen mich vermessen! / Hab’ ich die Kraft dich anzuziehn besessen, / So hatt’ ich dich zu halten keine Kraft.“ [Goethes Werke (WA), Bd. 14, S. 62f. = V. 614-625].. Gefühl ist alles, tröste dich damit, es ist eine ebenso sichere Basis als die Du glaubst gefunden zu haben, indem Du einzelnes schwaches Individuum ihn herausfordertest. Meine Ansicht über die Gottesidee ist folgende: Alles was auf der Welt geschieht ist bedingt. Jedes Atom hat Millionen | Bedingungen ohne welche es nicht existiren könnte. Ich bin desshalb zu dem Schlusse gekommen: Schon im Atome liegt der Begriff der Unendlichkeit. Doch zurück: Alles was Du siehst & fühlst geht zurück auf andere Gegenstände auf andere Einflüsse. Undenkbar ist es, dass dieser Vorgang in alle Unendlichkeit fortschreiten müsste, das letzte Unbedingte ist aber Gott. Soll ich desshalb Gott den Lehren & Ansichten der Menschen gemäss anerkennen? gewiss nicht! In dem was wir sehen ist zu weit von Gott entfernt um uns eine Vorstellung von ihm zu machen um ihm verpflichtet zu sein Dank abzustatten. Es gibt keinen grössern Gegensatz als di/e/r Kampf ums Dasein, der keine leere, aus einem Stubengelehrtenhirn entsprungene AnsichstSchreibversehen, statt: Ansicht., sondern handgreifliche, blutige Wahrheit ist & die Religion der Liebe des Christenthums. Ich komme hiermit vielleicht auch auf ein abgedroschenes Gebiet aber es wäre immerhin ein Beweisgrund gegen theol. Anfechtungen.

Es ist 12 Uhr eben komme ich aus der Kneipe nach Hause & blicke von dem Fenster meiner Bude hinauf zu den Sternen. Es muss etwas geben was| dies regiert: Nichts ohne Ursache & der Menschengeist ist zu gering ihn zu fühlen noch zu begreifen. Und diesen Morgen nach nüchterner reiflicher Ueberlegung drängt sich mir der Gedanke auf. Nein man braucht ihn nicht, wo Materie da Kraft. Gott hat sich uns aber nie anders als Kraft geoffenbart, oder vielmehr wirdSchreibversehen, statt: wir. haben aus Kraft Gott gemacht. Gott hat keinen Platz in der Welt. Gott soll die Welt erschaffen haben aus Nichts. Wo Nichts ist kann selbst Gott nicht existiren sobald man aber annimmt Gott war da so war auch schon die Welt da ohne sein zuthun. Braucht es überhaupt eine Erschaffung kann nicht dieser unendliche, gefüllte Raum Welt genannt seit Ewigkeit existirt haben & ebenso fortexistiren. Ein Nichts kann ich mir nicht vorstellen, denn es haften immereSchreibversehen, statt: immer. räumliche Formen daran, es gibt nur ein Sein. Es interessirt nicht ob ich auf meinem Todtbette meinen Körper Gott oder der Erde anemphelenSchreibversehen, statt: anempfehlen. werde.

Der heutige Brief ist ein Stückwerk von abgerissenen Gedanken, die mir aufsteigen & denen ich dann nachspüre ob sie sich bewähren.

Du hast bei Deinem Gebete den Kirchengott mit dem Weltgeiste vermischt, doch immer noch etwas Kinderschuhe.

Prüfe selbst.

(Doch der Brief muss zu Ende verzeihe meine Rücksichtslosigkeit)Oskar Schibler schrieb: Rücksichts-)losigkeit; nach dem Trennzeichen und der Klammer am Zeilenende ist der Rest des Wortes in die nachfolgende Zeile gerückt. |

Der/Ich/ habe den Menschen immer als Klavier betrachtet in dem unbewusst die grellsten Töne dann wieder die schönsten Harmonien nur Octaven oder einzelne kleinere oder grössere Tonanfänge schlummern, je nachdem nun der Spieler unsere die äussern Einflüsse eineSchreibversehen, statt: einer. Taste anschlägt klingts wieder & reflectirt sich als abstossend oder anziehend, als viel oder wenigumfassend, als extrem oder Mittelweg.

Lass Dir folgendes Wort als TalismannSchreibversehen, statt: Talisman; Glücksbringer. – Oskar Schibler stand selbst kurz vor der Maturaprüfung, die er im Sommer 1883 erfolgreich an der Kantonsschule Solothurn absolvierte. bei der MaturitätAn der Kantonsschule Aarau standen die schriftlichen und mündlichen Jahresprüfungen und für Wedekind der Übergang in die IV. Klasse, die mit dem Maturaexamen endete, bevor; erneut war die Versetzung gefährdet. Auf dem Jahreszeugnis im April 1883 wurde schließlich festgehalten: „Provisorisch promoviert mit Protest im Französischen. Die Maturität ist zweifelhaft.“ In Mathematik (Note 4–3) fehle es ihm „an Fleiss u Energie!!“ in Chemie sei er „von der Note 1 im 1.ten Quartal aus Mangel an Fleiss [...] auf die Note 4 gesunken.“ [Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170] gesagt sein: Mit meinem Schädel fordre ich die Maturitätscomission in die Schranken!

Aus dem Rahmen einer Todesanzeige blickt uns eine ganze Bildergallerie an.

Nicht einmal einen vernünftigen logisch zusammenhängenden Brief kann ich mehr schreiben. Ich sehne mich fort von hier zu Dir um vergessen zu können um das Gleichgewicht wiederherzustellen ohne welches mich alles anekelt. Mögen uns gute Götter das blaue Himmelszelt erhalten, um spielend wie Kinder darunter in allen Höhen & Tiefen vergessend glücklich zu sein.


[Am linken Rand um 90 Grad gedreht:]


Schreib nur eine Karte ich werde Dir dann wieder antworten, wir haben hier auch viel zu thun & es thut so wohl. Viele Grüsse an Deine werthen Eltern & Geschwister.

Leb wohl Franklin
Dein O.

Frank Wedekind schrieb am 1. März 1883 in Lenzburg folgendes Briefgedicht
an Oskar Schibler

Meinem geliebten Oskar.


Verlass der Sterblichen nüchterne Spur! –
Weh dem, den Menschen gemeistert! –
Sie wissen nichts von der edlen Natur,
Die unsere Seele begeistert.
Sie kleben am staubigen Boden der Welt
Und suchen im Irdischen Klarheit.
Doch was sie dort unten gefesselt hält,
Das führet uns aufwärts zum Sternenzelt,
Das zeigt uns die ewige Wahrheit.


Verachte, was der Philisterin der Studentensprache Bezeichnung für pedantische Menschen oder Spießbürger. liebt,
Ein stilles, beschauliches Leben!
Du weisst, dass es höhere Ziele giebt
Dem klaren Geist zu erstreben.
Vor deinen Augen das Ideal,
Es soll dich schützen und lenken. –
Der Menschen Treiben ist matt und schaal.
Du aber bleib’ ein Original
In Handeln, Reden und Denken! |


Es wachsen die Erdensöhne so dicht
Allüberall, wo ich wand’re.
Jedoch betracht’ ich sie näher beim Licht,
Ist einer genau, wie der andre.
Man malte sie hin, weder gut noch schlecht,
In graulich wässrigem Tone.
Dabei – versteh’ ich die BibelDie Freundschaft zwischen Wedekind und Oskar Schibler ist seit Oktober 1882 ein relevantes Thema der Korrespondenz. recht –
War Gott im Himmel dem ganzen Geschlecht
Die allgemeine Schablone.


„Er eine Schablone!“ – Das nennst du Spott? –
Nun wol! Was ist dran gelegen? –
Sei du dir selber der höchste GottIn einer Atheismus-Diskussion mit dem Freund schreibt Wedekind schon zwei Jahre früher: „Wer ist nun aber noch das höchste Wesen in der Schöpfung? – Das bist Du“ [Wedekind an Oskar Schibler, 24.6.1881].
Und geh auf eigenen Wegen!
Die Welt ist dein auf geraume Zeit;
Entschliesse dich, sie zu nützen:
Erwähle die Sonne zu deinem Geleit
Und donn’re hinab in die Nichtigkeit
Mit hell aufleuchtenden Blitzen! |


Dann sieh, wie ob deinem gewaltigen Ton
Die armen Würmer erstaunen.
Sie fahren zusammen, als hörten sie schon
Die Klänge der jüngsten Posaunendas siebte Siegel der Apokalypse – mit den Klängen jeder einzelnen von sieben Posaunen, die von sieben Engeln geblasen werden, wird der Untergang der Welt in sieben Schritten beschrieben [vgl. Offenbarung des Johannes, 8-11].. –––
Dann lass uns ewigen FreundschaftsbundDie Freundschaft zwischen Wedekind und Oskar Schibler ist seit Oktober 1882 ein relevantes Thema der Korrespondenz.Die Freundschaft zwischen Wedekind und Oskar Schibler ist seit Oktober 1882 ein relevantes Thema der Korrespondenz.
Hoch über den Sterblichen schliessen. –––
Sie werden geboren, sie wachsen und
Dann zeugen sie Kinder und gehen zu Grund.
Wir aber wollen geniessen!


März 1883.


Dein Franklin.


Odi profanum vulgus et arceo.(lat.) Ich hasse das gewöhnliche Volk und meide es. [Horaz: Oden III,1,1].

Horaz.

Oskar Schibler schrieb am 20. März 1883 in Solothurn folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn
Franklin Wedekind Kantonsschule
Aarau |


L. F

Ich will Dir hiemit nur schnell anzeigen, dass ich morgen Mittwocham 21.3.1883; Oskar Schibler dürfte die Osterfeiertage, vom 22.3.1883 (Gründonnerstag) bis 26.3.1883 (Ostermontag), bei der Familie in Aarau verbracht haben. Ob auch der Samstag (24.3.1883) an der Kantonsschule Solothurn schulfrei war, ist nicht ermittelt. mit dem 4 Uhr ZugOskar Schibler fuhr mit der Schweizerischen Centralbahn 34,35 Kilometer von Solothurn nach Olten (Ankunft 3.24 Uhr), wo er umsteigen musste, um die restlichen 13,4 Kilometer nach Aarau (Ankunft 4.14 Uhr) zurückzulegen [(Fahrtenplan vom 15.10.1882), vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 28, Nr. 244, 14.10.1882, S. (3)]. einrücke. Ich hoffe Dich also noch einige AugenblickeDer letzte Zug von Aarau nach Lenzburg – die Strecke wurde von der schweizerischen Nordostbahn betrieben – fuhr laut Fahrplan um 18.10 am Bahnhof Aarau ab [(Fahrtenplan vom 15.10.1882), vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 28, Nr. 244, 14.10.1882, S. (3)]. zu sehen.

Also Glück auf Dein Alter.

Frank Wedekind und Hermann Huber schrieben am 11. April 1883 in Aarau folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Oskar Schibler

[Hinweis in Wedekinds Brief an Oskar Schibler vom 25.4.1883 aus Lenzburg:]


Wie ist dir eigentlich unser BierbriefMöglicherweise handelt es sich um das in Schweizerdeutsch abgefasste Briefgedicht „Epistel an den Stabhalter“ [vgl. KSA 1/I, S. 93-95]: „Wedekinds Autorschaft an dem mit ‚Güntert‘ gezeichneten Gedicht kann nicht als gesichert gelten. Gleichwohl ist denkbar, daß es sich um den ‚Bierbrief‘ handelt, den er gemeinsam mit Hermann Huber ca. Anfang April 1883 an Oskar Schibler sandte. [KSA 1/I, S. 1496]. vorgekommen, den wir dir vor 14 Tagen aus dem Holzach zusandten?

Frank Wedekind schrieb am 25. April 1883 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Schloß Lenzburg, IV. 83.

Mein Bester,

Verzeih mein langes Schweigen. Aber es brauchte geraume Zeit, bis ich von den Strapazen der VergangenheitWedekind dürfte das Lernen für die Schlußprüfungen des Schuljahres 1882/83 und die damit verbundene Anspannung gemeint haben. Bei der Zeugnisvergabe (14.4.1883) wurde er nur „provisorisch“ in die mit der Maturaprüfung endende IV. Klasse versetzt [vgl. Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170]. mich zuerst ausgeruht und mich dann aus dieser Ruhe wieder gesammelt hatte. Letzteres ist noch nicht ganz geschehen, so daß ich vor lauter Geistessterilität | sogar darüber nachdenken muß, was ich meinem Geliebten schreiben soll. Auch mein Pegasusgriech. Mythologie: das geflügelte Pferd; hier das Dichterross. liegt noch auf der Spreu und streckt alle Viere von sich. Wer weiß, ob er sich überhaupt wieder erholt. Es wäre doch eigentlich schade um das treue Thier!

Meine geistige Unterhaltung der/ie/se Ferienvom 16.4. bis 29.4.1883, das war die zweiwöchige Unterrichtspause vor dem Beginn des Schuljahrs 1883/84. über war Heine. Er hat mich ganz gekeilt mit seinen Ideen und seiner s/S/prache. Mit dem Bandeein Band aus einer Heine-Werkausgabe – es könnte sich um „Heinrich Heines sämmtliche Werke“ handeln, die von 1861 bis 1884 in Hamburg bei Hoffmann und Campe erschienen sind; Wedekind schickte ihn am Ende der Ferien zurück [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 28.4.1883]., den Du mir geliehen, bin ich bald zu Ende. Ich werd ihn auch jedenfalls fertig lesen und sollte er darüber in tausend Fetzen gehn. – | Wie? was? – Nein, fürchte nichts. Er trägt einen dauerhaften Überrock von dickem Packpapier, und sieht drunter noch immer aus, wie neugeboren. Hab’ ich ihn so ausgelesen, so sollst Du ihn sofort zurück erhalten und magst dann selbst beurtheilen, ob Du mir vielleicht auch einen zweiten Band anvertrauen darfst. – In dem von mir Gelesenen sind besonders die „Reisebilder“ ganz delicat. Die möcht’ ich dir vor allem zum Lesen anempfehlen.

Von Huber hab’ ich dir viele Grüße auszurichtenvgl. Hermann Huber an Wedekind, 19.4.1883.. Er ist glücklich in Straßburg angelangtHermann Huber, der ehemalige Klassenkamerad Wedekinds und Oskar Schiblers, war am 16.4.1883 zum Studium nach Straßburg gereist und wurde an der dortigen Kaiser-Wilhelms-Universität für Jura immatrikuliert. und stürzte sich | sofort „ins freie Menschen Leben wild hinaus.“/,/ Er durchmaß die Welt auch am Wanderstabefrei zitiert nach Schillers Gedicht „Das Lied von der Glocke“: „Er stürmt ins Leben wild hinaus, / Durchmißt die Welt am Wanderstabe.“ [Schillers sämmtliche Schriften, Teil 11, S. 307]“ wenn auch in etwas speciellerem Sinn, als es Schiller zu verstehen meinen scheint. Nun bittet er michim oben genannten Brief [vgl. Hermann Huber an Wedekind, 19.4.1883]. aber, dir ans Herz zu legen, du möchtest ihm doch ja auf der Stelle Deine Recepte senden. Seine Adresse lautet: H. H. p.a. Herrn J. Stritt, Münsterplatz 6. Straßburg. – Nicht wahr, Du lässest seinen Wanderstab nicht im Stich?! Du warst ja doch sein leuchtendes Vorbild, sein Stern, der ihm den Weg zeigte | zur jungfräulichen Mutter Maria in BettlehemVerballhornung der biblischen Stadt Bethlehem, dem Geburtsort Jesu.! BeiliegendDie Beilage ist hier nicht überliefert; es dürfte sich aber um Original oder Abschrift von Hermann Hubers brieflicher Schilderung seines Besuch bei einer jungen Prostituierten in Straßburg handeln [vgl. Hermann Huber an Wedekind, 24.4.1883]. gab er mir auch noch eine ganz brilliante encyklopedische Beschreibung seiner lieblichen Eintagsfliege, eine Beschreibung, die, in concentrischen Kreisen, gleich den Wellen des Teiches, der einen Stein in sich aufgenommen, immer wieder in ihren Mittelpunkt zurückkehrte und mir demnach ein lebhaftes Bild von „Hermanns erstem DébutSchreibversehen, statt: Début; (frz.) hier: das erste öffentliche Auftreten. gab. gewährte. –––

Diesen Brief begleiten einige Schriften Hubersnicht überliefert., dichSchreibversehen, statt: die. ich Dir übersenden soll. Nicht wahr, Du sendest | sei ihm einige Deine Rezepte als Gegengeschenk?! Schreib’ einige tröstende ermunternde Worte dazu. Er bedarf ihrer in seiner Einsamkeit. –––

Wie ist dir eigentlich unser Bierbriefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind und Hermann Huber an Oskar Schibler, 11.4.1883. – Möglicherweise handelt es sich um das in Schweizerdeutsch abgefasste Briefgedicht „Epistel an den Stabhalter“, Indizien fehlen [vgl. KSA 1/I, S. 93-95 und 1/I, S. 1496 (Kommentar)]. vorgekommen, den wir dir vor 14 Tagen aus dem Holzacheine der Stammkneipen Wedekinds in Aarau. zusandten? Wir waren beide schon in 5 Kneipen und oben drein in der katholischen Kirche gewesen, als wir ihn aufsetzten. –––

Und wie geht es denn Dir eigentlich und Deiner verliebten Seele, die eben im Begriff steht, sich aus Amorröm. Gott der Liebe.s rosigen | Ketten loszureißen und dem strengen Hymenauch: Hymenaios; in der griech. Mythologie der Gott der Hochzeit, bildlich dargestellt als schöner freundlich ernster geflügelter Jüngling. in die eisernen Klauen zu fallen? – Weißt du auch, daß die He Ehe nur für Philister paßt? – Apollogriech-röm. Gott der sittlichen Reinheit, der Mäßigung, des Lichts und Frühlings, der Künste und der Weissagung., Dianaröm. Göttin der Geburt, des Mondes und der Jagd; Beschützerin der Frauen und Mädchen., W Venusröm. Göttin der Schönheit und erotischen Liebe. BachusSchreibversehen, statt: Bacchus; röm. Gott der Fruchtbarkeit und Ekstase, des Weins und Weinbaus., Christusauch Jesus Christus, Beiname für Jesus von Nazareth, dem Stifter der christlichen Religion., die drei GracienEuphrosyne (die Frohsinnige), Thalia (die Blühende), Aglaia (die Strahlende) – den Hauptgöttern dienende röm. Göttinnen, die auch den Menschen Anmut, Schönheit und Liebreiz bringen., Alcibiadesathenischer Staatsmann, Redner und Feldherr; Schüler und Freund des Sokrates; bekannt für seine Schönheit, seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten, seine Eskapaden und Exzesse., GambettaLéon Gambetta, französischer Staatsmann der radikalen Linken, rief zusammen mit Jules Favre am 4.9.1870 in Paris die „Dritte Republik“ aus, war 1879 bis 1881 Präsident der Kammer, im Winter 1881/82 kurzzeitig Premierminister; seiner Geliebten Léonie Léon machte er nach 10 Jahren Beziehung 1882 einen Heiratsantrag, erkrankte aber vor der im Dezember 1882 geplanten Hochzeit und starb Silvester 1882 an einer Blutvergiftung infolge eines Unfalls mit einem Revolver – die Freundin geriet zeitweise in Verdacht. Wochenlang berichtete die europäische Presse über den Gesundheitszustand, Tod und Staatsbegräbnis am 6.1.1883 sowie anschließend in Nekrologen über das Lebenswerk. – sie alle waren ledig und sind in Folge dessen theilweise noch zu haben.

Wenn du also das Heirathen absolut nicht umgehen willst, so möchte ich dir rathen, der göttlichen Venus einen Antrag zu machen. Sie hat zwar schon sehr viele Liebhaber; das thut aber in diesem Falle absolut nichts, da sie, die im Olymposhöchstes Gebirge Griechenlands (2918 m), in der griech. Mythologie der Sitz der Götter. | oben zur Genüge mit dem/n/ Himmlischen beschäftigt ist, hier unten auf Erden ihre Stell sich durch Abgeordnete vertreten läßt, die an Stelle ihrer Herrin die/en/ Tribut und die Huldigungen der Menschen eincassiren. Du kennst sie ja schon, diese Abgeordneten, und ich habe dir nur den Weg gezeigt, Deine Bekanntschaft mit ihnen zu legitimiren. – Überlege dir die Sache noch und theil mir dann Deinen Entschluß mit; nur treib’ die Unterhandlungen mit der Mutter und Tochter nicht zu weit, schmiede Dich an keinen Felsen à la PrometeusSchreibversehen, statt: Prometheus – griech. Gott vom Geschlecht der Titanen (Riesen in Menschengestalt); in der griech. Mythologie Freund der Menschen, für die er von den Göttern das Feuer entwendet, weshalb er von Zeus an die Felsen des Kaukasusgebirges geschmiedet wird, wo ein Adler (bzw. nach einer Variante aus der römischen Kaiserzeit, ein Geier) regelmäßig von seiner Leber frisst. Herakles befreit ihn endlich von den Qualen woraufhin Zeus ihn begnadigt., sonst kommt der Geier d. h. die Reue, wenns zu spät ist, und dann – – – – – – – ––– – ––– ich will keine Perspectiven stellen und verbleibe dein treuer Franklin.

Frank Wedekind schrieb am 28. April 1883 in Lenzburg folgende Postkarte
an Oskar Schibler

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn stud. jur. Oskar Schibler
Ständli,
Solothurn. |


Lieber Freund, mit bestem Dank sende ich Dir hier den 1. Band Heineeinen Band aus einer Heine-Werkausgabe, der einen Teil der „Reisebilder“ enthält [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 25.4.1883]. zurück. Wenn ihm auf der Reise nur nichts passiert! Gegenwärtig ist er noch ganz gesund. (vom Inhalt abgesehen!) Nicht wahr, Du schickst mir einen anderen Band. Heine schreibt gar zu fesselnd, und zudem hab’ ich jetzt noch ziemlich viel Zeit übrigDas neue Schuljahr 1883/84 begann mit den Aufnahmeprüfungen für die neuen Schüler am 30.4. und 1.5.1883. Der reguläre Unterricht startete am Mittwoch, den 2.5.1883 [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1883/84, S. 3]. und wenig Beschäftigung. – Meinen Briefvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 25.4.1883. hast Du hoffentlich erhalten. Ich freue mich drauf, auch wieder ’mal etwas von Dir zu lesen. Vergiß die Recepte an Huber nicht! Die von dir bezeichneten Gedichtenicht ermittelt; die Auswahl dürfte auf eine mündliche Absprache zurückgehen. hab’ ich noch nicht alle abgeschrieben; ich werde sie dir zukommen lassen, sobald ich damit fertig bin. Wie geht es mit Deinen Maturitätsstudiendie Vorbereitungen für die Maturaprüfung, die Oskar Schibler im Sommer 1883 bestand.? – O, wär’ auch ich schon so weit!! – Viel Glück und Segen zu all’ deinen Bestrebungen, und so nehm ich denn Abschied mit bester Hoffnung auf Heine und einen langen Brief von dir und bleibe dein treuer Franklin.

Oskar Schibler schrieb am 8. Mai 1883 in Solothurn folgenden Brief
an Frank Wedekind

Solothurn 8. Mai 83.


Mein Franklin!

Soeben habe ich die Photographie & die letzten Briefe meiner aarauer teuflisch-reizenden LaisLais von Korinth, aus Sizilien stammende berühmte Hetäre, befreundet mit Diogenes; – hier ist eine verheiratete Frau aus Aarau gemeint, zu der Oskar Schibler seit dem Sommer 1882 eine Affäre unterhielt und von der nur ihre Initialen („E.v.B“) bekannt sind. verbrenntSchreibversehen, statt: verbrannt. – die Hitze trieb mir das Blut in den Kopf & der Rauch Wasser aus den Augen. Welch Ironie zwischen Ursache & Wirkung! Ich habe sie gehalten, sie aber nicht mich.

Ich trug mich schon lange mit dem Gedanken ein Band anzuknüpfen, das uns Gelegenheit geben würde zu interessanten, G/g/edankenerregenden, fruchtbaren & uns auch mit einem grössern Kreise verbindenden (vorläufig noch) Briefwechsel. Es ist in Kürze folgendes.

Wir befinden uns in einem/r/ Übergangsperiode. Die nächsten Jahre weredenSchreibversehen, statt: werden. Umwälzungen auf religiösem sowie auch socialem Gebiete hervorbringen & auch wir sind berufen hier mitzuwirken. Treten wir nun einmal von dem elastischen, immer zurückweichenden, | in der Luft schwebenden, ungreifbaren Boden der Schwärmer & Träumerei auf diesen reelen Boden. Bilden wir einen Kreis von verwandten Ansichten hegenden Genossen, betrachten wir die Fragen von unserm noch ungetrübten StandpunteSchreibversehen, statt: Standpunkte. aus, der allerdings ideell aber immerhin mit dem gewöhnlichen Leben in Contact sein soll. Mein Ziel ist vollständige Abschaffung der Kirche wie sie jetzt noch besteht & Verbindung der Theile, die davon im Leben nothwendig sind mit der Schule. Einen grossen Theil der Schuld an unsern modernen Übelständen wälze ich diesem Institute zu. Befreien wir unsere Nachkommen von diesen Gespenstern, die mehr schaden als nützen, lasst uns wieder froh, von den kalten Dogmen abgewendet, der Natur zuwenden, denn sie ist unsere Mutter, sie erzog uns & bildete uns aus; die starren Lehren verschlechterten & hinderten am Fortschritt. Wie hat sich Gott uns Menschen offenbart? Niemand weiss es. Seien wir Menschen unter Menschen, Kinder der Natur, frei von Aberglauben & Hass. Unsere Aufgabe ist also zu untersuchen wie diese Frage auf dem besten Wege gelöst | werden kann, dass wir die Quelle so vieler Uebel entfernen ohne dadurch dem guten Kerne zu nahe zu treten sondern im Gegentheil diesen hervorziehen & ihn verständig ,/m/enschlich verwerthen. Die Menschen haben Gott gemacht, er entspricht nicht mehr, also haben wir auch wieder das Recht ihn abzusetzen, ein Ideal aufzustellen, das uns mehr nützt als ein todtes unbestimmtes, ausgebeutetes „Etwas“. Alles auf die Seite schaffen können & wollen wir nicht, denn der Mensch muss streben & dies kann er nur indem ein höheres Gefühl ihn durchdringt & leitet. Ich habe uns speciell hiebei nicht im Auge sondern die Gesammtheit, schaffen wir etwas lebendes & daraus wird frisches Leben entstehen. Wo aber ist Leben, nirgends als in der Natur, seien wir also natürlich, aber wie bei ihr der Fortschritt das Hauptmerkmal ist, so überschreiten auch wir die Schranken ohne jedoch die durch die Bedürfnisse der Gesellschaft gezogenen Grenzen zu überschreiten.

Du siehst aus der ganzen Darstellung meiner Idee, dass sie noch völlig in der Luft schwebt, dass ich etwas ahne & nach etwas strebe, das mir selbst noch unbewusst vorschwebt; ich habe aber die Überzeugung, dass mit eiserner Consequenz an ein Ziel gelangt werden kann, das lohnen wird. Gehen wir also näher ein, scheiden den Geist & denken | vom kommenden Körper & wenn dies geschehen fragen wir uns, ist der ganze Apparat, Gott, Kirche, Glaube nothwendig, um zufrieden zu leben & kann nicht vielmehr durch klare Darlegung des Kernes, der allein durch Ueberzeugung & nicht durch Furcht & Hoffnung herrschen soll, erreicht werden.

Huber hat mir geschriebenDie Korrespondenz zwischen den ehemaligen Klassenkameraden der Aarauer Kantonsschule Hermann Huber und Oskar Schibler ist nicht überliefert., war wenig interessantes habe noch nicht geantwortet. Wenn Du ihm schreibst theile ihm mit, ich hätte vorläufig noch viel zu arbeiten, was übrigens wahr ist.

In der letzten Zeit habe ich Grabbe gelesen, denn ich muss einen Vortrag über ihn halten. Erhabene, schöne Stellen, neben Misthaufen.

Mit dem nächsten Brief folgt wieder ein BandOskar Schibler hatte Wedekind bisher aus einer Heine Werkausgabe 2 Bände geliehen, darunter Heines „Reisebilder“ [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 25.4.1883 und 28.4.1883]. von Heine, ich selbst habe nur hie & da Zeit ein wenig darin zu lesen, denn letztenSchreibversehen, statt: die letzten. 14 Tage wars wieder fidel 3 Tage nacheinander Nachmittags im Fass gekneipt, gebumeltin der Schüler- und Studentensprache Bezeichnung für einen Spaziergang mit dem Besuch mehrerer Kneipen. & das nöthigste gethanfür die Schule; Oskar Schibler legte im August 1883 an der Kantonsschule Solothurn die Maturaprüfung ab.. Jetzt hat sich die Arbeit gehäuft.

Leb wohl in alter Treue Dein O.


[In der unteren linken Ecke um 45 Grad gedreht:]


Grüss alles Grüssbare!

Oskar Schibler schrieb am 8. Juni 1883 in Solothurn folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn
Franklin Wedekind Kantonsschule
Aarau |


L. F.

Komme nächsten Montag Abend oder Dienstagden 11.6 oder 12.6.1883. früh, wenn das Wetter günstig ist nach Aarau. Sowie nach dem Besuch der AusstellungGemeint sein dürfte die Schweizerische Landesausstellung, die vom 2.5. bis 30.9.1883 in Zürich veranstaltet wurde und die über Monate hin mit Berichten und Anzeigen in der Presse präsent war [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 63, Nr. 92, 2.4.1883, Zweites Blatt, S. (4)]. am Donnerstagden 14.6.1883.. Hiemit ist reichlich Gelegenheit geboten uns zu sehen & wer die Zeit zu benutzen versteht, kann aus Minuten Ewigkeiten machen. Um einen officiellen Bruch mit Huber zu vermeiden möchte ich Dich ersuchen wenn Du schreibstNach dem 30.5.1883 ist kein Korrespondenzstück Wedekinds an Hermann Huber mehr nachzuweisen. ihm, Grüsse zu senden sowie das Versprechen eines bald folgenden Briefes. Indessen b/l/eb wohl & concentrire deinen Humor, dass er wie eine Bombe platzt wenn der Augenblick gekomenSchreibversehen, statt: gekommen..

Grüss alles GrüssableGrüssbare. Dein O. stud. jur.


8. Juni 83. Soletta(ital.) Solothurn. die geistesschwangere mater studiorumMutter des Studierens..

Oskar Schibler schrieb am 11. Juni 1883 in Aarau folgende Visitenkarte
an Frank Wedekind

Mit der Bitte mich morgen baldigst in der frühe zu besuchen wünsche ich dir eine möglichst traumumschlungene Nacht Dein treuer |


OSCAR SCHIBLER

JUR. STUD.

Oskar Schibler schrieb am 14. Juni 1883 in Aarau folgende Visitenkarte
an Frank Wedekind

M.

Ich erwarte Dich in der Bierbrauerei FischerOskar Schiblers Familie (Keller-Franke) wohnte in Aarau im Haus der Bierbrauerei Fischer (Zollrain, an der Kettenbrücke) [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 23.7.1881]. |

OSCAR SCHIBLER

JUR. STUD.

Oskar Schibler schrieb am 30. Dezember 1883 in Aarau folgende Widmung
an Frank Wedekind

Lebe für Dich und lasse die Welt–
Sorgen und nur in diesem Traume

wirst Du glücklich sein.


Dein Oscar.


VorsylvesterabendSonntag, der 30.12.1883. 83.

Oskar Schibler schrieb am 1. Januar 1884 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

Lieber Franklin!

Nimm diese Zeilen als Zeichen der Freundschaft & als Vorbedeutung fürs neue Jahr an.


–––––––––––––––––––––


Vertrauen.


Wohl ist in jeder Menschenbrust
Ein Samen tief und klein verborgen,
Der wenn Du ihn zum Lichte rufst
Dir blitzesschnell verscheucht dir Sorgen.


–––


Und wenn Du allem schon entsagst
Verzweifelnd Dich zur Erde wirfst
Und mit erhobnen Händen klagst
Und mit des Fluches Ketten klirrst,


–––


Wenn Dich die andern all verlassen
Du einsam stehest und allein,
Wenn sie Dich hassen & verachten|
Dann ziehe in mein Herz hinein.

–––


Hier wirst Du diesen Samen finden
Und ihn im schönsten Flore schaun,
Der nur in Freundesherz kann gründen –
Das unergründliche Vertrauen!


Dein alter Oscar.


initium(lat.) Anfang. 1884.

Frank Wedekind schrieb am 15. Januar 1884 in Lenzburg folgenden Brief
an Oskar Schibler

Schloß Lenzburg I 84.


Lieber Freund.

Der Prolog ist nun endlich unter heftigen Geburtsschmerzen zur Welt gebracht und ich hange und bange in schwebender Pein, wie er höheren Orts aufgenommen und wie es ihm künftighin in der Welt ergehen wirdSeinen „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonsschüler“ trug Wedekind am 1.2.1884 (Beginn 19.30) im neuen Festsaal in Aarau mit großem Beifall vor [Aargauer Nachrichten, Jg. 30, Nr. 26, 31.1.1884, S. (4)]. Über die Veranstaltung schrieb die Kantonsschule: „Das Programm, aus einem Prolog, mehreren Vocal- und Orchesternummern, Declamationen und dramatischen Darstellungen bestehend, hatte eine unerwartet große Zahl Zuhörer angezogen; die Leistungen der Schüler haben, Dank den eifrigen Bemühungen einiger unsrer Collegen die Erwartungen des Publikums durchaus befriedigt. [...] Da dieser Versuch durchaus günstig ausgefallen ist, und da nun ein sehr schönes und geräumiges Lokal zur Verfügung steht (woran es bisher mangelte), so hoffen wir den Schülern jeden Winter einen oder zwei solcher Abende bieten zu können.“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1883/84, S. 9; vgl. auch KSA 1/II, S. 1983ff.]. So hab’ ich denn endlich wieder Zeit und Ruhe, mich mit meinen Lieben zu unterhall/t/en und, wenn auch nur | im Reiche der Phantasie ihre Gesellschaft zu genießen. Ich war im Zweifel, ob ich (Entschuldige diese Thräne der Rührung!) meiner lieben TanteOlga Plümacher, Wedekinds ‚philosopische Tante‘, eine Jugendfreundin seiner Mutter., meiner FreundinAnny Barck aus Freiburg im Breisgau, Mitglied des im Herbst gegründeten Freundschaftsbund „Fidelitas“. Wedekind hatte sie im Juli 1883 während ihres Besuchs (bei Minna von Greyerz) in Lenzburg kennengelernt. Frl. Bark, meinem Bruder StudioArmin Wedekind, der ebenfalls zum Freundschaftsbund „Fidelitas“ gehörte, studierte seit dem Wintersemester 1883/84 in Göttingen. in Göttingen oder dir, Altes Haupt, den Vorzug geben sollte; aber es zieht mich etwas zu dir hin, das mir fast wie Heimweh nach durch der/ie/ Seele weht, Heimweh nach der Zeit, wo noch nicht so leicht der Mißklang zwischen uns ert schrillte, der einen so tragischen AbschiedWährend der Weihnachtsferien (bis 6.1.1884), die der Straßburger Student Oskar Schibler bei der Familie in Aarau verbrachte, muss es zwischen den Freunden zum Streit gekommen sein. hervorrief. Ich weiß nicht, was mich davor/n/ abhält, den unangenehmen Ausgang einfach in tiefes | Schweigen zu hüllen und weiter nicht zu berühren. Ich glaube, es sei die Furcht, das also nur chloroformirtemit Chloroform betäubt. Ungeheuer möchte zur unrechten Zeit wieder erwachen und von n/N/euem mit G gespenstischem Grinsen zwi in unseren Kreis treten. Al Demnach zieh’ ich es vor, mit kühnem Stoß +n/ihm/ das Leben vollend/s/ zu rauben, daß es jählings in seine Heimath, die Hölle, fährt. – Laß mich dir folgenden Vorschlag machen:

1. Unumschränkte Offenheit, Aufrichtigkeit gegen einander.

2. Wollen Laß uns alle zarte Empfindlichkeit, die | in der Welt gewiß oft sehr am Platze ist, vollständig aus unserer Gesellschaft verbannt sein.

3. Sollte einer von uns sich aber ernstlich vom anderen beleidigt fühlen, so revangire er sich nicht durch einen entgegengeschleuderte Beleidigung, sonderveraltet, statt: sondern. sage dem anderen offen und ehrlich so und so und das/s/ kann ich mir nicht gefallen lassen.

4. Sei jeder sofort mit Verzeihung und Vergessen bereit und suche dem anderen nichs nichts nachzutragen.

––––––

Von jeher fühlten wir uns wol mehr durch unsere beider|seitige harmonirende Naturveranlagung zu einander hingezogen, als durch die 100 Versprechungen in/von/ Liebe und Treue, die wir uns schon oft an den Kopf warfen. Unserm/e/ Freundschaft ist demnach durchaus nichts Zufälliges, von uns selbst auf Gu gut Glück hin Geschlossenes, sondern sie liegt in der Natur begründet und ward durch sie geweiht. Wir verstehen uns gegenseitig und haben uns ohne alle feierliche Herzenserhergüsse vollständig durchschaut. In Folge dessen erreichte u/U/nser Zusammenleben in kurzer ZeitWedekind und Oskar Schibler besuchten von Frühjahr 1879 bis Frühjahr 1881 gemeinsam die ersten beiden Klassen des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau, wo sie sich bald befreundeten [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 27.11.1779]. eine Innigkeit | wie sie bei David und JonathanNach einer biblischen Erzählung entstand zwischen Jonathan, dem Sohn des Königs Saul, und dem Hirten David eine enge Freundschaft, nachdem letzterer im Kampf den Riesen Goliath bezwingt [vgl. 1. Samuel 18, 1-5]., bei Orest und Pyladesin der griech. Mythologie die geschwistergleich aufgewachsenen Freunde Orest (Neffe des Agamemnon) und Pylades (Sohn des Agamemnon), die gemeinsam zahlreiche Prüfungen bestehen, unter anderem in den Tragödien „Orestes“ und Iphigenie bei den Taurern des Euripides (Goethe „Iphigenie auf Taurus) verewigt., b oder bei meinem Bruder und Hans RauchensteinDie enge Freundschaft zwischen Hans Rauchenstein und Armin Wedekind dürfte während der 2 Jahre (1877-1879) entstanden sein, als beide die Kantonsschule Aarau besuchten und Armin Wedekind als Pensionist in der Familie Rauchenstein in Aarau wohnte. nur durch die überspannteste Schwärmerei möglich ist. Aber grade bei unserer großen Entfernung, bei unserem wenigen ZusammenseinSeitdem Wedekind die Kantonsschule im Frühjahr 1881 für ein halbes Jahr verlassen hatte und Oskar Schibler im Herbst 1881 an die Kantonsschule Solothurn wechselte, trafen sich die Freunde nur noch selten. könnte der Mangel solcher Schwärmerei gefährlich werden. Die Gefahr liegt hauptsächlich darin, daß wir uns gegenseitig entbehren lernen würden. Hüten wir uns davor! – Kommen dann s noch solche Momente, wie das vom letzten Freitag Abendvermutlich der 4.1.1884, vielleicht der 11.1.1884. hinzu, so ist der Satan vollends los und kann nur durch bedeutende | Katastrophen wieder eingefangen werden. Also bin ich sehr damit einverstanden, wenn unsere Correspondenz wieder ein wenig auflebt und sei es auch nur in kurzen Briefen (Meine MaturitätEnde März 1884 begannen die Maturitätsprüfungen am Gymnasium der Kantonsschule Aarau statt. Die Presse berichtete: „Die diesjährige Maturitätsprüfung der Gymnasialabiturienten an der Kantonsschule wird am 26., 27. und 28. März und ferner am 3. und 4. April im Sitzungszimmer des Erziehungsrathes abgehalten.“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 30, Nr. 71, 24.3.1884, S. (1)] tritt dem langen Schreiben einigermaßen in den Weg.) die aber sich desto häufiger folgen und uns in fortwährender geistiger Fühlung erhalten.

–––

Letzten Dienstagden 8.1.1884. schwamm ich wieder in einem Meer von Seligkeit bei Anlaß einer Soirée dansante(frz.) Tanzabend. die uns die Schwestervermutlich Marie Gaudard (auch Mary Gaudard), die unverheiratete Schwester von Blanche Zweifel. meiner Frau VenusPseudonym für Blanche Zweifel, in die sich Wedekind an einem Tanzabend der Familie Hünerwadel am 25.11.1883 verliebt hatte und auf die er mehrere Gedichte verfasste, unter anderem „Blanche Zweifel“ [vgl. KSA 1/I, S. 1090ff.; vgl. auch die Korrespondenzen mit Anny Barck und Minna von Greyerz]. gab. Sie war natürlich auch anwesend und spielte die Königin des Abens/d/s. Was | nun die Benennung „Venus“ anlangt, so schreibt mirvgl. Olga Plümacher an Wedekind, 5.1.1884. Tante Plümacher, der ich mein ganzes Herz ausgeschüttet habe, ganz das n/N/ämliche, was Du mir sagtest. „Wenn du dich aber TannhäuserDie Sage erzählt vom Tannhäuser, der sich in den Venusberg begibt, wo ihn Frau Venus, die Göttin der Liebe, die wahre Sinnlichkeit lehrt, was als sündiges Verhalten gewertet zu seiner Verdammnis in der Welt führt und ihn zur Rückkehr in den Venusberg veranlasst. Zu den zahlreichen literarischen Bearbeitungen des Motivs zählt auch Heinrich Heines Gedicht „Der Tannhäuser. Eine Legende“ (1844). und das junge Frauchen Venus nennst, so scheint mir das nicht ganz passend. Denn ich glaube nicht, daß dir gerade in den Beziehungen des Tannhäusers und der Frau Venus Gefahren von einer Lenzburgerin drohen. Diese jungen Damen unserer Spießbürgerkreise sind zum Charakter der Frau Venus zu klug; es gehört denn doch eine ganz gehörige Portion rein-menschlicher, heidnisch-olympischer Unklugheit dazu, um die Rolle der Frau | Venus zu spielen u.s.w.“

Meine liebe Tante warnt mich aber sehr davor, meine Leidenschaft nicht in so „künstlich aufgehätschelter“ Weise zu verpuffen und schreibt mir überhaupt einen sehr gestrengen Brief. Meine SonneteSchreibversehen, statt: Meine Sonette; Wedekinds Gedichte „Blanche Zweifel“ [KSA 1/I, S. 181] und „An Dieselbe“ [KSA 1/I, S. 181] dürften gemeint sein [vgl. KSA 1/I, S. 1090-1094 und S. 932-934]., die ich ihr ebenfalls sandte, finden nun erst recht keine Gnade vor ihren kritischen Blicken, sie weist mir kurz u. gut nach daß es gar keine Sonnete sind. Ich muß mir Mühe geben, sie wieder zu beruhigen, die gute Tante –.

Dein Fall wäre also vielmehr die rein-menschliche, heidnische-olympische Unklugheit und würde vor den Grundsätzen meiner humanen Tante in seinem ersten großen Ernste wol | w vielleicht mehr Billigung finden als meine „Liebelei“, von der sie behauptet, daß sie dem Menschen immer schade und hinderlich sei, ob sie mit 18 oder mit 40 Jahren auftrete.

––– Indessen rückt die schreckliche Passionszeitdie Leidenszeit der Prüfungsvorbereitungen, die am Aschermittwoch (27.2.1884) begann und mit der Zeugnisübergabe am Gründonnerstag vor Ostern (10.4.1884) endete. immer näher. Sie fällt in der Jahresrechnung just mit der von Christus zusammen. Aber statt wie er auf dem ÖlbergBerg in Jerusalem. werde ich auf dem Schloßberg in mitternächtlicher Stunde suee/eu/fzen aus tiefster Seele: „Vater Vater, la kann dieser Kelch nicht an mir vorübergehn? Aber dein Wille nicht mein Wille geschehe!frei zitiert in Anlehnung an die Worte, die Jesus im Garten Gethsemane am Fuß des Ölbergs zu Gott sprach [vgl. Lukas 22,42], ehe er gefangen genommen wurde.währendemSchreibversehen, statt: währenddem. seine schlafenden Jünger durch die gerade unter meinen Füßen schlummernde Viehmagdvermutlich Anspielung auf die von Amors Pfeil getroffene Viehmagd in Wedekinds Bucolicon „Die Bärin wohnt im tiefen Wald“, eines von zwei Gedichten, die er Oskar Schibler zum 20. Geburtstag schenkte [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 16.9.1881] und später den Titel „Stallknecht und Viehmagd. Carmen bucolicon“ gab [vgl. KSA 1/I, S. 798]. representiert werden. |

Wenn es mir nur nicht so schief geht wie es jenem ersten Maturanten gegangen ist. Seine Kreuzestod könnte doch eigentlich meinem durch etwaigen ††† Durchfall gleichgesetzt werden. Aber aus der Ferne Win winkt der Tag der Auferstehung: Das Geburtsfest meiner goldenen Freiheit. Und dann das Bündel geschnürt und hinaus gewandert in die weite Welt, alle’ den V/v/erhaßten u/U/nrath von Lenzburg und Aarau, d/j/ene Mauern und Gassen, die mich oft so klein, so klein gesehen haben zurücklassen, aber im Herzen bewahrend viele schönenSchreibversehen, statt: schöne. Erinnerungen aus sonniger Jugendzeit. –––––– |

Über Dein Leben und Treiben in StraßburgOskar Schibler studierte seit dem Wintersemester 1883/84 in Straßburg Jura. wirst du mir nun das Entsprechende schreiben. s/S//D/u weißt ja wol, was mich so vorzugsweise interessirt. Du hast Zeit zum lange Briefe zu schreiben. Auch habe ich gar nichts gegen die epische Breite einzuwenden, im Gegentheil, bedarf ich sehr der Erheiterung in meinen trüben Stunden. Also richte deine Briefe darnach ein. Und nun leb’ wol, mein Lieb mein HeimatlandRefrain mehrerer Volkslieder, unter anderem des Kriegslieds „Der Feind rückt an“:(„Leb’ wohl, mein Lieb, mein Heimatland, / Leb’ wohl, leb’ ewig wohl“ [Der Schweizersänger. Eine Sammlung der schönsten und beliebtesten älteren und neuen Lieder mit Angabe der Singweisen. 2. Aufl. Luzern 1885, S. 104f.].. Der liebe Gott beschütze dich und segne dich und laß dich gut und glücklich werden!Fast wortgleich findet sich der Segen in Wedekinds Gedicht „Der Kuss / In seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zur höchsten Vollkommenheit, nach dem Leben dargestellt“ (19.9.1884) wieder: „‚Lieb’ Gott behüte dich und segne dich‘ / Sprach sie ‚Er laß dich gut und glücklich werden!‘“ [KSA 1/I, S. 155] –––––– in alter Treuer fall’ ich dir um deinen Schwanenhals und verbleibe daselbst dein ewiger
Franklin.

Oskar Schibler schrieb am 16. Januar 1884 in Straßburg folgende Postkarte
an Frank Wedekind

WELTPOSTVEREIN. (UNION POSTALE UNIVERSELLE.)
POSTKARTE AUS DEUTSCHLAND.
(ALLEMAGNE.)


An Herrn stud. phil.
Franklin Wedekind Kantonsschule
Aarau Schweiz. |


Lieber Franklin!

Noch immer kein Wort von Dir & du weisst doch wie ich nach unserem letzten AbschiedWie Hermann Huber [vgl. Hermann Huber an Wedekind, 3.1.1884] dürfte Oskar Schibler am Sonntag, den 6.1.1884, von Aarau aus zurück an die Universität nach Straßburg gereist sein. Im Streit war er mit Wedekind auseinandergegangen, wie aus dessen Antwortbrief hervorgeht [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 17.1.1884]. dies so nöthig habe. Oder solltesSchreibversehen, statt: solltest. Du so beschäftigt sein, dass unsere Freundschaft, wenn ich sie noch so nennen darf, ganz in den Hintergrund gedrängt wird. Biete stolz Deine Hand zu neuem Bündniss & bedenke dass die Freundschaft ihre schönsten Blüthen dann trägt, wenn man kleinlichen Verhältnissen entronnen, sich selbst mit Bewusstsein frei hingeben kann. Es braucht ja kein ZusamenlebenSchreibversehen, statt: Zusammenleben; seitdem Wedekind im April 1881 nicht in die III. Klasse des Gymnasiums versetzt worden war und die Kantonsschule Aarau daraufhin verlassen hatte, wohnten die Freunde an verschiedenen Orten, zunächst Oskar Schibler in Aarau und Wedekind in Lenzburg, ab Herbst 1881, kurz bevor Wedekind an die Kantonsschule Aarau zurückkehrte, wechselte Schibler an die Kantonsschule Solothurn und studierte jetzt (seit Dezember 1883) an der Kaiser Wilhelm Universität in Straßburg. zu sein, es genügt wenn wir uns geistig finden und verstehen, unsern Gedanken gegenseitig Ausdruck verleihen & so eine geistiger Austausch entsteht der mit dem was man gewöhnlich Freundschaft nennt keineswegs vergleichbar ist. Also wieder einander durch die Augen ins innere geblickt, das Hinderniss vergessend an dem wir keine Schuld tragen, denn an jenen nefastus dies(lat.) unheilvollen Tagen. waren wir nicht wir, sondern gelangweilt durch Bierverhältnisse, sanken wir auf einen Standpunkt herab, der bei genauer Betrachtung lächerlich, uns gar nicht betreffend ist.

In alter Treue DeinDie Postkarte ist nicht unterschrieben; die Identifizierung erfolgt eindeutig durch die Handschrift Oskar Schiblers wie auch durch den Briefinhalt..

Oskar Schibler schrieb am 20. Januar 1884 - 1. Februar 1884 in Straßburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

20 I – 1 II.


Mein Franklin!

Dank für den ersten Frühlingsbotenvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 17.1.1884; im Folgenden zitiert Oskar Schibler frei aus diesem Brief. unserer neu erwachten Freundschaft, die wie Du so richtig sagst in der Natur unserer Charaktere gegründet ist. Ein langer beinahe 4 Monate dauernder WinterschlafDer „briefliche Gedankenaustausch“ wäre demnach seit Anfang Oktober 1883, allenfalls seit September unterbrochen gewesen. In der Überlieferung klafft dagegen eine viel größere Lücke von 8 Monaten [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 8.5.1883 und Wedekind an Oskar Schibler, 17.1.1884], die nur zum Teil durch die lange Ferienzeit Oskar Schiblers nach der Matura (Mitte August) zu erklären ist. ist hinter uns, da endlich geht die Sonne unseres Bundes, der gegenseitige briefliche Gedankenaustausch, wieder auf und durch Nacht und Nebel wird sie die Pflanze wieder hervorlocken und neu stärken, dass sie schöner als je blühen wird.

Deine erste Frage wird jedenfalls die sein, wie ich hierin Straßburg; Oskar Schibler wurde am 14.12.1883 an der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg für Jura immatrikuliert. Er wohnte Krämergasse 3 [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg für das Winter-Halbjahr 1883/84, S. 35]. das Studentenleben finde & geniesse? Ein Studentenleben wie wir es in unseren glücklichen Tagen geträumt gibt es hier nicht & so geniesse ich dasselbe wie es in den Städten zu sein pflegt die französisch oder doch französischen UrsprungsStraßburg gehörte seit 1871 zu Deutschland. sind. Bitte überhebe mich weiteren Auseinandersetzungen denn der bewusste Gedanke & die kleinbeschränkte Beleuchtung erregen mir schon Ekel: Wir sind keine Griechen, um im Traum, nicht mit Bewusstsein. Du weisst hiermit genug. | Ekel ergreift einen! wermehrfach gestrichen. immer dasselbe zu geniessen ist schwer & nur eines gewöhnlichen Menschen Sache. So bin ich wie ein Mensch an eine öde Küste verschlagen auf der nur Affen hausen die tagtäglich dasselbe thun, nur einen Zweck haben sich körperlich zu ergötzen. Nein hier kann ich es nicht länger aushalten. Das Mährchen von dem Studentenleben existirt nicht in Wahrheit, es ist nur Dunst. Oft komme ich mir vor wie ein KamellSchreibversehen, statt: Kamel. in der Wüste (je unaestetischerSchreibversehen, statt: unaesthetischer. desto wahrer) das unter der glühenden austrocknenden Sonne des täglichen Lebens dahin eilt, gequält, & nirgends einen Halt findet, sein müdes Dasein aufzufrischen, nach einer verwandten Seele sucht, nach einer Oase die ihm Erholung gönnte; nicht einmal südliche phantasiereiche Gegenden brauche ich vor ihm aufzuthun nein nur Fruchtbäume, die ihm Nahrung geben damit es nicht zu grunde geht – doch es ginge zu grunde aus Mangel an Lebenssaft, aus Mangel an dem Träger alles Lebens wenn es nicht in seinem inneren ein Reservoir hätte, das nicht austrocknet sondern ihn es auch durch die Wüste begleitet. Lese diese Stelle 2 mal durch & | nur dann wirst du mich begreifen, sie ist in Aufregung geschrieben. Wenn ich so Abends nach einem beschränkt verlebten Beisammensein mit Schweigen bei Bier & Karten verlebt nach Hause komme dann greife ich nach einem Buch & dort bin ich wieder mich selbst. Bis jetzt habe ich keinen Menschen gefunden, vielleicht auch keinen/r/ einen Menschen in mir. Doch ich bin so egoistisch die anderen Menschen nach meinem Masstab zu beurtheilen, nichts auf ihr Urtheil zu geben. Ich habe ke++/in/e Gesellschaft nicht einmal Unterhaltung denn die Biergespräche & Kartenspiele bezeichne ich nicht mit diesem Namen.

Endlich ke gestern ein freies Aufathmen! (Donnerstag) 31 I. auf schnellem Pfad ins Reich der PoesieAnspielung auf Goethes Poesien, die „Sesenheimer Lieder“, die der Dichter angeregt durch seine Liebesbeziehung zur Sessenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion geschaffen hat. nach Sesenheim. Morgens früh n/9/ Uhr bei lachendem HimlSchreibversehen, statt: Himmel. durch die etwas langweiligen Gefilde des Elsass, hie & da etwas belebt von Pfützen in denen sich Schweine, Gänse & kleine Kinder herumtummeln & Abends 8 bei herrlicher Beleuchtung zurück, vorbei an den finstern FortsBefestigungsanlagen – Zeichen der vielumkämpften französisch-deutschen Grenzregion. Nah bei Sessenheim lag mit Fort-Louis eine dieser Festungen. & Wällen. Anstrengung & Genuss, doch auch Stoff & das Gefühl eine Stelle betreten zu haben die ein edler Mensch für alle Zeiten eingeweiht. Bei einer | frohen, freundlichen nicht geldgierigen & uns köstlich bewirthenden 2 hübsche im rechten AltenSchreibversehen, statt: Alter. stehende Mädchennicht ermittelt. & einen drollig schmeichelnden, jungen Jagdhund besitzenden Wirthin stiegen wir abim Gasthof zum Ochsen (Auberge du Bœuf) gegenüber der Kirche von Sessenheim, dessen Besitzer seit 1875 der Schreiner und Landwirt Wilhelm Gillig war. Seine Ehefrau, eine verwitwete Frau Reichhardt aus Baden, führte mit den beiden (wohl aus erster Ehe stammenden) Töchtern die Wirtschaft. & hörten im Verlauf des Gesprächs, dass sie eine Urenkelinein Mißverständnis, Friederike Brion starb ledig und kinderlos. der Goethen Friderikens sei. Nach dem Mittagessen um 3 Uhr gings zum ehrwürdigen PfarrerPhilipp Ferdinand Lucius, seit 1860 Pfarrer in Sessenheim, hatte selbst mehrere biographische Studien über Friederike Brion veröffentlicht und auch über die wenigen noch vorhandenen „Reliquien“ berichtet (siehe unten). Er lebte während seiner Straßburger Schul- und Studienzeit mehrere Jahre zeitgleich mit Georg Büchner bei Pastor Jaeglé in der Rue St. Guillaume [vgl. Reinhard Pabst: Wer war „Mr. Lucius“? In: Georg Büchner Jahrbuch, Bd. 8, 1990-94, S. 213-216, ebd. S. 214]., der leider schon 4 Wochen wegen Katarrh ans Zimmer gefesselt ist. Eine hohe Gestalt mit imponirendem ganz weissem Kopf stellte sich aus uns als unsern Mann vor. (Der von Dir gewünschten epischen Breite soll entsprochen werden.) Im Zimmer waren ferner seine ebenfalls die Tage der Rosen auf dem Rücken spürende Gemahlin nebst einem reizenden etwas ländlich scheuen Dienstmädchennicht ermittelt.. Ich bot natürlich meine grösste Höflichkeit & Gewandtheit auf, um mich gleich in der Bresche des conventionellen festzusetzen. Wir wurden freundlichst eingeladen Platz zu nehmen & nun erkundigte ich mich nach den geheiligten Reliquien, die der Fuß unseres Göthe betreten & dere/ss/en Augen sie getroffen. Gefühl muss man mitbringen an einen solchen Ort, denn die Gegenstände an & für sich bedeuten ja nichts, sondern beeinflussen nur das empfängliche Gemüth. |

Beinahe nichts ist geblieben als einige Bilder ein Brief Friederikens & die unveränderliche Erde. Die Erinnerung ist hier die Hauptsache. Das alte Pfarrhaus ist vertilgt von der Erdeum 1835/36 wurde das Pfarrhaus abgerissen und im Pfarrgarten ein Neubau errichtet [vgl. Philipp Ferdinand Lucius: Friederike Brion von Sessenheim. Geschichtliche Mittheilungen. Straßburg u. Stuttgart (2. Auflage) 1878, S. 131]., denn das Gefühl wird ja heutzutage verlacht & man horcht nicht mehr dennSchreibversehen, statt: den. Tönen der Vergangenheit, die unsere Seelen berrauschenSchreibversehen, statt: berauschen., nein nur denen des Geldes. Auf dem Boden des alten Pfarrgartens steht das neue Pfarrhaus & im 2ten Stock im Studirzimmer des Predigers an einer Wand hängen die oben erwähnten Bilder & Manuscripte. Ein Fremdenbuch liegt auf, wie überall wo etwas schönes oder merkwürdiges zu sehen & zu überwinden ist. Selbst Göthe konnte diesem Drang seinen Namen in der Höhe des Munsters einzugraben nicht widerstehen. Ist dies nicht ein Gefühl der Eitelkeit & ein Beweis dessen, daß der Gegenstand an & für sich selbst nicht genug fesselndes enthält, daß die Persönlichkeit nicht ganz zu verschwinden vermag. Ich bin der erste im Jahre 1884 & mein Kamerad RascheinPaul Raschein wurde am 17.10.1883 an der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg für Jura immatrikuliert. Er wohnte Fischerstaden 16 [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg für das Winter-Halbjahr 1883/84, S. 32]. ein g/G/raubündner der 2te. Nach freundlichem Abschied & noch kurzer Besichtigung der nächsten UmgebungNach älteren Schilderungen befanden sich dort die alten Gasthäuser „Zum Ochsen“ (Au Bœuf, 1832 neu errichtet, seit 1899 mit Goethe-Friederike-Museum, 1945 zerstört und neu errichtet), „Löwen“ (1806 abgerissen), „Anker“ (abgerissen, andernorts neu errichtet), das neu errichtete Pfarrhaus und die umgebaute Pfarrkirche. der Stelle wo das alte Pfarrhaus sich erhob kehrten wir in das Gasthaus zurück, bezahlten unsere sehr studentenhaft berechnete Zeche liessen satteln & fortgings | – du glaubst gewiss in sausendem Galopp. O nein. Die erste 1/4 stunde sassen wir oben wie wenn wir als 2 arme Sünder zur Richtbank geführt würden. Müde & matt, an allen Gliedern gequetscht. Doch es musste sein. Wir wählten den kürzern Rückweg 7 Stunden. Um 4 Uhr, ritten wir weg & nach langen scharfen Trabpartien, durch die lineal geraden Alleen des Elsass der Heimath zu. Um 8 Uhr waren wir im Stall nach 80 Km. Ritt. (hin & zurück) Eine schöne Reise wars, voll Abwechslung & solidem Hintergrund. Ein mit körperlicher Anstrengung verbundener geistiger Genuss. Das Vergnügen ohne diese genossen, bietet nicht den halben Reiz. Per aspera ad astraRedewendung; (lat.) Durch Mühsal (gelangt man) zu den Sternen.. & wenn die Gestirne nicht in der Höhe wären, wenn sie nicht durch Anstrengung zu erreichen wären, so würden wir sie auch nicht so hoch halten. Sie werden erst erwünscht durch ihre Entfernung. Mit allem ist es so auf dieser unter den Menschen, & das Wort ist nur zu wahr der Prophet gilt nichts in seinem VaterlandeRedewendung in Anlehnung an die Bibel [vgl. Markus 6,4; Matthäus 13,57]., oder so lange er lebt. Haben wir etwas schönes in unserer Nähe, wir wissen es nicht | zu schätzen. Die Schweizer nicht ihre Berge, die Strandbewohner nicht ihr Meer, die Stadt die einen grossen Mann beherbergt geht gleichgültig an ihm vorüber, die Strassburger bummeln an ihrem die Blicke zum Himel hinaufziehenden Münster vorbei wie an einem Eisenbahnwärterhäuschen oder besser gesagt an einem octroi(frz.) Zollhaus., an einer Zolleinnahmebude. Denn auf mich hatte sie auch diesen Eindruck gemacht als ich das Innere betrat, denn während vorn im Chor einige Männer im weissen & rothen Gewande sangen & laut sprachen ging einer herum & samelte ein. Eine verflucht verzweifelte Tingeltangelähnlichkeit. Wenn man diese Kirche geniessen will, so muss man allein hinein gehen, sich in eine Ecke stellen & ohne dieses priesterartige comödiantenwesen wird die Seele ergriffen, der Geist nach oben gelenkt. Keine Kirche hat einen Gott gehabt, sondern nur Götzen, denn die Menschen, die nicht einmal die Natur erkennen, wollen einen Gott fühlen & erkennen & nach diesem construiren. Wir können Gott nur aus der Natur erkennen denn dies ist der einzige Gedanke von ihm der vor uns liegt.

Viele herzliche Grüsse an alle die Deinen
vorzüglich aber an Dich. |
In alter Treue & Hingebung

Dein Oscar.


Wenn Du vielleicht so freundlich wärest & diesen Brief wegen der Sesenheimerbeschreibung meinen Eltern überbrächtestOskar Schiblers Eltern, Wilhelmine und (Stiefvater) Joseph Keller, wohnten in Aarau an der Kettenbrücke (Zollrain 179), keine 10 Minuten Fußweg von der Kantonsschule entfernt. so würdest du mich der Mühe überheben dieselbe 2mal zu schreiben; Denn nichts ist mir verhasster als dies, trotzdem sie verschieden würde, aber der erste Einfall trägt immer am meisten den Stempel der Wahrheit & das natürliche Gefühl an sich.

Ich werde ihnen bald schreiben, ich habs nöthigAnspielung auf das zur Neige gehende Studiengeld..

Frank Wedekind schrieb am 2. Februar 1884 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Oskar Schibler , , , , , Frank Wedekind

[Hinweis in Oskar Schiblers Postkarte an Wedekind vom 8.2.1884 aus Straßburg:]


Du hast mich stolz gemacht durch die Nachrichten von Deinen Erfolgen auf der Bühne [...] dem erwähnten Prolog [...]

Oskar Schibler schrieb am 8. Februar 1884 in Straßburg folgende Postkarte
an Frank Wedekind

WELTPOSTVEREIN. (UNION POSTALE UNIVERSELLE.)
POSTKARTE AUS DEUTSCHLAND.
(ALLEMAGNE.)


An Herrn
Franklin Wedekind Kantonsschule
Aarau Schweiz. |


Mein Franklin!

Du hast mich stolz gemacht durch die Nachrichtennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Oskar Schibler, 2.2.1884. von Deinen Erfolgen auf der BühneNachdem Wedekind zu Beginn des Kantonsschülerfests am 1.2.1884 (Beginn 19.30) seinen „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonssschüler“ mit großem Beifall vorgetragen hatte [vgl. KSA 1/II, S. 1983ff.], stand er zu vorgerückter Stunde noch einmal in dem Schwank „Nette Mieter“ von C. Braun als Schuhmacher und Vizewirt Lamprecht auf der Bühne; neben ihm der Klassenkamerad Hans Fleiner in der Rolle des Schauspielers Schnabel [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 30, 1884, Nr. 26, 31.1.1884, S. (4)]., als Dichter & Darsteller. Ich hätte Dich sehen mögen wie Dir die aarauer Philisterschaft zuklatschte, Dich wiederholt hervorrief & sich so selbst ein Zeugniss gab, dass noch ein Funke von Poesie in ihr schlummere. Du hast ihn hervorgelokt, zur Flamme aufgeblasen in deren Widerschein Du Dich sonnen kannst. Er soll Dich feiern & unangreifbar machen, dass Du glücklich allen Gefahren der Maturitätmißlingende Prüfungen, die zur Verweigerung des Maturitätszeugnisses hätten führen können. Die Prüfungsphase begann am Mittwoch, den 26.3.1884, mit dem schriftlichen Teil und endeten mit den mündlichen Prüfungen am Donnerstag, den 3.4.1884, und Freitag, den 4.4.1884, wie die Presse berichtete: „Die diesjährige Maturitätsprüfung der Gymnasialabiturienten an der Kantonsschule wird am 26., 27. und 28. März und ferner am 3. und 4. April im Sitzungszimmer des Erziehungsrathes abgehalten.“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 30, Nr. 71, 24.3.1884, S. (1)] Bei der öffentlichen Jahreszensur am 10.4.1884 erhielt Wedekind sein Maturazeugnis. entrinnst. Wenn Du nicht zu sehr von der Arbeit in Anspruch genommen bist so möchte ich Dich bitten mir einige wenn auch nur wenige Nachrichten zukommen zu lassen nebst dem erwähnten Prolog; nur damit ich Dir wieder eine längere Episteleinen sehr langen Brief. zusenden kann. Ich habe Deine Briefe ebenso nöthig wie Du, wie Du dies wohl aus dem letztenvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.1.–1.2.1884. ersehen haben wirst. Wenn Du bist jetzt den Sesenheimerritt bei meinen Eltern noch nicht vorgelesenOskar Schibler hatte Wedekind darum gebeten, seinen Brief „wegen der Sesenheimerbeschreibung“ den Eltern zu überbringen. hast, so thue es nicht bis ich Dir schreibe. Später der Grund. Also „glück auf“ mit Muth & Glück hinein. In alter Freundschaft Dein Oskar


8.II 84.

Frank Wedekind schrieb am 16. Februar 1884 in Lenzburg folgende Widmung
an Oskar Schibler

Seinem einzigen Oskar
in herzinniger Liebe
Der Verfasser.


PrologDen „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonsschüler“ [KSA 1/I, S. 114-117] hatte der Autor auf dem ersten Kantonsschülerfest am 1.2.1884 im neuen Festsaal in Aarau mit großem Beifall vorgetragen [vgl. KSA 1/II, S. 1983-1986]. Mitte Februar 1884 wurden die Verse bei Sauerländer in Aarau als 8-seitiger Separatdruck mit einigen 100 Exemplaren gedruckt [H. R. Sauerländers Verlagsbuchhandlung an Wedekind. Aarau, 13.2.1884].
zur
Abendunterhaltung
der
Kantonsschüler
von
Franklin Wedekind.

Oskar Schibler schrieb am 25. Februar 1884 in Straßburg folgende Postkarte
an Frank Wedekind

WELTPOSTVEREIN. (UNION POSTALE UNIVERSELLE.)
POSTKARTE AUS DEUTSCHLAND.
(ALLEMAGNE.)


An <lat>Herrn
Franklin Wedekind Kantonsschule
Aarau Schweiz. |


L. F.

Hast Du meinen Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.1.–1.2.1884. erhalten oder nicht? Schreib nur einige Zeilen oder eine Karte denn Du bist ja entschuldigt durch die Maturitätsarbeitdie schriftlichen und mündlichen Maturitätsprüfungen. Bei der öffentlichen Jahreszensur am 10.4.1884 erhielt Wedekind sein Maturazeugnis.. Vielen herzlichen Dank für die Zusendung Deines trefflichen Prologs & der schmeichelhaften DedikationVon dem 8-seitigen Separatdruck „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonsschüler“ [KSA 1/I, S. 114-117], den Wedekind auf dem ersten Kantonsschülerfest am 1.2.1884 im neuen Festsaal in Aarau mit großem Beifall vorgetragen hatte, schickte er dem Freund ein Dedikationsexemplar [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 16.2.1884].. Im nächsten Brief werde ich genauer darauf eingehen. Was ich bis jetzt gemerkt habe & als Capitalfehler ansehvgl. auch die Kritik im Brief Minna von Greyerz an Wedekind, 3.2.1884.e & was Du gewiss hättest vermeiden können & es auch gethan hättest wenn es Dir freigestanden hätte: Er trägt den Stempel des Bestellten, des Berechneten & so konntest Du Dich nicht frei bewegen, Du warst gleichsam zwischen Grenzen eingeengt über die Du nicht hinausdurftest. Übrigens kann man diesen Vorwurf jedem Prolog machen & so wäre dies eigentlich kein Fehler sondern ein Characterzug dieser Dichtart. Letzten Mittwochden 20.2.1884. war ich bei Professor CohenEmil Cohen, seit 1878 Professor für Petrographie (Gesteinskunde) an der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg und seit 1883 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. eingeladen, im Brief davon. Also einen Schrei aus Deiner Pyramide gewärtigerwartend.. Leb wohl.
Dein O.


[Am oberen rechten Kartenrand:]

datum in arce viae(lat.) in Straßburg. 25.II.84


[Am oberen linken Kartenrand um 180 Grad gedreht:]

Ich komme vielleicht schon innerhalb 10 Tagen nach Hause & vivat laetitia!es lebe die Fröhlichkeit!

Frank Wedekind schrieb am 19. Juni 1884 in Lausanne folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Oskar Schibler

[Hinweis in Oskar Schiblers Brief an Wedekind vom 20.6.1884 aus Freiburg im Breisgau:]


Welcher BriefHinweis auf das hier erschlossene Korrespondenzstück.!

Oskar Schibler schrieb am 20. Juni 1884 in Freiburg im Breisgau folgenden Brief
an Frank Wedekind

Freiburg 20.VI.84.

Mein lieber Franklin!

Welcher Brief!nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Oskar Schibler, 19.6.1884. Wenn er der directe Ausfluss Deiner fortwährenden Stimmung ist so bist Du zu bedauern. Vergleiche ich ihn mit den andern voll Kühnheit & tollen Ideen, die die ganze Menschheit über den Haufen stürzen wi/o/llen, so ist dieser ein Schatten, ein Scelett von dem abgeschiedenen Kraftmenschen. Suche Dich aufzuraffen, lieber toll überschäumen als so griesgrämig und ergeben die Flügel hängen lassen. Ich weiss ja wohl aus eigener Erfahrung, daß man aus liebem Freundeskreise entrissen und einsam in eine kalte Menschenmasse hineingestellt nicht besonders gut aufgelegt ist, aber schaff Dir selbst eine Welt. Hab ich nicht selber eine Welt im Innern verlangend Herz sei Du Dir selbst genugSchlussvers aller Strophen aus dem Gedicht „Entsagung“ (1857) des 1879 in Zürich gestorbenen Schweizer Dichters Heinrich Leuthold. Mit dem Spruch munterten sich die beiden Freunde schon in der Schülerzeit gegenseitig auf [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 26.5.1881; 24.6.1881; Oskar Schibler an Wedekind, 17.9.1881].! Eine gewisse Geisteselasticität muss man | immer behalten selbst in Sturm & Drang & Noth. Aber wie es mir den Eindruck macht ist eigentlich nicht Dein AufenthaltsortSeit dem 1.5.1884 wohnte Wedekind zusammen mit seinem Bruder Willy bei dem Tierarzt Emile Daniel Gros in der Villa Mon-Caprice am Chemin de Montchoisy in Lausanne [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 28]. Nach bestandenem Abitur (10.4.1884) hatte Frank Wedekind die Erlaubnis erhalten, an der Académie de Lausanne ein Semester Literatur neuerer Sprachen zu studieren [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 27f.]. die Quelle Deiner Misstimmung, sondern sie liegt in Dir selbst; verscheuche die unangenehmen nur hemmenden Gedanken aus Deiner Seele & sobald diese frei ist, so wirst Du auch Deine Umgebung freier ansehen. Die Seele resp.beziehungsweise; genauer gesagt. Der Seelenzustand ist nur der Spiegel in dem Du die aussenen(schweiz.) außen; äußeren. Stücke aufnimmst, ist er trüb so ist auch ih sein Bild trüb & umgekehrt; Du sagst selbst, dass Dich eine gewisse Schlaffheit übermanne, frage Dich woher die rührt & Du wirst finden, daß sie eigentlich gar nicht existirt, sondern daß> im Gegentheil eine Aufregung vorhanden ist, die Dich ohne dass Du es ahnst belästigst & Dir eine Gedankenrichtung gibt, die dann den oben genannten Zustand zu folge hat. Befreie Dich von diesen Gedanken und bald wirst Du alles anders ansehen. Welche Worte schliessen den Brief „Verfehltes | Dasein“, niemandem will ich diese Worte sagen, denn ich würde triumphirend die Antwort erhalten, so auch der ist endlich erlegen. Vertraue Dir selbst & ich glaube die Berechtigung zu haben Dir sagen zu dürfen, dass Du noch einmal Deinen Mann stellen wirst. Ruf Deinen alten Frohsinn zurück, er schlummert nur & vor allem pflege Deine Muse, die hält Dich hoch & lässt Dich von hoher Warte herab das kleinliche Getriebe missachten. Pfleg Deine Muse!

Das Eis brach auf, mein Herz ward weitSchlussstrophe von Wedekinds Gedicht „Jubilate“ [vgl. KSA 1/I, S. 90f., Kommentar KSA 1/II, S. 2171-2179]. Die auf den 27.1.1883 datierte Reinschrift befindet sich im Nachlass Oskar Schiblers [vgl. Aa Wedekind-Archiv B, Schachtel 13, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler].
Und jubelte Liebeslieder.
So kam die alte Glückseligkeit,
Das alte Vergnügen wieder!

fiat!(lat.) es soll geschehen!

Lieber Franklin, Du weisst ja, dass ich Dich liebe & wenn Du einmal Dich recht ungemüthlich fühlst so setze Dich an den Schreibtisch & versuche einige Zeilen an mich zu senden, und in den Gedanken an die schön verlebte GymnasialzeitWedekind besuchte von Frühjahr 1879 bis Frühjahr 1881 und von Herbst 1881 bis Frühjahr 1884 das Gymnasium der Kantonsschule Aarau; die ersten beiden Schuljahre war Oskar Schibler sein Klassenkamerad. wird deine trübe Stimmung untergehen. Darf ich das hoffen? |

Den Gedanken jetzt Deine Jugendmemoirennicht ermittelt. zu schreiben kann ich nur mit Freuden begrüssen. Wo wäre das beste Heilmittel für deine Stimmung zu suchen als gerade in Deinen Jugenderinnerungen, Da verschwindet alles unangenehme nur die Lichtpunkte sind im Gedächtniss treu zurückbehalten. Wenn Du auch in etwas bei Dir ungewöhnlicher Weise zu sehr auf das Publickum rücksicht nimmst & glaubst, dass die einzelne Menschenseele nur ein Sandkorn im Stundenglas der zeitdie Sanduhr. ist, so kann ein einzelnes Korn Einfluss haben auf eine grosse Masse gewichts/l/a/o/ser. Für eine einzelne Menschenseele ist doch die kurze zeit die Welt und Ewigkeit. Schildere also Deine Erlebnisse so, dass Du allgemeine Gedanken daran knüpfst & aus dem äussern Kleid den innern jedermann interessirenden Kern in spannender Form hervorziehst. Indem ich auf Deine PhotographieWedekind hatte sich vor seiner Abreise nach Lausanne im Fotoatelier Fr. Gysi in Aarau ablichten lassen und 2 Probeabdrucke zur Auswahl erhalten [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1884; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. Die Fotografie ist im Nachlass Schibler nicht erhalten, möglicherweise handelt es sich um das bei Kutscher abgebildete Porträtfoto [(Kutscher 1, S. 6) vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 31]. zu sprechen komme für die ich Dir herzlich danke & die den Ehrenplatz zur Rechten auf meinem Schreibtisch einnimmt, so will ich Dir zu Deiner | Beruhigung mittheilen, daß es Gesichter gibt die man nicht photographiren kann, d. h. das Aeussere, die Formen schon aber nicht den Geist ich möchte sagen die Seele der Physiognomie, gleichsam nur den Leichnam. Gleichwie eine Landschaft ein wenig interessantes äussere hat wenn ein trüber HimelOskar Schiblers Schreibweise für: Himmel. sie bedeckt & wenn ein belebender Sonnenstrahl sie bescheint alle entzückt mit fortreisst.

Welche Woge des väterlichen Zornausbruches hat Dich überhaupt auf jenes dunkle Eiland geschleudert & dich zum Wüstenbewohner gestempelt? Glaube mir es ist schwer Freunde zu finden, die in Freud & Leid zu einem halten, auch ich habe das erfahren & bin, wie soll ich sagen, aus Langeweile in eine BurschenschafOskar Schibler wurde Mitglied der schlagenden und farbentragenden Burschenschaft „Teutonia Freiburg“ [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 14.7.1884].t eingetreten. Hohler Flitter wie alle Couleurgeschichten. Wo sind die Ideale des Studentenlebens hin verflogen, die wir auf dem Gymnasium gehegt? Existiren sie nicht, oder sind sie zu schwer zu finden! Ich glaube wir müssen sie selbst erst schaffen, einen kleinen geistverwandten | Kreis junger Leute um sich sammeln & in Freud & Leid immer inniger sich zusammengesellen. Wohin gehst Du das nächste SemesterWedekind nahm im Wintersemester 1884/85 ein Studium der Rechte an der Ludwig Maximilian Universität München auf.? Womöglich liesse sich eine Übereinstimmung vereinbaren. Ich gedenke nach Leipzig oder Berlin zu wandern.Oskar Schibler setzte sein Jurastudium in Leipzig fort.

––– Du scheinst neben Deiner etwas realistischen RosaHausangestellte der Familie Gros in Lausanne, bei der Wedekind wohnte [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 26.7.1884]. noch eine platonische FridaEs dürfte sich um Frida Zschokke handeln, die im Mädchenpensionat bei Madam Duplan (geborene Gaudard) in Lausanne lebte und die Wedekind aus Aarau kannte, wo sie bis Januar 1884 das Töchterseminar besucht hatte [vgl. Elfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1883/84, S. 5]. Sie war die jüngere Schwester von Wedekinds ehemaligem Klassenkameraden Ernst Zschokke. zu verehren. Vielseitigkeit deiner Herzensveranlagung ist Dir entschieden nicht abzustreiten. Was die eine vielleicht zu wenig hat, hat die andere zu viel. Viel Glück auf Deinem Liebeskriegspfad.

Ich muss noch indirekt den besten Dank Deiner verehrten Frau Mutter aussprechen für die liebenswürdige Bereitwilligkeit, die Sie mir bei der Übersendung Deiner AdresseOskar Schibler hatte Emilie Wedekind darum gebeten. Er schrieb: „Hochverehrte Frau! Da ich seit meiner letzten Anwesenheit in Aarau Franklin aus den Augen verloren und in folge dessen weder seinen Aufenthaltsort noch seine genauere Adresse kenne, so bin ich so frei Sie um den grossen Dienst zu bitten, mir darüber Auskunft zu geben. Mit vorzüglicher Hochachtung und stets zu jedem Gegendienst bereit, grüsst Sie und Ihre werthe Familie. Schibler stud. iur. Schlossbergstrasse 24 Freiburg i/B. Freiburg 4 VI. 84.“ [vgl. Mü, Nachlass Frank Wedekind, FW B 156] gezeigt hat. Lassen wir unsern Briefwechsel nicht einschlafen, im Gegentheil crescat(lat.) er möge zunehmen.. Schreibe recht bald & empfange meinen besten Gruss.
Dein treuer Freund Oscar.

Ich gedenke nächstes Semester meine bunte Mützeauch: Couleur Mütze; äußeres Merkmal der Zugehörigkeit zu einer farbentragenden Studenten- oder Schülerverbindung. an den Nagel zu hängendas studentische Bummelleben zu beenden und das Fachstudium mit Ernst zu beginnen [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 24.7.1884]..

Oskar Schibler schrieb am 14. Juli 1884 in Freiburg im Breisgau folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Deutsche Reichspost.
Postkarte.


An
Monsieur Franklin Wedekind
p. a. Mr. E. Gros. mon Caprice.
in Lausanne.
Schweiz. |


[Am oberen Bildrand:]

Mehr Als Der Beste Saeuerling
Schmeckt Uns Das Bier Beim Feierling.


[Am linken Bildrand:]

Hurrah dem
Hopfen
Hurrah dem
Malz
Sie sind
des Lebens
Würze u.
Salz


Lieber Franklin!

Wo bleibt denn Dein schon lang ersehnter Brief? Lass unsere Correspondenz nicht einschlafen, um so weniger als es beide nöthig zu haben scheinen hie & da ein Lebenszeichen von einander zu erhalten.

In alter Treue Dein Oscar.


[Am linken Kartenrand um 90 Grad gedreht:]

Freiburg i/B. Schlossbergstrasse 24.


<Am oberen Kartenrand:>

Unsere TeutonenkneipeStammlokal der Teutonen, der Mitglieder der Burschenschaft Teutonia Freiburg, der Oskar Schibler beigetreten war [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.6.1884]. – In seiner 1877 erworbenen „Inselbrauerei Julius Feierling“ mit Gaststätte schenkte Braumeister Julius Feierling das erste helle Bier Freiburgs aus. <SignetZirkel der Burschenschaft Teutonia Freiburg, die den Wahlspruch „Voran und beharrlich für Freiheit, Ehre, Vaterland!“ hat.> Bierhöhle.

Frank Wedekind schrieb am 23. Juli 1884 in Lausanne
an Oskar Schibler

[Hinweis durch Zitat in Oskar Schiblers Brief an Wedekind vom 24.7.1884 aus Freiburg im Breisgau:]


[...] das [...] Dir zugerufene Wort „Glaube an Dich selbst“ [...] Der Plan „Leipzig“ [...]

Oskar Schibler schrieb am 24. Juli 1884 in Freiburg im Breisgau folgenden Brief
an Frank Wedekind

Freiburg 24.VII.84Wedekinds Geburtstag; er wurde 20 Jahre alt..

Mein lieber Franklin!

Noch wenige Tage werden verstreichen & die geliebte Musenstadtin der Schüler- und Studentensprache Synonym für die Universitätsstadt, zum Beispiel im Studentenlied „Ich zog ich zog zur Musenstadt“ (O Akademia); hier Synonym für Freiburg im Breisgau, wo Oskar Schibler im Sommersemester 1884 studierte. mit all ihren wechselnden Bildern, sowohl der reizenden Umgebung, wie der gemüthlichen Menschen, werde ich im Rücken haben und in der Erinnerung allein wird dies alles begraben sein. Aber aus diesem Grabe werden Blumen steigenwohl in Anlehnung an Leopold Schefers Gedichtverse: „Dann träumt ein Gott im Grabe, / Draus Blumen steigen und wehn.“ [(Leopold Schefer:) Hafis in Hellas. Von einem Hadschi. Hamburg 1853, S. 66], die noch in späten Tagen meinen Sinn durch ihren Duft betäuben werden und das Herz höher schlagen lassen. Doch weiter geht mein Sinn nach Abwechslung und wenig an die Zukunft denkend überschleicht mich manchmal wie ein Dieb in der Nacht, der dem erkorenen Opfer die sinnberaubende Mützeheftiger Hieb, Schlag [vgl. Schweizerisches Idiotikon, Bd. IV, Sp. 619 (mutzen, mützen)]. über den Kopf schlägt, der Gedanke, dass ich einmal gezwungen | sein werde in einem kleinen einsamen Städtchen meine Jahre hinzuschleppen. Doch ich werde die ganze Welt, alle Menschen in meinen Bereich ziehen und so den PrometheusfelsenFelsen des Kaukasusgebirges, an den nach der griechischen Mythologie der Titan Prometheus nach seinem Feuerraub geschmiedet wird, wo ein Adler regelmäßig von seiner Leber frisst, bis Herakles ihn von den Qualen befreit und er von Zeus begnadigt wird. vergessen. Du kannst die gleiche Aufregung in einem abgelegenen Ort wie im Taumel der sich amüsirenden Menschen haben; es kommt ja doch alles auf Aufregung hinaus. Was ist das Gefallen am Schönen anders als Nervenkitzel und oft habe ich mich überdrüssig der langweiligen Umgebung nach Hause geflüchtet den Heine vorgenommenOskar Schibler besaß eine Heine-Werkausgabe, von der Wedekind im Frühjahr 1883 wenigstens 3 Bände ausgeliehen und gelesen hatte [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 25.4.1883; 29.4.1883; Oskar Schibler an Wedekind, 8.5.1883]. (nicht Gedichte)! und mehr Genuss daran gehabt als an einem tollen Kneipgelage. Ich bin gerade in der Laune einen recht in dies aufregende Thema einschlägigen Wunsch zu thun. Ich glaube nämlich, dass überall, wo man mit Menschen | zusammenkommt es gleich fad und oberflächlich hergeht und zur Abwechslung möchte ich einmal für ein recht dämonisches Weib, schön an Leib mit sprudelndem Geiste leidenschaftlich erglühen und gleich wie mit Lavafluthen mit meinen Gefühlsergüssen überstürzen. Welch Genuss wie sie selbst Gott mit seinen Millionen Hofräthen nicht einen köstlicheren aus ihren Köpfen hervorschiessen könntenSchreibversehen, statt: könnte.

Ich freue mich jetzt schon auf den Genuss Deine jüngste Tochtermetaphorisch für die neueste literarische oder dichterische Arbeit Wedekinds; hier dürfte Oskar Schibler auf die „Jugendmemoiren“ anspielen, die Wedekind schreiben wollte [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.6.1884]. zu liebkosen und wenn sie auch noch in jugendlichen Jahren steht so sieht man doch bereits, was aus ihr werden wird und vor allem ob sie die Züge ihres Erzeugers trägt. Lasse auch hierin das von Deiner Tantedie von Frank Wedekind als seine ‚philosophische Tante‘ bezeichnete Olga Plümacher, eine Jugendfreundin seiner Mutter. Dir zugerufene Wort auftreten: „Glaube an Dich selbstBriefzitat [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 23.6.1884], das Wedekind dem Freund mitgeteilt haben dürfte – in einem nicht überlieferten Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Oskar Schibler, 23.7.1884.“ indem Du nämlich nichts künstelst sondern alles so niederschreibst | wie an es Dir aus dem Herzen quillst, kühn von dem Gedanken ausgehend, es ist Natur & diese wird ihr Recht auf den Leser schon geltend machen. Deiner Idee, dass wenn Du reine Wahrheit schreiben wolltest, ein cynisches Werk daraus entstehen würde, kann ich nicht beistimmen, denn ich glaube, dass Du dies gar nicht könntest. Du würdest alles was man sonst im gewöhnlichen Leben & unter gewöhnlichen Menschen für cynisch ansieht von einem ganz andern Gesichtspunkte ausbetrachtenSchreibversehen, statt: aus betrachten., sodass das nacte und abstossende wenn nicht ganz verschwinden würde doch bedeutend herabgemindert würde. –– Der Plan Leipzigzweites Zitat aus dem nicht überlieferten Schreiben Wedekinds an den Freund (siehe oben); Oskar Schibler hatte den Gedanken aufgebracht, im kommenden Semester gemeinsam an einem Ort (Leipzig oder Berlin) zu studieren [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.6.1884], aus dem Wedekind einen Plan für Leipzig entwickelt haben dürfte. ist nicht übel wenn er nur realisirt werden kann, denn ich weiss selbst noch nicht wohin ich das nächste Semester durch den Willen meines VatersOskar Schiblers Stiefvater Joseph Keller (auch Keller-Franke), der Obergerichtsschreiber in Aarau war. in Aarau gelangen werde. Studiren muss ich nun auch, denn das 3te Semester ist bereits genaht und da/e/s Bummellebens bin ich auch überdrüssig. Schön wäre das ZusamenlebenSchiblers Schreibweise, für: Zusammenleben., das weiss ich schon jetzt und der gegenseitige Einfluss nur erfrischend und stärkend. Vertrauen wir nicht auf unsere Sterne sondern schmieden wir selbstthätig unser Loos selbst. Leb wohl und gedenke in Treue
Deines Freundes Oscar.


[Am Fuß der Seite 3 um 180 Grad gedreht:]

Deine Kritik in betreff der 2 BilderWedekind hatte sich vor seiner Abreise nach Lausanne im Fotoatelier „Fr. Gysi“ in Aarau ablichten lassen und 2 Probeabdrucke zur Auswahl erhalten [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1884; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. – Einen Abzug (nicht überliefert) schickte er dem Freund [Wedekind an Oskar Schibler, 19.6.1884], der in seiner Antwort auf die Differenz von Person und Abbild zu sprechen kommt [Oskar Schibler, 20.6.1884]. hat mich sehr amüsirt und enthält wirklich Wahrheit.<lat>

Oskar Schibler schrieb am 30. Juli 1884 in Aarau folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn Franklin Wedekind
p. a. Mr. E. GrosFrank Wedekind wohnte seit 1.5.1884 zusammen mit seinem Bruder Willy in der Familie des Tierarztes Emil Gros in Lausanne. Der Vater hatte ihm erlaubt, vor dem Beginn des Jurastudiums ein Semester Literatur der neueren Sprachen an der Académie de Lausanne zu studieren [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 2.5.1884; Vinçon 2021, Bd. 2, S. 27].. Mon Caprice
Lausanne |


Mein Lieber!

Hier den BeweisDie typische schweizerische Postkarte mit der aufgedruckte Briefmarke zu 5 Rappen und der Ort des Poststempels („Aarau“) zeigten an, dass Oskar Schibler sich zu Hause in Aarau aufhielt. meiner Anwesenheit auf heimisch vaterländischem Boden. Du wirst wohl auch bald nach HauseDas Sommersemester dauerte an der Académie de Lausanne vom 25.3.1884 bis 25.7.1884 [vgl. Programme des Cours. Semestre d’Été 1884 (Lausanne 1884), S. (3)]. Wedekinds Heimkehr war aber erst für Mitte August anvisiert [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 24.7.1884]. kommen und so meinen längst ersehnten Wunsch Dich wieder einmal persönlich vor Augen zu haben in Erfüllung bringen. Wenn das Glück mir gut gelaunt ist trifft Dich vielleicht diese Karte gar nicht mehr in Deinem Asyl an. In Erwartung der kommenden schönen Tage rufe ich Dir ein herzliches „Auf Wiedersehen“ zu Dein
Getreuer


[Am Kopf der Postkarte um 180 Grad gedreht:]

30 VII.84.

Oskar Schibler schrieb am 16. August 1884 in Aarau folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn Franklin Wedekind stud.
de Mr. E. Gros. Mon Caprice
Lausanne |


Lieber Franklin!

Die ganze eben hier versammelte Turnvereincoronaehemalige Schüler der Kantonsschule Aarau, die während der gemeinsamen Schulzeit (1879-1881) wie Oskar Schibler aktive Mitglieder des Kantonsschülerturnvereins (KTV Aarau) waren. Zu diesen zählten unter anderem Armin Wedekind, Wilhelm Schibler, Moriz Sutermeister, Hans Sigrist, Sebastian Urech, Carl Schmidt, Hermann Keller. bringt Dir ihre besten Grüsse dar. Nächster Tage habe ich das unendliche Vergnügen als grosser MimikerSchauspieler. vor der schweiz. gemeinnützigen Gesellschaft aufzutreten. Denn wer der beste seinem Nest genug gethan!? –

Bitte schreibe nächster TageAm 8.9.1884 um 19 Uhr wurde anläßlich der 62. Jahresversammlung der schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft, die am 9.9. und 10.9.1884 in Aarau stattfand Emil Zschokkes Schauspiel „Die Waisen von Stans“ uraufgeführt. hierher. Dein
alter Getreuer.


16.VIII.84.

Oskar Schibler schrieb am 20. August 1884 in Aarau folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn Franklin Wedekind stud.
Lenzburg.
Schloss. |


20.VIII.84.


Mein Franklin!

Auf ganz indirectem Wege habe ich erfahren, dass Du wieder Lenzburg zu einem Musensitze gemacht hastWedekind hatte sein erstes Studiensemester (an der Académie de Lausanne) beendet und unternahm noch Reisen um den Genfer See, ehe er am 18. oder 19.8.1884 nach Hause reiste [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 16.8.1884].. Wie kommt es, dass Du mir auch nicht eine Zeile schreibst u. ich gezwungen bin, auf diese Art zu vernehmen, dass Du in der Nähe weilst. Ich erwarte Dich jeden Tag, alles ist zum Empfange bereit. Die Zeit vertreibe ich mir hier mit dem Studium einer Rolle eines Zschokkeschen Stückes das bei Anlass der AnwesenheitDie Schweizerische gemeinnützige Gesellschaft hielt ihre 62. Jahresversammlung am 9.9. und 10.9.1884 in Aarau ab. Über das Programm berichtete die Presse ausführlich mit dem Aufruf „durch zahlreiche Beiwohnung sowohl bei den Tagesverhandlungen als bei den abendlichen geselligen Vereinigungen“ Interesse zu zeigen: „Das hohe Ansehen, welches diese Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten in unserm Vaterland genießt, die an schönen Werken des Gemeinsinns reiche Vergangenheit derselben, der solide und ideale patriotische Geist, der sie beseelt und Männer aller Lager und verschiedenster Richtung auf ihrem Boden vereinigt zum Frommen des Vaterlands, das Alles enthebt uns des unnützen Versuchs, sie erst noch empfehlen zu wollen.“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 30, Nr. 213, 8.9.1884, S. (2)]. der allgem. Gemeinnützigen Gesellschaft steigen sollAm 8.9.1884 um 19 Uhr wurde im Theatersaal der Stadt Aarau das Festspiel „Die Waisen von Stans“ des Aarauer Altpfarrers Emil Zschokke aufgeführt. Die Presse meldete: „Der beschränkte Raum gestattet es leider nicht, die Pforten dazu völlig zu öffnen, da die Gäste, die freundlichen Subscribenten und Quartiergeber, sowie die Angehörigen der Mitwirkenden den vorhandenen Raum gänzlich ausfüllen werden. Immerhin soweit Platz vorhanden, wird eingelassen!“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 30, Nr. 213, 8.9.1884, S. (2)]. Komme bald. Gruss ans ganze Haus. Dein getreuerDie Identifikation des Absenders (Oskar Schibler) ist durch Handschrift und Briefinhalt gesichert.

Oskar Schibler schrieb am 5. Januar 1885 in Leipzig
an Frank Wedekind

Nadeln, Faden, Fingerhut
Sind das beste Heiratsgut


Leipzig. 5 I 85.


Obstmarkt 2 III.


Mein lieber Franklin!

Wiederum war ich genöthigt auf Umwegen Deine AdresseWedekind studierte seit Beginn des Wintersemester 1884/85 an der Ludwig-Maximilian-Universität München Jura. Er wohnte in der Türkenstraße 30 im 1. Stock. [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78]. zu erlangen & auch diesmalSchon im Frühjahr 1884 hatte Oskar Schibler Emilie Wedekind [(Brief vom 4.6.1884) vgl. Mü, Nachlass Frank Wedekind, FW B 156] um die Adresse des Freundes gebeten, der nach der Matura ein Semester neue Sprachen an der Académie de Lausanne studierte und seit 1.5.1884 zusammen mit seinem Bruder Willy bei dem Tierarzt E. Gros in der Villa Mon-Caprice am Chemin de Montchoisy in Lausanne wohnte [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 28]. war es Deine verehrte Frau Mutter, die mir dieselbe zukommen liess. Wir sind uns fremd gewordenSeit Frühjahr 1881 lebten die einstigen Klassenkameraden der Kantonsschule Aarau an verschiedenen Orten. durch Zeit & Ort aber nicht ganz. Wenigstens in mir lebt noch das schöne Mährchen aus alter Zeit & treibt in der Erinnerung immer neue Blüthen & SprosseSchreibversehen, statt: Sprossen. & wenn ich mich so ganz in | die vergangene, schöne zeitSchreibversehen, statt: Zeit. zurückversetze so fühle ich, dass dies nicht nur ein flüchtiger, rasch im vorbeirauschen betäubender Traum gewesen, nein, dass der innere unbewusst fest wurzelnde Kern alles überdauert & wenn wir auch durch Zeit & Ort getrennt sind doch jeder mit dem Anderen im geisteSchreibversehen, statt: Geiste. verbunden ist. Darum rufe ich Dir & Deinem BruderArmin Wedekind studierte in München Medizin; wie sein Bruder Frank wohnte er in der Türkenstraße 30, im 1. Stock [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78]. – Oskar Schibler und Armin Wedekind verband seit 1879/80 die Mitgliedschaft im Kantonsschülerturnverein KTV Aarau. ein „Glück auf“ zu nicht nur im/für/ das neue Jahr nein, auch für den neu beginnenden Gedankenaustausch. Leb wohl & grüss mir DeinSchreibversehen, statt: Deinen. Bruder von O.

Oskar Schibler schrieb am 3. Februar 1885 in Leipzig
an Frank Wedekind

Nadeln, Faden, Fingerhut
Sind das beste Heiratsgut


Lieber Franklin!

Vor vielleicht einem Monat habe ich mir die Mühe genommen Dich von meiner Adresse in Kenntniss zu setzen, um es Dir zu ermöglichen meinen obligator. Neujahrswunschvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 5.1.1885. zu erwiedernschweizerdeutsche Schreibweise.. Aber keine Antwort kam. Kannst Du Dich vielleicht nicht losreissen von Münchens Brüsten, um wenige Zeilen als Zeichen Deines Lebendigseins hierherzusenden, oder ist Dir mein erstes scriptum gar nicht zu Gesicht gekommen oder als | 3te mögliche Annahme, hast Du es bewusst negirt. Ich hoffe denn doch, dass Du mir irgendwelche Antwort gibst & Dich in nicht so beredtes Schweigen einhüllst, das anzulegen mir in diesem Moment unmöglich ist.

Was gedenkst Du beim baldigen Semesterschlussvermutlich um den 20.2.1885. An der Ludwig-Maximilian-Universität München dürfte die vorlesungsfreie Zeit zwischen Winter- und Sommersemester – wie im Folgejahr [vgl. Alexis Garonne an Wedekind, 15.4.1886] – etwa 7 Wochen gedauert haben. Das Sommersemester begann am 15.4.1885 [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Sommer-Semester 1885, S. (2)]. – An der Universität in Leipzig endete das Wintersemester am 14.3.1885 [vgl. Verzeichniss der im Winter-Halbjahre 1884/85 auf der Universität Leipzig zu haltenden Vorlesungen. Leipzig (1884, Titelblatt)], das Sommersemester begann am 20.4.1885 [vgl. Verzeichniss der im Sommer-Halbjahre 1885 auf der Universität Leipzig zu haltenden Vorlesungen. Leipzig (1885, Titelblatt)]. zu thunWedekind blieb offenbar während der Semesterferien in München.! Eine kleine Fusswanderung oder an den Rhein oder willst Du Dich tiefern Quellenstudien hingeben. Ich gehe nach Hausezu den Eltern nach Aarau., ob in MilitärdienstOskar Schibler war Leutnant der Feldartillerie; die Rekrutenschule hatte er im Spätsommer 1882 durchlaufen und nach seiner Matura (August 1883) die Offiziersbildungsschule in Aarau erfolgreich mit der Ernennung zum Leutnant absolviert [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 63, Nr. 353, 19.12.1883, Ausgabe 2, S. (3)]. Neben den Wiederholungskursen (20 Tage alle 4 Jahre) waren weitere Sonderkurse für Unteroffiziers- und Offiziersanwärter zu durchlaufen [vgl. Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 14. Aufl., Bd, 14, 1903, S. 740], auf die Oskar Schibler hier anspielt [vgl. Brockhaus‘ Konversations-Lexikon, 14. Aufl., Bd, 14, 1903, S. 740]. Im Januar 1888 wurde er zum Oberleutnant [vgl. Der Bund, Bd. 39, Nr. 27, 28.1.1888, S. (4)], 8 Jahre später zum Hauptmann der Feldartillerie ernannt [vgl. Der Bund, Bd. 47, Nr. 25, 26.1.1896, S. (1)]. oder nicht ist noch ungewiss. Doch ich finde je eher man etwas absolvirt, desto angenehmer ist es. Ich schlage Dir einen Briefwechsel vor, welchem es an Erlebnissen & Beobachtungsstoff nicht fehlen wird. Lebe wohl & grüss mir Deinen BruderArmin Wedekind, der in München Medizin studierte und mit Frank Wedekind in der Türkenstraße 30 im 1. Stock wohnte [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78]..

Dein Oscar


[Auf Seite 1 am oberen Rand um 180 Grad gedreht:]

Leipzig. 3 II 85.

O.S jur stud. Obstmarkt 2 III. Leipzig.

Frank Wedekind schrieb am 4. Februar 1885 in München folgenden Brief
an Oskar Schibler

München, 4 II.85.


Lieber Freund.

Reumüthig komm’ ich zu Dir;. Deine beiden Kartenvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 5.1.1885; Oskar Schibler an Wedekind 3.2.1885. haben mich schwer verletzt, nicht Deinetwegen, aber meinetwegen, daß ich so lässig und vergeßlich sein konnte. Wir sind uns eben allerdings ein wenig aus dem Auge gekommen, aber an mir soll es nun gewiß nicht fehlen, den Baum der Freundschaftmetaphorische Redeweise. aufs neue zu hegen und zu pflegen, daß auch ihm der kommende Frühling dichtes Laub und duftige Blüthen bringt.

Doch kannst Du darauf vertrauen, lieber Oskar, daß es nichts Geringes, | nichts Unwürdiges ist, was deinen Franklin Heiliges und Heiligstes vergessen ließ Es war wol das e/E/inzige, das den Kampf mit alter inniger Freundschaft , aufnehmen mag, das Einzige, dem dieser Kampf eher TriumpfSchreibversehen, statt Triumph. als Niederlage bringt, es war eine junge, frische, wärmende LiebeZwischen Wedekind und der Lenzburger Apothekerswitwe Bertha Jahn, seiner 25 Jahre älteren kunstsinnigen und literarisch interessierten Nenntante, hatte sich nach seiner Rückkehr aus Lausanne (18.8.1884) eine erotische Beziehung entwickelt. „Im September 1884 scheint es […] zu Intimitäten gekommen zu sein, die diese Freundschaft in die Nähe einer Liebesziehung rückten und Wedekind veranlaßten, Bertha Jahn fortan seine ‚erotische Tante‘ [...] zu nennen.“ [KSA I/1, S. 988]. ––

Wenn der Mensch durch die Liebe im eigenen Herzen so beseligt wird, daß er, sich selbst vergessend, nur noch in Gefühlen lebt, die ihn überwältigen, so erfüllt ihn die Gewißheit, geliebt zu werden, wiederum mit hohem Selbstbewußtsein, und in Mitten des Gewühles der mächtigsten Empfindungen bleibt er Herr der Situation; statt zum Knechte seiner Leidenschaft macht ihn die Liebe zum Gotte und hebt ihn heraus aus der kleinlichen Menschheit, heraus aus irdischem Wirrsal, empor | in den strahlenden Äther des hohen Olymposdas höchste Gebirge Griechenlands; in der griechischen Mythologie der Sitz der Götter..

Dieses Glück ward mir zu Theil und schlug seine ersten zarten Wurzeln kurz nachdem wir uns zum letzten Male in Aarau gesehen hattenzwischen 20.8.1884 [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.8.1884] und dem Ende der Semesterferien, die für Oskar Schibler 2 Wochen früher als für Wedekind am 14.10.1884 zu Ende gingen [vgl. Verzeichniss der im Winter-Halbjahre 1884/85 auf der Universität Leipzig zu haltenden Vorlesungen. Leipzig (1884, Titelblatt)].. Da die ganze Natur zur üppigsten Entfaltung ihrer sommerlichen Pracht gediehen war, da wehte mir ein warmer Frühlingshauch durch die ahnungsvolle Seele; und die Blätter im Walde rötheten sich bereits, schon dufteten im Garten die letzten Rosen, als der wonnige Mai mit all’ seinem Zauber und seiner Herrlichkeit feierlichen Einzug hielt in unsere Herzen.

Seitdem bin ich ein ganz anderer Mensch geworden. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich meine hohe Würde als Mitglied der Gesellschaft und schleuderte stolz die ausgetretenen KinderschuheSynonym für das Erwachsensein; hier vermutlich in Anlehnung an die Zeilen „Noch suchen wir nicht die Glückseeligkeit / In Kinderschuhen, die wir erst zertraten“ aus Wedekinds Briefgedicht „Zum neuen Jahr 1881 caro amico Hildebrand“ [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 31.12.1880]. von den männlichen Füßen. | Wol deckt jetzt kalter SchneeAn diese Beschreibung seiner Stimmung erinnert insbesondere die 2. Strophe des Gedichts „Töne rauschen, Worte klingen“ (München, 29.12.1890): „Holder Muse Trost und Segen / Flockt auf unser Trennungsweh / Wie ein Frühlingsblüthenregen / Über kalten Winterschnee“ [KSA 1/I, S. 287]. die wintet/r/liche Erde und auch auf meinem Frühling lagert dumpfes Trennungsweh, aber Erinnerung und Hoffnung weben mir ein Paradies von feenhafter Zauberpracht, in dessen warmen Quellen sich die Seele badet, wenn sie zurückschaudert vor der eisigen Gegenwart. Und bisweilen nasch’ ich auch von dem Baume des Lebens und der ErkenntnißIn der biblischen Schöpfungsgeschichte werden zwei im Garten Eden (Paradies) stehende Bäume unterschieden – der Baum des Lebens in der Mitte des Gartens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, von dem zu essen Gott Adam und Eva verboten hat [vgl. Genesis 2] und deren Zuwiderhandlung zum Verweis aus dem Paradies führte, damit die Menschen neben der Erkenntnis nicht auch ewiges Leben erlangten, indem sie vom Baum des Lebens aßen [vgl. Genesis 3]. – Hier dürfte der „Baum der Erkenntnis“ gemeint sein, der „Ort der Verführung Adams durch Eva (vgl. Genesis 2,17; Genesis 3,3ff.) und Symbol des Sündenfalls durch die Entdeckung der Sexualität“ [KSA 1/II, S. 2177]., so in Mitten des Gartensder Garten Eden (Paradies), in Anspielung auf die Vertreibung aus dem Paradies [vgl. Genesis 2-3]. steht, und verbleibe in alter treuer Freundschaft Dein Dich liebender
Franklin.

P. S.Abkürzung für: Post Scriptum; (lat.) nach dem Geschriebenen; Nachsatz. Nicht wahr, du schreibst mir recht bald wieder und straftSchreibversehen, statt: strafst. mich nicht allzuhart für mein langes Schweigen!

Oskar Schibler schrieb am 10. Februar 1885 in Leipzig folgenden Brief
an Frank Wedekind

Mein lieber Franklin!

Endlich das erste LebenszeichenWedekinds Antwort auf 2 Briefe des Freundes [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 4.2.1885]., D/d/as ich Dir mit Gewalt abzwingen musste. Ja es ist wahr, trotzdem es in Hinblick auf unser früher so inniges Verhältniss höchst eigenthümlich klingt wenn Du sagstOskar Schibler zitiert im Folgenden aus Wedekinds Brief vom 4.2.1885 aus München.: [„]Wir sind uns eben allerdings ein wenig aus dem Auge gekomenOskar Schiblers Schreibweise, statt: gekommen. ....“ Es ist auch die natürliche Folge des fröhlichen Studentenlebens, in dessem Strudel so bald ein Eindruck dem andern Platz macht & einem so kaum Zeit lässt in alten Erinnerungen sich zu ergehen. Doch wenn dann Augenblicke der Ruhe eintreten so öffnet man gerne diesen reizenden mit jugendlicher Frische & Phantasie ausgeschmückten Bildern das Thor & tritt dann selbst wieder ein in die vergangene Mährchenwelt der Jugendzeit. Wie ich aus Deinem Briefe | sehe, so bist auch Du, der von Dir früher so verspotteten & mit philosophischer Verachtung angesehenen Liebe anheim gefallenWedekinds erotisches Verhältnis zu Bertha Jahn. – Oskar Schibler dürfte hier insbesondere an seine Affäre mit „Frau von B.“ im Herbst und Winter 1882/83 gedacht haben, auf die Wedekind mit Unverständnis reagierte und die zu einer ernsthaften Krise in der Freundschaft geführt hatte [vgl. u. a. Oskar Schibler an Wedekind, 31.1.1883]. & träumst Dich in Deinen süssen Fesseln in ein Paradies hinein. Ich habe dies selbst erfahren, dies Gefühl lernt Einen erst recht einen Blick in das eigene Innere werfen, es ist gleichsam der Schlüssel zu ungeahnten Reichen, die sich dem entzückten Herzen eröffnen. Doch wie lange dauert die Herrlichkeit, bis man einsieht, dass der Gegenstand seiner Verehrung nach & nach den Reiz der Neuheit verliert & die längere Umgangszeit sie/ihn/ immer mehr der Reize entkleidet, die man an ihm mit Liebesaugen gesehen. So habe ich in letzter Zeit mehrfach Gelegenheit gehabt mich zu begeistern, aber so bald als ich merkte, dass mein Gefühl erwiedert wurde hat meine Empfindung nachgelassen & ist erloschen; es ist so süss zu scherzen mit LiedernOskar Schibler zitiert die ersten beiden Verse („es ist so süss zu scherzen / mit Liedern u mit Herzen“) aus Emanuel Geibels Gedicht „Hidalgo“ (1840). & mit Herzen – wenn nur nicht die Mädchen gleich immer ans Brautbett denken würden & doch geht dann erst die schöne Vertraulichkeit | an. Sonntag vor 8 Tagenam 1.2.1885. war ich in Halle ganz allein. Aber leider hatte ich nicht die richtige Brille angezogen & so konnte ich nicht so recht zum GenusOskar Schiblers Schreibweise, statt: Genuss. gelangen. Im Sommer musOskar Schiblers Schreibweise, statt: muss. es reizend sein an der Saale hellem StrandeErster Vers des Volks- und Studentenlieds „An der Saale hellem Strande“, das von Franz Kugler 1826 gedichtet wurde., aber jetzt sah die ganze Natur noch höchst verschlaffenSchreibversehen, statt: verschlafen. aus & das Negligee das sie noch anhatte war nicht gerade zu niedlich. Im Krug zum grünen KranzeErster Vers und Nebentitel des Volks- und Studentenlieds „Brüderschaft“, das von Wilhelm Müller 1821 gedichtet und von Franz Kugler 1833 (in der berühmt gewordenen Melodie) vertonte. war ich auch – aber welche Enttäuschung. Anstatt ein gemüthliches, altes aus Holz gebautes Häuschen zu finden, über dessen schwere eichene Tische von die vo durch das Fenster im Winde gewiegten Äste ihre Schatten spielen liessen & wo man hinausschauend die Saale vorbeirauschen sah, so fand ich ein höchst kaltes abstossendes modernes RestaurantDas aus dem 18. Jahrhundert stammende Gasthaus „Im Krug zum grünen Kranze“ (Talstraße 37) mit Blick auf die Saale besitzt hohe hallenartige Räumlichkeiten mit Gewölbedecken.. Nicht immer passt der Entstehungsort zum Produkt.

Letzten Samstag den 7.2.1885.machte ich einen RittZu Pferd ist Lützen von Leipzig etwa 21 Kilometern entfernt. nach Lützen & habe mit eigenen Augen Den PlatzIm 30-jährigen Krieg am 16.11.1632 (am 6.11.1632 nach dem gregorianischen Kalender) fiel der mit dem protestantischen Brandenburg und Sachsen verbündete Gustav II. Adolph König von Schweden in der Schlacht bei Lützen gegen Wallensteins Truppen. Ein Granitfindling wurde in den 1630er Jahren an die Stelle (bzw. in die Nähe), wo der schwedische König tot aufgefunden worden war, gewälzt. 1837 wurde der ‚Schwedenstein‘ mit einem gotischen Denkmal aus Gußeisen überbaut, das von Friedrich Schinkel angefertigt worden war [vgl. Alfred Schmekel: Historisch-topographische Beschreibung des Hochstiftes Merseburg. Ein Beitrag zur Deutschen Vaterlandskunde, Halle 1858, S. 269; Gustav-Adolf-Gedenkstätte in: http://www.museumluetzen.de/seite/346921/gustav-adolf-gedenkst%C3%A4tte.html, eingesehen 3.4.2023]. gemustert auf dem der Schwedenkönig gefallen. Ein echt langweiliges unaesthtischesSchreibversehen, statt: unaesthetisches. Theologendenkmal bezeichnet die Stelle, ein einfacher Stein neben dem er die Seele aushauchte | hätten mehr Gedanken & Gefühle angeregt als dies Steife mit sinnlosen BibelsprüchenAuf der Kopfseite des Denkmals stand in Goldprägung der Satz: „Hier fiel Gustav Adolph den 6. Nov. 1632“. Auf den übrigen 3 Seiten befanden sich die Bibelsprüche: 1. „Er führte des Herrn Kriege, 1. Sam. 25, 28“ (Osten) – 2. „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht. 2. Tim. 1, 7“ (Süden) – 3. „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. 1. Joh. 5, 4“ [Alfred Schmekel: Historisch-topographische Beschreibung des Hochstiftes Merseburg. Ein Beitrag zur Deutschen Vaterlandskunde, Halle 1858, S. 271]. verunzierte & dem noch sinnloseren Kreuzeszeichen gekrönte 4eckige eiserne Gestell. Wo die Theologen hinkommen da hört die Vernunft & die Aesthetik auf. Ich habe bereits von beiden Fahrten 12seitige Briefe geschrieben u so bin ich nicht mehr disponirt weitere Ausführungen beizusetzen. Hoffentlich erfreust Du mich bald mit einer Schilderung Deiner Lebensweise, denn dass Du ganz nur in Liebesgefühlen schwelgst will mir nicht recht in den Kopf. Gehst Du während der FerienWedekind reiste in den Semesterferien, die in München – vermutlich um den 20.2.1885 begannen und – bis zum 15.4.1885 dauerten, nicht nach Hause [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Sommer-Semester 1885, S. (2)]. In Leipzig endete das Wintersemester 1884/85 am 14.3.1885 [vgl. Verzeichniss der im Winter-Halbjahre 1884/85 auf der Universität Leipzig zu haltenden Vorlesungen (Der Anfang der Vorlesungen ist auf den 15. October, der Schluss auf den 14. März festgesetzt.), Leipzig (1884)]. nach Hause & wann? Ich gedenke über Eger, Regensburg Augsburg meine RouteDie gewählte Route war mit etwa 700 Kilometern etwas länger als der direkte Weg (680 Kilometer). – Möglicherweise wählte Oskar Schibler diesen Heimweg aus, um weitere Schauplätze des Dreissigjährigen Kriegs zu besichtigen, wie etwa den Marktplatz von Eger, wo Albert von Wallenstein am 25.2.1634 ermordet wurde. zu nehmen. Ich erwarte noch vor Beginn der Ferien die Antwort, die Du senden musst um Deine frühere Nachlässigkeit wieder gut zu machen.

Leb wohl & grüss mir auch Deinen BruderArmin Wedekind, der in München Medizin studierte und mit Frank Wedekind in der Türkenstraße 30 im 1. Stock wohnte [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78]. Dein O.

Leipzig 10.II 85.

Frank Wedekind schrieb am 13. Oktober 1885 in Lenzburg folgende Bildpostkarte
an Oskar Schibler

Seinem lieben Oskar:


Ein tiefes Aug’, aus dem der Himmel blickt,
Aus dem uns Stolz und Seligkeit entzückt,
Durch das die Seele Liebesgluth begehrt,
Ein solches Aug, sei dir, o Freund, beschert.


Franklin Wedekind. |


GALLERIE MODERNER MEISTERIm „VERLAGS-KATALOG von FRANZ HANFSTAENGL KUNSTVERLAG A.-G. MÜNCHEN.“ (1. Teil, Jan 1892) sind auf 130 Seiten die bis dahin erschienenen Fotografien aus der Reihe „GALLERIE MODERNER MEISTER“ aufgelistet..


H. Makart. 1884Jahr der Publikation; Hans Makart, der repräsentative Wiener Maler der Ringstraßenepoche, von dem bei Hanfstaengl 16 Gemälde als Fotokarten zu erwerben waren, starb im Oktober 1884.
BerthaldaReproduktion von Hans Makarts Ölgemälde „Berthalda“, dessen Titel angelehnt sein dürfte an die literarische Figur Berthalda in Friedrich de la Motte Fouqués Erzählung „Undine“ (1811), die als Oper unter anderem von Albert Lortzing auf die Bühne gebracht wurde. – In Hanfstaengls Verlagskatalog (S. IX) ist das Ölgemälde der Kategorie „I. Genremalerei [...] Genre Weiblicher Schönheiten und holder Frauengestalten“ zugeordnet. Die Verlagsnummer „3287“ weist die Fotografie dem „Cabinet-Format auf weißem Carton“ im „Format 11 ½ zu 17 cm“ zum günstigsten Preis von 1 Mark pro Blatt aus (ebd., S. 77, S. XVI)..

Frank Wedekind schrieb am 16. August 1886 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Oskar Schibler

[Hinweis in Oskar Schiblers Brief an seine Eltern Joseph Keller und Wilhelmine Keller vom 16.10.1886 aus Leipzig (Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 13, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler):]


Franklin Wedekind habe ich noch nicht geschrieben werde es aber nächstens thun. Denn dass er immer noch der exaltirte Mensch ist wie früher glaube ich nicht. Münchner Bier beruhigt. – [...] er ist tüchtig hat viel gearbeitetAm 23.4.1886 beendete Wedekind die erste (wohl im November 1885 begonnene) Fassung seines Lustspiels „Der Schnellmaler oder Kunst und Mammon. Große tragikomische Originalcharakterposse in drei Aufzügen“ (1889), die er anschließend vergeblich versuchte, in München zur Aufführung zu bringen [vgl. KSA 2, S. 545f.]. Im Juni 1886 schrieb er den „Prolog zum Winkelriedcommers in München 3. Juli 1886“ [KSA 1/I, S. 238-242], den er auf der Schweizer Festveranstaltung zum 500jährigen Jubiläum der Schlacht bei Sempach am 3.7.1886 in München vortrug [vgl. KSA 1/II, S. 1977f.]. in München, wie er mir schriebHinweis auf das hier erschlossene Korrespondenzstück.; u wenn er auch nicht die hohen Ziele erreichen kann, die er sich gestellt, so bin ich doch davon überzeugt, daß er ein ganz tüchtiger Litterat wird.

Oskar Schibler schrieb am 25. Dezember 1888 in Aarau folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn Franklin Wedekind
Schloß
Lenzburg. |

L. F.

Zeige Dir hiermit meine AnwesenheitOskar Schibler dürfte aus Bern angereist sein, wo er sein Jurastudium beendete. Im Juli 1889 wurde er zum aargauischen Direktionssekretär „bei der Justiz-, Polizei- und Sanitätsdirektion“ gewählt [Intelligenzblatt für die Stadt Bern, Jg. 56, Nr. 168, 18. Juli 1889, S. (3)]. in Aaraus Mauern an, um nun aber auch einige gemüthliche, genußreiche Stunden hier verleben zu können ist es notvendigSchreibversehen, statt: notwendig., daß Du herüber kommst & zwar so bald als möglich.

Ich erwarte Dich heute Mittag oder morgen früh.

Mit bestem Gruß an Dich & Dein ganzes Haus.
Dein Alter


[Am linken Rand um 90 Grad gedreht:]

25.XII.88. A.

Frank Wedekind schrieb am 7. April 1889 in Lenzburg folgende Widmung
an Oskar Schibler

Franklin Wedekind.

––

Der Schnellmaler.

Große tragikomische Originalcharakterposse
in drei Aufzügen.

––

Zürich 1889.

Verlags-MagazinDas Verlags-Magazin (J. Schabelitz) in Zürich, ein für die Literatur der frühen Moderne einschlägiger Verlag, vermittelte Karl Henckell, der einige seiner Bücher dort veröffentlicht hatte, an Wedekind [vgl. KSA 2, S. 546]..
(J. Schabelitz)


S. l. Oskar SchiblerAuf das (heute verschollene) Widmungsexemplar des Lustspiels kommt Oskar Schibler einige Jahre später noch einmal zu sprechen. Das ihm 1889 von Wedekind dedizierte und mit der Unterschrift „Der Verbrecher.“ versehene Exemplar des Schnellmalers habe Marie Laué bei ihrem letzten Besuch in Aarau ausgeliehen und nach Köln mitgenommen [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 14.9.1905].
Der VerbrecherWedekind dürfte hier auf die Figur des Hochstaplers Dr. Steiner aus seinem Lustspiel „Der Schnellmaler“ anspielen, der im Stück als ein gesuchter Verbrecher entlarvt (Szene III/7), aber dann doch nicht verhaftet wird; der Kommissär bemerkt (Szene III/8): „Die Justiz kennt gottlob kein Ansehen der Person. Ob schuldig oder unschuldig, vor dem Gesetz gilt jeder Verbrecher gleich.“ [KSA 2, S. 92] – Das Widmungsexemplar für Karl Henckell unterschrieb Wedekind in gleicher Weise [vgl. Wedekind an Karl Henckell, 7.4.1889].


7.IV 89

Oskar Schibler schrieb am 1. Mai 1889 in Aarau folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn Franklin Wedekind
Lenzburg.
Schloss. |


Lieber, alter Freund! Dein Besuch lässt so lange auf Dich warten, daß ich bald annehme, daß Du die gute Stadt Aarau so wie meine Wenigkeit ganz aus dem Gedächtniß, oder doch wenigstens aus den Gebieten Deiner Sehnsucht gestrichen hast. Raff Dich einmal auf & komm an einem schönen Nachmittag herüber, um alte liebe Erinnerungen aufzufrischen & wieder einmal das Musenpflaster zu treten. Es thut Dir auch gut, wenn Du wieder einmal aus Dir selbst heraus gerüttelt wirst. Leb wohl & sei mit Deiner verehrten FamilieAnwesend waren Mutter Emilie Wedekind und die Geschwister Frank, Willy, Erika und Emilie (Mati) Wedekind. Der Vater Friedrich Wilhelm Wedekind war am 11.10.1888 in Lenzburg verstorben, Armin lebte in Zürich und Donald war im Februar 1889 zu einer Reise in die USA aufgebrochen [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 138]. bestens gegrüßt. Dein alter Schibler.


Aarau 1.V.89.

Frank Wedekind schrieb am 24. Juli 1889 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Oskar Schibler

[Hinweis in Wedekinds Tagebuch vom 24.7.1889 in München:]


Zu Hausenach dem Abendbesuch des Münchner Kindls [vgl. Tb, 24.7.1889]; Wedekind, der am 5.7.1889 in München angekommen war, bezog zunächst zur Zwischenmiete ein Zimmer in der Adalbertstraße 41 (4. Stock) [vgl. Tb], dann am 18.7.1889 ein Zimmer in der Akademiestraße 21 (3. Stock) bei Anna Mühlberger: „Ich ziehe bei Frau Mühlberger ein.“ [Tb] les ich noch Oskars Briefe zu EndeSchon tagsüber – auf Geburtstagsgrüße aus der Schweiz wartend – hatte sich Wedekind mit seinen Jugendfreundschaften beschäftigt und die Briefe „Minnas, Anny Barks Oskar Schiblers und Moritz Sutermeisters“ gelesen [Tb, 24.7.1889]. und schreibe dann an ihn.

Oskar Schibler schrieb am 14. September 1905 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

Mein lieber, alter Franklin!

Es ist lange her, seit wir uns nicht mehr gesehen; seit wir die Straßen Aarau’s unsicher gemacht & auf Deiner BudeFrank Wedekind wohnte in den Schuljahren 1879/80 und 1880/81 zusammen mit seinem Bruder Armin zur Pension im geräumigen Haus der Familie Rauchenstein im Zentrum Aaraus (Halden, Nr. 261)., im nobelsten Quartier & beim noch noblern PhilisterPensionsgeber; Professor Friedrich Rauchenstein, Altphilologe und ehemals Lehrer an der Kantonsschule Aarau, beherbergte die Brüder Wedekind und betreute sie auch bei ihren Schulaufgaben [vgl. Johann Friedrich Rauchenstein an Frank Wedekind, 18.4.1881]. Opium geschmaucht.

Die Ironie der Weltgeschichte hat es gewollt, daß das Haus, wo Du ehmals in der Halde residirtest, nun ein MarthahausEinrichtung zum „präventiven Schutz vor den Gefahren der Prostitution“ [HLS, Stichwort „Freundinnen junger Mädchen (FJM)“]. Auf Anregung des internationalen Vereins FJM gründeten seit Mitte der 1880er Jahre auch Schweizer Sektionen Marthahäuser „für stellenlose junge Mädchen, namentlich Dienstboten, aber auch für Arbeiterinnen, die eine Stelle haben und in einem geordneten Hauswesen billige Pension und Wohnung suchen.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 68, Nr. 173, 21.6.1888, Erstes Blatt, S. (2)] – Das Marthahaus Aarau existierte mindestens seit 1899, wie Zeitungsanzeigen belegen [vgl. Der Bund, Jg. 50, Nr. 124, 4.5.1899, S. (8) und Nr. 126, 6.5.1899, S. (4)]., ein Zufluchtsort für alleinstehende Mägdelein, geworden ist. Jedesmal wenn mich mein Weg daselbst vorbei führt & die einladende Tafel sehe, kann ich mich eines Lächelns nicht erwehren.

Doch dies wollte ich Dir eigentlich mit diesen Zeilen nicht mitteilen, sondern Dir vielmehr eine Bitte unterbreiten – wie folgt.

Am 7/8. & 9. Oct. h. a.(lat.) dieses Jahres. feiert | der Kantonschülerturnverein sein 75. jähriges ExistenzjubiläumDas Jahr 1830 wird als Gründungsjahr des Kantonsschülerturnvereins (KTV Aarau), der ältesten Schweizer Mittelschulverbindung, angenommen. Oskar Schibler gehörte ihr seit 1879 als Turner, seit 1880 als Mitglied und nach seinem Abgang von der Kantonsschule Aarau (1881) als ‚Alter Herr‘ an (zeitweise im Vorstand) [vgl. David Pfister: Die Aktivitas des KTV Aarau 1830 – 1930, Semesterarbeit, Kapitel 7, S. 34 und mündliche Mitteilungen].. Und da habe ich gedacht, es würde jedenfalls einen riesigen Effect machen, wenn auch Du dabei zum Worte kämest. Ein frisch & flott hingeworfenes Poem über Deine Aarauererlebniße vor mehr als einem 1/4 Jahrhundert! Auch Du warst ja zugewandtes HausWedekind war wiederholt als Gast bei Kneiptouren und Festen der Schülerverbindung KTV Aarau eingeladen; wegen seiner schlechten Schulnoten dürfte das Rektorat der Kantonsschule die Mitgliedschaft verboten haben. zum Turnverein & hast manche fröhliche Stunde mitgemacht.

Deine Ode“ an michWedekind hatte die „Oda sacrata amico, condiscipuloque, compotorique Hildebrand in summa amicitia a Katere“ am 27.11.1879 „Seinem vielgeliebten, nie vergessenen Schul- und Kneipgenossen Hildebrand“, wie es in einem Entwurf heißt, zugeeignet [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 27.11.1879]. besitze ich heute noch & immer noch genieße ich sie mit Vergnügen:

„Auch Du ein Turner bist
Und den gefüllten Wanst,
Mörderisch krümmen kannst
wie das Gewürm.“

Großartig!

So nun kennst du mein Anliegen & hoffe ich, daß es auf günstigen Boden fällt.

Falls Dich Dein Weg wieder einmal in den Aargau führt, so rechne | ich sicher auf Deinen Besuch. Trotz Amt & Würden & Actenstaub, ist geblieben doch der Kern & wieder einmal mit Dir in alten Jugenderinnerungen sich zu ergehen, würde mir große Freude & Genuß bereiten; das Einzige was bleibt & was Einem ganz zu eigen gehört, ist eben doch nur die Erinnerung. Und an Stoff würde es uns wahrlich nicht fehlen.

So, nun leb wohl & entschuldige mich, daß ich nach jahrelanger KontaktunterbrechungZuletzt nachgewiesen ist ein nicht überliefertes Korrespondenzstück, das Wedekind dem Tagebuch zufolge an seinem 25. Geburtstag aus München schrieb [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 24.7.1889]. gerade mit einer Bitte an Dich gelange. Doch glaube mir, ich habe Deinen litterarischen & künstlerischen Werdegang stets mit Intereße verfolgt & jeden Erfolg, den Du erreichst, selbst mit Genugtuung empfunden. Deine Produkte habe ich alle gelesen und sind zum großen teilSofortkorrektur durch senkrechtes Trennungszeichen aus Zusammenschreibung: großenteil. in meiner Bibliothek eingebürgert.

Jüngstens war Frau Laué aus Köln, die Gemahlin unseres ehemaligen SchulkameradenWalter Laué, aus Köln gebürtiger Klassenkamerad im Schuljahr 1880/81, mit dem Wedekind den Dichterbund „Senatus poeticus“ gegründet und dem auch Oskar Schibler angehört hatte. Bei einem Besuch des Jugendfreundes in Köln (16.3.1905) lernte Wedekind dessen Ehefrau Marie Laué kennen und schätzen [vgl. Marie Laué an Wedekind. Köln, 15.04.1905]. bei uns – nebenbei | gesagt, eine große Verehrerin von Dir – (bei uns) & diese nahm als Reiselecture den „Schnellmaler“ mit, den Du mir s. Z. anno 89.! dediziertestvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 7.4.1889., mit der Donatorunterschrift(schweiz.) Stifter, Geber; von donare (lat.) schenken. – Mit der Unterschrift „Der Verbrecher“ hatte Wedekind auch ein Exemplar der tragikomischen Posse dem befreundeten Karl Henckell gewidmet [vgl. Wedekind an Karl Henckell, 1.3.1889]. „Der Verbrecher.“ Selbstverständlich will ich das für mich wertvolle Werk wieder retour haben.

Es verbleibt in alter Jugendtreue
Dein
O. Schibler. Oberrichterseit 1902..


Aarau 14. Sept. 05.

Frank Wedekind schrieb am 30. September 1905 in Berlin folgenden Brief
an Oskar Schibler

Lieber alter Freund!

Heute erst, nach drei Wochen komme ich dazu Deine lieben Zeilenvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 14.9.1905. zu beantworten. Was mich bis jetzt davon abhielt war nicht Mangel an | Zeit, denn für Dich hätte ich unter allen Umständen Zeit gefunden, sondern es war die fürchterliche Aufregung in Erwartung und während meiner Berliner PremiereAm 26.9.1905 fand die Berliner Erstaufführung von „Hidalla“ am Kleinen Theater (Direktion: Victor Barnowsky) statt (Beginn: 20 Uhr); am 8.9.1905 war Wedekind in Berlin eingetroffen, am 9.9.1905 um 10 Uhr hatten die Proben für das Stück begonnen [vgl. Tb].. Jetzt ist die Geschichte überstanden und ich beginne allmählig wieder aufzuathmen. Was nun das Gedicht zur Feier des TurnvereinsDer Kantonsschülerturnverein (KTV Aarau) beging vom 7.10 bis 9.10.1905 das 75. Jubiläum seines Bestehens. Oskar Schibler hatte Wedekind um einen kleinen Beitrag zum Fest gebeten [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 14.9.1905]. betrifft, so dank ich Dir herzlich daß Du meiner dabei gedacht hast, aber versprechen möchte ich nichts, um Dich nicht schließlich in Verlegenheit zu | bringen. Seit Jahren habe ich jährlich höchstens ein oder zwei Gedichte produziert, auch das nur im Sommer bei großer Hitze und nur wenn mir das Wasser irgend einer leidenschaftlichen Empfindung bis zum Mund stand. Seit ich hier in Berlinseit dem 8.9.1905 [vgl. Tb]. bin hat man | schon zwei Prologenicht ermittelt. zu Festlichkeiten von mir verlangt. Ich habe mich beide Male entschuldigen müssen.

Ich danke Dir sehr für die Nachrichten die Du mir über unser altes Liebes Aarau schreibst. Als ich das letzte Mal dortDer letzte nachgewiesene Aufenthalt Wedekinds im Aargau war im Sommer 1903. Am 14.7.1903 reiste er nach Lenzburg [vgl. Wedekind an Friedrich Rosenthal, 13.7.1903] und kehrte am 13. oder 14.9.1903 nach München zurück [vgl. Wedekind an Emilie Wedekind, 14.9.1903]. war, habe ich Dich | schmerzlich vermißt. Du sagst nun freilich, ich hätte den Weg zu Dir schon finden können aber Du weißt nicht, wie verhetzt ich damals durch eine Arbeitvermutlich die verschollene Kabarettbearbeitung des in London spielenden 3. Aufzugs der „Büchse der Pandora“. Wedekind verfasste die heute verschollene Arbeit im August 1903 [vgl. KSA 3/II, S. 862]. war die bis zu einem bestimmten Termin fertig sein mußte. Ich freue mich sehr darauf, Dich bei meinem nächsten Besuch in der Schweiz endlich | nach so langen Jahren wiederzusehen, wenn Du nicht vorher einmal nach München kommen solltest. Zwanzig Jahre sind seit unserer letzten BegegnungSicher nachzuweisen ist ein Treffen der Freunde in den Herbstferien 1885 auf Schloss Lenzburg [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, Lenzburg. 13.10.1885]. Möglicherweise gab es auch die von Oskar Schibler gewünschte Begegnung an Weihnachten 1888 [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 25.12.1888]. verflossen aber aus Deinen lieben Zeilen sehe ich mit Freuden, daß Du jung geblieben bist. Willst Du den Herren vom | Turnverein bei Gelegenheit Eures Festes meine herzlichsten Grüße zu/üb/ermitten/l/n. Ebenso bitte ich Dich, mich Deinen lieben AngehörigenWedekind dürfte über die aktuellen Familienverhältnisse Oskar Schiblers nicht sicher informiert gewesen sein. Dieser war in einer ersten Ehe mit Hedwig Meister, in zweiter Ehe mit Dora Schmitz verheiratet. Die Ehen blieben kinderlos. Über die Ehefrauen sind keine Nachrichten ermittelt. zu empfehlen.

Also auf baldiges Wiedersehn! Si fractus illu/a/batur Orbis...Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae. [Horaz, Oden, 3,3,7] (lat.) Wenn der Erdkreis krachend einstürzte, träfe er einen Furchtlosen.

Herzlichsten Gruß von Deinem alten Freunde
Frank Wedekind

Berlin, 30 September 1905

Oskar Schibler schrieb am 1. November 1906 in Aarau folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Bildpostkarte an Oskar Schibler vom 28.11.1906 aus Berlin:]


[...] herzlichen Dank für die schöne Karte

Frank Wedekind schrieb am 28. November 1906 in Berlin folgende Bildpostkarte
an Oskar Schibler

[...] Postkarte [...]

[...] Carte postale [...]
[...] Weltpostverein [...]
[...] Postcard [...]


Lieber Oskar! Nimm meinen herzlichen Dank für die schöne Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Oskar Schibler an Wedekind, 1.11.1906., auf der ich mit freudiger Erinnerung Deine und meine FensterWährend der gemeinsamen Schulzeit an der Kantonsschule Aarau (1879-1881) wohnte Wedekind zur Pension bei Professor Friedrich Rauchenstein, der ein Haus im Zentrum Aaraus (Halden, Nr. 261) besaß. Oskar Schibler lebte bei seinen Eltern (etwa 300 Meter weiter) an der Kettenbrücke (Zollrain, Nr. 179) im Haus des Bierbrauers Thomas Fischer [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau, 1881, S. 18 u. S. 13]. aus jener Zeit entdeckte. Ich hoffe zuversichtlich, daß wir uns nächsten Sommer wieder sehenDie Jugendfreunde dürften sich im Sommer in Aarau oder Lenzburg, wo sich Wedekind zwischen 31.7.1906 und 11.8.1906 aufhielt [vgl. Tb], getroffen haben, zum Beispiel im „Affenkasten“, einem Aarauer Gasthaus mit Biergarten, das Wedekind und Schibler schon zu Schülerzeiten gemeinsam frequentiert hatten. Am 4.8.1906 notierte Wedekind: „Mieze reist ab. Tilly und ich begleiten sie nach Aarau. Affenkasten.“ [Tb]. – Für 1907 ist ein Besuch Wedekinds in Lenzburg oder Aarau nicht nachgewiesen..

Mit besten Grüßen Dein alter FrWedekind. |


Frank Wedekind u. Frau

Frank Wedekind schrieb am 29. April 1908 in Wien folgende Bildpostkarte
an Oskar Schibler

POSTKARTE


Herrn Oberrichter
Oskar Schibler
Teufenthal
Ch Aargau Schweiz


Lieber alter Freund!

Die herzlichsten Grüße sende ich Dir. Ich habe sehr bedauert an der Feiernicht ermittelt. nicht theilnehmen zu können, hoffe aber, daß wir uns diesen Sommer wiedersehn oder dann in München, wohin ich im Herbst übersiedleAm 30.9.1908 ließen Frank und Tilly Wedekind sich wieder in München nieder, am 2.10.1908 zogen sie in ihre neue Wohnung (Prinzregentenstraße 50, 3. Stock), die Wedekind schon am 18.4.1908 gemietet hatte [vgl. Tb].. Den alten Humor haben wir offenbar Beide noch.

Herzlichst
Dein Frank |


WIENWedekind hielt sich seit dem 26.4.1908 zu Proben von „Frühlings Erwachen“ in Wien auf (Premiere am 9.5.1908) [vgl. Tb]. – Parlaments-Rampe |

Oskar Schibler schrieb am 1. Dezember 1915 in Aarau folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Bildpostkarte an Oskar Schibler vom 10.12.1915 aus München:]


Für die freundliche Übersendung der schönen alten ErinnerungenHinweis auf das hier erschlossene Begleitschreiben zur Sendung. herzlichsten Dank

Frank Wedekind schrieb am 10. Dezember 1915 in München folgende Bildpostkarte
an Oskar Schibler

S. H.Abkürzung für: Seine Hochwohlgeboren; „schriftliche Anrede und Titelergänzung auf Briefadressen, die ursprünglich nur dem hohen Adel, später aber dem gesamten Adel und solchen höhern Beamten zugestanden wurde, die durch ihren Rang als dem Adel gleichstehend galten. Jetzt wird diese Anrede allen in nur einigermaßen hervorragender Stellung befindlichen Leuten gewidmet.“ [Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Auflage, 1905-1909, Bd. 9, S. 404]
Herrn RegierungsratOskar Schibler war von 1912 bis 1932 Aargauer Regierungsrat; die ersten 10 Jahre verwaltete er das Justiz- und Polizeidepartement, anschließend war er für Inneres und das Gesundheitswesen zuständig [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 153, Nr. 526, 20.3.1932, Ausgabe 2, S. (2)].
Oscar Schibler
in Aarau
Schweiz.


Lieber Oskar! Für die freundliche Übersendung der schönen alten ErinnerungenHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zu den gesendeten Erinnerungsstücken; erschlossenes Korrespondenzstück: Oskar Schibler an Wedekind, 1.12.1915. herzlichsten Dank Ich hoffe sehr daß wir uns bald einmal wiedersehen. Vielleicht in München? Dann bitte ich um Benachrichtigung. Sonst beim nächsten Aufenthaltnächsten Aufenthalt] 3 Monate später trafen sich die ehemaligen Schulfreunde bei der Beisetzung von Frank Wedekinds Mutter Emilie in Lenzburg. Am 27.3.1916 notierte Wedekind: „Während des Mittagessens wird der Sarg abgeholt. In Zwei Wagen nach Aarau. Verbrennung. Oskar Schibler. Gustav Henckel“ [Tb 27.3.1916]. in Lenzburg.

Mit herzlichsten Grüßen
Dein alter Frank W. |


Frank WedekindDas Porträtfoto könnte im Herbst 1912 entstanden sein. Frank Wedekind notierte am 18.10.1912: „Lasse mich bei Baumann Nachf. photographieren.“ [Tb]