Briefwechsel

von Frank Wedekind und Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Frank Wedekind schrieb am 21. Juli 1872 - 22. Juli 1872 in Bendlikon folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind

[Hinweis und Referat in Emilie Wedekinds Brief an Friedrich Wilhelm Wedekind vom 27.7.1872 aus Hannover (Mü, Nachlass Frank Wedekind, Konvolut Burkhardt, Nidderau):]


Herzlichen Dank daß Du mit den beiden Kindern gleich meiner lieben Mutter Grab besuchtDas Grab von Karoline Friederike Kammerer, der Mutter Emilie Wedekinds, dürfte sich in Riesbach bei Zürich befunden haben, wohin die Familie Kammerer 1841 gezogen war [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 24; S. 290]. Friedrich Wilhelm Wedekind war am 20.7.1872 mit den beiden Söhnen Frank und Armin von Bendlikon nach Riesbach gefahren: Armin Wedekind notierte: „Mamas früheres Haus Besehen und in toden Garten gegangen zu Schiff Bändlikon zurück.“ [Tb Armin Wedekind, 20.7.1872] und ihnen mein väterliches HausDer Zündholzfabrikant Jakob Friedrich Kammerer, der Vater Emilie Wedekinds, bewohnte mit seiner Familie das sogenannte „Württembergische Haus“ (Haus 370) im Seefeld in Riesbach, einem 1893 eingemeindeten Vorort von Zürich. gezeigt hast. Tausend Dank für diese Aufmerksamkeit. Wie mir Baby schreibt scheint ja das Grab der lieben Verstorbenen gut im Stande zu sein trotzdem ich in den letzten Jahren nichts mehr dafür bezahlt habe. [...] Über die beiden Briefe von HammiArmin Wedekinds Kosename im Familienkreis. und BabyFrank Wedekinds Kosename im Familienkreis. habe ich mich sehr gefreut. [...] Es wunderte mich wie sie Beide so alle Namen behalten haben.

Emilie Wedekind und Ada Brockmann schrieben am 22. Juli 1872 in Hannover folgenden Brief
an Frank Wedekind , Armin (Hami) Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind

[Hinweis in Armin Wedekinds Tagebuch vom 23.7.1872 in Bendlikon:]


DienstagFriedrich Wilhelm Wedekind war am 18.7.1872 mit den beiden Söhnen Frank und Armin zu einer Reise von Hannover in den Kurort Bendlikon aufgebrochen, wo die drei am 19.7.1872 abends ankamen und am 21.7.1872 das erste Bad nahmen.. 23 Juli. [...]. Dann brachte uns Annavermutlich Kindermädchen in der Familie Wedekind. einen Brief von Mama und AdaEs dürfte sich um Ada Brockmann, älteste Tochter von Friedrich Wilhelm Wedekinds Schwester Emma Brockmann in Clausthal handeln. Ada war zu Besuch bei der Familie Wedekind und fuhr am 23.8.1872 wieder nach Hause [vgl. Emilie Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 25.8.1872 (Mü, Nachlass Frank Wedekind, Konvolut Burkhardt, Nidderau)]. [...] wir lasen ihn auf unserm Zimmer und waren sehr erfreut, daß alle unsere LiebenGemeint sein dürften insbesondere die kleinen Geschwister Willi und Erika sowie die Mutter Emilie Wedekind, die mit Donald schwanger war. sich wohl befinden.

Emilie Wedekind schrieb am 28. Juli 1872 folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Friedrich Wilhelm Wedekind , Armin (Hami) Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Armin Wedekinds Tagebuch vom 30.7.1872 in Bendlikon:]


Dienstag, den 30. Juli. Gleich nach dem Frühstück bekahmen wir einen Brief von Mama und lasen i[h]n sofort mit begier auf unserm Zimmer.

Frank Wedekind schrieb am 31. Juli 1872 in Bendlikon folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind

[1. Hinweis in Armin Wedekinds Tagebuch vom 31.7.1872 in Bendlikon:


31 Juliein Mittwoch.. Morgens und nachmittags waren wir mit unsern Briefen an Mama beschäftigt. [...] Donnerstag, 1 August, Heute morgen vollendete ich meinen Brief an Mama Dann legten wir ihn und BebebiSchreibversehen, statt: Bebi; Kosename Frank Wedekinds im Familienkreis. seinen in ein Couvert und brachten wir den Brief auf die Post.


[2. Hinweis in Emilie Wedekinds Brief an Friedrich Wilhelm Wedekind vom 4.8.1872 aus Hannover (Mü, Nachlass Frank Wedekind, Konvolut Burkhardt, Nidderau):]


Heute morgenSonntag, den 4.8.1872. um 9 Uhr erhielt ich Deinen, und am Freitag abendden 2.8.1872; Briefe zwischen Hannover und Zürich benötigten mit der Post etwa 1 ½ Tage. Hammy’s und Baby’s Briefe [...]


[3. Hinweis in Emilie Wedekinds Brief an Frank und Armin Wedekind vom 4.8.1872 aus Hannover:]


Habet vielen Dank für Eure reizenden Briefe.

Emilie Wedekind schrieb am 4. August 1872 in Hannover folgenden Brief
an Armin (Hami) Wedekind , Frank Wedekind

Liebster, bester Hammi und BebyKosenamen Armin und Frank Wedekinds im Familienkreis.!

Habet vielmals Dank für Eure reizenden Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.7.1872 und ein ebenfalls nicht überlieferter Brief von Armin Wedekind an Emilie Wedekind vom 31.7. und 1.8.1872.. Wie glücklich bin ich bei dem Gedanken daß Ihr, meine herzigen Kinder, nun in meiner HeimathEmilie Wedekind ist mit 7 Geschwistern im Züricher Vorort Riesbach aufgewachsen, wo ihr Vater Jakob Friedrich Kammerer eine Zündholzfabrik errichtet hat. Friedrich Wilhelm Wedekind war am 18.7.1872 mit den beiden Söhnen Armin und Frank nach Zürich gereist, um in Bendlikon zu kuren und die Gegend zu erkunden. Friedrich Wilhelm Wedekind hielt Ausschau nach einer geeigneten Immobilie und kaufte am 1.9.1872 Schloss Lenzburg, wohin die Familie noch im September übersiedelte. seid. Daß Ihr mein liebes theures VatherhausSchreibversehen, statt: theures Vaterhaus; das 1841 erbaute „Württembergische Haus“ an der Seefeldstraße in Riesbach (Haus 370), von dem eine Beschreibung Emilie Wedekinds überliefert ist: „Dieses neue Etablissement bestand aus einem zweistöckigen steinernen Hause. Parterre waren die Fabricksäle, Comptor, Laboratorium, Packstube, u. eine Art Küche zur Zubereitung der Zündmasse für die Schwefelhölzer. Oben im ersten Stock war die Wohnung der Familie. [...] Die Packstube […] im Winter angenehm durchwärmt, bildete durch ihren hellen heimeligen Raum, für uns Kinder einen angenehmen Aufenthalt, umsomehr, als dort meistens Kinder von 12-16 Jahren arbeiteten. Es wurde viel erzählt, man sang oft zweistimmige Volkslieder, auf dem Ofen brozelten die gebratenen Aepfel, und manchesmal wurde es unter dem jungen Volk so laut, daß die Aufseherin protestirte und [...] uns müßige Herrschaftskinder zum Tempel hinausjagte [Becker 2003, S. 12f.]. gesehen und auch die StelleCaroline Friederike Kammerer, die 1846 verstorbenen Mutter Emilie Wedekinds, ist in Riesbach bei Zürich beigesetzt worden. wo meine liebe unvergeßliche Mutter ruth/ht/. Denkt Ihr denn auch recht viel an Eure Mama? Wir sprechen stets von Euch und MiezeKosename Erika Wedekinds im Familienkreis. wünscht sehr daß Ihr bald wiederkommen möchtet. Seid nur aber auch recht außerordentlich artig, folgt Papa und wenn er et leidend ist dann pflegt ihn mir ja wie auch ich Euch pflege wenn Ihr krank seid. Aber hoffentlich wird sich | das Wetter wieder aufklären und Ihr Eure Bäder fortsetzen können. Wie gefällt es Euch denn im Riesbach und an der SeefeldstraßeÜber den Ort, wo das Vaterhaus in der Seefeldstraße stand, schrieb Emilie Wedekind: „Uns gegenüber waren damals nichts als Fruchtfelder, Äcker und Wiesen, und nichts verhinderte den Blick nach dem See, dem gegenüberliegenden Ufer und dem sich lang hinstreckenden Uetliberg. Hinter dem Hause war der Hof [...]. Daran stieß mit ihrem großen Einfahrtsthor, die Schmalseite der Remise mit dem Waschhaus. Daneben stand der Ziehbrunnen, der köstliches, klares Quellwasser spendete. Und nördlich am Hofe, sowie südlich vom Wohnhaus erstreckte sich der große schöne und wohlgepflegte Garten.“ [Becker 2003, S. 15]? Nicht warSchreibversehen, statt: wahr. da ist es schön. Morgen geht Willy wieder in die SchuleWie Armin und Frank Wedekind besuchte auch Willy Wedekind das Auhagen’sche Institut, eine Privatschule in der Hildesheimerstraße 58 in Hannover. Nach dem Ende der Sommerferien begann der Unterricht wieder am Montag, den 5.8.1872 [vgl. Emilie Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 5.8.1872 (Mü, Nachlass Frank Wedekind, Konvolut Burkhardt, Nidderau)].. Habt Ihr nicht Euer Antwortenbuch mitgenommen? Ich habe in Eurem Schrank und auf dem schwarzen Ständer nachgesehen und gesucht aber ohne Erfolg. Ich werde nun morgen einen neues kaufen und es Euch schicken. Nun lebet wohl meine lieben Jungens, schreibet bald wieder an Eure treue Euch liebende
Mama.


Willy u. Mieze laßen vielmals grüßen. Auch AdaEs dürfte sich um Ada Brockmann, älteste Tochter von Friedrich Wilhelm Wedekinds Schwester Emma Brockmann in Clausthal handeln. Sie war zu Besuch bei der Familie Wedekind und fuhr am 23.8.1872 wieder nach Hause [vgl. Emilie Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 25.8.1872 (Mü, Nachlass Frank Wedekind, Konvolut Burkhardt, Nidderau)]., Ludowike u.Sophilenicht ermittelt..

Frank Wedekind schrieb am 8. Mai 1884 in Lausanne folgendes Briefgedicht
an Emilie Wedekind

Meiner lieben Mutter.

Das Gedicht entstand am 8.5.1884; an diesem Tag wurde Emilie Wedekind 44 Jahre alt. Vermutlich legte Wedekind das Gedicht seinem Brief vom 11.5.1884 an die Mutter bei.


Nicht zu der Menschheit Götzen kann ich beten,
Die mit der Mode jeden Tages ändern,
Heut hochverehrt in aller Herren Ländern
Und morgen elend in den Staub getreten.


Nicht will ich mich vor Hirngespinnsten beugen
Die mir die eig’ne Fantasie geboren.
Nicht wall’ ich mit dem Schwarm naiver Thoren,
Vor kaltem Marmorbild mein Haupt zu neigen.


Der Gott, der meine Seele längst durchglühte,
Der mich geliebt, bewacht und nie verlassen,
Er lebt und webt, mein Geist kann ihn erfassen;
An seiner Stärke nährt sich mein Gemüthe.


Drum schreit’ ich muthvoll vorwärts durch das Leben,
Wenn auch mein Loos mich in die Ferne triebe. –
Der heil’ge Geist: Dein Segen, Deine Liebe,
Sie werden stets beschützend mich umschweben.

     ––––––––––––––––––––––––––––––

                                           Dein Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 8. Mai 1884 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Lieber Beby.

In Willy’s Korbder Korb mit der frischen Wäsche von Frank Wedekinds Bruder William; die beiden Brüder wohnten seit Anfang Mai 1884 zusammen im Haus des Tierarztes Emile Gros in Lausanne [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 2.5.1884]. wirst Du ein Stück von meinem GeburtstagskuchenAm 8.5.1884 wurde Emilie Wedekind 44 Jahre alt; den Kuchen dürfte sie zusammen mit Minna von Greyerz und ihrer Haushaltshilfe Frau Eichberger zur Vesper gegessen haben [vgl. Minna von Greyerz an Frank Wedekind, 8.5.1884]. vorfinden. Verspeise ihn zu meinem Wohlsein. Herr Gysivermutlich der Atelierfotograf Otto Gysi, der 1863 mit seinem Bruder, dem Fotografen, Feinmechaniker und Retuscheur Arnold Gysi, das Fotoatelier Fr. Gysi in Aarau vom Vater (Friedrich Gysi) übernommen hatte. ließ sich erkundigen, wie uns Deine PhotographieFriedrich Wilhelm Wedekind schickte seinem Sohn die Ausführungen der Fotografie nach Lausanne [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884], eine Beschreibung mit Zwicker liegt von Olga Plümacher vor [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 30.6.1884]; vermutlich handelt es sich um eine Variante des in der Wedekind-Biographie Kutschers abgebildeten Portraitfotos [vgl. Kutscher 1, S. 6]. gefalle worauf wir natürlich keine Antwort geben konnten. Ich wäre sehr neugierig etwas davon zu sehen.

Morgen soll Hr Pestalozzivermutlich Konrad Pestalozzi, der älteste Sohn des Vorbesitzers von Schloss Lenzburg und Mitglied der Erbengemeinschaft, die das Schloss 1872 für 90.000 Franken an Friedrich Wilhelm Wedekind verkauft hatte. kommen, den ich aber wahrscheinlich nicht das Vergnügen haben werden zu sehen, da ich | nothwendig nach Sirnach muß zu ZweifelsGemeint sein dürften die 3 Brüder Heinrich, Nicolaus und Peter Zweifel, die nach dem Ausscheiden des letzten Mitgründers (Jost Schiesser-Zweifel) die Weberei Sirnach in Sirnach unter dem Namen „Gebr. Zweifel“ in alleiniger Verantwortung übernahmen. In der Bekanntmachung heißt es: „Die Gebrüder Nicolaus, Heinrich und Peter Zweifel von und wohnhaft in Sirnach haben unter der Firma Gebr. Zweifel in Sirnach eine Kollektivgesellschaft eingegangen, welche mit der Eintragung in das Handelsregister ihren Anfang nimmt.“ [Schweizerisches Handelsamtsblatt Jg. 2, Nr. 80, 5.10.1884, S. 698]..

Schicke Deine Wäsche nicht mit Willy’s in einem Koffer, da Uebergewicht doppelt kostet. Pake sie in Deinen Korb Di und Willy die seinige auch in den seinen somit kostet jedes Paquet blos 48. cs.

Ich ersuche Dich mit Minna unter allen Umständen sogleich die Photographieein Foto von Fanny Amsler-Laué, einer Cousine von Wedekinds ehemaligem Schulfreund Walther Laué, die 1882 den Arzt Gerold Amsler geheiratet hatte. Wie Minna von Greyerz trat auch sie in den 1880er Jahren bei Konzerten des Musikvereins Lenzburg als Solistin für Gesang und Klavier auf [vgl. Emil Braun: Geschichte des Orchesters des Musikvereins Lenzburg. Festschrift zur Feier des Hundertjährigen Bestehen 1832-1932. Lenzburg 1932, S. 76]. von Fr. Dr. A. retour zu senden, es ist grenzenlos taktlos sie Dir gegeben zu haben. Wir sind alleVon der Kernfamilie lebten seit Anfang Mai 1884 auf Schloss Lenzburg noch die Eltern Friedrich Wilhelm und Emilie Wedekind und die drei jüngeren Geschwister, Erika, Donald und Emilie (Mati). wohl was auch von Dir hofft Deine
treue Mutter.

Frank Wedekind schrieb am 11. Mai 1884 in Lausanne folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Lausanne 11.V 84.


Liebe Mamma

Meine besten Glückwünsche zu deinem GeburtstagEmilie Wedekinds 44. Geburtstag war am 8.5.1884 gewesen.. Sie kommen leider um drei Tage zu spät, aber Glückwunsch ist Glückwunsch und wenn er von Herzen kommt so wird er auch zu Herzen gehen, komme er dann wann er wolle. ––– | Freilich wirst du am 8. Mai etwas enttäuscht gewesen sein, daß Du nichts von deinem ferne weilendenAm 1.5.1884 hatte Frank Wedekind Lenzburg verlassen, um ein Semester moderne Sprachen und Literatur an der Académie de Lausanne zu studieren [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 2.5.1884]. filius (lat.) Sohn.zu hören bekamst; und deswegen bitte ich Dich vielmal um Verzeihung; aber weil ich zu viel an dich dachteFrank Wedekind schrieb der Mutter an ihrem Geburtstag ein Gedicht [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 8.5.1884]. kam ich nicht zum Schreiben und habe so den richtigen Augenblick verfehlt. –– Ich mache nicht gern viel Worte über eine Sache die sich erstens von selbst versteht und sich zweitens mit Worten doch nicht ganz erschöpfen ließe, und nehme | deshalb Umganghier für: Abstand. davon meine Glückwünsche weiter zu auszuführen und näher zu kommentiren. ––– Wie geht es e/E/uch denn in Lenzburg? – MiezeKosename von Frank Wedekinds jüngerer Schwester Erika. könnte mir wol mal ein Briefchen schreiben in ihrem netten Stübchen. Sie hat dortErika Wedekind besuchte seit April 1884 das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau. Sie ist für das Schuljahr 1884/85 in der I. Klasse verzeichnet: „Frida Wedekind, San Francisco (Kalifornien)“ [Zwölfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1884/85, S. 4]. ganz die Umgebung dazu. Hat sie denn auch Lisa JahnWo Lisa Jahn, die älteste Tochter der Lenzburger Apothekerwitwe Bertha Jahn sich im Frühjahr 1884 aufhielt, ist nicht ermittelt, am 13.7.1884 kehrte sie nach Lenzburg zurück [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind 16.7.1884]; Mutter und Tochter waren mit Frank Wedekind befreundet [vgl. die Korrespondenzen]. schon geantwortet? Das interessirt mich sehr, weil ich doch einen größeren Brief von ihr angekündigt habe. WillyFrank Wedekinds Bruder William, mit dem er in Lausanne bei dem Tierarzt Emile Gros wohnte [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 2.5.1884], machte in Lausanne eine Handelslehre bei dem Kaufmann Emile Ruffieux. läßt dich vielmal grüßen und bittet dich, ihm doch etwas TheSchreibweise Wedekinds für: Tee (auch: Thee). zu | senden, damit wir, wenn wir abends aus der Kirche kommen uns noch etwas bereiten können und dazu ein Stündchen plaudern oder Schach spielen. Gesternam 10.5.1884. a/A/bend waren wir beim herrlichsten Mondschein auf dem See. Der Ostwind ging stark und trieb hohe Wellen, die unser Boot wacker umhertrieben. Heute morgen vor dem Frühstück wanderte ich durch lauter blühende Gärten voll schattiger Bäume wieder zum Strand hinunter, setzte | mich dort auf einen einsamen Stein und weihte dem großen Geiste der herrlichen Natur rings um mich her eine Friedenspfeife. Dicht neben mir am Ufer erhoben sich mit, übdecktSchreibversehen, statt: überdeckt. von einer hohen Esch Traueresche, die Trümmer eines alten rundes/n/ Thurmes, den ich dir einmal in effigie(lat.) als Bild. mit sammt der schönen Seelandschaft senden werde, sobald ich Zeit gefunden ihn abzukonterfeienabzumalen.. Mit dem Französischsprechen | will es noch nicht recht gehn, doch hoffe ich von der Zeit das Beste, besonders da meine Philisterinstudentensprachlich für Vermieterin; dies war Hortense Gros (geb. Major), Ehefrau des Tierarztes Emile Gros. eine sehr gesprächige Dame ist und zuweilen noch eine gesprächigere alte Tantenicht ermittelt. zu Besuch kommt, die Willi/y/ und mich schon für den Sängerchor der Mission intérieurSchreibversehen, statt: Mission intérieure, (frz.) Innere Mission; „christliche, namentlich evangelische Vereinsthätigkeit, die neben der Linderung der äußern Not zugleich die Befestigung oder Wiedererweckung des christlichen und kirchlichen Sinnes in den gefährdeten oder bereits entfremdeten Gliedern der Gemeinde erstrebt.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 8. Leipzig 1887, S. 961] keilen wollte. Das religiöse Treiben ist überhaupt sehr entwickelt hier in Lausanne. Hätte ich früher je gedacht, das malSchreibversehen, statt: daß mal. eine Zeit kommen würde wo ich nicht nur alle Sonntag, sogar alle | Abende in die Kirche wandere. Letzten Mittwocham 7.5.1884. sahen wir auch Lina WaltyLina Walty aus Gravellona Italien zog 1878 als Kind mit Eltern und Bruder, dem späteren Kunstmaler Hans E. Walty, nach Lenzburg. William Wedekind war mit Hans Walty, mit dem er die Bezirksschule Lenzburg besucht hatte, befreundet und mindestens seit Januar 1881 mit Lina Walty ein Paar [vgl. Lina Walty an William Wedekind, Gravellona, 23.1.1881, in: Mü, L 3476, Nr. 18, Abschrift Frank Wedekind; Friedrich Wilhelm Wedekind an Armin Wedekind, 21.-28.11.1883, in: Familienarchiv Wedekind, Leichlingen, FW L 49, EFFW (Kopie)]. und Frl Frida ZschokkeFrieda Zschokke, die Schwester von Wedekinds Aarauer Schulfreund Ernst Heinrich Zschokke, die bis Januar 1884 das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau besucht hatte [vgl. Elfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1883/84, S. 5] und nun das Mädchenpensionat bei Madam Duplan (geborene Gaudard) in Lausanne. von Aarau in einer solchen Versammlung, fanden aber leider keine Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen. Papa schickte mirHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Sendung der Fotografien: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 3.5.1884. die ProbephotographienIn Artur Kutschers Wedekind-Biographie sind zwei Porträts aus dieser Zeit abgedruckt [vgl. Kutscher 1, nach S. 144 und nach S. 160], Olga Plümacher beschreibt eine dritte Variante [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 30.6.1884]., die Gysidas Fotoatelier Friedrich Gysi in Aarau, das 1863 nach dem Tod des Firmengründers von seinen Söhnen Otto und Arnold Gysi übernommen worden war. nach Lenzburg gesandSchreibversehen, statt: gesandt. hatte. Willy findet weder die eine noch die andere gut und ich habe gar kein Urtheil darin und überlasse es also ganz dir, jene oder diese bei Gysi bestellen zu lassen. |

Die zerissenenSchreibversehen, statt: zerrissenen. Schuhe, die ich dir hier beiliegend sende, finden vielleicht Gelegenheit, noch mit der WäscheDie Schmutzwäsche der beiden in Lausanne weilenden Brüder wurde auf Schloss Lenzburg gewaschen und gebügelt. Der Korb mit William Wedekinds Wäsche wurde am 2.5.1884 aus Lausanne abgesandt [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 2.5.1884] und am 8.5.1884 wieder zurückgeschickt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 8.5.1884]. Frank Wedekind hat seine Wäsche demnach kurz nach seinem Bruder separat verschickt. zurückzukommen. Ebenso möchtest du Willy seine Stehkragen nicht vergessen, die er mit großer Vorliebe trägt. Bitte, schreib mir auch, wenn du etwas von Tante Plümacher weißt, der ich noch nicht geantwortetdie ausstehende Antwort auf Olga Plümachers Glückwunsch zur Matura [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 19.4.1884]. habe. Mit f/v/ielen herzlichen Grüßen an Dich und alle Anderen, auch an Minna e. ct. verbleibe ich Dein treuer Sohn
Franklin.

Frank Wedekind schrieb am 31. Mai 1884 in Lausanne folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind

[Hinweis im Brief von Minna von Greyerz an Frank Wedekind vom 2.6. bis 5.6.1884 aus Lenzburg:]


Deinen Brief las uns Tante im Hof vor als am Sonntag abendden 1.6.1884 (Pfingstsonntag). die Wäsche kam.

Emilie Wedekind schrieb am 6. Juni 1884 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekind an Emilie Wedekinds Brief vom 26.6.1884 aus Lausanne:]


[...] Deine letzte Sendung [...] Es war ein herrlicher Morgen, als ich ganz unerwartet all’ die Briefevgl. unter anderem Minna von Greyerz an Wedekind, 2.-5.6.1884. und die verschiedenen Beilagen auskramte. Besonders Dein lieber Briefdas hier erschlossene Korrespondenzstück. hat mir viel Freude bereitet [...].

Frank Wedekind schrieb am 26. Juni 1884 in Lausanne folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Lausanne. VI. 84.


Liebe Mama,

Die schreckliche NachrichtVon wem Wedekind benachrichtigt wurde, ist nicht ermittelt; sein Vater hatte die Nachricht von der schweren Erkrankung Hans Rauchensteins erstmals am 21.6.1884 über seine Tochter Erika erhalten [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und William Wedekind, 1.7.1884]. von der Krankheit Hans RauchensteinsHans Rauchenstein, der jüngste Sohn des ehemaligen Professors an der Kantonsschule in Aarau Friedrich Rauchenstein, war Ende Mai plötzlich erkrankt und starb mit 25 Jahren am 27.6.1884. Wedekinds Vater berichtete seinen Söhnen Frank und William ausführlich darüber nach Lausanne [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und William Wedekind, 1.7.1884]. traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und wie ganz anders mag es erst diejenigen getroffen haben, die mit Leib und Seele dab/r/an betheiligt sind. Ich konnt’ es zuerst kaum fassen, kaum verstehen, und all’ meine Phantasie reichte nicht aus, mich sofort mit der Sachlage beka vertraut zu machen. Wer hätte das auch diesen Frühling nur ahnen und erwarten können,/?/ Er, der Sonnenschein seiner ganzen FamilieArmin und Frank Wedekind waren während ihrer Schulzeit auf der Kantonsschule Aarau in den Schuljahren 1879/80 und 1880/81 in Pension bei dem Altphilologen Professor Friedrich Rauchenstein und dessen Familie (Halden 261)., aufs Beste veranlagt, in blühender Gesundheit und die schönste Zukunft soeben erstHans Rauchenstein war seit dem 30.4.1884 Lehrer für alte Sprachen und Geschichte an der Kantonsschule Aarau. vor seinen Blicken eröffnet – | doch wozu soll ich noch mehr sagen? Nützt es ja doch nichts. Man kann in solchem Falle nur staunen, bed/tr/auern und abwarten. Vergiß ja nicht, in deinem nächsten Briefe mir zu berichten, was du neues über ihn erfahren hast. Ich hoffe immer noch etwas Tröstlicheres zu vernehmen, als die letzte Schreckensnachricht war. –––. Nun muß ich dir für all’ das Schöne und Gute, für die viele Freude danken, die Deine letzte SendungDer Brief Emilie Wedekinds zu der Sendung ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 6.6.1884. zu uns bescheerte. Es war ein herrlicher Morgen, als ich ganz unerwartet all’ die Briefevermutlich Briefe der Geschwister Wedekinds sowie der genannte Brief Olga Plümachers an Emilie Wedekind, die nicht überliefert sind; erhalten ist der Brief Minna von Greyerz’ an Wedekind, 2.–5.6.1884. und die verschiedenen Beilagen auskramte. Besonders s dein lieber Brief hat mir viele Freude bereitet; wurde ich darin doch auf angenehmste Weise an alles erinnert, was mir in Lenzburg, lieb war, wofür ich mich interessire, und worüh/b/er ich ehedem viel zu plaudern pflegte! Der Caffe mundet uns ganz vorzüglich; er athmet süßen angenehmen Heimatsduft, und ich zweifele sehr | daran, ob ich in meinem künftigen Leben jemals wieder so vielg/b/edeutendes GetränkeSchreibversehen, statt: Getränk. genießen werde. Ist er doch nicht nur ein erfreulicher Gruß aus den heimischen Hallen, sondern erinnert mich auchOlga Plümacher versorgte die Familie ihrer Freundin Emilie Wedekind mit Kaffee aus Venezuela, wo ihr Ehemann Eugen Hermann Plümacher Kaffeehandel betrieb. über dies bei jedem Schluck an die geliebte philosophische TanteOlga Plümacher, die philosophiehistorische Arbeiten publizierte. in Stein und wenn ich während der Lectüre ihres Werkes dazu denDie doppelte Durchstreichung wurde durch Unterpunktung wieder aufgehoben. d dunkeln Mokkasaft schlürfe, dann müßte wirklich ein Wunder geschehen, sollt’ ich nicht vollständig von ihrem erhabenen pessimistischen Geiste beseelt und inspirirt werden. ––– Den Brief von Tante Plümacher, den du mit Recht ein kleines Juwel nanntest, hab’ ich mit großem Vergnügen gelesen. Doch erhielt ich seither nun schon ein größeres und auch ein ganz großes Juwel von ihr. Das größere Juwel ist ein langes Schreibenvgl. Olga Plümacher an Wedekind, 23.6.1884. über eine Rei Tour nach Arenabergdas Schloss Arenenberg am Ufer des Bodensees gegenüber der Insel Reichenau im Kanton Thurgau, ehemaliger Wohnsitz der holländischen Königin Hortense de Beauharnais und von Louis Napoleon, des späteren französischen Kaisers Napoleon III., worin sie mir die schöne Umgebung des Schlosses sehr poetisch und die Sääle im Inneren und einige Gemählde sehr geistvoll und fesselnd beschreibt. Dieses größere | Juwel begleitete das ganz große, nähmlich ihr neues Werkdie 1884 im Verlag Weiss in Heidelberg unter dem Verfassernamen O. Plümacher erschienene Abhandlung „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart. Geschichtliches und Kritisches“., aufs Eleganteste, d. h. nur seines Inhaltes würdig, eingebunden. Meine Freude kannst du dir leicht vorstellen. Ich durchflog schnell das Inhaltsverzeichniß des Buches und ersah daraus, wie viel darin zu lernen, positiv Wissenschaftliches zu lernen sei. Ich habe bereits die ersten Abschnitte durchflogen und bin bis zum Christenthumdas zweite Kapitel in Olga Plümachers Buch „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“ mit der Überschrift „Der Pessimismus und das Christenthum“ (S. 48-72). gekommen. Es scheint mir ein sehr verdienstliches Werk zu sein, das in manchem Kopfe ein wenig durch seine logische Strenge aufräumen und manchen verworrenen Gedankengang discipliniren kann. Doch Du wirst es jetzt ja ohne Zweifel auch erhalten haben. Bitte, schreibe mir doch dein Urtheilvgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 13.8.1884. darüber, damit ich es vergleichen kann mit dem Eindruck, den das Buch auf mich macht, denn man ist in solchen Fällen doch nie ganz sicher, ob man auch wirklich vorurtheilsfrei an die Lectüre geht. –––

Mit großem Vergnügen vernahm ich, daß Du Frau JahnBertha Jahn, Mutter von vier Kindern, seit Herbst 1882 verwitwet, war Inhaberin der Lenzburger Löwenapotheke. Sie wurde zur vertrauten Kritikerin von Wedekinds literarischen Projekten, zu der er seit Herbst 1884 auch eine erotische Beziehung pflegte. meine Bilddas im Fotoatelier Gysi in Aarau angefertigte Foto Wedekinds [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. gesandt | hast. Bei meiner Abreise von Lenzburgam 1.5.1884. sagtest du ja auch, du wollest sie einmal besuchen. Wenn Du etwas neues über sie weißt, so, bitte, schreib es mir; es würde mich sehr interessiren. Es leben gewiß wenig Menschen, die sie gekannt und darauf hin nicht mehr oder weniger verehrt haben. Ein so lauteres, tiefes und doch so lebhaftes Gemüth ist gewiß nicht leicht wo anders zu finden Und eben diese Veranlagung ist es, die jeden fesseln muß, da sich jeder von ihr verstanden, tief und gründlich verstanden fühlt, ohne daß ihr Wesen dabei etwas s/S/chwankendes, Unstetes hätte. Es ist vielmehr das Allumfassende ihres Geistes, das, im Dienste ihrer großen Güte und Menschenliebe, so vielen Menschenkindern so unendlich viel Schönes und Gutes zu erweisen vermag. –––

Hier in Lausanne ist das Wetter gegenwärtig wunderschön und ich hoffe von ganzem Herzen, daß es bei euch so auch so sein werde, damit die Erbsen auch Früchte tragen, die jetzt so schön | blühen und zu denen ich die Stecken gesteckt habe. Besonders die Umgegend der Stadt, die Dörfer auf den Höhen und am Seeufer entlang bieten einen herrlichen Anblick und die schönsten Spaziergänge. Ich habe auch schon einige Male meinen Herrn Philisterstudentensprachlich für: Vermieter; der Tierarzt Emile Daniel Gros. auf seiner Landpraxis begleitet und ihm bei Operationen assistirt. Da geht es dann an einem schönen Mittag nach dem Essen die Landstraße hinaus, auf dem klaren See entlang, oder unter hohen Buchen und Tannen in die Berge hinauf bis ins nächste Dorf, wo irgend ein Pferd, ein Esel oder eine Kuh krank ist. Das Thier wird zum Stalle heraus geführt und wenn es sich nicht irgend wo am Beine beim Gehen verletzt hat, so leidet es gewöhnlich an Husten oder Emphisem„Emphysem (griech. Windgeschwulst, Luftgeschwulst), Ansammlung von atmosphärischer Luft oder andern Gasarten in den Geweben, vorzugsweise in dem Zellgewebe unter der äußern Haut“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 5. Leipzig 1886, S. 606], daneben auch als Lungenemphysem als „abnorme Anfüllung der Lunge mit Luft“, die sich „auf das Bindegewebe der Lunge oder ihre Brustfellüberzugs [...] oder auf eine krankhafte Erweiterung der Lustbläschen selbst“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 10. Leipzig 1888, S. 1009] erstreckt.. Die Untersuchung seitens des Doctor bestialis(lat.) Tierarzt. geht dann exact so in gleicher Weise vor wie vom Doctor humanus(lat.) Arzt für Menschen; Humanmediziner. . Es wird der Puls gefühlt, der Athem behorcht, die Brust geklopft, die Hitze | des Fiebers gemessen, und dann, falls es nöthig ist, noch irgend eine Operation vorgenommen. Der Eigenthümer des Thieres führt e/E/inen sodann in seinen Keller hinunter und nachdem man dort zusammen ein Glas Wein getrunken, treten Herr Gros und ich den Heimweg wieder an. ––– Herrlich ist es jetzt, hier zu baden nur macht das Heraufsteigen vom Ufer halt doch wieder einige Mühe und annulirthebt auf. leicht die Erfrischung. Ich wäre dir deshalb sehr dankbar dafür, wenn du mir für solche Gelegenheiten den leinenen Rock, der in der Gespensterstube im Schranke hängt, mit der Wäsche senden wolltest. Oskar Schibler hat mir einen sehr lieben Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.6.1884. geschrieben. Er läßt sich bei dir noch vielmals für die Zusendung meiner Adresse bedanken. Minna lasse ich vielmals danken für ihren lieben großen Briefvgl. Minna von Greyerz an Wedekind 2.–5.6.1884.. Ich werde ihn heute Abend noch beantworten. Leider bleibt mir jetzt keine Zeit, denn ich muß zum Zeichnen gehen, sonst würd’ ich ihn der Wäsche beilegen. | Mati lasse ich herzlich danken für das schöne Hauseine Zeichnung von Wedekinds achtjähriger Schwester Emilie (Mati) [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 6.6.1884], die der Sendung ebenso wie die gepressten Blumen beilag. Wedekind bedankte sich mit einem Briefgedicht dafür [vgl. Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 26.6.1884]. und die gepreßten Blümelein Ich will ihr auch ein Verslein dafür schreiben aber es hat Eile. Also leb denn W/w/ohl, liebe Mamma. Und sei mit all’ den Deinen herzlich gegrüßt von Deinem treuen
Franklin.


Sende die Wäsche doch unter unserer Adresse.

F. W.
p. a. Mr. E. Gros.
Mon Caprice
Lausanne.
–––

Emilie Wedekind schrieb am 24. Juli 1884 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[1. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 26.7.1884 aus Lausanne:]


Dein Geburtstagskuchen hat ganz famos geschmeckt und ebenso der liebe Brief der ihn begleitete.


[2. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Friedrich Wilhelm Wedekind vom 6.8.1884 aus Lausanne:]


Am anderen Tageder 25.7.1884, einen Tag nach Wedekinds 20. Geburtstag. erhielt ich [...] den schönen Kuchen von Mamma, mit dem wir uns auf unserer Bude güt|lich thaten.

Frank Wedekind schrieb am 26. Juli 1884 in Lausanne folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Lausanne 25/6/.VII.84.


Liebe Mamma

Dein Geburtstagskuchen hat ganz famos geschmeckt und ebenso der liebe Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884. der ihn begleitete. Den Brief hab’ ich sofort verschlungen, den Kuchen aber erst um Mittag in Willys Gesellschaft bei einer Tasse Kaffe, Gesternam 25.7.1884, der Tag an dem die Sendung der Mutter eintraf [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind]. Abend haben wir dann noch den letzten Rest zu Kaffe und einer Pfeife Tabak genossen. Es war recht gemüthlich. – Schon am Mittag wollt ich unsere Philisterinstudentensprachlich für Vermieterin; Hortense Gros. zu dazu einladen. Aber der Plan fand bei Willy wenig Anklang | Ich begreife nicht, was ihm die liebenswürdige Dame so plötzlich verleidet hat. Gestern abendSchreibversehen, statt: Abend. waren wir auf dem See, alle zusammen, Mdm. Gros, Dora Wagnernicht näher identifiziert., Fräulein Schnabelawovskynicht näher identifiziert. , Willy und ich. Da hat er sich denn wieder mit ihr versöhnt. Noch besser aber unterhielt er sich mit Fräulein Schnabelawovsky, die lange in Amerika war und ihm viel von Polen erzählte.

Es war ganz windstille und warm, aber trotdemSchreibversehen, statt: trotzdem. der Himmel bedeckt und die Wellen gingen recht hoch. Wir n/f/uhren auch recht ziemlich weit hinaus und Mdm Gros bekam ein wenig Angst. Dora Wagner sprach ihr Muth ein und Frl. Schnabelawovsky sagte, wenn es ihr zu stark schaukele, so könne sie nur | aussteigen. Aber Madame blieb doch drinnen und wir haben alle glücklich wieder ans Ufer gesetzt. Später führte uns Frl. Schnabelawovsky ins Hotel Beaurivage wo sie bekannt zu sein schien. Es wurde nähmlich nicht auf der Altanebalkonartiger Anbau ans Obergeschoss., sondern auf in dem hohen herrlichen VestibülFoyer, Hotelhalle. gespieltIm Hôtel Beau-Rivage in Ouchy, am Ufer des Genfer Sees, fanden abends regelmäßig Konzerte statt. wo N niemand Zutritt hat, der nicht im Hotel wohnt. Abends halb elf Uhr waren wir wieder zuhause und dann wurde noch der Topfkuchenrest verzehrt. Den Geburtstagskranz der in der That viel zu schön für uns mich war, hab’ ich Fanny AmslerWedekind hatte nach einem Foto, das Minna von Greyerz ihm zeitweilig überlassen hatte, eine Zeichnung von Fanny Amsler, der Frau des Arztes Gerold Amsler, angefertigt [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884], die hier gemeint sein dürfte. umgehängt. Er steht ihr ganz vortrefflich und giebt ihr so etwas BachantischesSchreibversehen, statt: Bacchantisches; (lat.) Ausgelassenes, Trunkenes.. –– Die KinderEmile und Hortense Gros, bei denen Frank und William Wedekind in Lausanne wohnten (Villa Mon Caprice, Chemin de Montchoisy), hatten vier Kinder. sind schon seit 8 Tagen mit der Bonne(frz.) Kindermädchen; nicht näher identifiziert. bei deren Eltern in den Bergen. Auch Mdm geht heute Abend fort und zwar nach | Bière zu ihrer Nichte Mdm. Sonvairannicht näher identifiziert.. Die alte Tantenicht identifiziert; Wedekind hatte sie bereits früher schon getroffen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. ist auch schon dort und Dora W. wird Mdm begleiten. Sie haben uns dringend eingeladen, sie doch einen Tag dort zu besuchen. Das könnte auch ganz amüsant werden. Besonders die alte Tante möcht ich mal wieder sehn.

Vor vierzehn Tagenam 13.7.1884. waren wir in Yverdon. Sonnabend Abendden 12.7.1884. um 6 Uhr marschierten wir hier ab und kamen gegen 9 Uhr nach Echallondie Ortschaft Echallens, 16 Kilometer nördlich von Lausanne. wo ein großes Fest war. Doch hielten wir uns dort nicht auf. und setzten unseren Weg bis nach VoueranDie Ortschaft Vuarrens, 21 Kilometer nördlich von Lausanne. fort. Es war halb zehn Uhr und stockfinstere Nacht als wir dort ankamen. In der Dorfkneipe trafen wir einen bekannten Bauernnicht identifiziert., der uns einlud, am andern Morgen bei ihm zu | frühstücken. Unser Schlafgemach, war das einzige Zi Gastzimmer im ganzen Wirtshas/u/s, aber sah r/s/ehr R/r/einlich und nett aus. Wir hatten zwei gute Betten, n v aber Willi seins war etwas zu breit und meins zu kurz. Das machte übrigens nichtSchreibversehen, statt: übrigens nichts., denn das da es eine eiserne St/B/ettstelle hatte, , so konnte man die Füße bequem unten herausstrecken. Man hatte uns ein großes Stück Brod als Bettmümpfeli(schweiz.) Betthupferl. heraufgebracht, dazu Waschgeschirr und in einem Winkel des Zimmers fand sich sogar ein recht geräumiger goldiger Pot de Chambre(frz.) Nachttopf (wörtlich: Zimmertopf).. –– Am anderen Morgen standen wir beide früh auf und hatten beide gut geschlafen. Das Frühstück bei dem Bauersmann | war eine wahre Labsal. Er selber lag noch im Bett in der Wohnstube, aber Madame empfieng und/s/ in der Küche und bewirthete uns am großen Eßtisch mit einigen Tassen kräftigen Kaffes, mit Brod und guten Käse und mit großen Stücken Stachelbeerwähe(schweiz.) flacher Blechkuchen aus Mürbeteig, hier belegt mit Stachelbeeren.. Es war das ein Segen für den ganzen Tag. Beim Abschied erschien auch Monsieur in Hemd und Sonntagshose und drückte uns kräftig die Hand. Wir dankten aufs w/W/ärmste und dann gings weiter gen Yverdon. Der Morgen war prachtvoll und die herrliche Gegend, die wir gemüthlich rauchend mit strammen Schritt durchwanderten, suchte/w/eit und breit ihres Gleichen. Wir kamen über ein hohe Brücke. Darunter ein Waldbach sich in/vo/n einer Felsenstufe zur andern stürzte und klare mit weichem | Sande ausgelegte Bassins bildete. Hier warfen wir schnell Rock Hose und Hemd herund/t/er und hielten kühlende Rast in den schimmernden Fluthen. Als wir wieder MarschfertigSchreibversehen, statt: marschfertig. waren, wurden die Pfeifen von neuem belebt und nun hatten wir noch 2 Stunden zu marschieren bis zum Ziel. Die Hitze war afrikanisch. Fast wollten uns die Kräfte versagen, al denn auch die Füße waren schon stark angegriffen, als wir plötzlich von hohem Bergrücken herab im Thal unten den blauen Spiegel des Neuenburger Set/e/s erblickten – Ω τάλαττα! ω τάλαττα!!Schreibversehen, statt: Ω θαλαττα! ω θαλαττα!! (Griech.) Oh das Meer! oh das Meer!! Literarischer Topos für die Erreichung des rettenden Ziels nach großer Anstrengung (nach Xenophon: „Anabasis“ 4,7,24). –– Vor Yverdon stärkten wir unsere Le erschlafften Lebensgeister noch bei kurzer Siesta und dann zogen wir unter Glockengeläute ein in die w/b/reiten Straßen der alten Burgunderstadt. –– | VerdansDer Kaufmann und Nudelfabrikant Auguste Verdan und seine Frau Louise in Yverdon waren die ersten Station in William Wedekinds kaufmännischer Ausbildung gewesen, die er Anfang 1882 begann; im November 1883 wechselte er zu Emile Ruffieux nach Lausanne [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 19]. hatten keine Ahnung von unserer Absicht, aber der Empfang, als wir ankamen, war doch die Herzlichkeit selber. Herr Verdan sorgte sofort für die nöthigen Erfrischungen und zeigte uns dann die Neuerungen in/auf/ seinem Gute. Nach dem Mittagessen streckten wir uns alle drei, Herr Verdan, Willy und ich, nebeneinander unter einem Baum an der Orb ins Gras nieder und hielten ein Mittagsschläfchen. Am Nachmittag wollte uns Mdm absolut auf dem See spazieren fahren, aber erstens ließ sich das Boot nicht finden und zweitens bekam Monsieur auf dem Wege Bauchgrimmen, sodaß wir unverrichteter Sache heimkehrten. Abens/d/ 8 Uhr wurde angespannt und man führte uns im Wagen bis nach ChavornayOrtschaft 10 Kilometer südlich von Yverdon., wo wir den | Zug nach Lausanne nahmen. –– Die nächste Woche sind wir also mit Monsieur und Rosanicht näher identifiziert, eine Hausangestellte bei Familie Gros. ganz allein zu Hause. Übrigens hat Willy im Sinne mit Fräulein Schnabelawovsky noch einmal nach Beau-RivagSchreibversehen, statt: Beau-Rivage, (frz.) schöne Küste; das Hotel am Ufer des Genfer Sees (s. o.). und auf den See zu gehn. Sie ist aber auch eine sehr intelligente und hübsche Dame. Schade daß sie schon 30 Jahre hinter sich hat. Morgen Nachmittag fahren wir wahrscheinlich mit Mr. Gros nach EvianÉvian-les-Bains, französische Ortschaft auf der Lausanne gegenüberliegenden Seite des Genfer Sees, der für seine Mineralwasserquellen bekannt ist.. –– Mieze laß ich bestens für ihren freundlichen Briefvgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.7.1884. danken. Ich würde ihr sicher schon geantwortet haben, wenn ich Zeit dazu gefunden hätte. –– Papa werde ich bei nächstemfür: demnächst. einen längeren Briefvgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 6.8.1884. schreiben. Vorderhand meinen wärmsten Dank für den herzlichen Glückwunsch und das schöne Geschenk. An Dich, liebe Mamma die | besten Grüße und viele Küsse von deinem treuen dankbaren
Franklin.


Ich lasse Dodafamilieninterner Kosename für Wedekinds jüngsten Bruder Donald; der Kontext ist unklar. danken.

Emilie Wedekind schrieb am 13. August 1884 in Lenzburg
an Frank Wedekind

[1. Hinweis und Zitat in Kutscher 1, S. 27:]


1884 schrieb sie einmal: „Meine Lektüre bietet mir leider keinen Stoff zur Korrespondenz, sie ist so unbedeutend oder eigentlich ist sie gar nicht mehr. Das wirst du begreifen, wenn ich dir sage, daß ich den ganzen Tag im Garten arbeite und dann abends früh zu Bett gehe, wo ich sofort in die Arme des Morpheusin der griechischen Mythologie der Gott der Träume. sinke. Mein Garten ist meine Lust, er ist mein alljährlicher Kurort, meine Sommerfrische, mein Sorgenbrecher und mein buonretiroBuen retiro (span.) Zufluchtsort..“


[2. Hinweis und Zitat in Kutscher 1, S. 28:]


Dazu kam endlich noch die große Gastfreundschaft des Schlosses, die [...] der Hausfrau zur Last fiel. Frau Wedekind meinte [...]: „Es ist dies eine leidige Sache, die ihre argen Schattenseiten hat, aber doch nicht vermieden werden kann, besonders wenn man so wohnt wie wir, wo man die Freunde nur dann zu sehen kriegt, wenn sie extra herreisen.“


[3. Hinweis und Zitat in Kutscher 1, S. 48:]


Die Mutter schreibt ihm im August 84: „Ganz besonders gefiel mir das Kapitel über den EgoismusEs dürfte sich um den Abschnitt „2. Die Begründung der Sittlichkeit“ im 7. Kapitel: „Die Bekämpfung des Pessimismus vom Standpunct des ethischen Optimismus“ in Olga Plümachers Abhandlung „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“ (1884) handeln (S. 241-252). Der für Wedekind signifikante Egoismus-Diskurs [vgl. KSA 2, S. 820, 839f.] durchzog schon die gesamte Korrespondenz mit Adolf Vögtlin und war offenbar auch familienintern wiederkehrendes Thema.. Hast Du es genau durchgelesen? Wir sprachen so oft über diesen Gegenstand, und ich konnte dir niemals die Stange halten. Olga gibt mir nun mit diesem Buch ein mächtiges Hilfsmittel, und wenn du heim kommst, so werd ich dich schwarz auf weiß widerlegen. Also rüste dich.“

Frank Wedekind schrieb am 6. November 1884 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 12.11.1884 aus München:]


[...] verzeih mir meine unartige Karte.

Frank Wedekind schrieb am 12. November 1884 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München, 12. November 1884.


Liebe Mama,

Bitte, verzeih mir meine unartige Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.11.1884., die ich eben nur darum schrieb, weil Armin die Adresse vergessenZu der nicht überlieferten Karte von Armin Wedekind nach Lenzburg vgl. Erika Wedekind an Armin und Frank Wedekind, 9.11.1884; die Karte dürfte spätestens am 3.11.1884 verschickt worden sein. hatte. Sonst würd’ ich wol gewartet haben, bis ich ruhig gewesen wäre, und einen vernünftigen Brief hätte nach Hause schreiben können. Damals aber stand ich noch unter dem lebhaften Eindruck des v/V/orgefallenen und sch jetzt will es mir scheinen, daß es b eigentlich doch besser ist, daß der Eindruck lebhaft war, als wenn ich den herben Bissen so ohne Mundverziehen hätte hinunterschlucken können. Es sind das Dinge, über die man nicht laut schimpfen und fluchen kann, die | man in sich sein Inneres verschließt, dort hegt und pflegt und mit denen man vergebens ab/sich/ abzufinden sucht, wenn e/E/inem acht Tage lang solch’ süße Worte ohn Unterlaß in den Ohren klingen. Mein guter Engel hat mich davor bewahrt, daß ich meinen anfänglichen Vorsatz nicht ausführte, und nicht sofort nach unserer AnkunftDer Vorlesungsbeginn in München war im Wintersemester 1884/85 am 3.11.1884 [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Winter-Semester 1884/85, S. 2], so dass die beiden Brüder kurz zuvor in München angekommen sein dürften, vermutlich am 29. oder 30.10.1884 [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 6.11.1884]. von hier einen Brief an PapaFrank Wedekind schrieb – auch im Namen seines Bruders Armin – erst im Februar 1885 das nächste Mal an seinen Vater und kam noch einmal auf die Ereignisse bei der Abreise zu sprechen [vgl. Frank und Armin Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 19.2.1885]. schrieb, um mich bei ihm speciell für den kräftigen väterlichen Abschiedssegen zu bedanken. –– Jetzt bin ich ruhiger, objectiver geworden. Schmerz und Erstaunen, Gift und Galle sind mühsam verkaut und verdaut, und wenn auch die Umstände damals zu bedeutend, die Ausdrücke selber zu gewählt und beseelt waren, als daß ich die drückende Erinnerung in mir/daran/ jemals in mir werde tilgen können, so will ich die Sache doch zu verstehen, zu begreifen suchen. Aber | was mich dieses Verständniß, diese Begriffe kosten, wieviel u/U/nersetzliches ich dadurch auf immer verlieren muß, das kann ich allein ermessen und fühlen. ––

Verzeih mir noch einmal, daß ich jetzt wieder auf diesen Vorfall zu sprechen kam; aber ich konnte unmöglich ein solches Viaticum(lat.) Reisegeld. so blank und baar auf den gefahrvollen Weg ins Leben mitnehmen. Es ist dies das erste Mal, daß ich mit einer Menschenseele darüber rede und es geschah doch gewiß in maßvoller Weise im v/V/erhältniß zu dem, was man einen V. fl.wohl Abkürzung für Vaterfluch. nennt. Indem ich Dir mein Herz ausschüttete, glaubte ich dem entsetzlichen OmenVorzeichen eines künftigen Ereignisses; bezieht sich vermutlich auf Äußerungen des Vaters, der offenbar besorgniserregende Anzeichen zu erkennen glaubte. die Spitze abbrechen zu können. Ist das Aberglauben? – Ich weiß nicht, ob du mir nachempfinden kannst.

Armin hat sehr wenig Zeit und beauftragte mich deshalb, Miezels lieben Briefvgl. Erika (Mieze) Wedekind an Frank und Armin Wedekind, 9.11.1884. zu beantworten. Er sitzt den ganzen Tag Morgen und Nachmittag im Colleg und | muß außerdem einen ziemlich weiten WegDie Entfernung von der Wohnung der Brüder (Türkenstraße 30, 1. Stock) [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78] in der Maxvorstadt bis zum Universitätsspital, dem Klinikum links der Isar (Krankenhausstraße 1), betrug drei Kilometer. von unserer Wohnung nach dem Spital machen. Aber die große Freundlichkeit unserer Wirthindie Frau des herzöglichen Lakaien Leonhard Bühringer (Türkenstraße 30, 1. Stock) [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil I, S. 69; Teil II, S. 501]. (ihr Mann ist herzoglicher Lakai und meistentheils unsichtbar) macht diesen Nachtheil des Logis wieder vollständig gut. Auch ich habe 5 ganze Morgen und 4 Nachmittage CollegWedekind „hatte drei Vorlesungen belegt: Deutsche Rechtsgeschichte bei v. Sicherer, Institutionen bei Hellmann und römische Rechtsgeschichte bei Löwenfeld“ [Kutscher 1, S. 114]. Gemäß dem Vorlesungsverzeichnis besuchte er demnach „Deutsche Rechtsgeschichte, wöchentlich fünfmal von 10–11 Uhr [...] Institutionen des römischen Privatrechts, fünfmal wöchentlich (excl. Samstag) von 8–9 Uhr [...] römische Rechtsgeschichte, viermal wöchentlich, Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag von 2–3 Uhr“ [Verzeichnis der Vorlesungen an der königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Winter-Semester 1884/85. München 1884, S. 4f.].; außerdem schinde ich noch einige interessante Cursenicht ermittelt; Wedekind besuchte neben seinen juristischen Veranstaltungen auch kulturhistorische, literatur- und kunstgeschichtliche Vorlesungen., so daß meine Zeit so ziemlich ausgefüllt ist. Die Jurisprudenz gefällt mir einstweilen nicht übel, obs und wenn ich auch gerade keine stürmische Begeisterung zu diesem Studium empfinden kann, so glaub’ ich, daß die stille Sympathie und der Mangel an Antipathie dafür desto länger anhalten. Zu Mittag essen wir in einem Restaurant, in dem sich außer uns Walter Oschwald und einige andere Studenten zu einem gemüthlichen Cirkel zusammengefunden haben. Das Abendessen nehmen wir auf seit geraumer Zeit auf der Bude ein | und zwar abwechselnd bei uns und bei Walter Oschwald, wozu jeder das s/S/einige mitbringt und Thee gekocht wird, eine Einrichtung, die zwischen der Kneipe und dem stillen Familienleben eine angenehme Mitte hält, und den besonderen Vortheil besitzt, daß sie von der Abgeschiedenheit eines Anachoreten(griech.) eines zurückgezogen Lebenden; eines Einsiedlers. gleich weit entfernt liegt wie von dem wilden Treiben der Bierstube. Zum Dessert wird ein Stück aus Göthes Wilhelm Meister vorgelesen und Tabak dazu geraucht, ein Laster, dem sich Walter Oschwald bekanntlich schon längst ergeben hat, und dem Armin nun auch beginnt anheim zu fallen, indem er sich eine wunderschöne Pfeife kaufen will, anstatt dieselbe, wie er ursprünglich vorhatte, mir zum Weihnachten zu verehren.

München ist eine imposante Stadt, die viel Interessantes, viel s/S/ehenswürdiges bietet; aber wir genießen langsam | und mit Bedacht. Denn die eingehende Gründlichkeit ist es, die dem/n/ tiefen unauslöschlichen Eindruck der Seelen zurückläßt nicht die Wucht der sich hastig an unseren Augen vorbeidrängenden Massen. Außer den öffentlichen Denkmählern, den Kirchen, Palästen, Säulen, Obelisken und Statuen den unzähligen Statuen großer Männer, die hier in München ungefähr das Nämliche sind, was im Canton Aargau die Wegweiser, hab’ ich mir noch nichts genauer betrachtet als die Schacksche GallerieDie Gemäldesammlung des Grafen Adolf Friedrich von Schack befand sich in seinem Palais an der Brienner Straße 19 und war seit 1865 öffentlich zugänglich [vgl. https://www.pinakothek.de/de/sammlung-schack]. und die Gemähldesammlung im MaximilianeumDie von Maximilian II. 1852 initiierte Gemäldesammlung zeigte im Maximilianeum bei freiem Eintritt 30 große Ölbilder, „wichtige Ereignisse der Weltgeschichte darstellend und in hohem Grade sehenswert, [sie] befindet sich in 3 Sälen des Mittelbaus, zu welchen man durch ein schönes Treppenhaus gelangt.“ [Kellers München und seine Ausflüge sowie Führer durch die Königsschlösser. 7. Aufl. München 1896, S. 74] Zu den von Wedekind genannten Gemälden hieß es: „Mittel-Saal: *1. Sündenfall von A. Cabanel (eines der bedeutendsten Bilder der modernen Malerei). [...] Südlicher Saal: *3. Erbauung der Pyramiden von G. Richter. [...] *5. Seeschlacht bei Salamis von Wilhelm Kaulbach.“ [Ebd.]. Ersterer that ich ja schon in ein/dem/ Briefe an Tante Jahnvgl. Wedekind an Bertha Jahn, 6.11.1884. Erwähnung, aber sich an den unbeschreiblichen Schönheiten im Maximilianeum zu versündigen, darf ich meiner Feder kaum zumuthen. Da sind alles große Meisterwerke der größten Meister in deren manchem/s/ man sich der Blick auf eine Art versenkt, daß man gern auf alles | anderen verzichten möchte. No 1. – Den Maler hab’ ich vergessen: Adam und Eva nach dem SündenfallDas Originalgemälde „Le paradis perdu“ (1867) von Alexandre Cabanel wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, erhalten haben sich kleinformatigere Kopien und Varianten sowie Skizzen. in Lebensgröße. Der Satan schlägt sich seitwärts in die Büsche. Adam, ein schöner dunkler Jüngling von strammem Körperbau kauert unter dem Baum der Erkenntniß. Auf seinem düstern Antlitz spielen in wilder Verwirrung alle Züge, die ein böses Gewissen und eine fluchbeladene Seele charakterisiren können. Aber in weicherem, tieferem Schmerze weint zu seinen Füßen sein bezauberndes Weib, und die Entrüstung des Beschauers wendet sich ab von dem unglücklichen, schuldlosen Sünderpaare auf den, der von drei Engeln getragen aus hohen Lüften herabfährt, untilgbaren, stillen Zorn im erhabenen Angesicht, und dessen gezücktes Flammenschwert wie ein Blitzstrahl durch die schwarzen Wolken des Horizontes herabfährt bricht. Das Ganze machte auf mich einen gewaltigen Eindruck, und deshalb erfuhr ich später mit großer Genugthuung, daß das Bild vorzüg|lich gemalt sei, wohl das Beste der ganzen Gallerie. Die Figuren sind plastisch, die Effekte allmählig gesteigert und die ganze Stimmung einheitlich. Es stammt von einem französischen Meister. –– Kaum mit einem Blick zu übersehen aber von blendender Wirkung ist das kolossale Bild: Die Seeschlacht bei SalamisDas Monumentalgemälde „Die Schlacht bei Salamis“ (um 1858) von Wilhelm von Kaulbach hängt im Senatssaal des Maximilianeums. Von dem Gemälde gibt es mehreren Fassungen in unterschiedlichen Formaten unter anderem in der Neuen Pinakothek in München und in der Staatsgalerie Stuttgart. von Kaulbach. Die Composition ist nicht ein heitlich, sondern theilt sich in 4 verschiedene Gruppen und macht auch dadurch das Überblicken schwer. Auch die Farben sollen nicht besonders sein, aber darüber wag’ ich nicht zu urtheilen. Die Zeichnung der einzelnen lebensgroßen Figuren ist jedenfalls wundervoll, sonst könnte das Bild wol schwerlich solch’ reinen, gewaltigen Effect hervorbringen. Kaulbach soll sie alle ohne Modelle, ganz aus eigener Phantasie auf die Leinewand geworfen haben. –– Am besten aber gefiel mir, von wem, weiß ich nicht, der Pyramidenbaudas Gemälde „Erbauung der Pyramiden“ (1872) von Gustav Richter, im Zweiten Weltkrieg zerstört., ein hohes Gemälde von ächt orientali|scher lebhafter Farbenpracht. Im Hintergrund erhebt sich die Pyramide unter der mannigfaltigen Arbeit unzähliger Menschen im grellsten Sonnenlicht. Im Mittelgrund steht unter schattigem Baldachin eine ägyptische Königstochter von junonischer Gestaltvon erhabener Schönheit (wie die römische Göttin Juno). und majestätisch schönen Zügen. Im Vordergrund liegt im s/t/iefsten Schatten der Eingang zum unterirdischen Gewölbe, nur er/d/ürftig erleuchtet durch eine düstere Pechfackel. Dies Bild mit seinem vollen Leben hat mir am besten gefallen. ––

Heute morgen hat es hier zum ersten Male gefroren, und der herrliche Schlafrock thut mir jetzt schon die besten Dienste. Aber jetzt kann ich nicht mehr weiter schreiben, denn der Malernicht identifiziert., der im Nebenzimmer wohnt, singt eben seinen Abendsegen, eine Arie aus dem Bettelstudent„Der Bettelstudent“ (1882), Operette von Carl Millöcker. oder so was. Nächsten Sonntag werden wir ihm unsere Aufwartung machen. Sei also herzlich gegrüßt und geküßt von | Deinen beiden treuen Söhnen, die auch alle ü/Ü/brigen tausendmal grüßen lassen. Mieze soll nur weiter fortfahren uns so freundlich zu schreiben. Nur mag sie das nächste m/M/al in dem Worte a propos nicht wieder zwei Buchstaben auslassenErika Wedekind hatte „Apopo“ [Erika Wedekind an Armin und Frank Wedekind, 9.11.1884] geschrieben. .

Dein Franklin.

Frank Wedekind schrieb am 18. Dezember 1884 in München folgenden Brief
an Friedrich Wilhelm Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , William Wedekind , Emilie (Mati) Wedekind , Donald (Doda) Wedekind , Erika (Mieze) Wedekind , William Wedekind , Emilie (Mati) Wedekind , Donald (Doda) Wedekind , Erika (Mieze) Wedekind , Emilie Wedekind

München, im December 1884.


Ihr Lieben,

ich wünsche e/E/uch allenDer Brief wendete sich an die Eltern und die zu Weihnachten auf Schloss Lenzburg versammelten Geschwister. eine recht fröhliche Weihnachtszeit und für die Zukunft alles Gute, das der Himmel beschehrenSchreibversehen, statt: bescheren. kann. Von den Herrlichkeiten Münchens wüßt’ ich Euch viel zu erzählen und wills auch thun in einem längeren Briefe so bald die FerienDie Weihnachtsferien der Ludwig-Maximilians-Universität dürften am Montag, den 22.12.1884 begonnen haben und dauerten bis zum 4.1.1885. begonnen haben. Beiliegend einstweilen einige Beispielewohl beigelegte Ansichtskarten oder Fotografien.. Doda möge seinen Schiller brav durchstudiren und zwar mit Maria Stuart anfangen und | Fiesko und die Räuber erst nach dem Wallenstein lesen.

Es ist dies das erste Mal, das ichSchreibversehen, statt: daß ich. Weihnachten in der Fremde zubringen und bin sehr darauf gespannt, wie mir das vorkommen wird. Hoffentlich denkt i/I/hr am Heiligen Abend an unsFrank und Armin Wedekind, die sich ein Zimmer in München (Türkenstraße 30, 1. Stock) teilten.; so wird uns der Verlust und das Heimweh leichter zu ertragen sein. Ich weiß noch nicht recht, ob wir hier in München auch einen Weihnachtsbaum bekommen, aber viel Rares wird wol schwerlich daran hängen und auch die Fröhlichkeit dabei wird nicht den heimischen Familien-Charakter tragen. Aber wenn mir dieses Jahr die Gunst versagt ist, Weihnachten in Euerm lieben Kreise zu feiern, | so weiß ich umso mehr das Glück zu schätzen, einen so herben Verlust schmerzlich empfinden zu können in der schönen Erinnerung an andere Jahre und in der Hoffnung Euch, meine Lieben froh und gesund einst wiederzufinden. –– Mit tausend herzlichen Grüßen an Euch alle zusammen und an den strahlenden Weihnachtsbaum verbleib’ ich in unvergänglicher Treue Euer Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 23. Dezember 1884 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Armin (Hami) Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 31.12.1884 aus München:]


[...] besten Dank für die zwanzig Mark. [...] Das beste Weihnachtsgeschenk war aber doch die Geschichte mit d dem Rector Keller und dem | Schluffinicht identifiziert.. Das freute uns beide unbändig und Walter O. ebenfalls, dem es Armin vorlas.

Frank Wedekind schrieb am 31. Dezember 1884 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München, December 84.


Liebe Mama,

Prost Neujahr! – Viel Glück und Segen und alles Gute des Himmels und der Erde, der Liebe und des Lebens, seelischen und leiblichen Wohles!! Die besten Glückwünsche unseren lieben Geschwistern; sie mögen groß und stark werden, innen und außen, und ihre fernen BrüderFrank und Armin Wedekind verbrachten die Weihnachtsferien an ihrem Studienort München. nicht vergessen! ––

Beiliegend senden wir Euch unser BildDie überlieferte Fotografie, die Frank Wedekind (stehend) mit seinem Bruder Armin und Walter Oschwald (beide sitzend) um ein Tischchen gruppiert zeigt, liegt dem Brief nicht mehr bei [abgedruckt in: Vinçon 2021, Bd. 2, S. 69].. Ich hab leider keine Beine darauf und sehe aus eher aus wie ein Tafelaufsatz, aber | die Pfeife ist dafür umso besser, ebenso der Nasenklemmer und mein stattlicher neugeborener Vollbart, der nun endlich doch auch einmal anfängt von der Cultur beleckt zu werden. –– Die Idee stammt von Tante Jahn und die Ausführung ist soweit ganz gut gelungen, indem jeder der drei Betheiligten sich selber für den am besten Getroffenen hält.

Am heiligen Abend waren wir bei Walter OschwaldWalter Oschwald, Jurastudent und späterer Schwager Wedekinds aus Lenzburg, wohnte in München in der Theresienstraße 38, 2. Stock rechts [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 63]. zu Thee und Christbaum gebeten. Er hatte alle möglichen eß- und trinkbaren Herrlichkeiten von zu Hause bekommen und regalirteversorgte. uns zum Schlusse noch mit einem delikaten Punsch. Um Mitternacht gingen wir vereint in die LudwigskircheDie 1844 geweihte katholische Pfarr- und Universitätskirche St. Ludwig in der Ludwigstraße, rund 700 Meter von Wedekinds Wohnung (Türkenstraße 30) entfernt. zur Messe, wo dann allmählig einer den andern verlor, so daß endlich ein jeder | in Nacht und Einsamkeit nach Hause schlich. –– Unseren besten Dank für die zwanzig Markvermutlich ein Weihnachtsgeschenk der Mutter; das Schreiben zu der Sendung ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank und Armin Wedekind, 23.12.1884.. Sie kamen wirklich sehr gelegen; denn wenn wir auch jetzt längst aller Noth enthoben sind, so waren wir doch damals gerade dort angekommen, wo es sich kaum mehr di der Mühe lohnt, am anderen Morgen aufzustehen. Da erschien glücklicher weise jener Deus ex machina oder vielmehr ex Lenzburg und bewerkstelligte den Übergang des einen Quartals ins andere ohne die geringste Pumperei. Da nun unsere Finanzen wieder besserdurch die Zuwendungen des Vaters; vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und Armin Wedekind, 28.12.1884. bestellt sind, werden werd wir in nächster Zeit auch ein großes Bacchanal auf unserer Bude geben veranstalten, wobei es hoch hergehen soll. ––

Das beste Weihnachtsgeschenk war aber doch die Geschichte mit d dem Rector KellerJakob Keller war von 1876 bis 1886 Rektor des Töchterinstituts und Lehrerinnenseminars in Aarau, das Erika Wedekind seit April besuchte, zugleich dort Lehrer für Deutsch, Pädagogik und Religion [vgl. Adreß-Buch der Stadt Aarau 1884, S. 78]. und dem | Schluffinicht identifiziert.. Das freute uns beide unbändig und Walter O. ebenfalls, dem es Armin vorlas. Ich gratulire von ganzem Herzen zu dem herrlichen Siege der Wahrheit und Deiner trefflichen Energie über die miserable Niedertracht dieses Jesuiten. Und nun leb wohl liebe Mama. Ich muß mich leider wieder mit schreiben beeilen, sonst kommen die Briefeneben dem Neujahrsbrief an die Mutter weitere Briefe zu diesem Anlass, darunter einer an Bertha Jahn [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 31.12.1884] und der dort erwähnte Brief Armin Wedekinds nach Hause sowie der Walter Oschwalds an seine Mutter. zu spät. Walter und Armin sind auf dem Eis und wenn er/sie/ heimkommen so soll alles expedirtverschickt. sein. – Ich bleibe mit tausend herzlichen Grüßen Dein treuer Sohn Franklin.


Prost Neujahr!

Emilie Wedekind schrieb am 31. Januar 1885 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Mein lieber Franklin!

Gestern Abend war Schülerfest in AarauDas Fest der Kantonsschüler fand am 30.1.1885 statt [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 58]. Es war die zweite Veranstaltung dieser Art, im Jahr zuvor hatten die Schüler erstmals „eine öffentliche musikalisch-dramatische Abendunterhaltung im neuen städtischen Festsaale gegeben. Das Programm, aus einem Prolog, mehreren Vocal- und Orchesternummern, Declamationen und dramatischen Darstellungen bestehend, hatte eine unerwartet große Zahl Zuhörer angezogen“, so dass, „da nun ein sehr schönes und günstiges Lokal zur Verfügung“ stand, geplant war, „den Schülern jeden Winter einen oder zwei solcher Abende bieten zu können.“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule. Aarau 1884, S. 9] und ich war auch da, als Ballmutter unserer Miez. Es war sehr fidel. Victor JahnDer Sohn von Bertha Jahn besuchte die Abschlussklasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau. Im Jahr zuvor hatte Wedekind den Prolog verfasst und vorgetragen [vgl. KSA 1/I, S. 114-117 und KSA 1/II, S. 1983f. vgl. auch: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 16.2.1884]. Mit Bertha Jahn korrespondierte er zu dem Text seines Nachfolgers [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 18.12.1884 und 12.4.1885; zu Victor Jahns Prolog vgl. Hans Kaeslin: Schülerabend-Prologe. In: Aargauer Neujahrsblätter, Jg. 18, 1944, S. 32-34]. war dieses Jahr der Pl/r/ologverfasser und, mit einer Art Narrenkappe geschmückt, trug er ihn vor, mit vielem Humor und guter Laune. Leider konnte ich vieles nicht verstehen, war es der Platz oder ist der Saal überhaupt nicht zum Sprechen geeignet, ich verstand auch von den folgenden gesprochenen Produktionen sehr wenig. Überraschend gute Instrumentalvorträge fanden statt. Geige spielte ein ganz junger Mensch, WidlerHeinrich Wydler aus Affoltern, der im Jahr zuvor noch die 2. Klasse des Progymnasiums besucht hatte [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule. Aarau 1884, S. 15].; ich meine, man sagte mir, er sei erst G Progymnasiast. Der junge FlainerFritz Fleiner aus Aarau (Laurenzvorstadt 586) besuchte die 2. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule und legte im April 1887 dort das Abitur ab [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 59]. spielte sehr gutDie Aufforderung zum TanzKlavierrondo von Carl Maria von Weber (op. 65) aus dem Jahr 1819, das verschiedentlich auch orchestriert wurde. Das Stück folgt einem musikalischen Programm, bei dem ein Mann ein Mädchen zum Tanz überredet, mit ihr tanzt und beide wieder auseinandergehen.“. Der Gesang, König v. Tule„Der König in Thule“ ist ein Lied von Franz Schubert von 1816 (op. 5 Nr. 5, D 367) nach einer Ballade von Johann Wolfgang Goethe aus dem Jahr 1774, die er auch in den ersten Teil seines „Faust“ übernommen hat., Alpenjägerein weiteres Schubert-Lied (op. 13 Nr. 3, D 524), geschrieben 1817, auf einen Text von Johann Mayrhofer. , | war nicht weit her, aber als Lückenbüßer am Platze. Das Kleist’sche Fragment Guiskart/d/„Robert Guiskard. Herzog der Normänner“ ist ein dramatisches Fragment von Heinrich von Kleist, das 1808 erschien und offiziell erst am 6.4.1901 in Berlin uraufgeführt wurde. schien mir ein Mißgriff. Die Erstens verstand man beinahe nichts. Zweitens hatten 2 der Hauptrollenträger falsche Bärte, die die Aussprache noch mehr undeutlicher machten und der Chor, Kreuzritter, hatten alle bis auf die Achsel gehende blanke silberne Helme auf, die große Änlichkeit mit unserm Dampfhafen„ein starker eiserner Topf mit luftdicht schließendem Deckel, aus welchem der beim Sieden gebildete Wasserdampf nicht entweichen kann“ [Carl Ernst Bock: Das Buch vom gesunden und kranken Menschen. Leipzig 1876, S. 425]; Dampfkochtopf. hatten, und/nur/, daß ihre ForderseiteSchreibversehen, statt: Vorderseite. mit 2 Augenlöchern und einem winzigen Mundlöchlein versehen war. So kam es denn, daß es stets sehr lächerlich klang, wenn solch’ ein wandelnder Kochtopf anfing zu sprechen. Es war dieß die Glanzproduktion der Aargauer, die aber weit überstralt wurde von/m/ „Lohengrin“, Oper in 3 Akten, ge von dem Turnverein gegeben. | Es war dieß eine ganz tüchtige Leistung. Dein Freünd, H. KellerHermann Keller aus Aarau, der Stiefbruder von Wedekinds Freund Oskar Schibler [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.7.1884], besuchte die Abschlussklasse der Gewerbeschule an der aargauischen Kantonsschule. [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule. Aarau 1884, S. 16]., machte den König so gut, daß er sich getrost auf einem ordentlichen Theater presentiren könnte. Die Elsa war enzückendSchreibversehen, statt: entzückend. und der Lohengrin ein echter Märchenprinz. Nun, di/u/ kennst ja die Personen, sahst auch das StückRichard Wagners Oper „Lohengrin“ war am Königlichen Hof- und National-Theater München am 22.1.1885 gegeben worden., und deßhalb enthalte ich mich weiterer Deet/ta/ils. Der Saal war fast ganz vollDer Festsaal des am 16.12.1883 eröffneten Saalbaus in Aarau fasste 650 Sitzplätze und 150 Plätze auf dem Podium, der kleine Saal 400 Sitzplätze [vgl. Oskar Bucher: 100 Jahre städtischer Saalbau Aarau. In: Aarauer Neujahrsblätter, Jg. 58, 1984, S. 24].. Die InstitutsbeesenSchreibversehen, statt: Institutsbesen. Gemeint sind wohl die Schülerinnen des Töchterinstituts und Lehrerinnenseminars in Aarau, das Erika Wedekind besuchte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 59]. Die Bezeichnung „besen heiszt […] studentisch, jedes mädchen: ein flotter, famoser, patenter besen“ [DWB, Bd. 1, Sp. 1615]. hatten Freibillete und durften auch nachher dableiben. Zwar, die fromme oberste Klasse getraute sich dennoch nicht zum Tanze zu bleiben und ging G/g/ottergeben nach den Auffür/h/rungen heim. Ich hatte mich bei Mieze’s Philisterinnendie Erzieherinnen bzw. Hauswirtinnen [vgl. DWB Bd. 13, Sp. 1827] von Erika Wedekind am Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. zum Quartier gebeten, lud aber dafür eine der Damen ein und hatte auch die Ehre der Bewirthung für den Abend. Mieze tanzteDavon berichtete auch Erika Wedekind ihren Brüdern [vgl. Erika Wedekind an Armin und Frank Wedekind, 8.3.1885]. unausgesetzt und war sehr vergnügt. Herr GroßLudwig Groß in Aarau, „Buchhändlergehülfe von Ludwigsburg (Würtemberg), Zollrain 87.“ [Adreß-Buch der Stadt Aarau 1884, S. 24] In einer chronologischen Liste im Anhang seines Münchner Tagebuchs notierte Wedekind den Namen „Groß“ [Tb, S. 114] unter dem Jahr 1882. nahm sich ihrer auch an und im Übrigen ließen unsere Lenzburger | jünglinge nichts zu wünschen übrig. Ich hatte auch volle Gelegenheit alle Deine mehr oder weniger Flammendie von Wedekind Angebeteten aus seiner Aarauer Schulzeit (1879 bis 1884). von Angesicht zu schauen. Da war das „FahrländerliAnna Fahrländer aus Laufenburg, wohnhaft in Aarau, ehemalige Schülerin am Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau [vgl. Zehnter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1882/83, S. 4]. In Aarau gemeldet waren der Staatsanwalt Karl Fahrländer, der Arzt Adolf Fahrländer und der Ingenieur Eugen Fahrländer [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau. Aarau 1881 S. 55].“, das „FleinerliMartha Fleiner aus Aarau, Schwester des oben genannten Fritz Fleiner, das vierte der fünf Kinder des 1877 verstorbenen Aarauer Zementfabrikanten Albert Fleiner und der Leontine Zschokke-Fleiner, ehemalige Schülerin am Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau [vgl. Zehnter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1882/83, S. 4] – ein Schwarm Wedekinds aus dem Jahr 1881 [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 3.9.1881]. “, das Rynerlivermutlich Félonise Reiner aus Aarau, ehemalige Schülerin am Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau [vgl. Siebenter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1879/80, S. 5]. In Aarau war der Fabrikant Wilhelm Reiner gemeldet [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau. Aarau 1881 S. 63]. , das Schärerlivermutlich Emilie Scherer aus Baden, die im Schuljahr 1874/75 die I. Klasse des Lehrerinnenseminars Aarau besucht hatte [vgl. Zweiter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau Schuljahr 1874/75, Aarau 1875, S. 5]. Wedekind dürfte sie 1878 kennengelernt haben, da er zu diesem Jahr in einer Übersicht am Ende des Münchner Tagebuchs ihren Namen notierte [vgl. Tb München, S. 114]. und tanti quanti(lat.) so viele.. Übrigens iste der Schnurrbartmöglicherweise Anspielung auf einen Verehrer oder Verlobten Martha Fleiners; sie heiratete am 10.5.1887 den Aarauer Maler Hermann Hunziker. des Fleinerli’s gar nicht so prominent und steht dem Gesicht gar nicht übel. Um 3 Uhr gingen wir heim, zum argen Leidwesen Mieze’s die gerne die Freude bis auf die Hefe gekostetRedensart biblischen Ursprungs (Psalm 75,9): etwas bis zum Ende genießen. hätte. Heute früh kamen wir heim, als unsere Lenzburger gerade beim Kaffee saßen. Ich schicke Dir die Programme und eine KarteDie dem Brief beigelegten Schriften sind nicht überliefert. an Armin die die liebe gute Effienicht identifiziert. in der Neujahrsnacht für ihn gezogen oder geloost hatte. Effie schrieb mir einen reizenden Brief. Zwar voller frommer Bibelsprüche und Hinweisungen auf jenseitige Freuden, | Aber d ganz ohne unangenehme Zudringlichkeit, so daß man eben fühlt, es sei die Frömmigkeit ihr eigenstes Sein und Wesen. Sie hatte einen Heiratsantrag von einem jungen Arzte, dem sie aber einen Korb gab, weil er, wie sie sagt, kein Christ sei, und sie nur mit einem solchen glücklich werden könne. Sie meint, zum Frühjahr werden sie ihre Heimath auf der Audie Halbinsel Au mit der gleichnamigen Ortschaft im Zürichsee. abbrechen und dann gehe ihr Vater wieder nach Indien, wohin ihn sein Herz stets mehr hi ziehe. Wenn er es ihr erlaube, wolle sie sich ganz den frommen Werken weihen und zu dem Zwecke nach London zurück kehren wo soviel Sünde und Elend sei. Augenblicklich treibt sie Rosenzucht und hat im Sinn auf den Sommer, wenn sie noch da seien eine Ausstellung zu veranstalten. |

Willy hat mir, auf eine Sendungnach Lausanne, wo William Wedekind eine kaufmännische Ausbildung bei Émile Ruffieux absolvierte. Berlinerpfannkuchen eine wahre Liebeserklärung gemacht. Ein solcher Enthusiasmus ist mir lange nicht vorgekommen. Dazu hält er mir aber eine Standrede, daß Ihr soviel Geld verstudiert und Euch dazu noch photographiren laßtvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.12.1884; eine Reproduktion des Fotos findet sich in Vinçon 2021, Bd. 1, S. 69].. Er ist ein drolliger Kauz, seine BriefeVon William Wedekinds Briefen an seine Mutter sind nur fünf überliefert [vgl. Mü, FW B 313], darunter keiner aus dem Jahr 1885. werden einst, gesammelt Epoche machen. Nun aber möchte ich doch bald mal wieder etwas von Euch hörenFrank und Armin Wedekind verbrachten ein gemeinsames Studiensemester in München und wohnten zusammen in der Türkenstraße 30 im 1. Stock. [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78].. Deßhalb setze sich mal einer von Euch hin und sendet ein Lebenszeichen an Eure, darnach lechzende, treue Mutter.


Lebet wohl. Mieze, Donald und Mati lassen 1000 mal grüssen. Donald muß in 3 Wochen in einem kleinen Stücknicht näher identifiziert; vermutlich im Rahmen einer Schulaufführung. Donald Wedekind besuchte die Bezirksschule Lenzburg. einen deutschen Gelehrten spielen, was ihm aber sehr zuwieder!! –––

Frank Wedekind schrieb am 12. März 1885 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München, März 1885


Liebe Mama.

Du weißt wol schon daß ich Papa geschriebenvgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 19.2.1885. habe, daß er uns verziehHinweis auf ein nicht überliefertes Antwortschreiben des Vaters; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und Armin Wedekind, 22.2.1885., und mein nächster Brief soll ihm unseren herzinnigsten Dank dafür melden. Du zürnst unsDies hatte Erika Wedekind in ihrem letzten Brief bemerkt [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 8.3.1885]., weil wir so lange nichts haben von uns hören lassenFrank und Armin Wedekind verbrachten ein gemeinsames Studiensemester in München und wohnten zusammen in der Türkenstraße 30 im 1. Stock. [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78]., aber Armin ist wirklich gar zu sehr durch seine Collegiendie Vorlesungen an der Universität; Armin Wedekind studierte Medizin. in Anspruch genommen; und ich – ich muß mich selber anklagen: ich war zu lässig; oft hab’ ich zwar von euch allen geträumt, habe voll Sehnsucht an euch gedacht, aber ohne daran zu denken, daß Ihr eben von di/so/lchem Denken nichts habt, und daß wir Dir auf all | Deine liebevollen erquickenden Briefe mindestens eine dankende Antwort schulden. Auf dem reizenden Bilde, das du Armin zum GeburtstagArmin Wedekind hatte am 29.1.1885 seinen 22. Geburtstag; das Schreiben der Mutter mit der beigelegten Photographie von Wedekinds Schwestern ist nicht überliefert. sandtest erkannte ich auf den ersten Blick nicht nur zwei, sondern drei Figuren, nämlich erstens, und vor allem Dich, liebe Mama, in zweiter Linie Mieze und Mati. Meiner PhanthasieSchreibversehen, statt: Phantasie. ließ ich dabei durchaus keinen zu freien Spielraum: Matis tiefe Züge mit dem reichen dunkeln Haar, von süßen seelenvollen Augen belebt, sind dir so frappant aus dem Antlitz geschnitten, daß es nur noch Miezes energischer und doch so gütiger KugheitSchreibversehen, statt: Klugheit. bedarf, um mit Deiner Erscheinung auch Dein inneres Wesen zu vereinigen. Aber all’ das hast Du selbst ja gewiß sofort bemerkt und von jedermann gehört, der die hübsche Photographie gesehen. Was du mir | vor einem MonatDer Brief lag bereits sechs Wochen zurück [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885]. über den Kantonsschülerabend in Aarau schriebst hat mich sehr interessirt und von Herzen gefreut. Erinnerte es mich doch an einen der bewegtesten MomenteBeim ersten Fest der Kantonsschüler am 1.2.1884 hatte Frank Wedekind den „Prolog zur Abendunterhaltung“ [KSA 1/I, S. 114-117] verfasst und vorgetragen, der anschließend auch gedruckt wurde [vgl. KSA 1/II, S. 1983f.]. meiner Vergangenheit; und wer will es mir verdenken, daß ich auch heute noch mit Wohlgefallen auf den Augenblick zurückschaue, da meine g/h/eiß geliebte Jungfer m/M/use, die durch ihren Leichtsinn mir und andern schon so manchen herben Kummer bereitet – da sie ihren ersten schönen Triumph feierte. Nenn’ du es Eitelkeit, daß ich noch nach einem Jahre, da längst andere Sterne am Firmamente strahlen, bei dieser Gelegenheit zuerst an mich denke; ich aber fühle darin den Stachel zu ernsterem Streben und deut’ es mir als glückverheißendes Omen für spätere Zeiten.

An den Programmen der FestlichkeitDie (nicht überlieferten) Programme hatte Emilie Wedekind ihrem letzten Brief beigelegt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885]. hatten meine hiesigen Aarauer Freunde viel Vergnügen, und Deine eingehende | Kritik mahnte mich daran, daß ich selber in die hübsche Elsa von Brabantdie weibliche Rolle in Richard Wagners Oper „Lohengrin“ (1850), die beim Kantonsschülerfest in Aarau am 30.1.1885 vom Turnverein aufgeführt worden war. dereinst beinah verliebt gewesen bin. Victor Jahns Prologabgedruckt bei Hans Kaeslin: Schülerabend-Prologe. In: Aargauer Neujahrsblätter, Jg. 18, 1944, S. 32-34. hab’ ich mit freudiger Bewunderung gelesen. Es stehen einige ganz vorzügliche efectvolleSchreibversehen, statt: effectvolle. Witze darin; nur etwas begreif’ ich nicht, etwas ganz formelles, wie man nämlich zu einem declamatorischen Vortrag ein so holperiges, knittliges Versmaß wählen kann. Tante Plümachers Erz amerikanische ErzählungDie Publikation ließ sich nicht ermitteln. Ende Dezember hatte Olga Plümacher Wedekind ein „Büchlein“ [Olga Plümacher an Wedekind, 21.12.1884] von Hieronymus Lorm übersandt, das hier auch gemeint sein könnte. hab’ ich mit großen InteresseSchreibversehen, statt: großem Interesse. gelesen. Schade, daß der liederliche Druck sie einigermaßen entstellte. Armin wird sie Dir wiederbringen mit meinem besten Danke wenn er zu Euch zurückkehrtArmin Wedekind wechselte für sein Medizinstudium zum Sommersemester an die Universität Zürich.. – Donald gratulir ich von Herzen zu seinem ersten BühnenerlebnißDonald Wedekinds ersten Bühnenauftritt hatte die Mutter in ihrem letzten Brief für Ende Februar angekündigt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885]. und Mati wünsch’ ich Glück zu ihrer ApotheoseVerherrlichung. der lieben, weißen Pusiwohl Emilie (Mati) Wedekinds Katze.. Das ist | ein liebliches Idyll, zu dem ich gerne auch einen poetischen Erguß beisteuern würde, wenn es mir möglich wäre. Aber – ich weiß es mir kaum zu erklären – seit ich die schöne Heimat verlassen, verließ mich die Poesie; hier in München ist mir noch kein einziger VersDas erste überlieferte, titellose Gedicht aus der Münchner Zeit Wedekinds stammt vom 18.4.1885 und beginnt mit den Worten: „Wie gern verzicht’ ich auf den Ruhm der Welt“ [KSA 1/I, S. 190]. geglückt, und dennoch sehn’ ich mich oft recht innig nach der treulosen Göttin, der holden Gefährtin meiner Jugend, und hoffe alsdann, sie möge ihr Unrecht bald einsehen und trostbringend zu mir zurückkehren. – Das LorleTitel der ersten Abteilung – ein ländliches Gemälde in 2 Akten – von Charlotte Birch-Pfeiffers Schauspiel „Dorf und Stadt“ (1847), das vom Laienspieltheater in Lenzburg 1885 aufgeführt wurde [vgl. Emil Saxer: Lenzburg. In: F. A. Stocker: Das Volkstheater in der Schweiz. 3. Aufl. Aarau 1893, S. 123-128]. Emilie Wedekind besuchte mit Erika und Donald die Vorstellung am 5.3.1885 [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 8.3.1885]. habt ihr nun wol bereits gesehen und Frau OschwaldFanny Oschwald, die Schwester von Bertha Jahn, war nicht nur Laienschauspielerin, sondern verfasste auch Mundart-Dramen und -Erzählungen. Erika Wedekind heiratete 1898 ihren Sohn Walter Oschwald. als BärbeleDie Rolle der Bärbel ist neben Lorle die zweite weibliche Rolle in „Das Lorle“ (s. o.). darin. Ich bin sehr gespannt, was Du mir über die Aufführung schreiben wirst. Maria Stuart und Elisabethdie Hauptrollen in Friedrich Schillers „Maria Stuart“ (1800) und Heinrich Laubes „Graf Essex“ (1856), den Stücken, die das Laienspieltheater 1876 und 1884 aufgeführt hatte [vgl. Emil Saxer: Lenzburg. In: Franz August Stocker: Das Volkstheater in der Schweiz. 3. Aufl. Aarau 1893, S. 127]. waren doch eigentlich beide, trotz ihrer Verschiedenheit im Charakter, hohe ideale Figuren, in denen die Darstellerin mehr oder weniger doch nur sich selbst und ihr eigenes hoch|poetisches Wesen spielte. Wenn Frau Oschwald als solche in der Maria Stuart zur ihrer herrlichsten Entfaltung kam, wenn sie in Essex die Königin Elisabeth durch erhebenden Idealismus besiegte, so wird sie, als treffliche Schauspielerin, dem Bärbele wol vollständig unterli/legen sein, und meine jugendfrische Schwärmerei wagt sehr daran zu zweifeln, ob eine larmoyante Birch-Pfeiffereiabfällige Bezeichnung für die Dramatisierung literarischer Vorlagen durch die Theaterschriftstellerin und Schauspielerin Charlotte Birch-Pfeiffer: „Birchpfeifferei ist unter den Stylarten des modernen deutschen Dramas die Manier, eine Wurst so voll zu stopfen, daß man in jedem Augenblicke mit Spannung ihrem Platzen entgegensieht; Birchpfeifferei ist die Kunst, einen dicken, dreibändigen Bulwerschen Roman in einen einzigen Darm hineinzuquetschen und dem Zuschauer dies Stück Arbeit bis auf den letzten Zipfel, wo das Querhölzchen sitzt, in den Hals zu jagen, dergestalt, daß ihm mindestens der Athem, wo nicht alle Sinne vergehen.“ [Gustav Kühne: Dramatisch und Theatralisch. In: Die Grenzboten, Jg. 3, 1. Semester, 1844, S. 113] solch’ großer Opfer an geistigen wie an körperlichen Reizen würdig sei. – Von der vielen Juristerei, die ich hier zu hören bekomme, wird Dich wol wenig interessiren; um so mehr aber vielleicht das Wenige, das ich Dir von den Münchner Bühnen zu erzählen weiß. Ich sah Frau Clara ZieglerDie ehemalige Münchner Hofschauspielerin (1868 bis 1874) war regelmäßig auf den Münchner Bühnen zu Gast. und sehe sie noch, obwol schon bald zwei Monate verflossen sind, seit sie zum letzten Male auftratWie aus den Theaterzetteln hervorgeht, trat Clara Ziegler vor Wedekinds Brief zuletzt am 14.2.1885 am Hoftheater in der Titelrolle von Julius Leopold Kleins „Zenobia“ (1884) auf.. Aber ihr Spiel ist so übermenschlich, so dämonisch, daß | es den Zuschauer fesseln muß und ihn in seinem Zauber gefangen hält, bis ihm etwas noch gewaltigeres vor die Sinne tritSchreibversehen, statt: tritt.. Clara Ziegler ist eine Münchner Färberstochter und heiratheteClara Ziegler heiratete ihren einstigen Schauspiellehrer, den Hofschauspieler Adolf Christen am 11.8.1876. aus Dankbarkeit ihren Lehrer, den Schauspieler Kristen. In den hiesigen Anlagen hat sie ein wahres Juwel von einer Villain der Königinstraße 25 [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil I, S. 74] am Englischen Garten. in antikem Stil, deren hohe Fenster durch leichte Gardinen verhängt sind; aber zwischendurch erblickt man in der Mitte des Zimmers die lorbeerbekränzte Büste Schillers, der seinem Evangelium wol kaum eine höhere Priesterin, als die Ziegler, erwählen konnte. Leider sah ich sie in keinem seiner Stücke, dafür jedoch in der ganzen Grillparzerschen Trilogie des goldenen VließesClara Ziegler trat in Grillparzers Trilogie „Das goldene Vließ“ (1821) als Gast am 21.1.1885 in den ersten beiden Teilen „Der Gastfreund“ und „Die Argonauten“ sowie am 24.1.1885 im dritten Teil „Medea“ am Münchner Hoftheater auf. Die Presse berichtete: „Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit Frau Clara Ziegler von unserer Hofbühne geschieden ist. Die Erinnerung an ihr künstlerisches Wirken blieb aber unvergessen, ja beschäftigte fortdauernd die weiteren, theaterliebenden Kreise, so daß man fast von einem Ziegler-Mythus sprechen könnte. Nun, der Mythus hat sich wieder in Wirklichkeit umgesetzt: Clara Ziegler ist gestern, einen Cyklus von Gastrollen beginnend, in den ersten zwei Abtheilungen des ‚Goldenen Vließes‘ von Grillparzer als Medea an unserer Hofbühne aufgetreten. Wie treu die Sympathien des Münchner Publicums der berühmten Heroine ein Decennium hindurch geblieben sind, bekundete der erste Moment nach dem Aufgehen des Vorhangs: allgemeiner Beifall begrüßte sie, und Lorbeerkränze wie Bouquets fielen zu ihren Füßen nieder.“ [Allgemeine Zeitung, Nr. 23, 23.1.1885, 2. Beilage, S. 1] . Was mich zuerst an ihr überraschte, war ihre imposante Erscheinung und das herrliche Organ. Wie das wilde, sorglose junge Mädchen zur schuldbeladenen Frau, zur liebenden Zauberin, zur unglücklich Verstoßenen und endlich zur ver|zweifelnden Mörderin an ihren Kindern wurde gab sie mit überwältigender Leidenschaftlichkeit, der sie auch jeden Zwang in Gesten und Gebärden zum Opfer brachte. Ihre Elisabeth in EssexDie Aufführung von Heinrich Laubes „Graf Essex“ (1856) mit Clara Ziegler als Gast in der Rolle der Elisabeth fand am 26.1.1885 statt. war natürlich sehr realistisch, ganz im Gegensatz zu Frau Oschwald, mehr Weib als Königin und mehr Satan als Weib, wogegen sie in Geibels BrunhildeDie Aufführung von Emanuel Geibels Tragödie „Brunhild“ (1857) mit Clara Ziegler in der Titelrolle fand am 31.1.1885 statt. den Gegensatz zwischen weiblicher Schwäche und megärenhafterwie eine böse, Schrecken verbreitende Frau. Wildheit in krassester Weise zum Ausdruck brachte. – Mit der Oper wußte ich mich anfangs nicht recht abzufinden, aber nach und nach geht es schon besser. Wir sahen schon vor Weihnachten die NormaDie letzte Aufführung von Vincenzo Bellinis Oper „Norma“ (1831) am Königlichen Hof- und National-Theater München vor Weihnachten fand am 21.11.1884 statt., wobei mir euer Abenteuer mit den beiden KindernAnspielung auf eine Begebenheit, die die Mutter in ihren Jugenderinnerungen „Für meine Kinder“ schilderte. Als sie gemeinsam mit ihrer Schwester Sofie Kammerer in Guyaquil (Ecuador) Ende 1858 mit Opernarien auftrat, gaben sie „unter Anderm die Scene mit dem folgenden Duett aus Norma […], in dem sie die in einer Höhle verborgenen Kinder ermorden will, wovon sie aber durch Adalgisas Bitten zurück gehalten wird. Adalgisa reißt die schlafenden Kinder von ihrem Lager empor und läßt sie vor ihrer Mutter niederknien, während sie sie durch ihre Bitten zu erweichen sucht. Sie fleht ihr Erbarmen an für die Unschuldigen und erreicht ihren Zweck. / Zu dieser Scene nahm man zwei Kinder des Maschinisten, die gerade das richtige Alter hatten. An dem Abend aber lagen sie an den Masern erkrankt zu Bett und konnten natürlich nicht mitspielen. Was nun thun?! Man sucht nach andern Kindern. Man findet nichts passendes. Endlich bringt man uns zwei kleine Negerjungen mit schwarzen Wollköpfen. Die Zeit drängte. Das Publikum war ungeduldig. So streicht man die beiden Kerlchen mit dicker weißer Schminke an, zieht ihnen die Trikots und weißen Hemden an und legt sie auf das, im Hintergrund der Höhle stehende mit Fellen bedeckte Lager. Norma singt ihre Arie –, zückt ihren Dolch u. schreitet mit entschlossenen Theaterschritten auf die schlafenden Kinder zu […]. Nun reißt Adalgisa die Kleinen aus dem Schlaf u. schleppt sie vor die Mutter. Da entsteht aber im Publikum ein solch dröhnendes Gelächter, daß wir uns entsetzt anschauten und ich nicht weiter singen konnte. Dann entdeckten wir, daß die Gesichter unserer beiden Würmer nur auf derjenigen Seite den weißen Anstrich beibehalten hatten, mit welcher sie ihr Lager nicht berührten. Die andere Seite aber hatte durch das Liegen den Anstrich verloren und schien in seiner ganzen ursprünglichen Schwärze, so daß die Kinder – halb weiß – halb schwarz – den wunderlichsten und lächerlichsten Anblick darboten.“ [Becker 2003, S. 91] einfiel. Erst kürzlich wurde der Troubadur gegebenGiuseppe Verdis Oper „Der Troubadour“ (1853) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 24.2.1885 gespielt., aber Deine Rolle war sehr schlecht besetztIn dem in Emilie Wedekinds Jugenderinnerungen „Für meine Kinder“ angegebenen Programm eines Auftritts in Guyaquil (Ecuador) Ende 1858 finden sich die Programmpunkte „Scene und Terzett aus Trovator“ und „Scene und Duett aus Trovator“ [Becker 2003, S. 91]. Emilie Wedekind muss damals die Rolle der Zigeunerin Azucena gesungen haben, denn deren Besetzung kritisierte Heinrich Welti in seiner Kritik der Münchner Aufführung vom 24.2.1885: „Das war eine mäßige Aufführung von Verdi`s ‚Troubadour‘! Die Hauptschuld daran liegt […] an dem Gast Frl. Bleiter, welche sich der Rolle der Azucena durchaus nicht gewachsen zeigte […] ihre Stimme entbehrt zur Stunde so sehr jeder Klangfülle und Schönheit, ihr Organ tönt gegenwärtig so hohl und leer […], daß auch die am besten gelungenen Theile ihrer Rolle wenig Genuß bereiten konnten.“ [Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger, Jg. 38, Nr. 57, 25.2.1885, 1. Blatt, S. 3] und wurde um ein Haar ausgepfiffen. Am besten gefielen mir die MozhartschenSchreibversehen, statt: Mozartschen. Opern, FigaroAufführungen von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ (1786) fanden am Königlichen Hof- und National-Theater München zuletzt am 11.12.1884 und 29.1.1885 statt. und Don JuanAufführungen von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Don Juan“ (1787) am Königlichen Hof- und National-Theater München fanden zuletzt am 5.2.1885 und 26.2.1885 statt.. | Aber auch an den reizenden Werken Lorzings, UndineAlbert Lortzings Oper „Undine“ (1845) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München zuletzt am 11.1.1885 gegeben. und WaffenschmiedAlbert Lortzings Oper „Der Waffenschmied“ (1846) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 27.1.1885 und 4.3.1885 gegeben., fand ich großen Geschmack und am FreischützCarl Maria von Webers romantische Oper „Der Freischütz“ (1821) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 3.12.1884, 30.1.1885 und 7.3.1885 gegeben. und Kreuzers Nachtlager v GranadaConradin Kreutzers Oper „Das Nachtlager von Granada“ (1834) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 11.2.1885 gegeben.. Am schwersten verständlich ist mir f natürlich Wagner. Seine Meistersinger v. NürnbergRichard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München zuletzt am 14.12.1884 gegeben. verließ ich mit dem Bewußtsein, mich unsterblich gelangweilt zu haben. RienziRichard Wagners Oper „Rienzi“ (1842) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 30.11.1884 und am 22.2.1885 gegeben [vgl. dazu Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 27.4.1885]. machte mir keinen besonderen Eindruck aber TannhäuserVon Richard Wagners Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Große romantische Oper in drei Akten“ (Dresden 1845) hatte Wedekind das Textbuch gelesen [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 20.1.1884]. Gelegenheit, eine Aufführung der Oper am Königlichen Hof- und National-Theater München zu besuchen, hatte er am 6.1.1885., LohengrinRichard Wagners Oper „Lohengrin“ (1850) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 22.1.1885 gegeben. und der fliegende HolländerRichard Wagners Oper „Der fliegende Holländer“ (1843) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 19.2.1885 gegeben. brachten mich schließlich auf die richtige Spur, so daß ich gestern Abend in der WalküreWedekind besuchte am 11.3.1885 Richard Wagners Oper „Die Walküre“ (1870) am Königlichen Hof- und National-Theater München. in ununterbrochener Spannung erhalten wurde. Allerdings ist auch der Stoff dieser Oper von ergreifender Tragik und dabei wurde von allen Betheiligten aufs Beste gesungen. –

Die schönen Frühlingstage sind hier jetzt einem garstigen, stürmischen Regenwetter gewichen, das hoffentlich nicht lange anhalten wird. Gottlob | sind wir beide ganz wohl und auch Ihr scheint ja den Winter glücklich überstanden zu haben. Tausend herzliche Grüße von Armin und mir an Euch alle zusammen, vor allem an dich, liebe, gute Mama. Verzeih uns unser langes Schweigen, da wir es ja doch nicht recht entschuldigen können. Dafür will ich mir Mühe geben, daß es nicht wieder vorkommt und verbleibe derweilen Dein treuer Sohn Franklin. –

Emilie Wedekind schrieb am 25. April 1885 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 29.5.1885 aus München:]


Jetzt hab’ ich schon drei liebe Briefe auf von Dir auf Lager […] Die Socken hab’ ich richtig erhalten. […] ich trage sie schon über einen Monat lang.

Frank Wedekind schrieb am 7. Mai 1885 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München, 7 V.85.


Liebe Mama,

Zürnst du mir wol noch von letztem Herbstevgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 12.11.1884. Die näheren Umstände der Unstimmigkeiten sind nicht ermittelt. her, wegen meiner peinlichen unartigen Erörterung? Bitte, liebe Mama, verzeih mir; ich darf es ja sonst gar nicht wagen, dir heuer wieder zu gratulirenzu Emilie Wedekinds 45. Geburtstag am 8.5.1885.. Ich weiß wol, es war nicht schön von mir, aber Du hattest mich auch nicht recht verstanden, nachdem ich dich mißverstanden hatte und so kam die traurige Scene zu Stande. Nicht wahr, ich darf jetzt davon abbrechen und du willst mir die Sache vergessen. Nimm meinen herzlichen Dank dafür. Die VerseÜber das Zustandekommen der beigelegten Verse (s. u.) zum Geburtstag der Mutter berichtete Wedekind seinem Vater [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 29.5.1885]. | die ich Dir beilege, sind nicht so schön geworden, wie die letztjährigenDas Gedicht „Meiner Mutter“ [KSA 1/I, S. 174 und KSA1/II, 1885f.]., aber dafür um so ungekünstelter und verständlicher. Sie kommen recta(lat.) geradewegs, direkt. aus dem Herzen, und das ist doch die Hauptsache. Allem nach was hier in München dem Wetter abzusehen ist, wird morgen, an deinem Geburtstag wol auch in Lenzburg die Sonne nicht scheinen; aber wenn sie’s nur den Sommer hindurch um so mehr thut, innen und außen, dann wird auf Deinem Angesicht, wo sich nothwendiger Weise der innere und der äußere Sonnenschein treffen und begegnen müssen, h ununterbrochen helle Freude liegen. Das ist doch das höchste Glück, das dem Menschen begegnen kann und das wünsch ich dir mit aufrichtiger Seele. Und so viele Wolken auch am Himmel steht/en/ (Regenwolken, Schneewolken, Gewitter- | und Hagelwolken!) Der/ie/ eine Sonne möge sie alle vertilgen und wenn noch ein wenig Biswind„kalter Nord- bzw. Ostwind“ [Schweizerisches Idiotikon 16, S. 620]., Deine stramme Energie, dazu kommt und aufräumt, wenns Noth thut, dann wirds schon gut gehn, wenigstens muß man immer das Beste hoffen. –– Armin hat mirvgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 24.4.1885. viel von Euch, Examia(griech.) Prüfungen; die öffentlich stattfindenden jährlichen Schulprüfungen, an denen Wedekinds Schwester Emilie (Mati) teilnahm., Marielinicht sicher identifiziert, möglicherweise Marie (Mary) Gaudard, Schwester von Blanche Zweifel-Gaudard, die auch „Mitglied des Dichterbundes Fidelitas (gegr. 1883), dem Anny Barck, Minna von Greyerz, Franklin und Armin Wedekind angehörten“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 69], war. e ct. geschrieben und vom Papa erhielt ich dann auch noch Nachrichtenvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 29.4.1885.. Hier in München ist es gegenwärtig ein wenig einth/ö/nig, da der König das Hoftheater immer noch für sich in BeschlagLudwig II. nahm das Haus mehrmals im Jahr für Separatvorstellungen in Anspruch. Vom 23.4.1885 bis 13.5.1885 fanden daher am Königlichen Hof- und Nationaltheater München keine öffentlichen Vorstellungen statt [vgl. Almanach des Königl. Hof- und National-Theaters zu München für das Jahr 1885. Hg. v. Anton Hagen. Jg. 15. München 1886, S. 24]. Die Presse berichtete: „Am 23. April schließen sich die Räume des k. Hoftheaters da an diesem Tage die Separatvorstellungen für Se. Majestät den König beginnen, die bis 11. Mai dauern werden. Auf dem Repertoire steht Wagner’s ‚Parsival‘, der vor Sr. Majestät dreimal zur Aufführung gelangt, welche Vorstellungen mit ‚Theodora‘ von Sardou, der indischen Dichtung ‚Urwasi‘ und ‚Narziß‘ abwechseln sollen.“ [Deutsches Wochenblatt, Jg. 1, Nr. 12, 26.4.1885, S. 5] An anderer Stelle wurde als Repertoire gemeldet: „26., 27. April: ‚Parsifal‘, 28. ‚Eine deutsche Fürstin‘, 29. ‚Parsifal‘, 30. ‚Deutsche Fürstin‘. 1. Mai: ‚Tell‘, 2. ‚Voltaire‘, 4. und 5. ‚Theodora‘, 8. ‚Urvasi‘, 9. ‚Narziß‘, 10. wie 8., 11. ‚Genius des Ruhmes‘.“ [Neue Augsburger Zeitung, Nr. 101, 1. Mai 1885, S. 1]. Der Generalintendant des Hoftheaters, Karl von Perfall, nannte später folgendes Programm: am 26., 27. und 29.4.1885 „Parsifal“, am 28. und 30.4.1885 „Eine deutsche Fürstin“, am 1.5.1885 „Wilhelm Tell“, am 2.5.1885 „Voltaire“, am 4., 5. und 10.5.1885 „Theodora“, am 8. und 12.5.1885 „Urvasi“, am 9.5.1885 „Narziß“ und am 11.5.1885 „Der Genius des Ruhms“ [vgl. Karl von Perfall: Ein Beitrag zur Geschichte der königlichen Theater in München. 25. November 1867 – 25. November 1892. München 1894, S. 243f.]. hält. Er läßt sich dort sein EigengewächsLudwig II. gab für die Opern und Theaterstücke der Separatvorstellungen detaillierte Anweisungen zur Gestaltung aufwändiger Bühnenbilder und Kostüme. Zwischen 1872 und 1885 veranstaltete er 209 Separataufführungen, zum letzten Mal im Frühjahr 1885. aufführen, wovon ihm jeder Act circa auf 60000 M zu stehen kommt. Gestern sah ich im Residenztheater die weiße DameFrançois-Adrien Boieldieus komische Oper „Die weiße Frau“ (1825) wurde am 6.5.1885 am Münchner Residenztheater gespielt. Emilie Herzog sang die Jenny., die mir sehr gut gefiel, besonders wegen des zarten duftigen Hauches der bei aller Naivität und fern von aller Sentimentalität über den/r/ ganzen Musik liet/g/t. | Auch der Barbier von SevillaGioachini Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ (1816) wurde zuletzt am 3.5.1885 am Münchner Residenztheater gegeben. gefiel mir sehr gut, während dem ich Rossinis TellGioachini Rossinis Oper „Guillaume Tell“ (1829) war am 1.1.1885 am Königlichen Hof- und Nationaltheater aufgeführt worden. nicht besuchen mochte, aus demselben Grunde, wie/der/ Wagner davon abhielt ihn zu componiren, RespectFriedrich Schillers Drama „Wilhelm Tell“ zählte Richard Wagner, neben Goethes „Faust“ zu den „zwei Höhepunkten“, zu denen „sich das deutsche Genie“ erhoben hatte. „Der idealistische Schiller erreichte ihn in der Tiefe des ruhig sicheren Kernes der deutschen Volksnatur […], vom Untergange bis zum hoffnungsvollen Aufgange der Sonne edler deutscher Menschlichkeit gelangend.“ [Wagner-Encyklopädie. Haupterscheinungen der Kunst- und Kulturgeschichte im Lichte der Anschauung Richard Wagners. In wörtlichen Anführungen aus seinen Schriften dargestellt von C. Fr. Glasenapp. Bd. 2, Leipzig 1891, S. 137] Gioachinos Rossinis großen Opern-Erfolg mit seinem „Guillaume Tell“ in Paris (1829) betrachtete Wagner daher skeptisch und fragte, „ob man es sich unterstehen dürfe, dem Deutschen seinen ‚Tell‘ als übersetzte französische Oper zu bieten […] Jeder Deutsche, vom Professor bis zum untersten Gymnasiasten hinab, selbst die Komödianten, […] fühlten die Schmach, die ihnen mit der Vorführung dieser widerlichen Entstellung ihres eigenen besten Grundwesens geschah“ [ebd., S. 338]. vor unserm lieben guten Friedrich Christof Schiller. Umgang hab’ ich jetzt eigentlich hier sehr wenig, unter Studenten fast gar keinen, dagegen lernt’ ich einige HofmusiciIn einer Namensliste seiner Bekannten im Münchner Tagebuch verzeichnete Wedekind: „Franz Bennat, Kgl. Kammermusiker. Fritz Hilpert, Cellist […] Penzl Bratschist. Hoffmann Bratschist und Sänger v. Dietrich Bratschist. Kotschenreuter Posaunist Lander Violinist. Brunner Posaunist Scherzer Flötist. Skerle Harfenist aus Graz Ölgertner Geiger Neubert Trompeter Lehaer Ranftler“ [Tb München, S. 56f.], die sich als Mitglieder der Königlichen Hof-Kapelle belegen lassen. Es handelte sich um die Violoncellisten Franz Bennat (Schellingstr. 26/1) und Friedrich Hilpert (Theresienstr. 7/2), die Bratschisten Franz Xaver Penzl (Promenadeplatz 4/2 rechts), Max Hofmann (Reichenbachstr. 40/1) und Richard v. Ditterich (Kanalstr. 64a/2), die Posaunisten Johann Brunner (Theresienstr. 13/4 Rückgeb.) und Georg Kotschenreuther (Schellingstr. 36/3 rechts), den Flötisten Josef Scherzer (Schellingstr. 21/2 links), den Harfenisten August Skerle (Hildegardstr. 14½/3), den Trompeter Johann Neupert (Glückstr. 4/2) sowie die Geiger Christof Lehner (Jägerstr. 10/3 rechts), Anton Oelgärtner (Ludwigstr. 17a/3), Friedrich Sander (Heßstr. 36/2) und Karl Ramstler (Amalienstr. 21/1) [vgl. Almanach des Königl. Hof- und National-Theaters und des Königl. Residenz-Theaters zu München für das Jahr 1885. Hg. v. Anton Hagen. Jg. 15. München 1886, S. 14-17]. kennen, sehr nette Leute von gediegner Bildung, jen/d/er von interessant ausgeprägter Individualität, Alle begeistert für ihre Kunst mit e/ä/chtem schaffenslustigem Ernste und als rechte Künstler von weitenSchreibversehen, statt: von weitem. Horizonte. Es ist doch recht eigenthümlich, daß die Bühnenwelt beinah so groß ist wie die ganze übrige Welt; hier in München ist sie fast noch größer aber das hängt hä/a/lt mit den Verhältnissen zusammen. Ich wandere jetzt jeden Morgen um | 7 Uhr ins CollegWedekind war als Jurastudent an der Ludwig-Maximilians-Universität eingeschrieben. Seinem Vater hatte er zuletzt über die besuchten Veranstaltungen berichtet [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 27.4.1885]. und bleibe 4 Mal in der Woche bis um 12, 2 Mal bis um 10 Uhr. Die regnerischen Nachmittage verbring ich auf der Bibliothek oder zu Hause. Wenn Du Frau Jahn sehen solltest, so richt’ ihr meine besten Empfehlungen aus, wenn Du so gut sein willst. Ich hab ihr einen längeren Briefvgl. Wedekind an Bertha Jahn, 12.4.1885. geschrieben aber sie scheint auch viel zu thun zu haben. – Papa laß ich herzlich DankenSchreibversehen, statt: herzlich danken. für seinen Brief und die Beilagenvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 29.4.1885. Bei den Beilagen handelte es sich um „Coupons“, die Wedekind bei der Bank gegen Geld eintauschen konnte, um seine Studienkosten zu bestreiten.. Ich werde ihm bei nächstemwohl für: demnächst. extra schreiben und lasse ihn herzlich grüßen. Ebenso Doda und die MaidlisWedekinds Schwestern Erika und Emilie (Mati).. Ich bleibe mit tausend Küssen Dein treuer Sohn Franklin.


[Beilage:]


Meiner lieben Muttervgl. KSA 1/I, S. 190-194 und KSA1/II, 1883-1885.
Zu ihrem Geburtstag 8.V.85.

von ihrem getreuen Sohne
Franklin. |

Wenn Lenzesodem über Feld und Flur
Und in der Bäume hohen Wipfeln webet,
Und wenn an allen Enden die Natur
Zur vollsten Pracht sich zu entfalten strebet,
Dann reget auch in mir sich neuer Muth,
Es schwillt das Herz von seligen Gefühlen,
In raschern Pulsen fließt mein junges Blut;
Und wie in stiller, kalter Meeresfluth
Auf ein Mal wilde Frühlingsstürme wühlen,
So brausen durch die unbewachte Brust
Begeisternd alle himmlischen Gewalten,
Bis Schaffensdrang und süße Lebenslust
Zu frischem, frohem Sange sich gestalten: |

Hinaus in’s Freie
Treibt mich mein Sinn;
Dort herrscht die Weihe
Der Königin,

Die längst mich schauen
Und finden ließ
Auf grünen Auen
Ein Paradies,

Die mich ließ träumen,
Wie junge Kraft
Aus dichten Bäumen
Den Himmel schafft;

Sie, meine traute,
Geliebte Braut,
Die ihre Laute
Mir anvertraut, |

Mir zugewendet
Ihr Antlitz hold;
Und was sie spendet,
Ist lautres Gold;

Die mir die Wonne
Des Sanges lieh,
Sie, meine Sonne,
Die Poesie. ––

Wo klare Wellen
Dem tiefen Schooß
Der Erd’ entquellen
Im weichen Moos,

Wo unter Zweigen
Und jungem Laub
Sich Blumen neigen
Voll Blüthenstaub, |

Und wo die Kehlen
Der Vögel all’
Die Luft beseelen
Mit Jubelschall,

Da sitz’ ich gerne
In stiller Ruh,
Schau in die Ferne
Dem Süden zu.

Mein Sinnen lenk’ ich
Dann heimatwärts
Und Dein gedenk’ ich,
Lieb Mutterherz;

Wie Du uns geliebet
Gedenk’ ich Dein
Und bin betrübet
Dir fern zu sein. |

O, mög’ Dir tragen
Ein gut Geschick
In schönen Tagen
Noch manches Glück!

Mög’ es behüten
Die Pfade Dein,
Mehr Rosenblüthen
Als Dornen streun!

Und mög’ noch fächeln
Um Deinen Mund
Manch’ frohes Lächeln
Aus Herzensgrund!

Und wenn zu Zeiten
Dein Auge feucht,
So sei’n es Freuden,
Die Dich erweicht. |

Daß süßer Frieden
Im Herz Dir ruht,
Sei Dir beschieden
Als höchstes Gut! ––

Indeß mir so die Phantasie
Manch’ Bildniß zeigt aus alten Zeiten,
Und was einst Schönes mir gedieh,
Weiß freundlich vor mir auszubreiten,
Vergeß’ ich alles um mich her,
Nur Einem Traume hingegeben,
Als ob aus meinem Jugendleben
Ein Theil zurückgekehret wär’:

Denkst Du wol noch daran zurück,
Wie wir all’abendlich beim Lampenscheine
So manchen schönen Augenblick
Verplauderten in traulichem Vereine? |
Wie wir geschwatzt, verhandelt und gelacht,
Wol manchmal auch ein ernstes Wort geredet,
Da ich zum ersten Male mich entblödet,
Dir auszukramen, was mein Sinn gedacht?
O, damals hab’ ich kaum den Werth
Der schönen Stunden hoch genug geehrt.
Nur selten weiß der Mensch, was er genießet,
Zu schätzen schon im nämlichen Moment;
Oft, daß den Strom er kaum mit Namen kennt,
Der mächtig rauschend ihm vorüberfließet.
Doch ist er erst zu seinem Ziel gekommen,
So sagt er doch: „Ich sah den Rhein!
„Ich blickte tief bis auf den Grund hinein,
„Hab’ den Gesang der Nixen auch vernommen.
„Ich sah den Nibelungenhort
„Im lichten Glanz von Gold und Edelsteinen. –“
Und auch mein Aug’ erblickt e/i/hn, sollt’ ich meinen,
S/D/enn Gold und Edelstein war hier wie dort: |
Das Gold der ersten, eigenen Gedanken,
Das aus dem Herz mir quoll mit wilder Macht,
Noch ungemünzt, wie Erz aus Bergesschacht. –
Du sahst sie ungestüm zum Himmel ranken,
Und mit besorgter kluger Hand
Hast Du die losen Ranken mir umwunden,
Und hast mit einem starken Band
An manchen sichern Stamm sie festgebunden.
Das sind die Stellen, wo mit einem Mal
Die Pflanze brechen kann in schönster Blüthe;
Du stärktest sie mit innigem Gemüthe
Und durch die herzerhebendste Moral.
Und dieses nenn’ ich meine Edelsteine
Die erst zur Menschenwürde mich geweiht;
Mit meinem Gold in glänzendem Vereine
Sind sie des Lebens herrlichstes Geschmeid’. |
Sie bilden eine lichte Strahlenkrone,
Die ihren Träger wunderbar beglückt,
Die Du in trauter Stunde deinem Sohne
Mit liebevoller Hand auf’s Haupt gedrückt.

Und wie den König, der die Krone trägt,
So laß auch mich in Andacht Dir geloben,
Daß sich auf ihren Glanz kein Schatten legt,
So lang ein Herz in diesem Busen schlägt,
Von Dankbarkeit und Edelsinn gehoben. ––


[Kuvert:]


Frau Dr. Wedekind
auf Schloss Lenzburg
im
Schweizerland.

fr.

Emilie Wedekind schrieb am 9. Mai 1885 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[1. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 29.5.1885 aus München:]


Jetzt hab’ ich schon drei liebe Briefe auf von Dir auf Lager [...]


[2. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Friedrich Wilhelm Wedekind vom 29.5.1885 aus München:]


Sie selber sprach sich besonders anerkennend über den Umfang des Poemas aus aber mit der Befürchtung, ob das nicht auch meine Studien zu sehr beansprucht hätte.

Emilie Wedekind schrieb am 27. Mai 1885 in Lenzburg
an Frank Wedekind

[Hinweis und Zitat in Kutscher 1, S. 124:]


Im Mai 85 schreibt sie: „Immer noch harre ich vergebens auf eine kleine Nachricht, ob Du deine SockenEmilie Wedekind hatte ihrem Sohn schon vor längerer Zeit Socken zugesandt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 25.4.1885]. In seinem nächsten Brief bestätigte er deren Erhalt [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.4.1885]. hast. Das plagt mich so, daß ich deshalb immer an Dich denken muß und wie es Dir geht und was Du wohl machst. Oder ist es vielleicht auch umgekehrt, daß ich, weil ich so viel an Dich denke, dann auch mit der Sockenfrage keine Ruhe finde? Du Philosoph und Menschenkenner, sag mir das im nächsten Brief, der aber bald kommen muß, sonst vollbringe ich irgendetwas Schreckliches!“

Frank Wedekind schrieb am 29. Mai 1885 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München, im Mai 1885 –


Liebe Mama.

Jetzt hab’ ich schon drei liebe BriefeSeit Wedekinds Geburtstagsbrief [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1885] ist von der Mutter lediglich ein Briefzitat überliefert [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 27.5.1885], so dass zwei weitere Briefe zu erschließen sind: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 25.4.1885 und 9.5.1885. auf von Dir auf Lager und will sie demnach der chronologischen Reihenfolge nach getreulich beantworten. Vor allem aber für alle Drei meinen herzlichsten Dank und der aufrichtige Wunsch, es möchten Dir meine Briefe eben so großes Vergnügen bereiten, wie die Deinigen mir, denn als dann müßtest du manche frohe Stunde haben. Aufrichtig gestanden, ich übertreibe min/t/ keiner Sylbe,: Deinen letzten Brief hab’ ich vor heller Freude abgeküßt, als ich | noch kaum die erste Seite herunter gelesen hatte. Das war aber auch ein ä/e/chter impulsiver Herzenserguß, den nicht irgend eine Gelegenheit, ein geschäftliches Bagatell zu verantworten hatte, sondern der aus dem reinen Drang nach Mittheilung, nach Entlastung der übervollen Seele geflossen ist. Und nun soll ich dich also tadeln, weil du von der RectoratsgeschichteDie näheren Umstände sind nicht ermittelt; Wedekind erwähnte die Geschichte bereits in seinem Neujahrsbrief [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.12.1884]. geschwatzt hast? – Aber was denkst du denn von mir, liebe Mama,/?/ e/E/s hat mich selten etwas so gefreut, wie dieser scharfe Streit zwischen den Schlichen des Jesuitismus und der Frömmelei und dem unerschrockenen Muthe von Wahrheit und Gerechtigkeit, den Du so rühmlich ausgekämpft hat/s/t. Und wie singt doch der alte Heide, der universalmenschSchreibversehen, statt: Universalmensch. Göthe, obschon er sonst nicht gerade dein Freund ist: Nur die LumpenZitat aus Johann Wolfgang Goethes Gedicht „Rechenschaft“ (1810), das zum geflügelten Wort avanciert war: „Nur die Lumpe sind bescheiden, / Brave freuen sich der That“ [Büchmann 1879, S. 90]. sind bescheiden, Gute freuen sich der That[“], und darin hat er meiner unmaßgeblichen | Ansicht nach vollkommen Recht, denn es scheint mir das Zeichen eines kleinlichen Geistes zu sein, wenn man nicht einmal den Muth hat, zu seinen guten Seiten zu stehen, geschweigen denn zu seinen S/s/chlechten. Treten a/d/och auch die alten Helden im Homer jeweilen mit den Worten auf: „Ich rühme mich, der und der zu sein und dies und jenes vollbracht zu haben.“ Ich selber bin ja, du weißt es, durchaus kein Freund von Selbstüberhebung, aber dennoch glaube ich, daß die Rücksichtschinderei, die vielen leeren Phrasen und gegenseitigen Unwahrheiten, die man sich heutzutage auf Schritt und Tritt ins Gesicht sagen muß, nicht des Geringsten wenig daran schuld sind, daß alle Welt seine Naivetät verloren hat und kein Mensch mehr im Stande ist, natürlich zu denken und zu empfinden. –– Ob Herr Gymnasiallehrer Schneidewin in Hameln selber auch ein PessimistDer Latein- und Griechisch-Lehrer Max Schneidewin hatte unter anderem auch zum philosophischen Pessimismus publiziert, darunter der Essay „Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann“ [in: Drei populär-philosophische Essays. Hameln 1883, S. 3-25]. Außerdem hatte er das Buch „Lichtstrahlen aus Ed. v. Hartmann’s sämmtlichen Werken“ (1881) herausgegeben und mit einer Einleitung versehen, das Wedekind 1881 von seiner ‚philosophischen Tante‘ Olga Plümacher zum 17.Geburtstag geschenkt bekommen hatte [vgl. Kutscher 1, S. 46]. ist, weiß ich nicht; aber ich weiß, daß er Lichtstrahlen aus E v. Hartmanns Werken herausge|geben hat und deshalb wol auch in irgend welcher persönlichen Beziehung zu ihm stehen wird. Immerhin freut es mich ungemein für Fra/Tan/te Plümacher, daß jener Mann ihren ja gewiß verdienten Ruf verbreiten hilftOlga Plümachers Beschäftigung mit Eduard von Hartmann schlug sich in den beiden philosophiehistorischen Monographien „Der Kampf um’s Unbewusste“ (Berlin 1881) und „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart. Geschichtliches und Kritisches“ (Heidelberg 1884) nieder. Diese Publikationen veranlassten Max Schneidewin zu seinem Aufsatz „Eine phänomenale Frau“ [Hannoverscher Courier, Jg. 32, Nr. 13448, 1.5.1885, Morgen-Ausgabe, S. (1)-3], in dem er bekannt machte, „daß sich jüngst eine Frau auf dem der Frauennatur fernab liegenden Gebiete der strengen Philosophie durch ganz hervorragende Leistungen einen Lorbeerkranz gewunden hat“ [S. 1], da „diese Frau sich als vollständige Beherrscherin der einschlägigen philosophischen monographischen Literatur erweist“ [S. 3]. Und obwohl Schneidewin sich „der gewaltigen Kämpferin O. Plümacher“ für den Pessismismus nicht anschließen will, hebt er nachdrücklich „die Phänomenalität der Geisteskraft und der Leistungen dieser Frau“ [S. 3] hervor. Im Herbst setzte er seine Auseinandersetzung mit Olga Plümacher in seinem Aufsatz „Zur populären Orientierung über den modernen philosophischen Pessimismus“ [Hannoverscher Courier, Jg. 32, Nr. 13638, 20.10.1885, Abend-Ausgabe, S. (1)-2 und Nr. 13639, 21.10.1885, S. 5-6] fort. In einer späteren Rezension betonte er dann noch einmal das „märchenhafte und nie dagewesene Genie einer Olga Plümacher für die schwierigsten und abstrusesten Fragen der Weltweisheit“ [Hannoverscher Courier, Jg. 39, Nr. 17669, 1.6.1892, Abend-Ausgabe, S. (1)].. Aber vielleicht rechnet er auch darauf, daß die phänomänaleSchreibversehen, statt: phänomenale. Frau über kurz oder lang einen phänomänalen Mann in der ZeitenSchreibversehen, statt: in der Zeitung. proclamirt. Wenn du michvielfach verbreitetes Zitat der Schlussverse aus Heinrich Leutholds Gedicht „Auf Gegenseitigkeit“ (1872): „Und wenn du mich mit Goethe vergleichst, /Vergleich’ ich dich mit Lessing.“ [Heinrich Leuthold: Gedichte. Frauenfeld 1879, S. 103] mit dem Göthe vergleichst, vergleich ich dich mit dem Lessing.“ schreibt Leuthold und warum sollen sich auch die Literaten nicht gegenseitig aufhelfen und beistehen? Nur ist es für das superiorere Genie halt immer ein schlechter Tausch. –– Mir geht es hier in München soweit sehr gut. Umgang hab’ ich nicht viel aber dafür um so gewählteren. Letzten Mittwocham 27.5.1885. sah und hörte ich zum zweiten MaleMozarts Oper „Figaros Hochzeit“ (1786) wurde am 27.5.1885 am Königlichen Hof- und Nationaltheater München aufgeführt; Emilie Herzog sang den Cherubin. Zum ersten Mal hat Wedekind die Oper dort am 11.12.1884 oder am 29.1.1885 sehen können. Figaros Hochzeit und nächsten Donnerstagam 4.6.1885. wird die ZauberflöteDie Aufführung von Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ (1791) fand am Königlichen Hof- und Nationaltheater München nicht am Donnerstag, sondern erst am Sonntag, den 7.6.1885 statt; Emilie Herzog sang die Papagena. gegeben. Das ist mir doch die liebste Musik trotz aller Virtuosität | Kraftgenialität, Sentimentalität und Frivolität anderer jüngerer Meister. Solch’ schöne, reine, lebensfrohe Klänge zu vernehmen ist doch der höchste musikalische Genuß den ich mir denken und verstehen kann. Jüngst las ich auch das Leben Mozartsvermutlich die populäre Mozart-Biographie von Ludwig Meinardus, der in seiner Einleitung schrieb, Mozarts „Lebensdrama“ habe „das Gepräge einer Tragödie“ [Ludwig Meinardus: Mozart. Ein Künstlerleben. Berlin, Leipzig 1883, S. VIII]., eine erschütternde Tragödie, die mich mehr ergriffen hat, als irgend eine auf der Münchner Hofbühne. – Herrn Glinzmöglicherweise Theophil Glinz, der seit 1882 Zeichen- und Turnlehrer an der Bezirksschule in Lenzburg war., katzenmusikalischen Angedenkens, sah ich allerdings eine Zeit lang hier in den Straßen herumschnüffeln und traf ihn auch öfters im Theater an. Da ich ihm aber schon das erste Mal keine Gelegenheit gab, sich mir zu nähern, so sahen wir auch in der Folgezeit an einander vorbei, ohne uns zu bemerken. – Und nun grüße ich Dich, liebe Mama, von ganzen Herzen, und auch die andern alle, besonders Doda, den kleinen großen Don Chuan, und verbleibe indessen Dein treuer Sohn Franklin. – |


P. S. Die Socken hab’ ich richtig erhaltenHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zu der Sendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 25.4.1885. Die Mutter hatte sich zuletzt nach dem Verbleib der Socken erkundigt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 27.5.1885].. Meinen besten Dank dafür, ich trage sie schon über einen Monat lang.

Emilie Wedekind schrieb am 23. Juli 1885 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Friedrich Wilhelm Wedekind vom 12.8.1885 aus München:]


Meinen herzlichsten Dank an Mama für den lieben Brief, den sie mir zum Geburtstag schrieb.

Emilie Wedekind schrieb am 16. August 1885 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Friedrich Wilhelm Wedekind vom 26.8.1885 aus München:]


[...] tausend Dank für Deinen lieben großen Brief und auch für den von Mama [...]

Emilie Wedekind schrieb am 5. September 1885 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 7.9.1885 aus München:]


Dein lieber Brief fiel mir wie ein Stein auf die Seele [...] Du meinst in Deinem lieben Briefe [...]

Frank Wedekind schrieb am 7. September 1885 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München 7.IX.85.


Liebe Mama,

Dein lieber Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 5.9.1885. fiel mir wie ein Stein auf die Seele, denn ich sah daraus, daß grade dasjenige eingetroffen, was zu umgehen mein einziger Gedanke gewesen war. In jedem Briefevgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885, 26.8.1885 und 4.9.1885. hatte ich mit ängstlicher Sorge darauf gesehen, Euch möglichst wenig durch meine KrankheitWedekind hatte sich am 3.8.1885 einen Rotlauf am linken Unterschenkel zugezogen, über den er seinen Vater Mitte August erstmals unterrichtete [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885]. Die besorgte Mutter hatte sich inzwischen bei dem behandelten Arzt, Johann Nepomuk von Nussbaum, selbst nach dem Gesundheitszustand ihres Sohnes erkundigt, wie der überlieferte Antwortbrief belegt, der die Angaben Frank Wedekinds bestätigte [vgl. Johann Nepomuk Nussbaum an Emilie Wedekind, 8.9.1885, Mü FW B 120]. zu beunruhigen, aber jetzt seh’ ich ein, daß ich gerade das Gegentheil von dem erreichte, was meine Absicht war. ––

Daß ich in letzter Woche keine Nachricht gab, konnte Euch freilich in Sorge versetzen; aber es lag eben in den Verhältnissen. Von Tag zu Tag hoffte ich ja darauf | daß ich Euch den bestimmten Termin meiner AnkunftZuvor hatte Wedekind die angekündigten Termine (erst am 23.8.1885, dann am 1.9.1885) für seine Ankunft in Lenzburg, wo er die Semesterferien verbringen wollte, mehrfach verschieben müssen, wie aus der Korrespondenz mit dem Vater hervorgeht. melden könnte; der DoctorWedekind lag im Studentensaal des städtischen Krankenhauses links der Isar (Krankenhausstraße 1) und wurde dort von Prof. Dr. Johann Nepomuk Ritter von Nussbaum sowie weiteren Ärzten (Ludwig Pfeiffer und Julius Fessler) behandelt [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885, 12. und 15.9.1885]. hatte mir die Woche vorher gesagt, daß ich im Lauf die/er/ Nächsten mit b reisen könnte. Aber mein Bein wollte halt nicht stärker werden, kaum, daß ich mich damit im Saal herumbewegen konnte. Das war auch gar kein Wunder bei dem großen a/A/bsceß, der, drei Finger breit und fünf Zoll lang, einen halben Zoll toffSchreibversehen, statt: tief. unter der Haut gelegen hatte. Wenn er nun auch zu seiner Heilung mehr Zeit brauchte als der DocktorSchreibversehen, statt: Doctor (oder: Doktor). seh selbst vorausgesehen, so war die Heilung doch dermaßen, wie ich es zwar im Bewußtsein einr meiner guten Gesundheit und gesunden Säfte nicht anders erwartete, und daß der Doctor mehr als einmal wörtlich sagte, es könne gar nicht schöner aussehen und ich sei nur zu ängstlich, die ganz geringe Eiterung wäre gerade recht, es | wäre schlimm, wenn sie nicht vorhanden wäre. Nun kam vor einigen Tagen das andere Dingsdie Bildung eines Abszesses [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 26.8.1885]. dazu und da war es ja gut, daß ich nicht vorher Eure Hoffnung auf schnelles Wiedersehn wieder von neuem belebt hatte. Jetzt ist auch das im besten Heilen und eitert nicht mehr und der Doctor hat mir gesagt, wann es geheilt sein könnte; aber davon schreibe ich nun nichts um nicht am Ende noch einmal wiederrufenSchreibversehen, statt: widerrufen. zu müssen, denn gerade bei solchen Sachen kann man nie wissen was der nächste A/T/ag Neues bringt. ––

Nun ängstigt dich aber noch etwas, liebe Mama. Du meinst in Deinem lieben Briefes. o., ob ich mich nicht an –– „Saufgelagen“ fidel mache und dadurch meine Heilung verzögere. Wenn e/E/inem, nachdem der vier Wochen lang TagtäglichSchreibversehen, statt: tagtäglich. nichts als gutes Rindfleisch und schlechtes Gemüse gekostet hat, den Sonntag und Feiertage nicht ausgenommen, so könnte ich es ihm gewiß nicht verdenken, wenn ihm einmal der Wunsch nach einem | recht wilden „Saufgelage“ käme. Mir aber kam dieser Wunsch nicht und ich bin durchaus nicht stolz darauf; ich hatte andere Dinge, wonach ich mich sehnte. Um aber mit den zwei Deci L Wein, die ich jeden Tag bekomme, im ein „Saufgelage“ zu veranstalten, dazu bedürfte es ein/doch/ schon einer recht lebhaften Phantasie. –– Weiter besorgst du, ich möchte in schlechter Gesellschaft sein. Da hast du recht: Die Gesellschaft ist herzlich schlecht. Wenigstens nach meinen Begriffen. Sie besteht aus e/E/inem, der die Brustv/f/ellentzündung hat und sehr wenig sagt, aus einem HalbverrückteSchreibversehen, statt: Halbverrückten., der MagenkatarhSchreibversehen, statt: Magenkatarrh. hat und gar nichts sagt und aus einem alten Kerl von 24 Semestern, der an Wassersucht e. ct. leidet und seit drei Tagen schon zwei Mal sterben wollte. Das ist meine Gesellschaft; schlecht ist sie aber absolut ungefährlich; du kannst dich also in der Beziehung ebenfalls beruhigen. –– In meinen früheren Berichtenvgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885, 26.8.1885 und 4.9.1885. klang das freilich alles ganz anders, aber warum?/!/ |

II.

Ihr schriebSchreibversehen, statt: schriebt. mir a/A/lle in Euern lieben BriefenVon den Briefen und Karten der Familie aus der Zeit von Wedekinds Klinikaufenthalt sind Briefe vom Vater [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 16.8.1885 und 27.8.1885], von Armin Wedekind [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 17.8.1885 und 27.8.1885] und von Erika Wedekind [vgl. Erika Wedekind, an Frank Wedekind, 27.8.1885] überliefert., wie Ihr mich beklagtet, daß ich hier fern von Euch im Spital liegen und krank sein müßte. Und da dachte ich, es würde euch wol lieb sein, mich wenigstens in angenehmer GesellschaftDavon schrieb Wedekind im Brief an den Vater [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 26.8.1885], ebenso, dass er „vergnügt und fidel“ sei. zu wissen. Weiter hab ich gewiß auch nichts geschrieben als daß die Leute eben alle aufgeräumt seien und mit sich sprechen ließen. Wie man aber auf eine speciell schlechte Gesellschaft und auf „Saufgelage“ aus meinem Brief schließen kann ist mir unbegreiflich. ––

Oder sollte vielleicht zu dieser Auslegung dasjenige geführt haben, was ich von meinem guten Humor schrieb? –– Das ist nun freilich thatsächlich. Ich bin wirklich immer guten Humors gewesen und suchte mich mit meiner Lage auszusöhnen; aber ich konnte das thun auch ohne dazu saufen zu müssen. Und diesen guten Humor will ich auch nicht aufgeben, selbst auf | die Gefahr hin, damit Anstoß zu erregen. Ich bin für diese Himmelsgabe ja gar nicht verantwortlich, aber weil sie mir einmal zu Theil ward, will ich sie auch nicht mit Füßen treten, denn der Humor ist einer von jenen Freunden, die uns am längsten treu bleiben.

Und jetzt, liebe, m/M/ama, verzeih mir, daß ich mich so eifrig vertheidigte, aber ich war es mir und Dir schuldig; auf solch häßliche Befürchtungen wirst Du jetzt nicht mehr fallen. – Meine Genesunhg geht also langsam aber si zufriedenstellend vorwärts. Ich kann jetzt schon ganz gut marschieren, aber darf es natürlich nicht, da das die kleine Wunde noch offen ist. Ich halte das Bein fortwährend in größter Ruhe vor mich auf einen Polsterstuhl. Jetzt kann ich demnach noch nicht kommen, aber später ganz gewiß. Wann, das wird die Zukunft lehren; eine Ewigkeit wird es wohl nicht mehr gehen und wie ich mich befinde Das wird dir alle zwei Tage eine Kartevgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 9.9.1885, 12.9.1885, 15.9.1885 und 18.9.1885. melden. Mit tausend Grüßen, besonders an Papa und Dich, liebe Mama, bleib ich dein treuer Sohn
Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 10. September 1885 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Postkarte an Friedrich Wilhelm Wedekind vom 12.9.1885 aus München:]


Gestern bekam ich einen lieben Brief von Mama [...]

Emilie Wedekind schrieb am 1. Dezember 1885 in Lenzburg
an Frank Wedekind

[1. Hinweis, Referat und Zitat in Kutscher 1, S. 106f.:]


Frau Wedekind schildert im Dezember 85 die schöne eitle FrauBertha Jahn, Mutter von vier Kindern, seit Herbst 1882 verwitwet, war Inhaberin der Lenzburger Löwenapotheke. Sie wurde zur vertrauten Kritikerin von Wedekinds literarischen Projekten, zu der er seit Herbst 1884 auch eine erotische Beziehung pflegte; Wedekinds ‚erotische Tante‘. Ihr Name ist im Briefzitat vermutlich durch Kutscher mit einen „X“ verschleiert., welche noch als Ballmutter reizvoll genug war, um junge Damen eifersüchtig machen zu können, als ein Wesen von tiefem Gemüt und hohem Glauben an alles Gute, Große und Schöne, deren Zuneigung sich der Sohn ganz würdig erweisen solle. Aber, meint sie „Es fehlt ihr jene heilige Weihe, die dem Menschen durch erlebtes Unglück aufgedrückt wird. Sie war stets, sowohl von ihrem Vater, als auch von ihrem Manne verhätschelt worden, und sie kennt jene grenzenlose Erbitterung nicht, die durch die Ungerechtigkeit von Menschen hervorgerufen wird, die, je mehr wir sie lieben, desto schmerzlicher verletzen und verwunden. – Daher kommt es auch, daß sich X noch so viele Illusionen bewahrt hat, daher auch ihre in meinen Augen manchmal grenzenlose Unbedachtsamkeit. Sie kennt das Gebranntsein nicht, fürchtet daher auch kein Feuer und glaubt, daß es denjenigen, die auf dem Marterroste liegen, nicht mehr weh tue. Das ist, objektiv betrachtet, ganz schön und gut, und man kann sich freuen, in unseren Zeiten der extremen Empfindung noch jemand zu finden, der vom Leben so sanft angefaßt worden ist. Ich erfreue mich auch an dieser Erscheinung wie an einer duftvollen, exotischen Blume, besonders da sich bei unserer lieben Freundin zu ihren Eigenschaften noch diejenige ungewöhnlicher Menschenliebe und Duldsamkeit gesellt. Allein, um mich ganz befriedigt zu fühlen, und um sie zu meiner Freundin zu machen, fehlt mir an ihr die tragische, tiefe Färbung, jenes Verständnis für Handlungen, welche durch die Macht der Verzweiflung hervorgerufen werden, und die über alles Konventionelle hinweg sich vor allem andern ihr Recht zu erringen trachten. Frau X opfert gewiß manches ihrem Schönheitsgefühl und läßt in Haus und Umgebung oftmals fünf gerade sein, um nicht die vornehme schöne Gemütsruhe zu stören. Sie ist kein Feuergeist, sondern ein anmutiges, lächelndes Idyll.“


[2. Hinweis und Zitat in Kutscher 1, S. 124:]


Und im Dezember 85: „Es ist merkwürdig, daß ich sonst gar keinen Beweggrund habe, Dir zu schreiben, als eben das Pflichtgefühl, Deinen Brief vom 27. NovemberWedekind hatte an diesem Datum seinem Vater geschrieben [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 27.11.1885] und in dem Brief seiner Mutter Grüße bestellt. beantworten zu sollen. Kommt wohl der Mangel an Mitteilungsdrang daher, daß ich die ganze Zeit Deiner AbwesenheitNachdem Wedekind die zweite Hälfte der Semesterferien in Lenzburg verbracht hatte, war er am 2.11.1885 zum Studium nach München abgereist [vgl. Frank Wedekind an William Wedekind, 28.10.1885]. nur mit unerquicklichen Haushaltungsangelegenheiten und etwa Gartenarbeit beschäftigt war, mit welchen zu unterhalten ich Dich verschonen will, oder ist es wieder jene geistige Apathie, die mich früher schon so sehr in Banden gefangen gehalten hatte? Ich kann darauf nicht selber antworten. Ich tröste mich jedoch mit dem Gedanken, daß auch Du, mein geistreicher Sohn, einen ganzen Monat sammeln mußtest, bis Du Material genug zum Ausfüllen eines Briefes hattest. Vergleicht man nun Lenzburgs Produktivität an brieffähigen Artikeln mit München, so rechne ich, kommt ein Verhältnis heraus wie 1:10, sodaß ich ganz getrost noch neun Monate hätte warten können. Da ich aber als Mutter die Pflicht habe, meinen Kindern mit guten Beispielen zu imponieren, will ich nun eben probieren, mit wenig Mitteln Großes zu vollbringen.“

Frank Wedekind schrieb am 21. Dezember 1885 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind

Montag 21. December 1885.


Liebe Eltern,

empfanget meine herzlichsten Wünsche zu den bevorstehenden Feiertagen und dazu eine Kleinigkeit auf den Weihnachtstisch. Die beiden Klavierauszügevermutlich zu Opern von Mozart, aus denen Emilie Wedekind selbst früher Arien gesungen hatte; um welche es sich dabei handelte, ist nicht ermittelt. hab’ ich in einem musikalischen Antiquariat ausgewählt und ich hoffe, sie werden Dir, liebe Mama, eine schöne Erinnerung sein. Ein Pendant zu MozhartSchreibversehen, statt: Mozart. in der Musik ist wol Rafael in der Malerei und die Madonna della Sediahäufig reproduziertes Rundgemälde (1513/14) des italienischen Renaissancemalers Raffael da Urbino; es zeigt die sitzende Maria mit dem Christuskind auf dem Schoß, neben ihr Johannes als Knabe mit Kreuzstab., mit einigen Oblatenfarbige Glanzbilder zur Dekoration. auf einen weißen Carton geheftet, wird vielleicht, lieber Papa, einen bescheidenen Platz unter in Deiner | GallerieSchreibversehen, statt: Galerie. finden. – Für Deinen lieben Briefvgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind 1.12.1885; überliefert ist nur ein Briefzitat., l. Mama, bin ich Dir noch herzlichsten Dank schuldig. Verzeih mir, daß ich Dich so lange auf eine Antwort warten ließ. Aber ich kann doch nicht immer nur über allfällige(schweiz.) eventuelle, etwaige. Kunstgenüsse schreiben und im Übrigen sind mir die letzten zwei Monate ziemlich eintönig verlaufen. Meine alten Bekannten traf ich alle wieder recht wohl und gesund an und hab’ außerdem noch einige neue Bekanntschaften gemacht. Herr Dr. WeltiHeinrich Welti, ein Freund Armin Wedekinds aus der Aarauer Schulzeit, arbeitete als Theater-, Musik- und Literaturkritiker für die „Münchner Neuesten Nachrichten“ und hatte 1882 mit einem Kapitel aus seiner Arbeit zur „Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung“ promoviert, die 1884 vollständig erschien. Er trat in der Folgezeit mit Ausgaben zu Ludwig Tieck und Jean Racine (1886) als Herausgeber und einer Biographie zu Christoph Willibald Gluck (1887) als Buchautor in Erscheinung. hat seine Theaterkritik an den Nagel gehängt und arbeitet nun mit allem Fleiße daran, sich einen Namen zu machen und eine sicheres Einkommen zu finden um dann seine geliebte Emiliedie Schweizer Opernsängerin Emilie Herzog, die seit 1880 an der Münchner Hofoper engagiert war. Heinrich Welti heiratete sie 1890. heimführen zu können. Ich selber habe ihm sehr vieles zu danken. Half er mir | doch mit liebevoller Geduld mich in dem großen Chaos von Eindrücken jeder Art hier in München mich zurechtzufinden, so daß ich jetzt auf jedem Gebiete der Kunst auf dem besten Wege zu einem gesunden Urtheil bin. –– Seitdem ich nicht mehr so viel ins Theater gehe ist mir meine Bude umso wöhnlicher geworden. Ich habe sie durch einige Photographien nach alten Meistern um vieles veredelt und fühle mich in ihren vier Wänden in Gesellschaft meiner Bücher nicht minder in einem geheiligten Tempel, als wenn ich im Parterre des Hoftheaters oder an eine Korinthische Säule gelehnt im ConcertsaalDer Konzertsaal im Odeon war links und rechts von doppelreihigen Kolonaden umgeben, im Parkett mit toskanischen, im Galeriegeschoß mit ionischen Säulen. stehe. Der Musik bin ich in letzter Zeit etwas mehr nachgelaufen, als letztes Jahr. So hört’ ich einige reizende Quartt/e/tteDen genannten Komponisten zufolge besuchte Wedekind von den drei Soiréen des Walter-Quartetts die erste am 3.11.1885 und die dritte am 15.12.1885 (s. u.). Am 3.11.1885 wurden von Joseph Haydn das D-Dur Quartett op. 20 Nr. 4, von Robert Schumann das a-Moll Quartett op. 41 Nr. 1 und von Ludwig van Beethoven das C-Dur Quartett, op. 59 Nr. 3 gespielt [vgl. Allgemeine Zeitung, Nr. 308, 6.11.1885, 2. Beilage, S. 2]. Ob Wedekind auch die zweite Soirée am 30.11.1885 besuchte, ist ungewiss; auf dem Programm standen dabei Ludwig van Beethovens Serenade D-Dur op. 8, Anton Dvořáks Quartett Es-Dur op. 51 und Franz Schuberts d-Moll-Quartett aus dem Nachlass [vgl. Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger, Jg. 38, Nr. 335, 1.12.1885, 1. Blatt, S. 3]. , ganz mit Virtuosen besetzt. Sie spielten Haydn, Bethohven, SchumanSchreibversehen, statt: Beethoven, Schumann. e. ct. Zu/In/ der | letzten derartigen Soiréeam 15.12.1885. Die Presse kündigte an: „Die HH. Benno Walter, Ziegler, Thoms und Wihan geben in Verbindung mit den HH. Karl Hieber, Ebner, Closner und Perles am Dienstag den 15. d. M. im großen Saale des Museums ihre dritte und letzte Quartett-Soirée mit folgendem Programm: Joseph Haydn, op. 64 Nr. 1, Quartett in D-dur; L. van Beethoven, op. 95, Quartett in F-moll; Ludwig Spohr, op. 65, Doppelquartett für zwei Violinen, zwei Bratschen und zwei Violoncells.“ [Allgemeine Zeitung, Nr. 345, 13.12.1885, 2. Beilage, S. 3] wurde ein Doppelquartett von Spohr aufgeführt. Ich war mit einem alten weißlockigen Professor vom Conservatoriumnicht identifiziert. dort, der eine reinzendeSchreibversehen, statt: reizende. blonde Tochternicht identifiziert. hat. Besonders das Andantegemeint ist der 3. Satz des Doppelquartetts, ein Larghetto. war so elegisch, so mährchenhaft, wie ich noch kein Musikstück gehört habe; es erinnerte mich an eine StelleWedekind verschmilzt hier verschiedene Schilderungen von Kindheitserinnerungen bei Heine. In den „Florentinischen Nächten“ heißt es: „Bilder aus der Kindheit zogen mir dämmernd durch den Sinn, ich dachte an das Schloß meiner Mutter, an den wüsten Garten dort, an die schöne Marmorstatue, die im grünen Grase lag…“ [Heinrich Heine: Sämmtliche Werke. Bd. 4: Novellistische Fragmente. Hamburg 1876, S. 189] Eine zweite Passage findet sich in „Die Stadt Lucca“: „Ich erinnere mich noch ganz genau jener kleinen Zeit, wo ich mich eines frühen Morgens von Hause wegstahl und nach dem Hofgarten eilte […] Ich aber setzte mich auf eine alte mosige Steinbank in der sogenannten Seufzerallee unfern des Wasserfalls […] Es war ein trüber Tag, häßliche Nebelwolken zogen dem grauen Himmel entlang, die gelben Blätter fielen schmerzlich von den Bäumen, schwere Thränentropfen hingen an den letzten Blumen, die gar traurig welk die sterbenden Köpfchen senkten, die Nachtigallen waren längst verschollen, von allen Seiten starrte mich an das Bild der Vergänglichkeit“ [Heinrich Heine: Reisebilder. 2.Teil. Hamburg 1876, S. 406-409] Und in „Die Götter im Exil“ findet sich eine analoge Passage: „Andre Säulen, darunter manche von rosigem Marmor, lägen gebrochen auf dem Boden, und das Gras wuchere über die kostbaren Knäufe […] vielfach zerstört von der Witterung oder überwachsen von Moos und Epheu.“ [Heinrich Heine: Sämmtliche Werke. Bd. 4. Deutschland II. Hamburg 1876, S. 187] aus Heines Reisebildern, wo der Verfasser in einem etwas verkommenen Park aus der Rococozeit spazieren geht; es ist trübes Wetter und im hohen feuchten Gras liegen, halb überwachsen, umgeworfene Marmorstatuen, denen Moos in den Augen grünt. Nach beendeter Soiree ließ mich Frl. Herzog fragen, warum ich sie denn fortwährend angesehn hätte. Sie hatte sich geirrt; meine Aufmerksamkeit galt der/m/ schönen Töchter|lein des Musikproffessors, der/ie/ in der nämlichen Richtung aber bedeutend weiter zurück im Saal Platz genommen hatte. Am Abend des Weihnachtstages höre ich eine Symphonie von BethovenDie Presse kündigte für den 25.12.1885 an: „(Die Musikalische Akademie) bringt in ihrem, am ersten Weihnachtstag – Freitag – im kgl. Odeon Abends 7 Uhr stattfindenden letzten Abonnements-Konzert folgendes Programm: Sinfonie Nr. 4 B-dur, op. 60 von Beethoven; [Nils Gades] Frühlingsfantasie op. 23 für vier Solostimmen, Pianoforte und Orchester, vorgetragen von Frl. Herzog und Blank, den Herrn Mikorey und Fuchs […]; Wald-Horn-Konzert Nr. 4, Es-dur von Mozart […] und der Huldigungsmarsch von Rich. Wagner.“ [Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger, Jg. 38, Nr. 357, 23.12.1885, 1. Blatt, S. 10], gewiß nicht die ungeeignetste Art, dieses Fest andächtig zu begehen.

Um den Glanz eines Weihnachtsbaumes zu genießen, werd ich mich auch dieses Jahr wieder im Geist in vergangene Zeiten der Kindheit oder in eine Gegenwart, wie sie zu Hause sich gestaltet, versetzen müssen. Mög euch a/A/llen auch der diesjährige Heilige Abend wieder recht viele goldene Freude bringen! Laßt euch im Geiste umarmen, Mieze, Doda und Du, liebes Mati; denket daran, das ihr nicht ewig jung und sorglos bleibet und danket unserm lieben, guten Papa aufs herzlichste dafür, daß | da er uns so herrliche Augenblicke, so sch glückliche Tage und so herrliche schöne Erinnerungen für’s ganze Leben bereitet. – Und nun lebt wohl, Alle zusammen; im Geiste bin ich bei euch und wünsche euch Gesundheit und frohen Sinn für die kommenden Tage und Glück und Zufriedenheit für alle Zeiten. Mit tausend Grüßen bin ich euer treuer DankbarerSchreibversehen, statt: dankbarer. Sohn und Bruder
Franklin.


Der schlechten Schrift wegen bitte ich um Verzeihung. Ich mußte mich beeilen, damit das Paket noch zu BahnSchreibversehen, statt: zur Bahn. kommt.

Emilie Wedekind schrieb am 23. Dezember 1885 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Mein lieber Babiinnerfamiliärer Kosename Frank Wedekinds (häufig auch: Bebi).!

Ganz schnell noch ein Pa paar Begleitworte zu dem Toilettness/c/éss/ss/aire! Ich dachte bei dem Ankauf desselben daran, wie Du mir immer alle Nähnadeln aus den Kissen nahmst um Dir damit in den Zähnen zu grübelnbohren, stochern [vgl. DWB 9, Sp. 612].. Der Kamm ist ganz allein fur zur Pflege Deines langen Bartes. Nun wünschen wir Dir Alle ein recht fröhliches Weihnachtsfest. Bleibe gesund und brav und erfreue uns bald mit einem lieben langen BriefWedekinds Brief an die Eltern vom 21.12.1885 traf erst am 24.12.1885 ein [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 30.12.1885].. Zu den Gütsis„im Allg. Zuckerbackwerk, Confect, Naschwerk, Süssigkeit, süsser Kram, Bonbon (bes. für Kinder)“ [Schweizerisches Idiotikon 2, S. 554]. kommen noch tausend Küsse von Deinen Lieben und ganz besonders von Deiner alten treuen Mutter. ––

Emilie Wedekind schrieb am 30. Dezember 1885 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Mein vielgeliebter Babeinnerfamiliärer Kosename Frank Wedekinds (häufig auch: Bebi).!

Weihnachten, mit seinen Leiden und Freuden ist vorüber und nun mahnt einemSchreibversehen, statt: einen. der Anblick der Geschenke, als Beweise der Liebe, den Gebern zu danken. Den Nahen hat man seinen warmen Dank schon lange ausgesprochen allein Dir und der lieben guten Tante PlümacherOlga Plümacher wohnte seinerzeit in Stein am Rhein. muß man zu dem Zweck schreiben, damit Ihr gewahr werdet, daß Eure Absicht, Freude zu machen vollkommen erreicht worden ist. Die beiden Partiturenvgl. Frank Wedekind an Emilie und Friedrich Wilhelm Wedekind, 21.12.1885. haben mich sehr erfreut. Zwar ist es für mich etwas schwierig und nur mit Mühe gebe ich auf dem Clavier diese Kunstwerke wieder. D/E/igentlich stottere ich sie ungeschiktSchreibversehen, statt: ungeschickt. genug auf die/en/ Tasten herunter, aber dennoch erfüllt es mich mit großer Freude, wenn ich nach langem vergeblichem Suchen | altbekannte, liebe Melodien heraushöre, die mir ebenso willkommen sind, wie die Gesichter alter lieber Freunde, die man erst nach langem Sinnen unter den Runzenln wiedererkennt welche ihnen vom Alter gezogen wurden. Von Papa wirst Du wohl auch noch hören, wie sehr ihn das wunderschöne Bildeine Reproduktion von Raffaels Madonna della Sedia [vgl. Frank Wedekind an Emilie und Friedrich Wilhelm Wedekind, 21.12.1885]. erfreute. Nicht nur ihnSchreibversehen, statt: Nicht nur ihm. sondern uns allen war der Anblick ein hoher Genuß. Deßhalb danke ich Dir auch dafür tausendmal und zuletzt, aber nicht zum Wenigsten für Deinen, an uns Alle gerichteten schönen Briefvgl. Frank Wedekind an Emilie und Friedrich Wilhelm Wedekind, 21.12.1885., der so sehr seinen Zweck erfüllte, daß Alle davon gerührt und ergriffen waren. Deine Sendung kam am 24. Vormittags. Wir öffneten es aber erst Abends bei der Bescheerung.

Unser Weihnachtsfest ging ganz nach altem Herkommen und Brauch von statten. Armin kam | mit Papa am Mittwochden 23.12.1885. und machte sich sehr nützlich durch das Schmücken des Baumes und andere kleine Gefälligkeiten. Was uns der Weihnachten alleSchreibversehen, statt: alles. für Herrlichkeiten gebracht hat will ich den AndernVon den Briefen aus der Familie mit Bezug auf das Weihnachtsfest sind erhalten: Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1885; Armin Wedekind an Frank Wedekind, 1.2.1886. überlassen Dir genau zu schreiben nur so viel sei Dir kund und zu wissen, daß ich, auf Donalds beharrliche Bemühungen von Papa einen herrlichen neuen Wintermantel bekam, welchen ich wirklich mit wahrem Entzücken begrüßt habe.

Unser Mati hat sich an den Gütsi’s„im Allg. Zuckerbackwerk, Confect, Naschwerk, Süssigkeit, süsser Kram, Bonbon (bes. für Kinder)“ [Schweizerisches Idiotikon 2, S. 554]. den Magen verdorben und liegt seit gestern zu Bett. Am letzten Sonntagam 27.12.1885. kamen die LisaLisa Jahn, für die Wedekind zeitweise schwärmte und die seine Gefühle im Herbst 1885 erwidert haben soll [vgl. Kutscher 1, S. 112], war die älteste Tochter der Lenzburger Apothekerwitwe Bertha Jahn – Wedekinds ‘erotischer Tante’ [vgl. die Korrespondenz]. An die 2 Jahre jüngere Freundin adressierte Wedekind die Gedichte „Lisa Jahn“ [KSA 1/I, S. 188; vgl. KSA 1/I, S. 966f.], „An Lisa“ [KSA 1/I, S. 202; vgl. KSA 1/II, S. 1810f.] und „An Francisca de Warens“ [KSA 1/I, S. 417; vgl. KSA 1/I, S. 1917f.]. und Hanni JahnHanna Jahn, die 25jährige Tochter von Bertha Jahn.s, wurden um 7 Uhr von VictorVictor Jahn, der Bruder von Lisa und Hanna Jahn. abgeholt, der aber noch bis 11½ Uhr geduldig wartete. Es wurde getanzt und SpielerSchreibversehen, statt: Spiele. gemacht aber eigentlich war es doch ziemlich langweilig. ––

Von Minna habe ich eine brillante Photographie mit Briefnicht überliefert. erhalten. | Ist die PhotogrphieSchreibversehen, statt: Photographie. gut, dann kann sich Minna gratulieren, den dannSchreibversehen, statt: denn dann. ist sie beinahe hübsch geworden.

Tante Plümacher schickte mir ein weiches, sehr orginell gearbeitetes Rückenkissen damit ich mein theures Haupt nicht mehr auf die harten Seitenlehnen unseres Sofäle’s im Wohnzimmer zu legen brauche. Mein lieber, guter Armin, welcher mir kurz vor seiner Ankunft noch einen rührenden VersöhnungsbriefDer Brief Armin Wedekinds an seine Mutter ist nicht überliefert; der Zusammenhang nicht ermittelt. geschrieben hatte überraschte mich mit einer prachtvollen Palme, die wie ich mir schon lange eine gewünscht hatte auf meinen Blumentisch. Somit siehst Du, mein lieber Franklin, daß ich wohl Ursache hatte von den Freuden des Weihnachtsfestes zu sprechen und dieses mal überwiegen sie wohl die Leiden die hauptsächlich in der Angst bestanden, daß die Kinder sich an den Kuchen den Magen verderben könnten, eine | Befürchtung, die nun unser Mati auch richtig bestätigt hat. ––

Ar Miezchen hat, neben vielem Anderem den Göthe bekommen. Gestern nun, indem er die Pflege bei Mati übernahm, las mir Armin mehrere Stunden daraus vor und zwar aus Wahrheit und Dichtung. Ich habe innerlich dem Altmeister Abbitte gethan, denn diese Bekenntnisse aus seiner Jugend haben mich wahrhaftig entzükt. Es kam so mancher recht menschlicher Zug darin vor, so kernig und liebenswürdig erzählt daß mir dieses/r/ Theil seiner Werke denselben Eindruck machte, wie das Gedicht von J unserm Herrn JesusJohann Wolfgang Goethes Ballade „Legende“ (1798). und seinen Jüngern mit seiner reizenden behaglichen Naivität. – Ich wollte, ich könnte Dir noch mehr schreiben über Gelesenes und Erlebtes. Allein da ist der Schreckensjunge Doda mit seiner Katze, dem Goldigen, der einem keinen ruhigen Augenblick läßt. | Ich würde Gefahr laufen, Dir allerlei ungereimtes Zeug zu schreiben daher will ich lieber schließen. Zum neuen Jahre kann ich Dir nichts anderes wünschen als was ich Dir tagtäglich wünsche. Alles Glück und Gottes Seegen. Bleibe brav und gesund und erfreue uns bald wieder mit Deinen Nachrichten. Tausend Grüße von Allen. Ich aber küsse Dich und bleibe Deine Dich zärtlich liebende Mutter

Emilie Wedekind.

Emilie Wedekind schrieb am 22. Februar 1886 in Lenzburg
an Frank Wedekind

[Hinweis und Zitat in Kutscher 1, S. 139:]


Die Mutter schreibt: „Du hast uns das erste gelungene Familienfestdas Fest zum 70. Geburtstag des Vaters am 21.2.1886, zu dem Wedekind ein langes Gedicht verfasst und nach Lenzburg geschickt hatte [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 20.2.1886]. bereitet. Ich für meinen Teil sage Dir, es war der schönste Tag meines Lebens.“

Emilie Wedekind schrieb am 15. März 1886 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[1. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Friedrich Wilhelm Wedekind vom 26.3.1886 aus München:]


Mama laß ich aufs herzlichste für ihre lieben Zeilen danken [...]


[2. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 6.5.1886 aus München:]


[...] deinen lieben Brief aus dem Monat Me/ä/rz. [...] vernahm ich zuerst aus deinem Brief [...]

Frank Wedekind schrieb am 6. Mai 1886 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München, 6. Mai 86.


Liebe Mama,

ich wünsche dir alles Liebe, Gute und Schöne zu Deinem GeburtstagAm 8.5.1886 hatte Emilie Wedekind ihren 46. Geburtstag.. Mögest Du noch recht manchen so herrlichen Frühling aufblühen sehen und dabei stehtsSchreibversehen, statt: stets. mit der nämlichen inneren Ruhe und philosophischen Zufriedenheit in dich und um Dich blicken können. Zwar kann ich mir wol denken, daß auch | Dich die letzten Wochen, Willys plötlicheSchreibversehen, statt: plötzliche. Reise nach AmerikaWilliam Wedekind schiffte sich am 24.4.1886 in Le Havre nach New York ein [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 23.4.1886]. und der Abschied von ihm, nicht wenig in Aufregung erhalten haben mögen. Aber gerade von seinem rastlosen und unternehmungslustigen Naturell läßt sich doch erwarten, daß er sich auch in jenen ungewohnten Verhältnissen practisch zurechtfinden wird, und was die Gefahren einer noch nicht so civilisirten Welt anbelangt, so werden dieselben all den mannigfaltigen sorglich maskirten Fallgruben, die ihm | in jeder europäischen Großstadt im Weg gelegen wären, wol kaum an Bösartigkeit nachstehen. Mir kam die Nachricht seiner Abreise sehr unerwartet. Das liebe Mati hatte mich zwar schon vorher in einem sehr interessanten Briefvgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 23.4.1886. davon unterrichtet; dieser Brief aber hatte leider, eh’ er zu mir gelangte, in einer Zeitung eingeschoben, einen kleinen Abstecher in’s Böhmische, nach dem reizenden Städtchen Winterberg unternommen, so daß er erst einen Tag vor Papa’s Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 27.4.1886. bei mir eintrafDa Wedekind im letzten Brief an seinen Vater [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 26.4.1886], die Informationen aus Emilie (Mati) Wedekinds Brief noch nicht hatte, kann deren Brief frühestens am folgenden Tag in München eingetroffen sein. Daraus abgeleitet ergibt sich das Schreibdatum des nicht überlieferten Briefs von Friedrich Wilhelm Wedekind, der am Tag darauf eintraf., der mich/r/ dann in ausführlichster | Weise über den Hergang und das Zustandekommen des ganzen Unternehmens Auskunft gab. Zu meinem großen Bedauern ersah ich daraus auch, daß Papa unter dem Einfluß der übermäßigen Anstrengungen und Strapazen jener Tage nicht unbedeutend zu leiden hatte. Der liebe Brief kündigte mir gottlob aber auch den ersten Schritt zur Besserung an und ich hoffe, daß sich das hartnäckige beängstigende Halsübel derweil von Tag zu Tag mehr gelegt haben wird. – Und Dir, | liebe Mama, bin ich auch noch den herzlichsten Dank schuldig, für deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 15.3.1886. aus dem Monat Me/ä/rz. Mit großer Freude erseh ich daraus wie auch aus Papa seinem Schreiben, daß sich diesen Winter wieder ein recht lebhaftes geistiges Leben in Lenzburg entfaltet hat. Wie könnte das auch anders sein in einer Stadt, wo zu den einheimischen nicht zu unterschätzenden Talenten sich noch Dichter und Sänger der verschiedensten Nationen, ja der verschiedensten Richtungen | und neueren Schulen zu sa gesellen. Ich kann mir des lebhaftesten vorstellen, welch ein Gesicht Tante Jahn zum Beispiel, diese begeisterte Vorkämpferin des Idealismus, zu den ultrarealistischen NaturlautenKarl „Henckell hatte sich als sozial engagierter naturalistischer Lyriker bereits einen Namen gemacht“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 103]. In der von Wilhelm Arent herausgegebenen Anthologie „Moderne Dichter-Charaktere“ verfasste er die Einleitung „Die neue Lyrik“ [vgl. Wilhelm Arent (Hg.): Moderne Dichter-Charaktere. Berlin 1885, S. V-VII], in der er dafür plädierte, „eine Poesie, also auch eine Lyrik zu gebären, die, durchtränkt von dem Lebensstrome der Zeit und der Nation, ein charakteristisch verkörpertes Abbild alles Leidens, Sehnens, Strebens und Kämpfens unserer Epoche darstellt“ [S. VII], und steuerte 20 Gedichte bei. 1885 war sein erster Lyrikband, das „Poetische Skizzenbuch“, erschienen mit einem Vorwort von Heinrich Hart, Anfang 1886 folgte der von ihm unter Mitwirkung von Arthur Gutheil, Erich Hartleben und Alfred Hugenberg herausgegebene Band „Quartett“. Als „Naturlaute“, die Wedekind in seiner Opposition von Idealismus und Realismus Henckells Lyrik als Stilmerkmal zuschrieb, galten der zeitgenössischen Wortlehre „Interjektionen“ als „[u]nmittelbarer Widerhall der Seele“: Dazu zählten „Empfindungslaute […], welche aus dem Innern stammende Empfindung ausdrücken (subjektiv), ein Schrei des Schmerzes, ein Jauchzen der Freude usw. – dumpfe unartikulierte Laute“ und „solche, die eine Erregtheit der Seele infolge einer äußeren Wahrnehmung ausdrücken (objektiv), also Staunen, Wohlgefallen, Überraschung, Furcht, Ekel usw. – reine Vokale oder mit Hauchlaut vorn oder hinten“ sowie „Begehrungslaute oder Lautgebärden, die einem andern Menschen etwas andeuten sollen […] Alle diese Naturlaute sind noch keine Wörter, sie drücken nur eine Empfindung oder einen sinnlichen Eindruck aus“ [August Englien: Grammatik der neuhochdeutschen Sprache. Berlin 1883, S. 76]. eines Herrn Henckel machen wird. Die leidige Natur ist ja, Gott sei’s geklagt, bekanntlich nicht überall schön, nicht einmal genußbringend und wenn man ihr nun zuerst jeden Funken von Geist austreibt und dem armen Gezöpfwohl in Anspielung auf allegorische Darstellungen von Mutter Natur, zugleich Verballhornung von ‚Geschöpf‘. dann noch dazu jeden mitleidigen Kleiderfetzen vom | Leib reißt, so muß ja nothwendiger Weise gar vieles zum Vorschein kommen, an dem sich das erhohlungsdurstige Menschenherz auch mit dem besten Willen nicht sonderlich erbauen kann. Paul Heyse schließt ein kurzes KnittelgedichtDas achtteilige Gedicht „Naturalismus“ (1885) von Paul Heyse enthält in Strophe 5 die zitierten Verse: „Sie konnten im Unsittlichen / Nicht kecker sich erdreisten; / Nur im Unappetitlichen / Blieb Großes noch zu leisten. / Die Muse wandelt in stolzer Ruh’ / Vorbei und hält sich die Nase zu.“ [Paul Heyse: Spruchbüchlein. Berlin 1885, S. 112] womit er diese himmelstürmenden Schulknaben beehrt, mit dem zarten Vers: „Die Muse wandelt in stolzer Ruh vorbei und hält sich die Nase zu.“ – Ich habe übrigens die Ehre eine der Koryphäen dieser sterilen Lasterdichterschulezu Wedekinds Auseinandersetzung mit der aktuellen Lyrik anläßlich der von Wilhelm Arent herausgegebene Anthologie „Moderne Dichter-Charaktere“ (1885) siehe auch den Briefwechsel mit dem Vater aus dieser Zeit. persönlich zu kennen, nämlich den Herrn Dr. KonradWedekind hat den naturalistischen Schriftsteller Michael Georg Conrad, Mitbegründer und Herausgeber der seit 1885 erscheinenden Literaturzeitschrift „Die Gesellschaft“, vermutlich kennengelernt, als er einen Brief Olga Plümachers überbrachte, worum sie ihn kurz zuvor gebeten hatte [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 2.5.1886]., einen ganz ergrimmten Zolaistenzeitgenössisch verbreitete abfällige Bezeichnung für die Nachahmer und Verteidiger der naturalistischen Prosa Émile Zolas. Michael Georg Conrad hat mehrfach zu Zola publiziert, so den Aufsatz „Zola und Duadet“ [in: Die Gesellschaft, Jg. 1, Nr. 40, 3.10.1885, S. 746-750 und Nr. 43, 24.10.1885, S. 800-805] und später mit den Büchern „Von Emile Zola bis Gerhart Hauptmann. Erinnerungen zur Geschichte der Moderne“ (1902) sowie „Emile Zola“ (1906).. Es gieb/n/g ihm aber in der Nachahmung | dieses großen Meisters, vor dem ich, nicht als Dichter sondern als Künstler, alle Hochachtung hege, ungefähr wie einem neueren Münchner Componistennicht identifiziert. mit seinem Vorbild Schumann. Derselbe fieng nämlich in übergroßem Eifer gerade damit an, womit sein Meister aufgehört hatte, mit dem VerrücktwerdenRobert Schumann verbrachte nach einem Selbstmordversuch am 27.2.1854 die letzten beiden Jahre seines Lebens in der Anstalt für Behandlung und Pflege von Gemütskranken und Irren in Endenich bei Bonn.. – Daß Dich bei deiner schönen Züricherfahrt Wagners WalküreRichard Wagners Oper „Die Walküre“ hatte am 27.1.1886 am Aktientheater (Direktion: Paul Schrötter) in Zürich Premiere und wurde bis zum Ende der Spielzeit am 15.4.1886 insgesamt 14 Mal gegeben [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 66, Nr. 119, 30.4.1886, Erstes Blatt, S. (2)]. Emilie Wedekind besuchte zusammen mit Armin Wedekind die Vorstellung am 8.2.1886 [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 12.2.1886]. Wedekind kannte die Oper von einer Aufführung am Königlichen Hoftheater in München am 11.3.1885 [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 12.3.1885]. nicht besonders angesprochen hat, finde ich sehr begreiflich. Das ist eben auch so ein Kunstgenuß der eigentlich keiner ist, sondern im besten Fall Gelegenheit giebt, zu einem tiefen ästhetischen Studium. Das Werk enthält ja unzweifelhaft | viele großartige, fast übermenschliche Schönheiten, die aber nur demjenigen aufgehen, der sich ganz in den Wagnerischen philosophischen und künstlerischen Ideenkreisen zurechtgefunden hat, während die wahre reine Kunst doch gerade DasSchreibversehen, statt: gerade das. naive Gemüth direkt, unmittelbar erfassen sollte. – Mit schmerzlichem Bedauern vernahm ich zuerst aus deinem BriefEs dürfte sich hier ebenfalls um den Brief der Mutter vom März handeln (s. o.)., wie ernstlich gefährlich es um Hermanns Pl. GesundheitDer mit Wedekind befreundete Hermann Plümacher, Sohn von Olga Plümacher, war bereits seit mehreren Monaten schwer erkrankt. stehe. Papa schrieb mirs. o., daß er nun in GersauKurort im Kanton Schwyz am Nordufer des Vierwaldstättersees, den „bedeutende mediz. Autoritäten“ empfahlen, da er „vermöge seiner südlichen Lage, absoluten Schutzes vor kalten Windströmungen, gleichmässiger Temperatur mit geringen Schwankungen für Brustkranke, Blutschwache und Bleichsüchtige etc. von eminenter Bedeutung sei. […] Die Erfahrung gab Besserung und Heilung besonders bei Lungenspitzenkatarrhen ohne erhebliches Fieber, Rekonvaleszenten von schweren Lungen- und Rippenfellkrankheiten bei chronischen Pneumonien, wo eine allmälige Resorption erzielt wird, sowie bei Scrophulose und Anämie jugendlicher Individuen, wenn sie der Einleitung zur Phthisis verdächtig sind“.“ [Bäder-Almanach. Mittheilungen der Bäder, Luftkurorte und Heilanstalten in Deutschland, Oesterreich, Schweiz und der angrenzenden Gebiete für Aerzte und Heilbedürftige. 3. Ausg. Frankfurt a. M., Berlin 1886, S. 51]. In Gersau war Hermann Plümacher seit dem 20.3.1886 [vgl. Olga Plümacher an Frank Wedekind, 2.5.1886]. sei und sich besser befinde. Vor drei Tagen erhielt ich nun einen ausführlichen Brief | von Tante Plümachervgl. Olga Plümacher an Frank Wedekind, 2.5.1886.. Sie scheint ein/gef/aßt und ruhig geworden zu sein. Aber die schwere Zeit seit Neujahr muß d/s/ie doch furchtbar niedergedrückt haben. Irh/hr/ früher so objectiver PessimismusOlga Plümacher hatte zum philosophisch begründeten Pessimismus publiziert: „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart. Geschichtliches und Kritisches“ (1884). beginnt sich ins Practische zu übersetzen. Ein sanfter Trost in Leiden kann ja eine solche festgeschlossene Weltanschauung schwerlich sein; um so mehr aber ein Stütze, ein fundamentaler Halt, der die Seele nie aus einem gewissen Gleichgewicht kommen läßt. Vor einiger Zeit hab ich auch an Hermann geschriebennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Hermann Plümacher, 3.4.1886.. Um die selbe Zeit, da ihr in Lenzburg jene Abendunterhaltungnicht ermittelt. | besuchtet, hatte ich hier in München ebenfalls Gelegenheit, einer solchen beizuwohnen. Die hiesige SängerzunftDie Münchner Bürger-Sänger-Zunft, ein Männergsangsverein, hatte ihren Treffpunkt im „Hackerbräu Eing. Hackenstraße.“ [Adressbuch von München 1886, Teil III, S. 70]. eine Vereinigung aus den ersten Bürgerkreisen hatte Frl. Herzog eingeladen an ihrer Abendunterhaltung„Das Frühjahrskonzert der Bürger-Sängerzunft“ fand am 17.4.1886, „Abends 8 Uhr in Kils Kolosseum“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger. Jg. 39, Nr. 104, 14.4.1886, Erstes Blatt, S. 3] „unter gütiger Mitwirkung der kgl. bayr. Hofopernsängerin Fräulein Emilie Herzog und des k. bayr. Hofmusikers Herrn Carl Ebner“ [ebd., S. 6] statt. einige LiederZu dem Chorprogramm steuerte Emilie Herzog laut Programmankündigung das „Mädchenlied von R. Steuer“ und „Zwei Gesänge aus Victor Scheffels ‚Trompeter von Säkingen‘ von Hugo Brückler“ bei sowie ein „Ständchen von Charl. Gounod“, „Der Schelm von Carl Reineke“ und „Sommerabend von Eduard Lassen“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger. Jg. 39, Nr. 104, 14.4.1886, Erstes Blatt, S. 6]. zu singen und auf diesem Wege kam denn auch ich zu einem Billet. Wir saßen im gemüthlichen Verein um einen der Ehrentische herum, sie, die Königin des Abends, der Präsident der GesellschaftDer „Meister“ der Bürger-Sänger-Zunft war der Kunstanstaltsbesitzer Johann Baptist Obpacher (Karlstraße 41, 1. Stock) [Adreßbuch von München 1886, Teil I, S. 363], verheiratet mit Elise Obpacher, geborene Wirbser. Der Name des Kindes ist nicht ermittelt., ein respectabler feiner Mann, mit Weib und Kind, Dann Dr WeltiDer Theater-, Musik- und Literaturkritiker Dr. Heinrich Welti war ein Freund Armin Wedekinds aus der Aarauer Schulzeit, der Frank Wedekind in das kulturelle Angebot Münchens einführte. Er heiratete 1890 Emilie Herzog., eine Schwester der HerzogWelche der beiden Schwestern Emilie Herzogs hier gemeint ist, konnte nicht ermittelt werden. Laut seinem Münchner Tagebuch hatte Wedekind sich mehrfach mit beiden getroffen [vgl. Tb 7.7.1889, 27. und 28.8.1889]. und meine Wenigkeit. Später kam noch ein Polenicht identifiziert. dazu, ebenfalls Doctor | der Philologie, und noch ein lustger Musikanteder Cellist und Komponist Carl Ebner, königlich bayerischer Kammervirtuos., der einige unglaublich virtuose SalonpiecenAuf dem Programm standen ein „Larghetto von Mozart“ und eine „Tarantelle von Popper“, „Ein Liedchen“ und „Träumerei“ von Carl Ebner selbst sowie der „Elfentanz von Popper“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger. Jg. 39, Nr. 104, 14.4.1886, Erstes Blatt, S. 6]. auf dem Cello vorgetragen hatte. Wir waren unter den sonoren Eindrücken verschiedener Männerchöre lustig und andächtig zugleich bis nach Mitternacht. Da entführte ein herbei geholter Fiaker das so angenehme weibliche Element aus unserer Mitte; und wir Übrigen, untröstlich über den Verlust eines so schönen Gutes, verharrten noch einige Stunden in dumpfer Verzweiflung.

Liebe Mama, ich hoffe daß ich euch Alle Zusammen in einigen | Monaten glücklich und vor allem Gesund wiedersehe. Mögen für Dich alle Wünsche in Erfüllung gehen, die dir der morgige Tag liebend zu Füßen legt. Im Fall sich Papa noch nicht ganz wieder erholt haben sollte, laß ich ihm von ganzem Herzen baldige Besserung wünschen. Ebenso melde ihm meinen wärmsten Dank für den großen so interessanten Brief; dann auch für das Geld das er demselben beigelegt hatte. Da ich mit Bezahlen der CollegiengelderWedekind war in München als Jurastudent eingeschrieben. ohne Anstand zu erregen da/b/is zum letzten Mai warten kann, so ist es nicht nöthig das/ß/ sich Papa die Mühe einer Extrasendung macht. |

M/D/em liebem Mati werd’ ich ihren lieben Briefs. o. in den nächsten Tagen beantworten. Sie soll sich aber durch meine Nachlässigkeit nicht davon abschrecken lassen, mich auch fürderhin in so angenehmer Weise zu überraschen.

Und nun leb wohl, liebe Mama! Mit den herzlichsten Grüßen an Dich, an Papa, an Mieze Doda und Mati bin ich Dein treuer Dankbarer Sohn
Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 18. Mai 1886 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Friedrich Wilhelm Wedekind vom 28.5.1886 aus München:]


Mama schrieb mir dann vom 18. [...]

Emilie Wedekind schrieb am 23. Juli 1886 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Friedrich Wilhelm Wedekind vom 27.7.1886 aus München:]


Auch Mama [...] ihre Wünsche haben mir wohl gethan und ich lasse aufs beste dafür danken.

Emilie Wedekind schrieb am 22. November 1886 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Erika Wedekind vom 9.12.1886 aus Kemptthal:]


Ich lasse Mama auch für ihren lieben Brief [...] herzlich danken.

Emilie Wedekind schrieb am 20. Dezember 1886 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 22.12.1886 aus Zürich:]


[...] für Deinen lieben Brief dank’ ich dir [...]

Frank Wedekind schrieb am 22. Dezember 1886 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürict/h/ 22.XII.86.


Liebe Mama,

für Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 20.12.1886. Darin hatte Emilie Wedekind offenbar den Wunsch geäußert, Frank Wedekind möge an Heilig Abend und die Weihnachstage über nach Lenzburg kommen. dank’ ich dir und es thut mir leid, ihm nicht völlig entsprechen zu können. Die Bescheerung, schreibst du, finde Freitag Abendam 24.12.1886. statt und Papa, dem ihr sie verdankt, wird es Freude machen, selber dabei zu sein. Wenn ich aber komme | so kommt er nichtwegen eines Streits vom Herbst: „Am 16.8.1886 kehrte Wedekind nach Lenzburg heim und gestand nach insistierendem Nachfragen seitens seines Vaters in den folgenden Wochen seinen Eltern, sein Jura-Studium vernachlässigt zu haben. Die Kunde davon, dass er an einem Drama schreibe, war zuvor längst nach Lenzburg gedrungen. Es kam zum Streit und Bruch mit dem Vater, der ihm jede finanzielle Unterstützung verweigerte.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 116f.] Wedekind trat daraufhin am 16.11.1886 eine Stelle in der Reklameabteilung der Firma Maggi & Co. in Kemptthal an und zog in den Zürcher Vorort Fluntern (Plattenstraße 35). und umgekehrt, und ich habe keine Veranlassung, ihm in seinem eigenen Hause derart in den Weg zu treten. Wenn es Euch also recht ist, so komme ich Sonnabend Morgenam 25.12.1886. mit dem ersten Zug. Du wirst das so gut begreifen wie ich; die Sache ist traurig aber einfach, darum mach dir weiter keine Gedanken darüber. Es ist das schlimmste nicht. Bedenkt das und laßt euch in eurer Fröhlichkeit nicht stören; es ist das beste, was ihr thun könnt. Das/ß/ es mir leid thut, wirst du begreifen aber ändern kann ich’s nicht. Also auf | Wiedersehen am Sonnabend. Grüße an Alle! Dein treuer Sohn
Franklin.


Thu es den Andern zu lieb und nimm dir die Sache nicht zu sehr zu Herzen. Die Welt ist nun mal kein Tanzboden. Hammi kommtArmin Wedekind studierte seit dem Sommersemester 1885 in Zürich und wohnte ebenfalls in Fluntern (Pestalozzistraße 3), keine 300 Meter von Frank Wedekinds Wohnung entfernt. auf jeden Fall.

Emilie Wedekind schrieb am 1. März 1887 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 9.3.1887 aus Zürich:]


Deine Novelle hab ich auf deine Carte hin […] an Henckell abgegeben […]

Frank Wedekind schrieb am 9. März 1887 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich, im März 86Schreibversehen, statt: März 87 (belegt durch den Briefkontext)..


Liebe Mama,

verzeih mir daß ich dir so lange nicht geschrieben habe. Böser Wille war es gewiß nicht, aber auch nicht Nachlässigkeit. Seit ich von Zürich LeipzigWedekind hatte im Auftrag der Firma Julius Maggi vom 24.1. bis 7.2.1887 die I. internationalen Ausstellung für Kochkunst und Volksernährung zu Leipzig besucht und für seinen Arbeitgeber einen Bericht darüber verfasst [vgl. Vinçon 1992, S. 87-92]. zurück bin, ist meine Arbeit Wedekind hatte im November 1886 durch Vermittlung von Karl Henckell [vgl. Kutscher 1, S. 144] bei der neu gegründeten Kommanditgesellschaft Julius Maggi und Co. in Kemptthal bei Zürich eine Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] angetreten und war unter anderem für das Verfassen von Reklametexten und Annoncen zuständig.ungemein angewachsen so daß mir während der Woche nur sehr selten eine frei StundeSchreibversehen, statt: freie Stunde. bleibt. Deine NovelleEmilie Wedekinds Novelle ist nicht überliefert. Artur Kutscher berichtete, sie habe dazu „Aufzeichnungen über ihr Leben“, die sie „schon in ihrem 16. Jahre […] gemacht, […] teilweise benutzt“ und zu „einer fünfzig Seiten langen, 1886 auf Drängen ihres Sohnes Frank verfaßten autobiographischen Erzählung: ‚Bewährte Liebe‘“ verarbeitet; „diese vertuscht die Namen und malt die interessanten Erlebnisse romantisch sentimental aus. 1887 hat Emilie Wedekind ihr Werk Karl Henckell gegeben, der dafür einen Verleger suchen sollte und es heute noch besitzt.“ [Kutscher 1, S. 11, Anm.] „Eine Recherche nach dem Manuskript in allen Archiven, die einen Henckell-Nachlass aufbewahren, blieb ergebnislos.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 117] hab ich auf deine Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 1.3.1887. Die Karte enthielt offenbar die erneuerte Bitte der Mutter um eine Durchsicht ihrer Novelle, deren Manuskript Frank Wedekind wohl länger schon vorlag. Karl Henckell, an den Wedekind diese Aufgabe daraufhin delegierte, hatte die durchgesehene Novelle anscheinend schon an Emilie Wedekind zurückgeschickt und erwartete nun von ihr die endgültige Fassung, um dafür einen Publikationsort zu suchen. hin, allerdings nicht ohne eine gewisse Beschämung an Henckell abgegeben; aber jetzt bin doch auch ich froh, daß das nothwendige gethan ist und wünsche deinem Erstlings Werk vor allen Dingen viel Glück auf seine ReiseSchreibversehen, statt: seiner Reise. in’s feindliche Leben. Henckell läßt dich ersuchen, ihm die/as/selbe so schnell wie möglich zurückzusenden, indem er es dann sofort an „Vom Fels | zum MeerEin Abdruck von Emilie Wedekinds Novelle in der von Wilhelm Spemann in Stuttgart herausgegebenen Zeitschrift „Vom Fels zum Meer. Spemann’s Illustrirte Zeitschrift für das Deutsche Haus“ ist nicht erfolgt.[“] schicken wird. Wird es dort acceptirt, so ist dein Ruf begründet. Über zwei Dinge mögest du ihn gefälligst aufklären. Erstens, unter welchem Namen du es gedruckt sehen willst. und zweitens, ob Du damit einverstanden bist, wenn der Titel „Bewährte Liebe“, der ein wenig hausbacken klingt, ersetzt wird durch den kurzen Titel „Doctor Schmidt.“Im übrigen hat er mir einen ergebenen Gruß an dich aufgetragen. –

Heute Abend war ich bei Hammi. Er ist fest entschlossen, das VerfehlteArmin Wedekinds im ersten Versuch nicht bestandenes Abschlussexamen in Medizin. In einer seiner rückblickenden Jahresübersichten in den Notizbüchern notierte Wedekind 1910 zum Jahr 1887: „A. fällt durchs Examen. Zieht zu Dr. Frey. […] A’Verlobung“ [Nb 63, S. 72v]. Armin Wedekind bestand die Prüfung im zweiten Anlauf, verließ am 15.12.1887 die Universität Zürich mit Zeugnis [vgl. Matrikeledition der Universität Zürich, Nr. 6136; https://www.matrikel.uzh.ch] und promovierte am 20.12.1888 über „Die Pocken im Kanton Zürich während der Jahre 1873-87. Statistische und klinische Bearbeitung mit besonderer Berücksichtigung der Epidemie von 1885/86“. Im Oktober 1888 ließ er sich als Arzt in Riesbach bei Zürich nieder. gut zu machen, und arbeitet, soviel er arbeiten kann. Wenn sein Eifer nicht nachläßt, so ist weiter nichts zu besorgen. Im übrigen kann ich dich versichern, daß du auch nicht den geringsten Grund hast traurig zu z/s/ein, denn diese A/K/atastrophe ist ihm von unberechenbarem Vortheil. Seit die Zofingia„Am 18.5.1881 trat Armin Wedekind in die nichtschlagende schweizerische Studentenverbindung Zofingia ein.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 118] aufgehört hat sein Ideal zu sein, irrt er, wie er mir sagte, ohne Ziel und Richtschnur durch die Welt. Jetzt bietet sich ihm die Gelegenheit, die Kinder|schuhe auszuziehen, und sich mit dem Ernst zu befreunden. Aus der gethanen Arbeit wird ihm dann ein Halt erwachsen, der gewiß um vieles solider ist, als ein mit Glück und Zufall erlangtes Doctor-Patentdie Zulassung, als Arzt zu praktizieren (Approbation); sie setzte ein bestandenes Examen voraus.. S/D/ie Schande, von der du sprichst, kommt meines Erachtens nicht in Betracht neben dem Glück deines Kindes. Aus dem Hirn der Spießbürger verschwindet der Begriff in dem Augenblick, wo das Examen abgelegt ist. Was die liebenswürdige Tochtergemeint ist vermutlich Emma Frey, spätere Ehefrau von Armin Wedekind (Heirat am 21.3.1889), Tochter des Amtsarztes Gottlieb Frey, bei dem er seinerzeit arbeitete und wohnte. betrifft, so glaub’ ich nicht daß die Leute den Verdacht verdienen. Verdienen sie ihn doch, so ist das ja nichts unrechtes, aber um so schlimmer für sie. Bei ihm verfängt es nicht mehr. Aber kränken wir die Menschen nicht, bevor sie uns Grund dazu gegeben!

Darf ich dir nun einen Rath geben, so ist es folgender: Nimm so bald als möglich wieder etwas unter die Feder, das dein Sinnen und Denken in Anspruch nimmt Denn Deine Sorgen und S/s/chlaflosen Nächte nützen nichts, sondern schaden nur dir | und Deiner Umgebung. Die ganze Begebenheit birgt des dauernd Guten so vieles das/ß/ sich das Unangenehme, Peinliche gewiß verschmerzen läßt. Hammi brauchte dank seiner ganzen Organisation eine gewaltsame Concentrirung seines Wesens. Nun hat er sie erhalten, während er noch inmitten von Menschen steht, die ihm allesamt wohlwollen. Was will man mehr? Also freu dich doch und beherrsche Dich soweit, daß du in aller Ruhe und Gemüthlichkeit die Zeit abwartest bis nicht nur der Schaden geheilt, sondern überdieß ein Gewinn fürs ganze Leben eingeheimst ist. Hammi hat die edle Jungfer Medicin malträtirt und jetzt rächt sie sich an ihm. Aber gerade dadurch wird sie sein Herz gewinnen, was bis jetzt nicht der Fall war.

Ich bitte noch einmal um Verzeihung meines langen Schweigens wegen. Grüße alle zusammen herzlich von mir. Dein dich liebender treuer Sohn Franklin.


Vergiß nicht umgehend die Novelle an Henckell zu schicken.

Frank Wedekind schrieb am 7. Mai 1887 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich, 7.V.87.


Liebe Mama,

ich gratulire dir herzlich zu deinem GeburtstagEmilie Wedekind hatte am 8.5.1887 ihren 47. Geburtstag.. Wenn momentan auch gerade schlecht w/W/etter ist, so steht ja doch der Sommer vor der Thür, und sonnige Tage können nicht ausbleiben. Mit gleicher Post übersende ich Dir ein Feuilleton Wedekinds Essay „Der Witz und seine Sippe“ [KSA 5/II, S. 82-93] erschien an drei aufeinanderfolgenden Tagen am 4., 5. und 6.5.1887 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ [vgl. KSA 5/III, S. 206].das in den letzten Tagen erschien und das du wahrscheinlich schon gelesen hast. So bringen es die Verhältnisse mit sich; da meine Baarschaft zu einer würdigen Huldigung, die ich dir gerne zu Füßen gelegt hätte, nicht ausreicht, dreh ich den Spieß gleich um und gelange selber mit einer Bitte an dich, mit der Bitte nämlich um rückhaltlose Kritik. Ich bin in der That sehr darauf gespannt, welchen Eindruck Dir das Opus im Ganzen wie im Einzelnen, im Allgemeinen wie im Besonderen macht. | Ich selber finde nachträglich nicht wenig daran auszusetzen, obschon ich mich noch durchaus keines klaren Blickes erfreue. Ich bitte dich, keinen wohlwollens/d/en, niedrigen Maßstab anzulegen sondern von deinen Ansprüchen an eine geistreich sein wollende Lectüre aus zu urtheilen. Immerhin wäre es mir angenehm wenn du mir/ch/ nicht nur auf das Verfehlte, sondern auch auf das allfällig(schweiz.) möglicherweise. Gute, Gelungene darin aufmerksam machst. Das eine ist so werthvoll, wie das andere; man geräth sonst immer wieder auf neue Abwege.

Im übrigen geht es mir gut. Ich arbeite noch zum größten TheilWedekind hatte Anfang April seine feste Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] der Firma Maggi und Co. in Kemptthal bei Zürich aufgegeben, arbeitete aber weiterhin (bis Juli 1887) auf Honorarbasis als Werbetexter für Maggi [vgl. Vinçon 1992, 121]. für Herrn Maggi, befinde mich aber auf dem Wege der Emancipation. In meiner früheren Stellung, in der ich mit Leib und Seele verschachert war, wär ich zu Grunde gegangen. Es ist mir zuträglicher, in freier Luft den Pflug zu ziehen, als angebunden im dunkeln Stall zu stehen, um bei möglichst viel Futter möglichst viel Milch zu produziren. Herr Emil FreyEmil Frey, Bruder von Wedekinds ehemaligem Deutschlehrer Adolf Frey an der Kantonsschule in Aarau, war „Wedekinds Kontaktperson in der Redaktion“ [KSA 1/II, S. 1801] der „Neuen Zürcher Zeitung“ und dort bis zum Jahresende 1887 in der Chefredaktion, wie die Zeitung mitteilte: „An unsere Leser. Die vorliegende Nummer ist die letzte, die Herr Emil Frey unterzeichnet. Er verläßt mit Neujahr die Redaktion dieses Blattes, um seine Kräfte mehr als bisher der Kaufmännischen Gesellschaft Zürich zuzuwenden, deren Sekretariat er seit einer Reihe von Jahren geführt hat. [...] Zum Glücke wird unser Freund aber in engem Zusammenhange mit der Neuen Zürcher Zeitung bleiben“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 364, 31.12.1887, 2. Blatt, S. (1)]. geht mir nach wie vor mit seinem guten | Rath an die Hand. Übrigens hat er sich vor kurzem verlobt und zwar mit einer Baslerin namens Rosa Gass. Daneben hör ich wiederum einige CollegienWedekind besuchte nicht näher identifizierte Vorlesungen an der Universität Zürich, ohne als Student eingeschrieben zu sein. und bin Mitglied der MuseumsgesellschaftDie 1834 gegründete Museumsgesellschaft Zürich hatte ihren Sitz am Limmatquai 21 [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1888, Teil I, S. 218] und unterhielt dort einen Lesesaal mit „Lesestunden vom Morgens 8 Uhr im Sommer u. 9 Uhr im Winter bis Abends ½ 10 Uhr“ [ebd., Teil III, S. 52]., was beides sehr viel gutes mit sich bringt.

Armin arbeitet indessen aus Leibeskräftenum das Medizin-Examen im zweiten Anlauf zu bestehen [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 26.6.1887].. Bisweilen kommt er nach dem Essen zu mir zum Caffe, sonst seh ich ihn selten. Carl Henkell wird dir wol wahrscheinlich eigenhändigDie Korrespondenz zwischen Karl Henckell und Emilie Wedekind ist nicht überliefert: Karl Henckell hatte sich für die Publikation von Emilie Wedekinds Novelle „Bewährte Liebe“ eingesetzt [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 9.3.1887]. das nöthige über sich mittheilen. Möglich, daß wir um PfingstenDer Pfingstsonntag fiel auf den 29.5.1887. wiederum für einige Tage nach Z/L/enzburg kommen. Es würde mich sehr freuen, Minna dann wieder zu sehen„Minna von Greyerz […] kehrte im Frühjahr 1887 nach abgeschlossener Klavier- und Gesangsausbildung in Dresden nach Lenzburg zurück, wo sie als Klavier- und Gesangslehrerin tätig blieb.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 120]; einstweilen laß ich sie von Herzen grüßen Hoffentlich gelingt es ihr nach und nach, ihr geistiges Gleichgewicht wiederzugewinnen. Tante Jahn ist sehr böse über mich, da ich sie angeschwindelt habe. Ich that es, ohne noch zu wissen, daß sie das nämliche mit mir vorhatte, weshalb es mich freut, ihr zuvor gekommen zu sein. –

Und nun leb wohl, liebe Mama. Meine herzlichsten Grüße an Alle und besonders | an dich von Deinem treuen Sohn
Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 8. Mai 1887 in Lenzburg
an Frank Wedekind

[Hinweis und Zitat in Kutscher 1, S. 186:]


Die Mutter schreibt: „Alles Schöne vergeht, ja es vergeht Deiner Theorie von der Ironie des SchicksalsArtur Kutscher stellte das Zitat aus dem Brief der Mutter in den Kontext von Wedekinds Aufsatz „Der Witz und seine Sippe“ [vgl. Kutscher 1, S. 186]; darin heißt es: „Das klassische Alterthum hielt das Schicksal für neidisch. Seitdem wir aber zu der Einsicht gekommen, wie wenig beneidenswerthes unser Erdenwallen mit sich bringt, schreiben wir sein unzeitiges, zweckwidriges Einschreiten einem gewissen Hange zur Ironie zu. Es gibt wenig Menschen mehr, die an diese Ironie des Schicksals nicht mindestens so fest glauben, wie an Gott und den Teufel. […] als ob das Schicksal einen prinzipiellen Haß gegen alles menschlich Schöne hegte.“ [KSA 5/II, S. 84] gemäß viel schneller als das Häßliche.“

Frank Wedekind schrieb am 9. Mai 1887 in Fluntern folgende Postkarte
an Emilie Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Frau Dr. Wedekind
Schloss Lenzburg.
(Ct. Aargau.) |


L. M.

Armin seiner Wäsche hab ich ein ParSchreibversehen, statt: Paar. Beinkleider beigelegtArmin und Frank Wedekind wohnten in Zürich keine 200 Meter voneinander entfernt, Armin Wedekind gegenüber dem Bezirksarzt Gottlieb Frey (Freie Straße 14) in Hottingen [vgl. Adressbuch für Zürich 1887, Teil II, S. 393], Frank Wedekind in Fluntern in der Plattenstraße 35. an denen der Podex(lat.) Gesäß. und einiges andere durchgerutscht ist und die ich selber nicht zu flicken vermag. Ich wäre dir sehr dankbar wenn du sie wo möglich mit Armin seiner Wäsche genesen wieder zurückschicken wolltest. Mit tausend Grüßen dein Fr.

Emilie Wedekind schrieb am 10. Mai 1887 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Schloß Lenzburg am 10/V 87


Mein herzlich geliebter Baby.

Obgleich ich Wäsche, Flickereien und andere Quagneleien„QUACKELEI […] leichtsinnige tändelei, wertloses dummes zeug, mischmasch“ [DWB 13, Sp. 2290]. haufenweise um mich herum liegen u. stehen habe, kann ich dennoch nicht anders als Dir zu schreiben. Ich bin nemlich in einer argen Noth und Unruhe und Du bist die Ursache davon. Ich weiß, daß Du elend und muthlos bist. Ich möchte Dir helfen, ich muß Dir helfen und bitte Dich, es mir möglich zu machen. Du bist in Angst wegen Deiner NovelleWedekinds Novelle „Marianne. Eine Lebensgeschichte“ [KSA 5/I, S. 37-76]. Wann Wedekind das Manuskript seiner Mutter zur Lektüre übergeben hatte, ist unbekannt. Im Juni bot er die Novelle der „Neuen Zürcher Zeitung“ und der „Thurgauer Zeitung“ zur Publikation an, erhielt jedoch von beiden Redaktionen eine Absage [vgl. Neue Zürcher Zeitung an Wedekind, 17.6.1887 und Thurgauer Zeitung an Wedekind, 20.6.1887].. Ich auch. Tausenderlei Gedanken durchkreuzen meinen Kopf und wenn Du da wärst, könnte ich Dir so manches mittheilen, was Dir sicherlich von Nutzen wäre. Je länger, desto klarer | fühle ich, was an der Novelle mangelt. Meiner Ansicht nach ist es die starke tiefe Leidenschaft und ein großer Charakter Gedanke, der ihr abgeht. Siehst Du, wenn Deine Marianne z. B. an ihrer Liebesbedürftigkeit zu Grunde ginge, so wäre das schon eine gros Idee, die jedenfalls wenig Leser kalt ließe. Sie liebt zuerst die Frau des Bauern. Diese stirbt unter der rohen Behandlung ihres Mannes, hinterläßt den Alois auf den Marianne ihre ganze Liebe überträgt und um dessen willen sie seinen Vater heirathet trotz ihrer Liebe zu Claus, der sie durch Schönheit, Jugend und heiße Gegenliebe fesselt. Gegen ihre wahre Neigung bringt sie sich selbst zum Opfer und zwar aus Dankbarkeit gegen die Bäurin und infolge dieser auch aus Liebe zu deren verlassenenSchreibversehen, statt: verlassenem. Kinde. | SistematischSchreibversehen, statt: Systematisch. wird aber Alois von seinem Vater verzogen, wird ein wiederwärtigerSchreibversehen, statt: widerwärtiger. liederlicher Bursche. Dann stirbt der Bauer, wie man allgemein meint, an/vo/n einem Pferde erschlagen. Der zurückgekehrte Klaus wirbt um Marianne, die unterdessen ihre Liebe auch an ihrer Schwester Vreneli bethägtSchreibversehen, statt: betätigt. hat, und ihr mit warmem Herzen zu ihrem ersehnten Glücke verhilft; Das Glück der jungen Leute weckt auch in Marianne zärtliche Regungen. Sie gibt Claus Gehör und heia/r/athet ihn, indem sie sich schmeichelt auch für Alois Gutes dadurch zu erreichen, indem sie ihm in dem tüchtigen, oft ernst, ja düster dareinblickenden Claus einen vortreffliches Vorbild und zur Noth, einen strengen Vater zu geben hofft. Bei dem von | Natur boshaften Alois schlägt alles fehl und eine Scene von Betrunkenheit führt einen Konflickt herbei, wori/be/i der Bursche seiner Mutter da/e/s Verbrechens beschuldigt, seinen Vater ermordet zu haben. Auf diese Weise und um seine Frau vor dem Gerichte zu rechtfertigen bekennt Claus, (auch wohl vom eigenen Gewissen und Wahnsinn der Verzweiflung getrieben) die blutige That und Marianne sieht ein, daß sie ihre heiße Liebe an einen/m/ Ver Mörder geschenkt hat. Sie kann ihn nach Ueberwindung des ersten Entsetzens dennoch nicht hassen, sondern sucht den zu lebenslänglichem Zuchthause Verurtheilten durch ihre treuen Beweise ihres tiefen Mitleidens und fortdauernder Liebe (schmerzlicher) im Gefängniße zu trösten. Indessen wird in der Umgegend allerlei Verdächtiges über sie gesprochen. Alois und seine Saufkumpane ver|läumden sie und letzterer erpreßt von ihr soviel Geld als er kann, unter dem VorwandeDie Bitte um Geld mit einer Selbstmorddrohung zu verbinden, war später ein wiederholt angewandtes Mittel Donald Wedekinds gegenüber seiner Familie [vgl. z. B. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.12.1900]., er wolle sich sonst erhängen. Mit Freude sieht er das Entsetzen im Gesichte seiner Mutter und gebraucht diese Entdeckung zur Schraube, mit der er immer seinen Zweck erreicht. Bis endlich di Marianne einsieht, daß es auf diesem Wege nicht weiter gehen kann und der Junge ganz zu Grunde geht. Auch merkt sie nachgerade die List des jungen Wüstlings und als er wieder einmal droht, sagt sie ihm, „: Geh und thu es, es ist vielleicht besser als wenn Du Dich zu Tode säufst.[“] Alois weiß aber, daß seine Mutter ihn seit seinen Drohungen stets scharf beobachtet. Darauf rechnet er. Marianne bekommt aber plötzlich einen Brief von Vreneli deren Mann gestorben und bevor reist noch am Abend, während der Alois betrunken | auf seiner Kammer liegt in/pl/ötzlich ab. Am andern Morgen, kurz bevor die Mutter für gewöhnlich kommt, ihn zu wecken, hängt sich Alois auf, in der Hoffnung, sofort wieder abgeschnitten zu werden, was aber nicht passirt. Wieder ein sieht Marianne (oder glaubt zu sehen) daß ihre treue, aufopfernde Liebe Unheil gebracht hat. Die Gerüchte über ihre Schlechtigkeit vermehren sich. Die Leute zeihen sie der Hexerei und sagen, sie brauche nur zu wollen, dann hole der Teufel die Menschen, die ihr im Wege stehen. Jetzt sei auch der Sohn weg und nun bekomme sie das ganze viele Geld des Bauern. Sie steht vereinsamt, gemieden Kinder weichen ihr scheu aus und Niemand sucht die verlassene alternde Frau auf. Sie besucht ihren unglücklichen Claus nun öfter im | Zuchthause, allein der geht schnell dem Tode entgegen. Endlich nimmt sie ihre Schwester, Vreneli ins Haus, die aber ein albernes genußsüchtiges Geschöpf ist und durch Dummheiten und Klatschen bei Nachbarsleuten ihre Schwester noch mehr ins Gerede bringt. (Nun kann hier die Schuhgeschichte ihre Anwendung finden, so zwar, daß man sieht, daß Marianne auch bei der Dummheit kein Glück hatte nachdem sie eine gutmüthige Bäurin, einen rohen Bauern, einen boshaften Stiefsohn, einen zwar leichtsinnigen aber hochherzigen Geliebten mit ihrer warmen, aufopfernden Liebe vergebens zu beglücken gesucht hatte (oder unglücklich gemacht hatte).) – Verbittert und schroff lebt sie den Rest ihres Daseins dahin, verzweifelnd an Gott und den Menschen. Zum Schluß und um wenigstens einen versöhnenden Schluß zu haben, könnte sie sich | eines verlorenen Mädchens und deren Kinde erbarmen, die sie kurz vor ihrem Tode zur Erbin einsetzt, weil sie eben doch wenigstens mit dem Wahne hinübergehen will, einem Menschen etwas Gut Glück gebracht zu haben. Zwar weiß sie wohl, daß sie dieses Glück nicht sehen werde und will es auch nicht, denn sie kann den Zweifel nicht verbannen, daß es wieder an an irgendeiner Klippe zerschellen werde. Mit dieser (philosophischen?) Ungewißheit stirbt sie. –

Nun habe ich gedacht, mein lieber alter Junge, wenn Du, bis diese Novelle fertig wäre nach Hause kämest, wo Du dann der/n/ schönen Sommer über fleißig daran arbeiten könntest. Nebenbei könntest Du Deine Artikel für | MaggiWedekind hatte Anfang April seine feste Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] der Firma Maggi und Co. in Kemptthal bei Zürich aufgegeben, arbeitete aber weiterhin (bis Juli 1887) auf Honorarbasis als Werbetexter für Maggi [vgl. Vinçon 1992, 121]. schreiben um ein Taschengeld zu haben. Es wäre gewiß besser als da in Zürich Dich abzuquälen und dann könntest Du ruhig abwarten, was Dir das Schicksal weiter vorbehalten hat.

Ueberlege Dir meinen Vorschlag, mein geliebter Junge und wenn es Dir nicht paßt, dann schreibe mir wenigstens, warum es Dir nicht paßt. Jedenfalls erwarte ich irgend ein Lebenszeichen von Dir und zwar sobald wie möglich. Ich bleibe in Angst und Sorgen Deine getreue Mutter
E. Wedekind.

Frank Wedekind schrieb am 10. Juni 1887 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich 19/0/.VI 87.


Liebe Mama,

warum ängstigst und quälst du dich wieder? Du hast doch gewiß ohne das Sorgen die Fülle. Und nun gar meinetwegen, der ich das gar nicht recht zu schätzen weiß. Rechne ich dazu die Sorge, die dir und um Hammis ExamenArmin Wedekind war im Frühjahr durch das Medizin-Examen gefallen und bereitete sich nun auf einen zweiten Versuch vor [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 9.3.1887]. in gegenwärtiger Zeit erwachsen mag, so wirSchreibversehen, statt: so wird. es mir ganz schwindlig, in deinem Namen. Ich versichre dich, das/ß/ ich an die unglückselige Marianne seit acht | Tagen gar nicht mehr gedacht habe. Ich habe sie eingereichtWedekind hatte seine Novelle „Marianne. Eine Lebensgeschichte“ bei der „Neuen Zürcher Zeitung“ eingereicht, erhielt aber eine Absage [vgl. Neue Zürcher Zeitung an Wedekind, 17.6.1887]., und wird sie nicht würdig befunden, so reich ich sie wo andersNach der Absage der „Neuen Zürcher Zeitung“ reichte Wedekind seine Novelle bei der „Thurgauer Zeitung“ ein, von der er ebenfalls eine Absage erhielt [Thurgauer Zeitung an Wedekind, 20.6.1887]. ein. Etwas Geld muß sich schließlich doch heraus schlagen lassen und das ist ja alles was ich damit bezweckt habe. Du schreibst an CarlDie Korrespondenz zwischen Karl Henckell und Emilie Wedekind ist nicht überliefert., ich werde keine Ehre damit einlegen. Mag sein, aber das genirt mich gar nicht, weil ich noch Zeit genug habe um Ehre einzulegen, und geringer als die Ehre einer guten ReclameUm seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, arbeitete Wedekind seit November 1886 als Werbetexter für die Firma Maggi und Co. in Kemptthal bei Zürich. ist die Ehre einer schlechten Erzählung gewiß nicht. Du siehst daraus, daß ich trotz allen Mißerfolgen an meinem Können noch nicht verzweifle; wenn du mir nun darin nichts zu folgen vermagst, was kann ich dir andres rathen als abzuwarten. Bist du aber auch dazu zu kleinmüthig, so muß ich | dich bitten, die ganze Sache ein wenig leichter aufzufassen. Du hast ja gesehen, daß ich mein Geld verdienen kann; ich habe mit M. gebrochenWedekind hatte seine feste Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] der Firma Maggi und Co. im April gekündigt, arbeitete aber bis Juli noch auf Honorarbasis als Werbetexter für das Unternehmen. [vgl. Vinçon 1992, 121]., nicht er mit mir und eine Stelle wie jene oder an einer Redaction bleibt mir ja schließlich doch noch übrig.

Elend und muthlos, wie du schreibstvgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1887., bin ich nicht. Ich habe die Sache vom Halse und wandle erleichtert weiter. Das MauthierSchreibversehen, statt: Maulthier. sucht im Nebel seinen WegZitat aus Johann Wolfgang Goethes Gedicht „Mignon“ (1795): „Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg“.; bei GegenwindZitat aus dem Ersten Buch von Jean-Jacques Rousseaus „Emil oder Über die Erziehung“ (1762): „Bei Gegenwind muß man lavieren“ muß man laviren und lernen kann man dabei so gut wie auf directer Fahrt. So kommt es nun doch wieder darauf hinaus, daß ich dich über mein eigenes Pech trösten soll. Und ich thäte es ja gerne, wenn ich nur wüßte, daß es hilft. Immerhin glaube ich aus meiner Erfahrung | schließen zu dürfen, daß ich einiges Talent zu trösten besitze, und so wag ich auch in diesem Falle auf Erfolg zu hoffen. Denke dir zum Exempel, wie wenig besorgt du um Willi bist, der doch gewiß schon kritischere Lagen in AmerikaWilliam Wedekind war am 24.4.1886 nach Amerika aufgebrochen [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 23.4.1886] und blieb dort bis 1888. durchgemacht hat und jeden Augenblick wieder durchmachen kann. Und warum das? Weil es der Zufall will daß du nun gerade meine Nöthen kennst und seine nicht. Denke dir, wie du mich beurtheilen würdest, wenn ich mit etwas mehr Arroganz auftreten würde und mir von niemandem ein Wort dreinreden ließe. Du würdest sagen, der wird seinen Weg schon machen. Und doch ist es gewiß ja zu meinem Vortheil daß ich auf das Urtheil anderer hof höre Und denke doch nur auch ein wenig daran, als was ihr alle zusammen | mich früher betrachtet habt, als einen stinkfaulen Kerl, als einen Achselträger„heuchler, der auf beiden achseln trägt“ [DWB 1, Sp. 164]., Lügner, kurz als ein ganz hoffnungsloses Subject. Liebe Mama, ich sage dir das alles nicht aus Rancune(frz.) Groll, Feindschaft., denn ich weiß ja auch wiederum daß es nicht bös geworden war gemeint war und ich das/ß/ ich das alles in der That war oder schien. Ich sag es dir nur, um dir daran die Hinfälligkeit menschlicher Beurtheilung zu demonstriren, und wenn ich dich dadurch vielleicht auch ärgere, so weiß ich doch wiederum, daß eben der Ärger dich anderseits wieder beruhigt. Wenn dir das auch selbst nicht ganz klar ist, so bin ich meinerseits doch des EfektesSchreibversehen, statt: Effektes. gewiß. Sieh, damals hätt’ ichAuf welchen Misserfolg Wedekind sich hier bezieht, ist unklar. auch Grund genug gehabt zu verzweifeln, wenn ich das alles hätte glauben wollen; | aber ich war eingebildet genug, mir zu sagen, ihr versteht das nicht besser und später wird sichs schon zeigen. So sag ich mir nun auch jetzt noch, denn ich kann mir nicht verhehlen, daß ich seither viel erreicht habe; und wenn du das nicht einsiehst, so thust du mir zwar leid, aber im übrigen ist es mir ganz egal. Ich stehe jetzt auf eigenen Füßen und muß Egoist sein, um auf eigenen Füßen vorwärts zu kommen. Der Erreichung meines Zieles bin ich gewiß, denn ich trage mein Ziel in mir, und das ist mehr als Novellen schreiben.

Ich bleibe in Zürich. Mit Anwendung einiger Vernunft müßtest du dir selber gesagt haben, daß ein Aufenthalt zu Hause mir durchaus nicht zuträglich wäre. Da käm’ ich ja erst recht | nicht aus der ewigen Quakelei„unnützes leeres geschwätz […] leichtsinnige tändelei“ [DWB 13, Sp. 2290]. heraus. Für die Zusendung jenes GrundrissesEmilie Wedekind hatte zuletzt ausführlich ein alternatives Handlungsgerüst für Wedekinds Novelle „Marianne“ entworfen [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1887], das Wedekind jedoch nicht aufgriff. bin ich Dir sehr verbunden; er scheint mir so übel nicht. Ich zweifle nicht, daß ich ihn später benützen werde, aber fürs erste hab’ ich un/Die/ Geschichte gründlich satt.

Und nun leb wohl, liebe Mama,/./ Meine Pläne kann ich dir leider auch jetzt nicht auseinandersetzen; das bräuchte zu viel Zeit und zudem sprech ich nicht gern davon. Mit vielen herzlichen Grüßen an Frl. Henckell, an Doda, an Mati und vor allem an dich dein treuer Sohn und Pechvogel
Franklin.


P. S. Der Kaffee schmeckt delicat.

Frank Wedekind schrieb am 28. Juni 1887 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich 28 VI.87.


Liebe Mama,

als ich das letzte Malnicht ermittelt; vermutlich war Wedekind zwischen seinem letzten Brief [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 10.6.1887] und dem vorliegenden auf Schloss Lenzburg gewesen. zu Hause war und du mir zum Abschied das freundliche AnerbietenWie aus dem weiteren Brief hervorgeht das Angebot Emilie Wedekinds, ihren Sohn gegebenenfalls aus ihren Mitteln finanziell zu unterstützen. machtest, da glaubt ich nicht daß ich so bald in den Fall kommen würde, wo ich genöthigt wäre mich auf deine Worte zu berufen. Es wird mir schwer genug, zumal ich weiß, daß es auch dir nicht leicht sein wird. Aber mir ist, als sei es angenehmer für jemand anders Geld zu borgen als für sich selbst.

Ich hoffe du werdest nicht daran zweifeln | daß ich arbeite so weit meine Kräfte reichen. undSchreibversehen, statt: reichen. Und. kein Geld nutzlos verschwende. Wenn man keins hat, hört das von selbst auf. Aber du wirst sagen, das könne so nicht weiter gehen, denn was hilft die Arbeit, wenn sie nichts einbringt. Und das sag’ ich auch, und werde deshalb von Beginn nächsten Monats an Stunden geben in Latein und Deutsch. Es ist so weit schon alles in Ordnung.

And/Zw/ar würd’ ich auch darauf natürlich nie meine Zukunft gründen. Aber ich möchte nur noch eine kleine Weile zum Probiren, zur freien Arbeit haben. Eine Stelle ist dann rasch gefunden, wenn alles nicht geht; aber ich mag so rasch ni bald noch nicht verzweifeln. Ich hege noch Hoffnung. Wenn | du auch mitleidig lächelst, du wirst den Wahn doch begreiflich finden. Geht es dann nicht, so will ich mich ja gern wieder einspannen.

Es handelt sich um 100 Fr die ich bis zum auf den 1 VII haben sollte. Vielleicht daß du sie hier und oder dort bekommst. Binnen wenigen Monaten werd’ ich sie abzahlen können. An meinem f/F/leiß soll es dann nicht fehlen. Bedenke daß ich letzten WinterWedekind war von November 1886 bis April 1887 bei der Firma Maggi und Co. als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] fest angestellt gewesen. die Summe in zwei Monaten bequem erspart haben würde.

Sollte es dir nicht gelingen, so bitte schreib mir. Ich erhalte sie hier in Zürich bereitwillig. Aber weil du es mir angeboten, dacht’ ich, will ich zuerst zu dir kommen.

Wenn du meinen letzten Briefvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 10.6.1887. noch einmal aufmerksam durchliest, so | wirst du nichts respectwidriges darin finden. Zum mindsten war die Absicht gut. Du hast dich an den einzelnen Worten gestoßenvermutlich gesprächsweise bei Wedekinds eingangs erwähntem letzten Besuch in Lenzburg..

Und nun leb wol, Liebe Mama, und verzeih deinem treuen Sohn.
Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 30. Juni 1887 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 4.7.1887 aus Zürich:]


[…] herzlichen Dank für Deine freundliche und rasche HülfeHinweis auf die erfolgte Geldsendung durch die Mutter und damit auch auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben – das hier erschlossene Korrespondenzstück..

Frank Wedekind schrieb am 4. Juli 1887 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich 4.VII.87.


Liebe Mama,

herzlichen Dank für Deine freundliche und rasche HülfeHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zu der zuletzt erbetenen Geldsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 30.6.1887.. Immerhin werd’ ich mir alle Mühe geben, mich ihr würdig zu zeigen, d. h. dafür zu sorgen, daß solch ein Fall so bad/l/d nicht wieder eintritt. Von Armin hab’ ich dir nur Gutes Erfreuliches zu melden. Er arbeitet nach wie vor fleißig drauf los und erndtet bei jeder | ExaminirungArmin Wedekind absolvierte zum zweiten Mal die Abschlussprüfung seines Medizinstudiums an der Universität Zürich. die Früchte ein. Bis jetzt ist es ihm in allem gut gegangen und mehr als die Hälfte hat er bereits wieder hinter sich.

Karl war einige Tage krank; er hatte sich den Fuß übertreten. Da er sich aber daraufhin sehr schonte so ist er nun wieder vollständig hergestellt. Gestern und Vorgesternam Sonntag den 3. und Samstag den 2.7.1887. waren hier große FestlichkeitenDie Presse berichtete: „Zürich. 2. Juli. Zürich schwimmt heute im Festjubel. Die Quaieinweihung wird gefeiert, heute mit einem Kinderfest. Alle Primaner und Sekundarschüler und Schülerinnen der drei Quaigemeinden Zürich, Riesbach und Enge, 6000 an der Zahl, ziehen festlich geschmückt unter dem Geläute aller Glocken, mit 10 Musikkapellen, durch die Straßen der Stadt. Jedes Haus ist beflaggt, bewimpelt, alle Fenster sind dicht besezt. Der unermeßliche Zug der fröhlichen, tanzenden, singenden Kinder dauert über 1 Stunde, er marschirt an die Seeufer, und den ebenso festlich geschmückten, herrlichen Quai, der von einem Kranz von Villen umgeben ist, im Hintergrund thronen die Alpen, vom Glärnisch bis zum Rigi. Am Quai spielen die Kinder in den Wiesen und erhalten einen bescheidenen Imbiß. Morgen den ganzen Tag Regatten aller Nationalitäten: Engländer, Franzosen, Skandinavier, Schweizer, Rumänen, Polen, Deutsche und Abends großes Feuerwerk, Seekampf, Schiffbombardement, Villenbeleuchtung, Illumination der Seeufer und venetianische Nacht.“ [Schwäbischer Merkur, Nr. 156, 5.7.1887, S. 1186]. Der Kinderumzug am Samstag war ganz reizend und das Feuerwerk gestern Abend großartiger als ich je eins gesehen. Gestern Morgen traf ich Frau | LemannEmilie Leemann (geb. Kammerer) aus Riesbach (Seefeldstraße 174) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1887, Teil I, S. 201], Witwe von Gustav Leemann, war eine Cousine von Emilie Wedekind (geb. Kammerer). in den Anlagendie zwischen 1881 und 1887 neu gebauten Quaianlagen am Seeufer in Zürich, Örtlichkeit des genannten Festes.. Sie läßt dich freundlich grüßen und bat mich in den nächsten Tagen mal zu ihr zu kommen.

Auf Miezes HeimkehrErika Wedekind besuchte nach ihrem bestandenen Lehrerinnenexamen in Aarau im Frühjahr und Sommer 1887 das von Louise Duplan (geb. Gaudard) nach dem Tod ihres Mannes (einem Pfarrer) 1870 gegründete und seitdem von ihr geleitete Mädchenpensionat in der Villa „Le Verger“ in Lausanne [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 30]. bin ich sehr gespannt und ein andererKarl Henckell, mit dem sich Erika Wedekind am 29.5.1887 verlobt hatte. natürlich nicht weniger. Es nimmt mich wunder ob und in wie fern sie sich verändert hat.

Indessen arbeite ich munter fort. Das herrliche Wetter trägt nicht wenig zur Bewahrung des theuern unentbehrlichen guten Humors bei. Durch diese und jene | Mißerfolge lasse ich mich weder abschrecken noch entmuthigen. Ich trage für meine Jahre verhältnismäßig vielerlei Stoff mit mir herum und der braucht natürlich längere Zeit zum Ausreifen und Abklären als das bei concentrirteren Naturen der Fall ist.

Frau Jahn schulde ich seit geraumer Zeit einen Brief. Wenn du sie siehst, bitte, grüße sie von mir. Sie hat mir ihr Bild geschicktvgl. Bertha Jahn an Frank Wedekind, 22.6.1887. Das Foto Bertha Jahns ist abgebildet in Vinçon 2014, S. 24..

Und nun leb wohl, liebe Mama. Noch mal herzlichen Dank und sei gegrüßt und geküßt von deinem treuen Sohn Franklin.


Gruß von Karl.

Emilie Wedekind schrieb am 23. Juli 1887 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 20.7.1887 aus Zürich:]


[…] empfang meinen herzlichsten Dank für all das Treffliche, das du mir zum Geburtstag übersendet! […] auch dein Glückwunsch […]

Frank Wedekind schrieb am 30. Juli 1887 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich 30.VII 87.


Liebe Mama,

empfang meinen herzlichsten Dank für all das Treffliche, das du mir zum GeburtstagFrank Wedekind hatte am 24.7.1887 seinen 23. Geburtstag. übersendetDas Begleitschreiben zu der Sendung mit den Glückwünschen (s. u.) ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1887.! Die Kirschen waren ein süßes erfreuliches Vorspiel; Karl und ich haben uns zwei Tage daran erlabt; AuchSchreibversehen, statt: erlabt; auch. Armin nahm Theil, der zufällig vorbeikam. Und dann der mächtige Korb. Was mich am meisten freute, weiß | ich gar nicht. Aber das ganze war ein goldener Sonnenstrahl, so quasi eine Ladung aus dem Füllhorn FortunensAttribut der römischen Glücks- und Schicksalsgöttin Fortuna, „ein mit Früchten, Blumen etc. gefülltes, meist gewundenes Horn oder Bild eines solchen, als Symbol des Überflusses und Attribut des Reichtums“ [Meyers Konversations-Lexikon, 4. Aufl., Bd. 6, Lepzig 1887, S. 781].. Kaffee Cacao und Zucker nahm ich sofort in Angriff, ebenso den Tabak. Es schmeckt alles über die maßenSchreibversehen, statt: über die Maßen. gut und würzt den Genuß immer wieder durch die tiefere Bedeutung. Und Mieze, die liebe Mieze! Sie entäußert sich des Geschenkes, das sie vierjährigem Fleiß verdankt, um mir eine Freude zu machen. Nun, das wäre nicht nöthig gewesen. Ich weiß ja nur zu gut, | wie sie es meint. Aber das ist wahr, das Buchnicht ermittelt; offenbar ein Examensgeschenk, das Erika Wedekind am Ende ihrer Ausbildung am Aarauer Lehrerinnenseminar erhalten hatte, das sie drei Jahre lang, von Frühjahr 1884 bis Frühjahr 1887, besuchte. hat dadurch für mich einen unermeßlichen Werth gewonnen! Und das gute liebe Mati, das mir, praktisch wie immer, Papier und Couverte schenkt. Jetzt eben schreib’ ich darauf und ich habe schon vielmehr, darauf geschrieben, das mir, wenn’s irgend gut geht noch viel viel mehr nützen kann.

Aber auch dein Glückwunsch, liebe Mama, hat sofort seine Kraft bewährt. Am gleichen Tag erfuhr ich von Prof. VogtProf. Dr. jur. Gustav Vogt war von 1878 bis 1885 Chefredakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“ gewesen und schrieb weiterhin gelegentlich noch für das Feuilleton., daß er einen ArtikelWedekinds Essay „Zirkusgedanken“ [KSA 5/II, S. 94-106] erschien am 29. und 30.7.1887 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 209, 29.7.1887, 1. Blatt, S. (1-2), 2. Blatt, S. (1-2), Nr. 210, 30.7.1887, S. (1-2)]. von mir acceptirt. Ich hege auch die feste Zuversicht | daß es jetzt rüstig weiter gehen wird. Für diesen Monat bin ich gedeckt und für den nächsten hab ich bereits vorgearbeitet.

Armin arbeitetArmin Wedekind absolvierte zum zweiten Mal das Abschlussexamen in Medizin, nachdem er Anfang des Jahres durchgefallen war. indessen rüstig weiter. Auch er hat mich mit Tabak und anderen schönen Dingen überhäuft. Am Nachmittag jenes schönen Tages waren Karl und ich in der Tonhalle HeilsarmeeDie Heilsarmee in Zürich hatte ihr Versammlungslokal im Grünenhof in Hottingen [vgl. Armin Wedekind: Die Pocken im Kanton Zürich während der Jahre 1873 – 87. Zürich 1888, S. 27], das „Hauptquartier für die deutsche Schweiz“ unter Leitung des Hauptmanns Fritz Schaaf befand sich in der Cramerstraße 2 im Stadtteil Aussersihl [vgl. Adreßuch der Stadt Zürich 1887, Teil I, S. 281]. Später verfasste Wedekind eine Ballade mit dem Titel „Die Heilsarmee“ [vgl. KSA 1/III, S. 100 u. 704 f.]. und am Abend besuchten wir mit Frl. RothgangChristine Rothgang arbeitete 1887 in Zürich – vermutlich als Schneiderin oder Näherin – bei der Firma Jelmoli u. Comp., die ein Modegeschäft am Münsterplatz 17 und eine Filiale in der Bahnhofstraße17 besaß. Sie war eine Tochter des 1873 verstorbenen Kofferträgers Leonhard Rothgang und seiner Frau Maria, die zwischen 1862 und 1884 in München gemeldet waren [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 124f.; Adreßbuch für München 1862 (S. 294) bis 1884 (S. 182)], wohin Christine Rothgang vermutlich Mitte August umzog. Gemeinsam mit ihrer Freundin Anna Ruppert hatte sie Wedekind zu seinem Geburtstag ein Gedicht geschrieben [vgl. Christine Rothgang und Anna Ruppert an Wedekind, 24.7.1887]. das TonhalleconzertIn der Zürcher Tonhalle, einem 1867 zum Konzertsaal umgebauten ehemaligen Kornhaus am linken Limmatufer direkt vor dem Fraumünster, fanden drei- bis viermal die Woche Konzerte statt. An Wedekinds Geburtstag waren in dem zugehörigen Palmengarten in den Konzertpausen außerdem Vorstellungen „der märchenhaften griechischen Illusion Galathée“ zu sehen [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 204, 24.7.1887, S. (4)].

Frl. Henkell scheint die Schweiz mit schwerem Herzen verlassen zu haben und Frl. Gugelvermutlich Bertha Gugel, die jüngere (s. u.) der beiden Schwestern des Lenzburger Musikdirektors Eugen Gugel [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 125]. mit nicht | viel leichterem. Frl. Gugel ist ein kleiner Satan, unter uns gesagt. Wir waren zuerst auf dem See und feierten dann Abschied in der Kronenhalle. Ich hoffe sie dereinst in MünchenDort lebten die Eltern der Gugel-Geschwister, Theresia und Eugen Gugel (Blumenstraße 5) [vgl. Adreßbuch von München1887, Teil I, S. 181]. noch genauer kennen zu lernen. Ein einziger Abend giebt ein Bild, das nicht weniger EfectSchreibversehen, statt: Effect. macht durch das, was man sieht, wie durch das, was man nicht sieht. So zum Beispiel hielt ich sie in allem Ernste für 15 Jahr altDie beiden Schwestern Sofia Katahrina und Bertha Gugel waren 1867 und 1870 geboren., worauf ich denn, wie ich zu spät einsah, eine durchaus verfehlte Taktik gründete. Karl dagegen, der gar keine | Taktik gründete, traf mit dank seinem naiven Ingenium(lat.) angeborene Fähigkeit, Begabung. sofort den richtigen Accord. Dabei galt es ihm keinen Pfennig, während ich mein Herz in die Wagschale legte. Der kleine Satan aber hielt in jeder Hand ein Rosenband, deren eines mit einem Mal ganz unversehens – ich traute meinen Augen nicht! – zum Narrenseil wurde. Als die Sonne aufging, war ich ganz gelb in den Augenals Zeichen des Neides.. Darauf schüttete ich meinen Jammer in ein Gedichtnicht ermittelt; möglicherweise das titellose Gedicht „Schönes Weib, ich muß verzagen“ [KSA 1/I, S. 266; 1/II, S. 2018] [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 126]. und machte den Deckel zu. Seither fühl ich mich | michSchreibversehen (Wortwiederholung beim Seitenwechsel), statt: mich. wieder einigermaßen erleichtert.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Noch einmal besten Dank

und die herzlichsten Grüße an Dich und Alle. Verzeih mir daß ich erst so spät antworte. In treuer Liebe dein dankbarer Sohn
Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 17. September 1887 in Lenzburg
an Frank Wedekind

[Hinweis und Zitat in Kutscher 1, S. 175:]


Die Mutter schrieb am 17. September 87: Morgen muß ich früh aufstehen, denn um den lieben Jungennicht identifiziert; es wird sich wohl um Donald oder Armin Wedekind handeln. genügsam zu fêtierendurch ein Fest zu ehren (von frz. fêter = etwas feiern)., backe ich Butterkuchen. Zwei junge Güggel(schweiz.) Gockel, Hähnchen. und ein Hase hängen vor dem Eßstubenfenster, und das Efeu in der Eßstube habe ich Blatt für Blatt abgewaschen, damit kein Stäubchen das Auge des jungen Gottes beleidige. Das ist alles nötig, um mein Gewissen zum Schweigen zu bringen, das laut zankt, weil ich dem erwarteten Gaste so wenig Liebe und Herzlichkeit entgegenbringen kann. Gott verzeih mirs; es ist wohl das erstemal, daß mirs so geht. Nun gute Nacht mein Herzenssohn. Sei ruhig und getrost, was mich anbelangt. Ich verhalte mich mäuschenstill und habe keinen Tropfen Galle, sondern bin sanft wie eine Taube. Nur wenn ich mal so von Zeit zu Zeit von einem meiner fernen Lieben höre, daß sie mit sich und der Welt zufrieden sind, dann bin ich glücklich und freue mich, daß ich am ganzen Körper vor Vergnügen wackele.

Emilie Wedekind schrieb am 27. September 1887 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 28.9.1887 aus Zürich:]


Wenn du schreibst […] die Beantwortung deiner lieben Zeilen […] Was du mir von deinem Gelde schreibst […]

Frank Wedekind schrieb am 28. September 1887 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich, 28.IX.87.


Liebe Mutter

Den Brief an Donaldnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 26.9.1887. hab’ ich bereits von Herzen bereut. Ich habe ihn bereits um Verzeihung gebetenHinweis auf ein weiteres nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 27.9.1887. und bitte nun auch dich um Verzeihung. Wenn du schreibstnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 27.9.1887., du sehest wie ich bereue für Dich eingestanden zu sein, so muß ich Dir Recht geben. Das Gegentheil darf ich natürlich nicht sagen, sonst fühlt sich Papa wieder beleidigt und ich werde ihn dann auch wieder um Verzeihung bitten. Aus dem gleichen Grunde erlaß mir BitteSchreibversehen, statt: mir bitte. die Beantwortung deiner lieben Zeilen | in’s Einzelne. Ich könnte ganz gegen meinen Willen wieder irgend etwas schreiben wodurch sich irgend jemand beleidigt fühlt. Ich zittre und zage sogar, ob ich dieses Billet abschicken S/s/oll. Mein Brief an Doda war die einzige Kundgebung meiner inneren Stimmung, der einzige Schmerzensschrei. Außerdem war er durchaus nicht persönlich gemeint sonderSchreibversehen, statt: sondern. nur gegen das Kriegführen überhaupt gerichtet. Aber ich sehen schon, es ist das beste zu schweigen. Ich werde auch von heute ab wieder schweigen, werde zu allem ja sagen, hier ja sagen und dort ja sagen. Wenn ich dafür auch hier wieder Speichellecker und dort gemeiner Hund genannt werde, so ist doch wenigstens Friede im Haus. O, wenn doch nur alle das gleiche Bedürfniß nach Frieden hätten wie ich, wie reizend müßte das werden. Du sagst, das Geld sei mir | bei der GeschichteIm Sommer 1886 kam es zwischen Frank Wedekind und seinem Vater zu einem heftigen Streit anlässlich seines vernachlässigten Jurastudiums, bei dem offenbar auch das Verhältnis seiner Eltern Gegenstand der Auseinandersetzung wurde. Es kam zum Bruch mit dem Vater und der Einstellung jeglicher finanzieller Unterstützung durch ihn. Eine Versöhnung zeichnete sich nun nach über einem Jahr ab [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 19.9.1887]. die Hauptsache. Ich sage ja. Wenn Papa mir sagt, du seist mir die Hauptsache, so werde ich auch ja sagen. Ich bin so mürbe wie Zunder; ihr könnt mich alle um den Finger wickeln. Ich werde den Kopf hängenSchreibversehen, statt: Kopf hängen lassen., mich um die Ecken drücken und froh sein, wenn man mir gestattet zu existiren. Aber bitte, lieb Mama, laß dich nun hierdurch nicht wieder beleidigen. Ich kann nicht anders schreiben. Darum wollt ich auch anfangs gar nicht schreiben;/./ da/A/ber dann hättest du Dich wieder beleidigt gefühlt. Wenn du mir aufs Wort glauben willst daß ich dich nicht beleidigen will und wenn du im übrigen einigen ZeitSchreibversehen, statt: einige Zeit. warten willst, so verpflichtest du mich zu größtem Dank. Hoffentlich gelingt es mir, mich indessen zu bessern.

Was du mir von deinem Gelde schreibst so bin ich dir sehr Dankbar dafürSchreibversehen, statt: dankbar dafür.. Wenn ich | schließlich nur soviel bekomme, daß ich nach AmerikaDort hielt sich seit Ende April 1886 bereits Frank Wedekinds Bruder William auf. gehn kann, denn, wenn es mir erlaubt ist einen Wunsch zu hegen, so ist das jetzt mein einziger. Europa ist mir, mit Verlaub zu sagen, gründlich zu wiede/de/er. Aber bitte, nimm diesen Brief nicht im Ernst. Ich kann nicht anders schreiben. Ich schreibe nur um überhaupt zu schreiben. Ich wußte wol warum ich so lange schwieg; bitte, antworte mir nicht. Ich weiß ja, daß du mein bestes willst. Es wird sich auch mit der Zeit alles geben. Auch ist es meiner Ansicht nach nicht angezeigt, die Sache so tragisch zu nehmen. Sie fing damit an, daß Du am Verrücktwerden warst und jetzt sind wir doch alle so leidlich bei Verstand. Papa und ich, wir haben die Zeche bezahlt und ich will ihm ja alles bieten, damit ich auch seine Hälftemöglicherweise Schreibversehen, statt: Hülfe. bekomme. Wenn ich nur nicht falsch verstanden werde. Also bitte warte, warte. Du verstehst mich falsch. Ihr alle versteht mich falsch. Warte bis ich wieder anders sprechen kann. Ich bin nicht so wie dieser Brief ist. Zerreiß den Brief. Ich kann nicht anders. Antworte mir nicht. Es wird nichts besser dadurch. Einzig mündlich. Franklin

Frank Wedekind schrieb am 15. Oktober 1887 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich, 15.X.87.


Liebe Mama,

herzlichen Dank für Deine freundliche Sendungeine wahrscheinlich am 13.10.1887 in Lenzburg von der Mutter verschickte und am 14.10.1887 in Zürich eingetroffene Sendung mit Lebensmitteln ohne ein Begleitschreiben.. Alles ist wohlbehalten angekommen. Aber kein sterbens Wort dabei. Ich hab gesucht in all den Schnitzeln, in den Umschlägen, unter dem Zucker, überall. Trotzdem bin ich jetzt noch im Zweifel darüber, ob es nicht vielleicht oben aufgelegen und beim Öffnen oder schon vorher verloren gegangen ist.

Eben hab’ ich die EnballageSchreibversehen, statt: Embellage, (frz.) Verpackungsmaterial. | noch einmal durchgesehen, und da nun auch seit gestern kein Brief nachgekommen ist, so muß ich wol annehmen, du seist überhäuft gewesen, habest Kopfschmerzen oder was anderes Hinderndes der Art; muß mit dem zufrieden sein, was ich so unerwartet bekommen habe, und indem ich Dir meinen Dank melde, mich mit der Hoffnung trösten, daß es Dir bald besser ergehen möge.

Liebe Mama, ich dachte, es sei nun alles vergessen. Und da wolltest Du mir wirklichen jenen | Briefgemeint ist Frank Wedekinds verschollener Brief an seinen Bruder Donald [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 26.9.1887], dessen Inhalt die Mutter kannte und für den Frank Wedekind sich bei ihr zuletzt entschuldigt hatte [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 28.9.1887]. und mein b/B/etragen aus einer Zeit nachtragen, da ich ganz reducirt war. Ich versichere Dich, daß ich das nicht glauben/e/. obschonSchreibversehen, statt: glaube, obschon. ich nicht mehr weiß, was ich alles in jenem Brief geschrieben habe. Drei freundliche Worte von Dir würden mich so wohlthuend in meiner Überzeugung bestärken.

Über mich selber weiß ich nicht viel interessantes zu berichtent. Seit Doda fort istDonald Wedekind hatte bei seinem Bruder angefragt, ob er ihn Ende September, Anfang Oktober für eine Woche besuchen könne [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 26.9.1887]. Der Besuch hat offenbar stattgefunden., hab’ ich einiges studirt und gearbeitet. Mehrmals war ich bei Frey’sder Familie des Bezirksarztes Dr. Gottlieb Frey (Freie Straße 14, Hottingen) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1888, Teil I, S. 93], bei dem Armin Wedekind assistierte und gegenüber wohnte; im Frühjahr 1888 verlobte er sich mit dessen Tochter Emma Frey [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1888], die er am 21.3.1889 heiratete.. Frl. Emma wird immer liebenswürdiger gegen mich. Ich glaube, sie hat nur die Wahl | zwischen überschwänglicher Freundlichkeit und – in Folge dessen hat sie etwas Unheimliches für mich.

Ich wäre dir sehr dankbar für ein aufrichtiges Urtheil über „GährungWedekinds Charakterskizze „Gährung“ [KSA 5/I, S. 21-36] erschien gerade in mehreren Teilen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 285, 13.10.1887, Erstes Blatt, S. 1f.; Nr. 286, 14.10.1887, Erstes Blatt, S. 1f.; Nr. 287, 15.10.1887, S. 1f. und Nr. 290, 18.10.1887, Erstes Blatt, S. 1f.].“. M/G/rüße Alles herzlich von mir. Mati lasse ich für die beiden schönen BilderEmilie (Mati) Wedekinds Bilder, vermutlich Zeichnungen, lagen wohl der Sendung der Mutter bei; sie sind nicht überliefert. bestens danken. Ich werde sie einrahmen und aufhängen.

Mit herzlichen Grüßen und nochmaligem Dank Dein treuer Sohn
Franklin.

Frank Wedekind schrieb am 7. Mai 1888 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich 7.V.88.


Liebe Mama,

ich gratulire dir herzlich zu deinem GeburtstagAm 8.5.1888 wurde Emilie Wedekind 48 Jahre alt. und wünsche dir daß du mit dem kommenden Jahr zufrieden sein mögest, daß dir keine neuen Sorgen, keine Enttäuschungen, keine unangenehmen Überraschungen zu theil werden mögen und daß sich dafür auch wo du es nicht erwartest dieses oder jenes beiläufige Ereigniß einstelle, an | dem du deine Freude haben mögest. Papa hat mir, wie du vernommen haben wirst gestattet meine juristischen StudienWedekind nahm am 30.4.1888 in Zürich sein Jurastudium wieder auf [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 4.5.1888], das er im Sommer 1886 abgebrochen hatte, nachdem sein Vater ihm weitere Unterstützung verweigerte. wieder aufzunehmen. Ich betreibe sie nicht nur mit Eifer sondern auch mit Wohlgefallen. Ja es ist mir eine wahre Erholung.

Ich bin gespannt zu erfahren wie sich die Lenzburger Künstler mit dem fliegenden Holländerdie Aufführung von Richard Wagners romantischer Oper „Der fliegende Holländer“ (1843) durch den Musikverein Lenzburg unter der Leitung von Hermann Hesse [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 131]. abgefunden haben. Armin hab ich noch nicht gesehen. Gestern morgenam 6.5.1888. war ich bei ihm, traf ihn aber nicht zu Hause, woraus ich schließe daß er an der Abendunterhaltung theilgenommen hat. Bei der Gelegenheit sah ich Miezes neues Bildnicht identifiziert.. zum Es gefällt mir vorzüglich und ich wäre Mieze | sehr dankbar wenn sie mir auch ein Exemplar dedicirenwidmen. wollte. Es scheint mir gerade das Charakteristische gut wiederzugeben. Übrigens soll sie ja noch andere Aufnahmen besitzen.

Vielleicht hast du auch erfahren, daß Frl BuchmannAnna Buchmann, die Stieftochter der Pensionswirtin Anna Barbara Buchmann (Seefeldstraße 1, Riesbach) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich für das Jahr 1889, Teil I, S. 57], in deren Pension Wedekind regelmäßig zu Mittag gegessen hat. Mit Anna Buchmann „führte Karl Henckell eine platonische Liebesbeziehung“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 127]. schwer krank ist. Sie schwebt seit mehreren Tagen zwischen Leben und Tod. Die allopathischen ÄrzteÄrzte, die auf wissenschaftliche, nicht-homöopathische Behandlungsmethoden zurückgreifen, bei denen „Mittel angewendet werden, welche der Krankheit entgegengesetzte Wirkungen hervorbringen“ [Ferdinand Adolf Weber: Erklärendes Handbuch der Fremdwörter. 14. Aufl. Leipzig 1877, S. 29]. haben sie aufgegeben. Unter homöopathischer Behandlug/n/g„das (von Samuel Hahnemann) aufgestellte Heilverfahren, nach welchem die Krankheiten durch solche Mittel geheilt werden sollen, welche ähnliche Leiden bei Gesunden hervorbringen.“ [Ferdinand Adolf Weber: Erklärendes Handbuch der Fremdwörter. 14. Aufl. Leipzig 1877, S. 256]. ist indessen ihr Zustand seit 3 Tagen zum wenigsten nicht verschlimmert worden. Frau Buchmann ist außer Rand und Band. Sie weiß kaum mehr was sie thut. |

Vom Besuch meiner Gott sei’s geklagSchreibversehen, statt: geklagt. zukünftigen SchwägerinEmma Frey, die Verlobte von Armin Wedekind. in Lenzburg hab ich mir viel Erbauliches erzählen lassen. Armin wird zum erbärmlichsten Gespött mit seiner Wahl, die nicht er sondern die ihn getroffen hat. Übrigens scheint ja auch Mieze ins andere Lager übergegangen zu sein, wenn es wenigstens wenn es wahr ist, daß sie zu Freys zu Besuch gehen will. Sollte sie wirklich schon vergessen haben wie unsterblich sie sich voriges Jahr dort gelangweilt hat. Ich selber war, seitdem die Geschichteunklar, gemeint ist vermutlich die Verlobung Armin Wedekinds mit Emma Frey. ausgebrochen, nicht mehr bei Frey’s zu Besuch, weniger aus Prinzip, als weil es mir geradezu | zuwider ist. Wenn ichs denn doch schon nicht hindern kann, so will ich doch wenigstens nicht zum Mitschuldigen werden. Aus Doda seinen BriefenIn den letzten beiden Briefen Donald Wedekinds [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 12.4.1888 und 4.5.1888], der sich in Livorno aufhielt, ist von der geplanten Hochzeit seines Bruders Armin nicht die Rede. spricht die unverkennbare Wonne darüber, daß er dank seiner Abwesenheit der Antheilnahme an d/e/iner eventuellen Hochzeit überhoben sein wird und ich bin überzeugt daß ich an seiner Stelle ebenso fühlen würde. Armin wird sich natürlich zum TraualtarDie Trauung zwischen Emma Frey und Armin Wedekind fand am 21.3.1889 statt. schleppen lassen wie das Lamm zur s/S/chlachtbank, aber wollten wir noch diesen traurigen Act bei Champagner feiern, das wäre denn doch eine Blasphemie und Gefühllosigkeit die nicht ihres gleichen hat. |

Ich muß in’s Collegzu Wedekinds juristischem Studienprogramm vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 4.5.1888.. Ich schließe. Also noch einmal die herzlichsten Glückwünsche.

Dein treuer Sohn
Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 7. Mai 1888 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 8.5.1888 aus Zürich:]


Herzlichen Dank für Deinen freundlichen Brief […]

Frank Wedekind schrieb am 8. Mai 1888 - 9. Mai 1888 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama

Herzlichen Dank für Deinen freundlichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 7.5.1888. und für den herrlichen Vorschlagzu einem nicht näher bestimmten Ausflug.. Ich werde morgen in aller Frühe mit Karl sp , womöglich auch mit Armin sprechen und ihre Ansicht gleich beifügen. Wenn wir dann nur auch noch erfahren könnten um wieviel Uhr etwa I/i/hr oben zu sein gedenkt. Ich setze voraus, daß I/i/hr in aller Frühe von Lenzburg aufbrecht, demnach also im | Laufe des Vormittags einzutreffen gedenkt. Sollte dem anders sein, so möchte sich vielleicht eine telegraphische Benachrichtigung lohnen.

Bei meiner Gratulationzum 48. Geburtstag der Mutter am 8.5.1888 [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1888]. hatt ich vergessen beizufügen, daß Herr Thomar mich um die Ehre bat, sich meinem Glückwunsche anschließen zu dürfen.


Mittwoch morgenden 9.5.1888.: Carl ist zu allem BereitSchreibversehen, statt: bereit.. Armin hat noch keinen Brief von dir bekommen. Er ist übrigens auch bereit. Höchst wahrscheinlich nur wenn er die „PauscheBezeichnung für die seitliche Polsterung unter dem Sattel oder die Haltegriffe an dem Turngerät Seitpferd; hier möglicherweise abfällige Bezeichnung für Armin Wedekinds Verlobte Emma Frey.“ mitnehmen darf. Ich würde mich allenfalls für einen Tag überwinden können. Ich setze voraus, daß du ihm ih in | dem angekündigten Brief etwas über das „Wann“ schreibst. Sonst Andernfalls würden wir uns verhalten wie ich oben schrieb. Also auf recht vergnügtes Wiedersehn.

Dein treuer Sohn
Franklin.

Frank Wedekind schrieb am 19. Mai 1889 in Berlin folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Berlin 19.V.89.


Liebe Mama.

Nur rasch einige Zeilen. Die Reise bis DarmstadtWedekind begleitete seine Schwester Emilie nach Darmstadt, wo sie das von Charlotte und Sophie Wider geführte Mädchenpensionat (Hügelstraße 6) [vgl. Adressbuch von Darmstadt 1890, S. 172] besuchen sollte. Von dort reiste er weiter nach Berlin. ging vorzüglich. In Darmstadt erwartetenWelche der beiden Pensionsvorsteherinnen neben Wedekinds Cousine Anna von Wedekind am Bahnhof wartete, ist nicht ermittelt. und/s/ Frl. Widen/r/ und Anna v. Wedekind. Frl. Wider in einer Aufregung. Am Morgen sei bei ihr Scharlachbakterielle Infektionskrankheit durch Streptokokken. Vor der Behandlungsmöglichkeit mit Penicillin war Scharlach eine gefährliche Erkrankung, deren Ätiologie unklar war. „Das Krankheitsgift ist noch völlig unbekannt. Die Inkubationszeit des Scharlachfiebers, d. h. die Zeit, welche zwischen Ansteckung und dem Ausbruch der Krankheit vergeht, scheint etwa acht Tage zu betragen.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 14. Leipzig 1889, S. 405] ausgebrochen. Sie habe das Kind sofort ins Spital bringen lassen, sei dann zu Herrn v. W. gelaufen ob Mati nicht einige Tage dort bleiben könne. Herr und Frau v. WedekindDer Hofgerichtsadvocat Dr. Georg Freiherr von Wedekind und seine Frau Henriette Magdalena (geb. Merck) (Casinostr. 2) [vgl. Adressbuch von Darmstadt 1890, S. 167], die Eltern von Anna von Wedekind. seien mit großer Freundlichkeit darauf eingegangen. Mann empfing uns auch überaus liebenswürdig und Mati wurde sofort als Kind des Hauses betrachtet. Ich blieb dort bis Abend 5. Anna v. Wedekind ist ein mir sehr sympatischesSchreibversehen, statt: sympathisches. Wesen. Ebenso | ihre MuterSchreibversehen, statt: Mutter., die noch sehr jung aussieht. Herrn v. Wedekind kennst du ja. Er erinnerte mich lebhaft an die Herren ResidenzlerEine Residenzstadt mit ihren typischen Bewohnern liefert den Schauplatz von Wilhelm Hauffs Novelle „Othello“ (1826). in den Hauff’schen Novellen. Frl. Wider hab ich das Geld übergeben Mk. 300 – für Pension. Mk 70 – für Auslagen. Sie will dir den Empfang bestätigen. Sie scheint mir eine zuverlässige Pen/r/son zu sein, die die Sache gewissenhaft nimmt. Sie bittet mich, dich betreffs des Scharlachfalls zu beruhigen. Da Mati nun also fürs erste bei Wedekinds bleibt, so glaube ich auch in der That das nichtsSchreibversehen, statt: dass nichts. zu fürchten ist. In Berlin sucht ich den ganzen Morgen nach Dr. R/H/artVermutlich Julius Hart, Kritiker bei der „Täglichen Rundschau“, dessen Kontakt Wedekind in Berlin suchte [vgl. Tb 24.5.1889] oder dessen Bruder Heinrich Hart, dessen Adresse Wedekind später notierte [vgl. Tb 30.6.1889]; beide waren nicht promoviert. ohne ihn zu finden. So blieb mir denn nichts übrig als gegen Abend zu Emilie HerzogDie schweizerische Opern- und Konzertsängerin Emilie Herzog war seit März 1889 am Königlichen Hoftheater Berlin engagiert. zu fahren, wo ich richtig WeltiDer Theater-, Musik- und Literaturkritiker Dr. Heinrich Welti war ein Freund Armin Wedekinds aus der Aarauer Schulzeit, der Frank Wedekind in das kulturelle Angebot Münchens eingeführt hatte. Er war mit Emilie Herzog verlobt. antraf. Er nahm sich meiner mit väterlicher Besorgtheit an. Half mir beim zimmersuchen, doch hab ich diese Nacht noch im Hotel geschlafen. Emilie Herzog scheint sich sehr vervollkommnet zu haben, Ich erinnere mich überhaupt nicht je eine solche Leistung gehört zu | haben wie gestern Abendam 18.5.1889. Die Aufführung von Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ mit Emilie Herzog in der Rolle der Constanze fand im Königlichen Opernhaus Unter den Linden statt und begann um 19 Uhr [vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 229, 18.5.1889, Morgen-Ausgabe, IV. Beilage, S. (2)]. ihre Constanze in der Entführung. Sie versah mich nämlich sofort mit einem Freif/b/illet. Von Berlin hab ich schon viel kennen gelernt in 24 Stunden. Aber da ich noch kein Zimmer habe, so muß kann ich mich einstweilen auch nicht dabei aufhalten. – Bitte, entschuldige mich bei MinnaWedekinds Cousine Minna von Greyerz, die Nichte Georg von Wedekinds., wegen Mangels an Abschiedsbesuch. Dann hab ich auch ihren BriefDer Brief Minna von Greyerz' an Georg von Wedekind ging offenbar verloren [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 28.5.1889]. nicht bestellen können. Ich hab ihn nämlich eingepackt in den großen Koffer. Falls also nichts pressantes(schweiz.) Dringendes. darin steht so soll sie sich nicht beunruhigen. Ich werde ihn sofort nach Empfang des Koffers chargirt expedirenfeierlich zustellen.. Onkel Georges sagte mir nämlich daß vermuthlich Geld drin sei.

Nun leb wohl, liebe Mama. Bleib gesund und überanstreng dich nicht. In wenigen Tagen werd ich ausführlicher schreiben. Grüße an Mieze und Willy. vod/r/ allem an dich von deinem treuen Sohn
Franklin. |


P. S. Eben fand ich eine angenehme geräumige Stube

Adresse:
GethinerstrasseSchreibversehen, statt: Genthinerstrasse. 28 IV
Berlin W.

Mieze möge die Expedition(frz.) Versand. der beiden HefteUm welche Hefte der 14-tägig erscheinenden Illustrierten Wedekind bat, ist nicht ermittelt, einschlägige Artikel ließen sich nicht identifizieren.Illustrirte Welt“ nicht vergessen.

Emilie Wedekind schrieb am 9. Juni 1889 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 11.6.1889 aus Berlin:]


[…] herzlichen Dank für Deinen lieben Brief und für die Besorgung des AtestesDas vermutlich beigelegte Attest zu Wedekinds Staatsangehörigkeit ist ebenfalls nicht überliefert..

Frank Wedekind schrieb am 11. Juni 1889 in Berlin folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Berlin, GethinerstraßeSchreibversehen, statt: Genthinerstraße. 28
11.VI.89.


Liebe Mama

herzlichen Dank für Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 9.6.1889. und für die Besorgung des AtestesSchreibversehen, statt: Attests. Frank Wedekind benötigte für seine Anmeldung in Berlin einen Nachweis seiner Staatsangehörigkeit. Wedekinds Vater hatte in Kalifornien den amerikanischen Bürgerbrief erworben, so dass alle Familienmitglieder beim Zürcher US-Konsulat als amerikanische Staatsangehörige registriert und in einen amerikanischen Familienpass eingetragen waren [vgl. Rolf Kieser: Das Manifest von Hannover. Friedrich Wilhelm Wedekind und der „Amerikanisch-Norddeutsche Vertrag“. In: Frank Wedekind, geb. 1864 in Hannover. Bearbeitet von Carsten Niemann und Brigitta Weber mit Beiträgen von Rolf Kieser und Karljosef Kreter. Hannover 1995 (= prinzenstraße. Hannoversche Hefte zur Theatergeschichte. Doppelheft 4), S. 189, Anm. 26]. Das von der Mutter beschaffte Attest reichte den Berliner Behörden jedoch nicht aus [vgl. Tb 25.6.1889].. Ich habe große Nöthe um seinetwillen ausgestanden, ob sich nämlich die heilige Hermandatstudentensprachlich für Polizei, in Anlehnung an die Santa Hermandad, die Polizeiorganisation Kastiliens am Ende des 15. Jahrhunderts. damit zufrieden geben werde. Es scheint nun wirklich den Anschein zu haben, daß sie ein Auge zudrückt. Ich bin immerhin noch auf alles gefaßt.

Heute haben wir hier seit meinem Hiersein das erste größere Gewitter erlebt. Bisher herrschte eine Hitze, die geradezu lähmend wirkte. Tag und Nacht hatt’ ich in meinem Zimmer 22° R.22° Réaumur entsprechen 27,5° Celsius. Ich wohne nun allerdings 120 Stufen hoch | direct unter einem flachen Blechdach. Aber die tieferen Etagen sind noch heißer in Folge des Reflexes von der Asphaltpflasterung und mangelhaftem Luftzutritt. Ich bewohne ein hübsches helles großes Zimmer, sehr gediegen möblirt ohne überladen zu sein. Etw/in/ bischen weniger Eleganz und mehr Behaglichkeit, wie ich es in München fand wäre mir aber doch um vieles lieber. Die Berliner Bettstellen sind im allgemeinen etwas kurz. Ich begreife nicht wie sich die Märkischen Hünengestalten darin zurechtfinden. Was die Lage anlangt wohn ich ähnlich wie wir in Hannover wohnten, kaum eine Viertelstunde vom Thiergartender Große Tiergarten ist eine Parkanlage im Zentrum Berlins, die Wedekind „fast täglich“ [Frank Wedekind an Armin Wedekind, 17.6.1889] besuchte. und 20 Minuten vom Zoologischen Gartender Große Tiergarten ist eine Parkanlage im Zentrum Berlins, die Wedekind „fast täglich“ [Frank Wedekind an Armin Wedekind, 17.6.1889] besuchte. entfernt. Äußerst angenehm berührt mich die hiesige Kocherei, lauter heimatliche Gerüche, ReminiscenzenErinnerungen. aus frühester Kindheit und die willkommendstenSchreibversehen, statt: willkommensten. neuen Entdeckungen. | Dabei sind die einfachen Lebensbedürfnisse nicht theurer als anderswo. Zum Beispiel laß ich mich gerade um die Hälfte vom dem rasiren, was man in Lenzburg zahlt. Umso größer mächtiger A/a/ber tritt Einem die Versuchung auf Schritt und Tritt entgegen und wer noch d nicht die richtigenSchreibversehen, statt: richtige. Concentration gefunden, dem wird es recht schwer jeweili/e/n die nothwendigen Bedenken und Einwürfe zusammenzuklauben. Meine WirthinWedekind wohnte bei dem Königlichen Portier W. Pansegrau und seiner Frau [vgl. Berliner Adreßbuch 1890, Teil I, S. 894; Tb 1.7.1889]. Ihren Namen verwendete Wedekind für die Leiterin des Mädchenpensionats in „Kinder und Narren“ [vgl. KSA, 2, S. 710]. ist eine sehr energische kleine dicke Frau aus Hinterpommern. Doch scheint unter der rauhen Hülle doch ein recht menschlich schlagendes Herz ge/ver/borgen zu sein. Meinen Bekanntenkreis hab ich indessen noch nicht erweitert. undSchreibversehen, statt: erweitert und. gearbeitet hab ich auch erst beispiellos wenig ./–/ sozusagen gar nichts, doch wird unter dem Einfluß des Regens hoffentlich auch mein Kelch sich erschließen.

Frl. Herzog und Dr. WeltiÜber die Abreise Emilie Herzogs und ihres Verlobten Heinrich Welti notierte Wedekind: „Ich gehe auf den Bahnhof Friedrichstraße wo ich Welti und die Herzog bereits antreffe. Welti vertraut mir seine Braut an da er dritte Classe fährt. Ich bugsire sie in ein DamenCoupée und nehme Abschied. Muß aber noch verschiedentlich zwischen Beiden Botschaften hin und wieder tragen. Schließlich gucken beide zum Fenster hinaus, sie zweite er dritte Classe und nicken sich ein Wiedersehn zu. […] Die Herzog ruft mich noch mal zurück, ich solle Heinrich sagen, in Hannover müßten sie aussteigen und warten, eine Botschaft die er aufs freudigste begrüßt, da er dann wieder einige Zeit mit seiner Emilie zusammen sein kann. Er beauftragt mich, ihr zu sagen, er sei gleich im nächsten Wagen, hart an der Thür. Sie nickt mir freundlich zu für diese Meldung. Endlich braust der Zug hinaus.“ [Tb 1.7.1889] werden | Ende dieses Monats zu mehrwöchentlichem Aufenthalt in die Schweiz gehen. Ich habe sie nun auf eigene Faust ein mir eingeladen dich zu besuchen. Da sie aber in Aarburg wohnen, so wäre eine eintägige Tour nach Lenzburg doch nicht viel mehr als eine ungemüthliche HetzereiAarburg liegt 25 Kilometer westlich von Lenzburg.. Falls es nun dir, liebe Mama, passend und angenehm und nicht zuviel sein würde, so würd ich meinen Vorschlag, dich auf einige Tage zu dir zu kommen, mit Nachdruck wiederhoh/l/en, respective dich/sie/ in Deinem Namen einladen. Frl. Herzog würde Dir jedenfalls nicht nur eine angenehme sondern auch eine liebe Bekanntschaft sein. Sie ist im ganzen sehr anspruchslos, eine durch und durch gediegener KünstlerinDie schweizerische Opern- und Konzertsängerin Emilie Herzog war seit März 1889 am Königlichen Hoftheater Berlin engagiert., sogar mit einem leisen Anflug von Genialität. Sie ist liebenswürdig und heiter, gescheidt und ohne Zweifel die beste Seele, die unter Gottes Sonne einhergeht. Ihre Erschei-Schreibversehen (fehlende Fortsetzung beim Seitenwechsel), statt: Erscheinung. | ist etwas allzu winzig aber ihre Stimme von einer fast überirdischen Frische. Die Berliner sind offenbar ganz entzückt von ihr. Ich habe sie noch nicht singen hören ohne daß sie, den Löwenantheil de vom Beifall erndtete, was um so erstaunlicher ist, da sie durch ihr Spiel schwerlich irgend eine Seele begeistert. Ihre SoubrettenrollenRollenfach der französischen und deutschen Bühne. Eigentlich Zofe, Kammerjungfer, mit dem Nebenbegriff der List und Verschmitzheit, bezeichnet S[oubrette] jetzt eine muntere oder komische jugendliche Mädchenrolle und ist besonders in der modernen Operette u. Posse zu Bedeutung gelangt.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 15. Leipzig 1889, S. 48] sind so weit von aller Koketterie entfernt, daß sie meinen GefühlSchreibversehen, statt: meinem Gefühl. nach manchmal sogar ein wenig albern wird. Offenbar kann sie’s nicht anders. Im Umgang ist sie durchaus natürlich und einfach, so daß du ohne Zweifel deine helle Freude an ihr haben würdest. Ihr Bräutigam möchte für dich allerdings ein wenig schwerer zu verdauen sein. Er ist eben in erster Linie KritikerHeinrich Welti arbeitete als Theater-, Musik- und Literaturkritiker für verschiedene Zeitungen, darunter die „Münchner Neuesten Nachrichten“. und dann noch einmal Kritiker u. s.w. Dabei ist er aber im Grunde unglaublich harmlos, bei allem, was seine Person anlangt von einer fast vorsündfluthlichen Naivität. Beide zusammen sind | Menschen die es auch sehr gut verstehen, sich selbst zu unterhalten. In dieser Beziehung würden sie dir also keine unangenehme Last sein. Im Fall du also bereit wärst sie zu empfangen, so schreib mir bitte in den nächsten Tagen kurz darüber, damit ich nicht im letzten Augenblick ihrer Abreise damit zu kommen brauch. Sollte es Dir aber nicht passen, so machte das eben auch nicht viel. Deswegen frag ich ja bei dir an, damit dir/sich/ keine Unannehmlichkeiten herausstellen.

Freitagam 7.6.1889. kam Onkel Erich hierher. Bis Nachmittags 4 lagen wir zusammen in diversen Weißbierkneipenso auch rückblickend in Wedekinds Tagebuch vom 15.6.1889: „Bis Abends vier schleppt er mich von Weißbierkneipe zu Weißbierkneipe, wobei er fortwährend vergebens mit sich darüber in’s Klare zu kommen sucht in welcher das Bier besser und in welcher es schlechter ist. An ein Mittagessen denkt er nicht, dagegen muß ich ihn ins Nordlandpanorama begleiten. Auffallend ist mit welch weltmännischer Nonchalance er sich überall der naheliegenden Verführung überhebt, für mich auszulegen. Um vier Uhr steigt er aufs Tram und läßt mich mit unbehaglichstem Kopfweh zurück.“ herum, worauf er dann nach Plötzensee hinaus fuhr, wo sein ältester Sohn, Vetter Eduard in einem StiftDas 1858 von Johann Hinrich Wichern gegründete Evangelische Johannesstift war seit 1865 am Südufer des Plötzensees beheimatet. Es beherbergte ein Brüderhaus, eine Diakonenschule und ein Schulinternat, zudem auch das „Pädagogium für die Kinder höherer Stände“ [Geschichte des Evangelischen Johannesstiftes in Plötzensee-Berlin. Berlin 1894, S. 31] zählte, das Eduard Wedekind besuchte. erzogen wird. Montagder 10.6.1889. suchte ich ihn in PlötzenseeÜber seinen Besuch im Evangelischen Johannesstift im Gutsbezirk Plötzensee notierte Wedekind: „Am Pfingstmontag such ich Onkel Erich in Plötzensee auf. Vetter Eduard ist geistig und körperlich sehr zurückgeblieben. Er hat einen breiten knochigen Mongolenschädel mit abstehenden Ohren, und scheint seiner Figur nach nicht mehr als 10 Jahr zu zählen obschon er 14 ist.“ [Tb 15.6.1889] auf. Vetter Eduard ist von der Natur allerdings bedauerlich vernachlässigt worden. Er zählt 15 JahrEduard Wedekind hatte am 7.6.1889 seinen 15. Geburtstag, zu dem sein Vater angereist war. und macht geistig und körperlich den | Eindruck eines 10jährigen Jungen. Seine Schädelbildung hat etwas Mongolisches. Ohne Zweifel ist er ein herzensguter Kerl, besitzt aber durchaus kein Combinationsvermögen. Er hat sich jetzt vorgenommen Gärtner zu werden. Es war von erschütternder Komik, mitanzusehn wie Onkel Erich zwischen den verschiedenen Pastoren die der Anstalt vorstehen umherschwänzelteähnlich in Wedekinds Tagebuch: „Erschütternd lächerlich war die armensünderhafte Höflichkeit mit der sich Onkel Erich um die verschiedenen Pastöre und Pastorinnen drehte; kaum daß er sich, den Hut in der Hand von einem abgewand, so kreis[t] er auch schon mit der nämlichen Geste um den nächsten und kann dabei seiner Bücklinge niemals ein Ende finden.“ [Tb 15.6.1889], sich in Höflichkeiten und Complimenten überbot, überall ja ja sagte und selbst in der Einsamkeit nur im leist/e/sten Flüsterton an ihrer Autorität zu zweifeln wagte. Dazwischen die verschiedenen Ausbrüche von Verzweiflung, bald über Eduard, dann über ein Streichholz was in’s Gras fiel, schließlich über das Unglück in JonestownAm 31.5.1889 brach nach schweren Regenfällen der Damm der South Fork-Talsperre in Pennsylvania, so dass die 23 Kilometer talbwärts gelegene Stadt Johnstown überflutet wurde. Am 9. und 10.6.1889 erschienen Artikel in der Berliner Presse, in dem über das Ausmaß der Katastrophe berichtet wurde: „Ueber die Katastrophe von Johnstown laufen nun immer ausführlichere Nachrichten ein. Ein Telegramm des Newyork Herald schildert die Verwüstungen wie folgt: Von einer Bevölkerung von 50,000 Einwohnern, welche Johnstown vor dem Dammbruch zählte, sind bisher erst die Namen von 18,000 als am Leben verzeichnet worden, trotzdem die Listen seit Montag offen liegen und Jeder der Registrirung unterstützt. Hunderte von Leichen wurden heute aufgefunden und an tausend Personen bestattet.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 18, Nr. 288, 10.6.1889, S. (2)] und die Unarten des Schah von PersienAm 9.6.1889 traf Nasr-ed-Din Schah, seit 1848 König von Persien, zu einem Besuch in Berlin ein. Die Presse berichtete aus diesem Anlass u. a. über die aufwändigen Reisen des Schahs innerhalb Persiens: „Um unterwegs keine Bequemlichkeit zu entbehren, heißt er Alles mitgehen, was ihm das Leben verschönen kann, Haus- und Küchengeräthe, Teppiche, eine Musikkapelle und – ein großer Teil seiner Haremsdamen begleitet ihren Gebieter auf Pferden, Eseln, Mauleseln und Kameelen. Sein weiteres Gefolge bilden die Granden seines Reiches, sein ganzer Hofstaat. Viele Kilometer ist der Reisezug lang.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 18, Nr. 287, 9.6.1889, Morgen-Ausgabe, Erstes Beiblatt, S. (1)]. Natürlich läßt er dir seine Bewunderung, seine bedingungslose Bewunderung melden. Am nämlichen Nachmittag fand ein Campmeeting(amerik.) Gottesdienst im Freien. im Johannisstift | statt, an dem auch Hofprediger Stöcker redeteAdolf Stoecker war seit 1883 zweiter Hof- und Domprediger in Berlin. Zu seiner Predigt notierte Wedekind: „Darauf spricht der Held des Tages, Hofprediger Stöcker. Er ist von untersetzter Figur, hat einen breiten Doganenschädel, eine feine gerade Nase und scharfe kluge Augen ohne Begeisterung. Er macht keinen unangenehmen Eindruck. Er spricht in Berliner Dialect, katechisirt die Kinder, die sich im Vordergrund höchst ungenirt um ihn versammelt haben, halb aufmerksam halb geringschätzig, als seien sie durchaus noch nicht so ganz mit ihm einverstanden. Einige bekommen Streit während der Predigt, andere hören mit halbem Ohr hin und bohren sich gedankenvoll in der Nase. Zum Schluß seiner Ansprache geht Stöcker in ein schlecht accentuirtes Gebrüll über, welches offenbar den heiligen Geist dokumentiren soll. Nachdem er geendet herrscht Todtenstille.“ [Tb, 15.6.1889]. Als Gäste der Anstalt saßen Onkel Erich und ich am Vorstandstisch unter lauter Pastören und Pastorinnen nur un/du/rch wenige Personen vom Held des Tages getrennt. Stöcker macht keinen unangenehmen Eindruck. Er hielt eine Predigt à la Abraham a santa ClaraDie Kanzelreden des katholischen Barockpredigers waren berühmt für ihre „eigenartige volkstümliche Beredsamkeit“, besaßen „kräftigen, zuzeiten derben Witz, der um des Zwecks willen auch vor einer Unflätigkeit nicht zurückschrickt, ein gewisses Feuer der Beredsamkeit und eine von den Geschmacklosigkeiten der Zeit und seiner mönchischen Bildung wohl durchsetzte, aber im ganzen doch bewunderungswürdige Beherrschung der Sprache. Die Kanzelwirkung der Kapuziner, die sich nie gescheut hatten, drastische Bilder und Burlesken, Volksdialekt und gemeine Sprechweise zu Hilfe zu nehmen, verbindet sich bei A. mit Elementen litterarischer Bildung und höhern Absichten. Er scheint der Zuversicht gelebt zu haben, daß humoristische Wirkung seiner Schriften die erbauliche und moralische von selbst im Gefolge haben werde“ [Meyers Konervsations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 1. Leipzig 1889, S. 51]. im Berliner Dialect wobei er sich hauptsächlich an die Kinder wandte. Gestern Mittagam 10.6.1889. Die Abreise seines Onkels schilderte Wedekind auch im Tagebuch: „Darauf begeben wir uns in Hilsebeins Weißbierhalle, gerade dem Bahnhof gegenüber. Es ist 11 Uhr und um 12 fährt sein Zug. Sobald wir uns niedergelassen haben, wird Onkel Erich vom Reisefieber gepackt das sich von nun an von Minute zu Minute steigert. […] Im Bahnhof Friedrichstraße vergewissert er sich bei sämmtlichen der Reih nach bei sämmtlichen Bahnangestellten auf welchem Perron der Zug hält und als der Zug angefahren ist, läuft er wie ein gehetzter Haase längs des ganzen Zuges auf und nieder, bis ihn schließlich ein Conducteur mit Gewalt ins nächste Coupée bugsirt. Kaum sitzt er drin, so behauptet er, er sei zu spät gekommen, wir hätten nicht so lange bei Hilsebein sitzen sollen, nun habe er keinen Eckplatz bekommen. Endlich dampft er ab, nachdem er mir zum Wagenfenster hinaus noch einmal die Losungsworte unserer Gesprächsthemata zugerufen.“ [Tb 15.6.1889] dampfte Onkel Erich wieder nach Hannover ab, nachdem er den ganzen Morgen über in einer Aufregung gelebt er möchte den Zug verfehlen, obwohl wir von 10 Uhr an in einer Weißbierkneipe dicht neben dem Bahnhof gesessen. Von Mati, die eine exceptionelle Schönheit sein müsse, hätte er gern eine Photographie. Falls ihr eine übrig habt, so möchtet ihr sie ihm durch Willy oder mich zukommen lassen.

Was Donalds SkizzeDonald Wedekinds erste Publikation, die Erzählung „Der Gang nach der Teufelsbrücke“, war in der Berner Tageszeitung „Der Bund“ erschienen [vgl. Der Bund, Jg. 40, Nr. 148, 28.5.1889, S. (1-3) und Nr. 149, 29.5.1889, S. (1)]. Zuvor hatte er sie Frank Wedekind zur Durchsicht übersandt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 14.11.1889]. anlangt, so darfst du sie dem Verfasser wol nicht gut vorenthalten. Ich wüßte nicht wie sich das | rechtfertigenließe; dir gegenüber wol aber ihm gegenüber doch nur schwerlich, zumal da er darauf wartet. Ich bat WidmannHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Joseph Victor Widmann, 29.5.1889. Der Schweizer Literaturkritiker und Schriftsteller Joseph Victor Widmann war Literaturredakteur bei der Berner Zeitung „Der Bund“, dem Donald Wedekind vor seiner Abreise in die USA seine Erzählung zur Publikation angeboten hatte [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 11.12.1888]. seiner Zeit um Zusendung von ca. 10 Exemplaren. Ich weiß nun nicht wie viel ihr bekommen habt. Aber schick ihm jedenfalls möglichst viel, da sie für ihn unvergleichlich mehr Werth haben als für euch, und ein einziges Exemplar eines Blattes rasch aus den Fugen geht. Wenn du mir antwortest, so bist du vielleicht so freundlich, Dodas AdresseDonald Wedekind war im Februar 1889 über New York an die Westküste der USA gereist und kehrte erst Ende des Jahres zurück. Über seinen Reiseweg von Paris über New York, St. Louis, Kansas City und Santa Fé bis San Francisco berichtete er am 17.11.1889 in einem Brief an seine Schwester Emilie (Mati) [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 138]. beizufügen.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Meine herzlichsten Grüße an Willy und Mieze, desgleichen an EmmaArmin Wedekind hatte am 21.3.1889 Emma Frey, die Tochter des Bezirksarztes Gottlieb Frey, bei dem er assistiert hatte, geheiratet. Emma Wedekind war regelmäßig in Lenzburg zu Gast. und ganz besonders an Minna. Meine ganz ergebenste Empfehlung an Fräulein BrumkowJosephine Brunnckow, eine Bekannte Erika Wedekinds, die sie 1887 während ihres halbjährigen Aufenthalts im Lausanner Pensionat Duplan kennengelernt und die sie im Winter 1888/89 in Stettin besucht hatte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 139; 319]. Aktuell war sie offenbar zu Gast in Lenzburg. und meinen allerherzlichsten Gruß und Kuß an dich liebe Mama von deinem treuen Sohn
Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 16. Juni 1889 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[1. Hinweis und Referat in Wedekinds Tagebuch vom 17.6.1889 in Berlin:]


Im Lauf vom Vormittag bringt mir Frau PansegrauWedekinds Vermieterin in Berlin (Genthiner Straße 28, 4. Stock). einen Brief von Mama, der niederschlagend auf die Stimmung des ganzen Tages wirkt (Egoist!) Donald befindet sich wieder auf der RouteDonald Wedekind war im Februar 1889 zu Bekannten seiner Mutter über New York nach Kalifornien gereist und befand sich nun auf der Rückreise. nach New York. Er hat Mrs. FleckBekannte von Emilie Wedekind aus New York, die Donald Wedekind im Sommer 1885 bei ihrem Besuch in Lenzburg kennengelernt hatte und zu Beginn seines USA-Aufenthalts wiedertraf [vgl. Donald Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 17.11.1889; Aa, A II b]. , ObenauersJohn und Ernestine Obenauer, Bekannte von Emilie Wedekind, in deren Pension sie 1859 nach ihrer Ankunft in San Francisco sowie 1861/62 wohnte und die später nach Alameda zogen [vgl. Parker 2020, S. 224-227]. und HeroldsAnna Herold, Witwe des Dirigenten und Musikers Rudolph Herold, Bekannte von Emilie Wedekind in San Francisco, bei denen sie 1859 bis 1861 mit ihrem ersten Mann Hans Schwegerle wohnte [vgl. Parker 2020, S. 224f.]. Anna Herold hatte vier Söhne: Rudolph, Oscar, Roderick und Hugo. angepumpt. Mama hat alles bezahlt. Nun sei’s aber vorbei damit. Willi kneipt in der Krone. Seine BrautWilliam Wedekind heiratete am 25.7.1889 Anna Kammerer, die er während seines USA-Aufenthalts (23.4.1888 bis Ende 1888) kennengelernt hatte. sei willkommen.



[2. Hinweis im Brief Frank Wedekinds an Emilie Wedekind vom 21.6.1889 aus Berlin:]


[…] herzlichen Dank für Deinen lieben Brief […]

Frank Wedekind schrieb am 21. Juni 1889 in Berlin folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Berlin 21.VI.89.


Liebe Mama,

herzlichen Dank für Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 16.6.1889. und für die Bereitwilligkeit mit der Du auf meine BitteFrank Wedekind hatte in seinem letzten Brief die Mutter gebeten, Heinrich Welti und dessen Verlobte Emilie Herzog nach Lenzburg einzuladen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.6.1889]. eingegangen. An der Menge Besuch die dir in Aussicht steht sehe ich nun erst daß es eben doch nicht gerade eine Kleinigkeit für dich wäre und du selber am Ende von der Annehmlichkeit der Persönlichkeiten am wenigsten haben würdest. Aber es ist nun geschehen und so hab ich auch Frl Herzog in deinem Namen aufs herzlichste eingeladen. Ob sie wirklich kommen. Sie scheinen aufrichtig große Lust zu haben fürchten aber kei/un/ter Umständen keine Zeit zu finden. Ich denke diese Eventualität wird dir nicht | unangenehm sein. Kommen sie diesmal nicht, so kommen S/s/ie übers Jahr, wo du hoffentlich mehr Ruhe und Zeit haben wirst. Ich habe demgemäß auch nicht weiter darauf gedrungen. Es sieht übrigens auch diesemSchreibversehen, statt: auch in diesem. Liebeslenz nicht alles so rosenroth aus, wie es auf den ersten Blick erscheinen möchte. Für mich ist es von eigenartigem Interesse, bei jedesmaligem Besuche immer mehr an die Tragikomödie Sadi-Miezedie kurzzeitige Verlobung von Wedekinds Freund Karl Henckell mit seiner Schwester Erika, die am 29.5.1887 geschlossen, aber kurz darauf wieder gelöst wurde. erinnert zu werden, nur daß hier die Möglichkeit daß die Disharmonie durch die Ehe für Zeit und Ewigkeit fixirt wird, doch um vieles näher liegt. Ich muß mir zu meinem eigenen Leidwesen gestehen, daß Welti ein ganz verzweifelter Philisterstudentensprachlich für Spießer. geworden, der/m/ vom genialen Jüngling nichts anderes übriggeblieben ist, als die Selbstüberschätzung. Sie ist in dessen durch ihre ErfolgeEmilie Herzog war ein erfolgreiche Opern- und Konzertsängerin und seit März 1889 am Königlichen Hoftheater Berlin engagiert. verwöhnt worden und zeitweise, besonders kurze Zeit vor und nach einer größeren Rolle unmäßig nervös erregt, so daß sie thatsächlich kaum eine Minute stillsitzen kann. In dieser Verfassung fühlt sie sich dann | durch seine schulmeisterliche Beredtsamkeit und Nörgelei auf das unbarmherzigste gelangweilt und wäre, ihrer Aussage nach (nicht mir gegenüber) manchmal imstand ihn zu erwürgen. Ich brachte ihr BromkaliZeitgenössisch als Psychopharmakon eingesetzter Wirkstoff: „Zu den wichtigsten Errungenschaften im Gebiet der Therapie der Nervenkrankheiten gehört das Bromkali. Es verdankt diese Bedeutung seiner Eigenschaft, eine deprimierende Wirkung auf die Hirnthätigkeit auszuüben, namentlich die Reflexerregbarkeit des centralen Nervensystems herabzusetzen. […] Es ist endlich ein Schlafmittel für viele Kranke.“ [Richard von Krafft-Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für practische Ärzte und Studirende. Bd. 1. Stuttgart 1879, S. 261f.] und empfahl ihr, davon zu nehmen, indem es auch dir geholfen habe. Welti meinte auch, es würde das sehr gut sein. Einige Tage später vernahm ich aber daß er es an sich genommen und gegen Schlaflosigkeit einnähme. Er ist eben auch so einer, der sich ins Wochenbetteigentlich die Erholungsphase einer Mutter in den ersten Wochen nach der Entbindung; bei Wedekind ironisch vor dem Hintergrund zeitgenössischer ethnographischer Aufsätzen über das Wochenbett bei Männern. „Der Name männliches Wochenbett ist offenbar durch die typischen Fälle angeregt, wo der Mann im Bette liegt und von der Frau bedient wird, und sich stellt, als wenn er selbst geboren hätte“ [Karl Friedrichs: Das männliche Wochenbett. In: Das Ausland, Jg. 44, Nr. 62, 3.11.1890, S. 878]. legt und das ist es was sie ihm am wenigsten verzeiht, daß sie keine Ursache hat, stolz auf ihn zu sein, daß er so ganz und gar nichts vom Ritter an sich hat, daß sie an ihm keinen funkelnden Diamanten besitzt, sondern einen ungeschliffenen. Sie hat gegenwärtig eine Freundin bei sich, eine junge Frankfurterin MusikschülerinAnna Spicharz aus Frankfurt, die ehemalige Verlobte eines Freundes von Heinrich Welti, die Wedekind in Berlin kennenlernte: „Sie sei nämlich angehende Sängerin und da suche ihr die Emilie auf die Beine zu helfen. Bei meinem nächsten Besuch bei Frl. Herzog werd ich ihr vorgestellt. Sie ist stattlich von Figur und hat eine ausgesprochene Gouvernantenphisiognomie.“ [Tb 15.6.1889], der sie auf die Beine helfen will, wie sie es schon bei vielen gethet/an/. Diese sagte mir, sie behandle ihn bisweilen ganz wie ihren Laufburschen. Sie thut das aber jedenfalls nur aus Hohn gegen sich selber, weil er sichs gefallen | läßt und höchstens knurrt wie ein Pudel. Das einzig vernünftige wäre natürlich, sie gingen auseinander. Welti wäre ohne seine Verlobung nicht so erschlafft und sie wäre nicht so unausstehlich wenn sie frei wäre. Die Hauptschuld liegt natürlich an ihm, Ihr wär es ja ihrer lebtagSchreibversehen, statt: Lebtag. nicht eingefallen in ihn verliebt zu sein, wenn er ihr nicht weiß gemacht hätte, sie seien einander vorausbestimmt.

Vor einigen Tagen war ich mit den beiden Damen im Museum und sah dort das Gastmahl von FeuerbachDas Gemälde „Gastmahl des Platon“ von Anselm Feuerbach war 1878 von der Nationalgalerie angekauft worden. Im Katalog heißt es dazu: „Die Composition ist veränderte Wiederholung eines im Jahre 1867 vom Künstler gemalten Bildes, welches sich im Privatbesitz des Fräulein Röhrsen in Hannover befindet.“ [Max Jordan: Katalog der königlichen National-Galerie zu Berlin. 7. vervollständigte Aufl. Teil I. Berlin 1885, S. 174]. Das ursprüngliche Bild war 1869 auf der 1. internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast gezeigt und von der Malerin Marie Röhrs erworben worden.. Du kennst das Bild wenn mir recht ist. Es machte einen überwältigenden Eindruck auf mich. Die Schönheit des Bildes liegt außerhalb der wirklichen Welt Es ist eine Erhabenheit des Eindruckes, wie man sie nur im Traum empfunden zu haben sich erinnert. Wenn ich eine Photographie auftreiben kann, so werde ich sie dir zukommen lassen. Ich verstehe jetzt erst wie du den Eindruck Jahrelang so lebhaft | hast in der Erinnerung behalten können. Aus/ß/erdem ist ein Böcklin hier, die Gefilde der SeligenDas von der Berliner Nationalgalerie bei Arnold Böcklin in Auftrag gegebene Öl-Gemälde „Die Gefilde der Seligen“ (1877) war 1878 zunächst ausgestellt, aber aufgrund öffentlicher Proteste vorübergehend wieder abgehängt worden. In seiner Rede im Berliner Abgeordnetenhaus beschrieb August Reichensberger am 12.2.1880 das Gemälde so: „Die Farben sind derart schreiend, daß ich versucht war, mir die Ohren zuzuhalten. (Heiterkeit.) Und worin besteht die ‚Seligkeit‘ der betreffenden Dargestellten? Sie zeigt sich in der Art, daß 6 bis 7 unbekleidete Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts, wenn ich nicht irre, theilweise mit Bocksfüßen versehen, auf und ab spazieren, während im Vordergrund, in einem Wasser auf einem centaurartigen Scheusal eine ebenfalls unbekleidete weibliche Person reitet, – wohin ist nicht zu sehen. (Große Heiterkeit.)“ [August Reichensperger: Parlamentarisches über Kunst und Kunsthandwerk nebst Glossen dazu. Köln 1880, S. 48] Im Katalog der Nationalgalerie ist das Gemälde so beschrieben: „Phantastische Landschaft mit schroffer Felshalde zur Rechten, von dunklem Gewässer bespült, welches nach links hin mit flachem Rasenufer abschließt und den Blick durch Pappelgebüsch hindurch auf die von der Frühsonne angeleuchtete Gebirgsferne freiläßt. Durch die von Schwänen durchfurchte Fluth schreitet ein Centaur, auf seinem Rücken ein jugendliches Weib tragend, das von zwei aus dem Schilf auftauchenden Sirenen geneckt, nach dem Gestade umschaut, wo ein im Gras gelagertes Paar und weiterhin ein Reigen seliger Gestalten um den Altar versammelt ihrer harren.“ [Max Jordan: Katalog der königlichen National-Galerie zu Berlin. 7. vervollständigte Aufl. Teil I. Berlin 1885, S. 172] Auf Arnold Böcklins Gemälde hatte bereits Olga Plümacher Wedekind aufmerksam gemacht [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 15.11.1885]. , bei dessen Anblick ich ebenfalls bedauerte, Dich nicht an der Seite gehabt zu haben. Ich glaubte sicher du würdest geweint haben. Es ist eben auch ganz and etwas anderes als was man sonst Bilder nennt, nichtSchreibversehen, statt: nichts. als seligste Empfindung. Man athmet tief auf, wenn man das Bild eine Zeitlang angesehen hat.

Berlin hab ich indessen ziemlich kennen gelernt, bis auf das gesellschaftliche Leben. Ich sitze tief in der ArbeitWährend seines Berliner Aufenthalts arbeitete Wedekind vor allem an seinem Lustspiel „Kinder und Narren“ [vgl. KSA 2, S. 632f.]. Auch vor die Stadt hinaus bin ich schon wiederholt gekommen. Dicht vor meinem Haus, hält ein DampftramDie Dampfstraßenbahn vom Zoologischen Garten über Steglitz zum Grunewald war am 10.9.1887 eröffnet worden und hielt am Nollendorfplatz, nahe bei Wedekinds Wohnung., der Einen in 20 Minuten nach dem berühmten Grunewald fährt, einem dürren sandigen Kiefernhain, der jeden Sonntag dicht gedrängt von Berlinern wimmertwohl Schreibversehen, statt: wimmelt.. Gerhart Hauptmann erwartet seinen | dritten SohnKlaus Hauptmann wurde am 8.7.1889 geboren., wenn es keine Tochter ist. Er hat ein DramaÜber seinen Besuch bei Gerhart Hauptmann in Erkner notierte Wedekind: „G. Hauptmann liest auf seinem Arbeitszimmer den ersten Akt eines Dramas vor. Er hat nämlich auf Papa Hamlet hin seinen Roman ohne Besinnen bei Seite geworfen und in sechs Wochen ein Drama geschrieben.“ [Tb 26.5.1889] Es handelte sich um das Drama „Vor Sonnenaufgang“, das im August 1889 erschien [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 56, Nr. 198, 26.8.1889, S. 4289] und am 20.10.1889 durch die Freie Bühne am Berliner Lessing-Theater uraufgeführt wurde. Es brachte Hauptmann den Durchbruch als Dramatiker. geschrieben was über kurzem erscheinen und ihn berühmt machen soll. Das ist es eben, was den armen Welti so sehr hat geistig einschrumpfen lassen, daß er vor Brotarbeit, die er täglich verflucht, nie dazu gekommen ist frei aus sich heraus zu gehen. Er hat jetzt aber auch beschlossen, umzusatteln.

An Mativgl. das erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 21.6.1889. hab werde ich dieser Tage schreiben. Schreibe mir wenn Du gerad Zeit hast und in Stimmung bist. Meine Straße heißSchreibversehen, statt: heißt. übrigens nicht Gethiner sondern Genthinerstrasse. Meine Empfehlung an die DamenIn seinem letzten Brief [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.6.1889] grüßte Wedekind seine Schwester Erika, seine Schwägerin Emma, seine Cousine Minna von Greyerz und die Freundin seiner Schwester Josephine Brunnckow, die hier erneut gemeint sein dürften.. Minna werd ich dieser Tage schreibenEin Brief Wedekinds an Minna von Greyerz aus dieser Zeit ist nicht überliefert.. Mit herzlichem Gruß
dein treuer Sohn
Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 25. Juni 1889 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[1. Hinweis und Referat in Frank Wedekinds Tagebuch vom 26.6.1889 in Berlin:]


Zu Hause find ich einen Brief von Mama, die nicht mehr in ihre Schuhe zu können behauptet. Aber sie scheue sich zum Arzt zu gehen. Wenn man einmal angefangen, so nehme das kein Ende mehr. Der Brief versetzt mich in große Unruhe. Willys BrautWilliam Wedekind heiratete seine Cousine Anna Wilhelmine Kammerer aus den USA am 25.7.1889 in Zürich. ist angekommen. Mama entwirft mir eine sehr eingehende nicht eben vortheilhafte Beschreibung von ihr. […] Mama schickt mir eine Empfehlung von Tante Plümacher an Frau v. Hartmanndie philosophische Publizistin Alma von Hartmann, Frau des Philosophen Eduard von Hartmann, über den Olga Plümacher publiziert hatte..


[2. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 3.7.1889 aus Berlin:]


Es hat mich sehr überrascht zu hören daß ihr in Lenzburg so schlechtes Wetter hattet. […] Wegen deiner geschwollnen Füße würde ich aber doch auf jeden Fall einen Arzt consultiren […]

Frank Wedekind schrieb am 3. Juli 1889 in Berlin folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Berlin 3.VII 89.


Liebe Mama,

was ich so sehr gefürchtet seit ich hier bin ist nun doch eingetroffen. Bitte ärgere dich nicht darüber. Es ist nun einmal nichts dagegen zu machen. Die Polizei besteht auf einem StaatsangehörigkeitsatestSchreibversehen, statt: Staatsangehörigkeitsattest. Am 25.6.1889 notierte Wedekind im Tagebuch: „Wie ich am Nachmittag mein Zimmer für einen Augenblick verlasse, seh ich einen Polizisten in der Thür stehen und weiß sofort was die Stunde geschlagen. Er bittet mich auf die Polizei zu kommen, wo man einen Staatsangehörigkeitsausweis von mir fordert. Somit sind denn meine Tage in Berlin gezählt.“ im Original, was herbeizuschaffen mir bekanntermaßen unmöglich ist. So bleibt mir nun nichts übrig als fortzugehen. Morgen oder übermorgenAm 4. oder 5.7.1889. Wedekind notierte am 4.7.1889: „Von 11-2 Koffer gepackt. Dann zu Tisch, wo ich im Cursbuch den Expreßzug finde. […] Ich kauf mir Cigarren und Aufgeschnittenes und begebe mich auf den Bahnhof.“ [Tb] Abend verreis ich | nach München. Gelingt es mir dort mein Auskommen zu finden, so ist es gut. Wenn nicht so werd’ ich mich auf den Winter nach einer Redaktionsstelle in der Schweiz umsehen, wo ich dann per Gelegenheit Schweizer Bürger werden könnte, und damit wäre dem un an mißlichen Verhältniß dann abgeholfen. Also bitte liebe Mama, ärgere dich nicht darüber. Ich selber habe mich mit der Nothwendigkeit vollkommen abgefunden. Die Zeit die ich hier verlebt ist für mich keineswegs verloren. Ich habe das Leben, die Ansprüche die Geistesrichtung Berlins kennen gelernt, was immer für mich von Bedeutung sein wird. Was mir den Abschied von Berlin besonders empfindlich | macht ist der Berliner an sich mit seinem Witz und seiner Manierlichkeit, den ich ungemein liebgewonnen habe und dann meine ruhige behagliche Bude und meine Wirthin, ein Musterstück von einer Wirthin, die mir jeden Wunsch an den Augen absah. Dafür find’ ich in m/M/ünchen eine schönere Natur und einen unvergleichlich größeren Bekanntenkreis. Da ich wol nicht so bald nach Hause kommen werde so kann es mir gleichgiltig sein, ob die Lenzburger mein Pech erfahren oder nicht. Aber ich glaube, es wäre doch vortheilhaft wenn die Geschichte nicht S/s/tadtbekannt würde. In einiger Zeit mag man’s ja dann immerhin erfahren. Ich kann ja aus allen möglichen Ursachen nach München zurückgekehrt sein.

Das Paar Welti Herzog läßt sich dir bestens empfehlen. Sie werden | wahrscheinlich auf einen Tag von Aarburg aus kommen, hauptsächlich um deine Bekanntschaft zu machen, werden dich aber jedenfalls zuvor benachrichtigen, um dir nicht ungelegen zu sein. Vorgesternam 1.7.1889. Wedekind notierte: „Ich gehe auf den Bahnhof Friedrichstraße wo ich Welti und die Herzog bereits antreffe. Welti vertraut mir seine Braut an da er dritte Classe fährt. Ich bugsire sie in ein DamenCoupée und nehme Abschied. Muß aber noch verschiedentlich zwischen Beiden Botschaften hin und wieder tragen. Schließlich gucken beide zum Fenster hinaus, sie zweite er dritte Classe und nicken sich ein Wiedersehn zu.“ [Tb 1.7.1889] hab ich sie hier auf den Bahnhof geleitet und so bin ich nun mehr oder weniger einsam und da ich fortwährend das Damoclesschwerdt über meinem Haupte sehe und somit keine Minute Ruhe zur Arbeit finde, so reise nun auch ich möglichst unverzüglich. Gelegentlich ihrer Rückreise werden wir uns in München wiedersehn.

Es hat mich sehr überrascht zu hörenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 25.6.1889. daß ihr in Lenzburg so schlechtes Wetter hattet. Hier ist seit 6 Wochen kaum ein Tropfen Regen gefallen. Wegen deiner geschwollnen Füße würde ich aber doch auf jeden Fall einen Arzt consultiren, | der hoffentlich durch innere Mittel dagegen aufkommen kann. Es hängt das natürlich mit deinem Herzklopfen zusammen. Ich würde jedenfalls zu einem Specialisten in Zürich gehen, was sich ja bei Gelegenheit abmachen ließe.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Die herzlichsten Grüße an Minna. Sobald ich ich in München bin werd’ ich dir meine Adresse zukommen lassen.

Dein treuer Sohn
Franklin.

Frank Wedekind schrieb am 10. Juli 1889 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München 10.VII.89.


Liebe Mama,

in aller Eile nur einige Zeilen da ich fürchte mein letzter Briefvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 3.7.1889. könne dich beunruhigt haben. Ich bin seit Freitagden 5.7.1889. hier und fühle mich sehr glücklich zumal da es mit meiner ArbeitDie in Berlin begonnene Arbeit an seinem Lustspiel „Kinder und Narren“ setzte Wedekind in München fort [vgl. KSA 2, S. 632-637]. rascher vorwärts geht als in Berlin. Man kommt sich hier wie auf dem Lande vor. Unvergleichlich reinere Luft und eine herrliche Umgebung. Was Verkehr anlangt ist München gegen Berlin freilich das reine BuxdehudeDie norddeutsche Stadt Buxtehude dient als Toponym für einen provinziellen Ort fernab der Zivilisation.. Ich denke du wirst Dich nun auch in das Unabänderliche ge|funden haben. Ich habe Berlin sehr viel zu verdanken und werde n/d/ie kurze Zeit meines Aufenthaltes niemals verwünschen. Hier hab ich indessen e/die/ angenehmste Gesellschaft vorgefunden wenn auch eben nicht viel, da gegenwärtig Ferien sind. Schon am ersten Abend war ich mit einer Gesellschaft von zirka 20 Personen Herren und Damen darunter eine Ibsen-ÜbersetzerinEmma Klingenfeld übersetzte seit 1875 Werke von Henrik Ibsen. Wedekind traf sie bereits an seinem Ankunftstag in München: „Auf dem Hackerkeller find ich die ganze Gesellschaft versammelt […] Fräulein Klingenfeld, die Ibsenübersetzerin“ [Tb 5.7.1889]. auf dem Hackerkeller. Außerdem hab ich indessen verschiedene mir bekannte PrivatdocentenIm Tagebuch erwähnt Wedekind seit seiner Rückkehr nach München zwei Treffen mit Franz Muncker, seit 1879 Privatdozent für Literaturgeschichte an der Ludwigs-Maximilian-Universität: „Nachdem ich vorzüglich geschlafen geh ich zu Dr. Munker“ [Tb 6.7.1889]. „Darauf auf den Hofbräukeller wo ich Dr. Munker in Gesellschaft dreier Juden treffe, eines Assesors und zweier Studenten“ [Tb 7.7.1889]. Außerdem ein Treffen mit Karl Güttler, Privatdozent für Philosophie: „Darauf in den Hofbräukeller wo ich unversehens mit Doktor Güttler zusammentreffe und eine höchst angenehme Stunde in raschem Gespräch verplaudere.“ [Tb 9.7.1889] von der hiesigen Universität angetroffen mit denen ich Abends öfters zusammenkomme. Du siehst es geht mir gut, wenn | es nur auch dir gut geht liebe Mama. Hammi schreibt mirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Armin Wedekind an Frank Wedekind, 7.7.1889., du seist bei ihm gewesen, was mich einiger maßen beruhigt hat. Was das Reden oder nicht-Reden über meine Übersiedlung anbelangt, magst du es halten wie du es fürs/s/ beste hältst. Minna könntest du’s ja allenfalls sagen, damit sie mir mal wieder schreibt. Übrigens ganz wie es dir gut scheint. Läßt Tante Plümacher in ihrem Brief an dichDer Brief Olga Plümachers an Emilie Wedekind ist nicht überliefert. nicht von einem solchen verlauten, den sie von mir erhalten? Ich schrieb ihrnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Olga Plümacher, 19.4.1889. zuletzt am Charfreitag und fürchte daß meine ganze Sendung verloren gegangen. Bitte schreib mir doch gelegentlich ihre genaue AdresseNach ihrer Rückkehr in die USA wohnte Olga Plümacher im Haus Danspring in der Schweizer Kolonie Gruetli in Beersheba Springs, Tennessee [vgl. Rolf, Kieser: Olga Plümacher-Hünerwadel. Eine gelehrte Frau des neunzehnten Jahrhunderts. Lenzburg 1990 (= Lenzburger Druck. Veröffentlichung der Lenzburger Ortsbürgerkommission 36), S. 12 u. 23].. Und nun leb wohl, Liebe Mama, und | bürde Dir nicht zu viel auf.

Dein treuer Sohn
Franklin
Adalbertstrasse 41.IV.R.
München.

Emilie Wedekind schrieb am 7. August 1889 in Lenzburg folgende Postkarte
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

– Carte postale. –
Union postale universelle. – Weltpostverein. – Unione postale universale.
SUISSE. SCHWEIZ. SVIZZERA.

Nur für die Adresse.
Côte réservé à l’adresse.
Lato riservato all’ indirizzo.


Herrn Franklin Wedekind
Akademistraße 21.III
München. |

Lieber Franklin! Stelle mir sofortvon Emilie Wedekind dreifach unterstrichen. eine Vollmacht aus, welche Deinerseits mein Verfügungsrecht über das Schloßgut bestätigt. Ich habe das Dokument nöthig um einen Vertrag mit der WassergesellschaftNach dem Tod ihres Mannes vermietete Emilie Wedekind auf Schloss Lenzburg Zimmer an Pensionsgäste. Die Wasserversorgung über einen Brunnen sollte dazu durch eine neu gelegte Wasserleitung ersetzt werden. Die Planungen und Verträge wurden noch im August abgeschlossen [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 18.8.1889], die Leitungen bis Ende November gelegt [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889]. endgültig abschließen zu können.

Mit herzlichen Grüßen von Allen, verbl. ich Deine tr. M.
E. Wedekind.

Frank Wedekind schrieb am 21. August 1889 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München. 21.VIII 89.


Liebe Mama,

wenn Du zufällig ca. frs 70–80 übrig hast und sie in nächster Zeit nicht brauchst dann schick sie mir bitte sofort. Ich schreibe nämlich seit 14 Tagen Brief über Briefvgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 13.8.1889; 19.8.1889 und 21.8.1889. an Hammi, er möchte mir Geld schickenFrank Wedekind bat seinen Bruder aufgrund fehlender Einkünfte regelmäßig um Geld aus dem Erbe, das ihm nach dem Tod des Vaters zustand. Das Vermögen wurde von Armin Wedekind verwaltet, der seinem Bruder, da er sich in Lenzburg aufhielt, erst mit Verzögerung antwortete und Geld schickte [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 18.8.1889]. Der Brief mit dem beiliegenden Geld erreichte Frank Wedekind erst am 21.8.1889: „Am Nachmittag trifft die Sendung ein.“ [Tb] Im Tagebuch vermerkte er den Betrag von 200 Mark für den 19.8.1889 [vgl. Tb, Übersicht, S. 116]., ohne auch nur eine Antwort zu erhalten. Ich würde ihn natürlich sofort nach Empfang beauftragen, dir das betreffende in meinem Namen zurückzuvergüten. Ich begreife absolut nicht wie das zugeht. | Wenn er das Geld augenblicklich nicht hat so könnte er mir doch zum mindesten schreiben. So bin ich denn nachgerade in der allerpeinlichsten Verlegenheit und wäre dir daher wirklich über die Maßen dankbar wenn Du mich daraus befreien würdest. Mit herzlichen Grüßen
dein treuer Sohn
Franklin

Akademiestraße 21 III.

Frank Wedekind schrieb am 12. Oktober 1889 in München folgende Postkarte
an Emilie Wedekind

Deutschland. – Allemagne.
Bayern. – Bavière.
Postkarte. – Carte postale.
Weltpostverein. – Union postale universelle.


[um 90 Grad gedreht am linken Kartenrand:]

Nur für die Adresse.
Côté réservé à l’adresse.


Frau Dr. Wedekind
Schloss Lenzburg.
Aargau. Schweiz |


Liebe Mama,

Womit soll ich meine Socken
Aus des Schlosses Mauern locken?
Soll ich laute Klagen führen
Daß mich meine Füße frieren?

Hat denn Mieze meinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Erika Wedekind, 5.10.1889.
Letzte Woche nicht bekommen,
Drin ich schmerzlich und beklommen
Nach den woll’nen Socken rief?

Jammer Jammer ohne Ende,
Wenn wir frieren an die Hände,
Weil wir mit dem besten Willen
Nicht den Trieb zur Arbeit stillen!

Aber namenlose Pein
Wenn vereisen unsre Wadel;
Menschenliebe, Seelenadel,
Alles friert mit ihnen ein.

Hiemit send’ ich 1000 Grüße.
Denket in Liebe meiner Füße
So wie liebevoll auch ich
Euer denke ewiglich

Franklin

Akademiestraße 21 III.

Frank Wedekind schrieb am 4. Dezember 1889 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

München 4 XII 89.


Liebe Mama,

eben erfahr ich durch einen Brief von Hammivgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889. zu meiner unbändigen Freude, daß Donald zurückkommtDonald Wedekind war im Februar 1889 zu einer Reise in die USA aufgebrochen, fand dort aber keine dauerhafte Anstellung. Über seinen Reiseweg von Paris über New York, St. Louis, Kansas City und Santa Fé bis San Francisco berichtete er am 17.11.1889 in einem Brief an seine Schwester Emilie (Mati) [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 138].. Bitte schreib mir doch oder laß mir schreiben sobald es dir möglich wann wo und wie. und was er nunmehr zu thun gedenkt. Sollte er darüber noch nicht im klaren | sein so wäre mein Vorschlag daß er zu mir nach München kommt. Doda ist vielleicht der talentirsteste von uns so scheint mir sein das Geld für ihn nicht hinausgeworfen. Er könnte hier allenfalls die Schauspielschule besuchen und sich mit der Kunst im Allgemeinen bekannt machen damit er später das Recht hat mitzusprechen. Für einen andern Beruf scheint er eben doch verdorben zu sein. Unter diesem Gesichtspunkt | wird auch seine amerikanische Reise nicht verloren sein und unter Umständen erträgliche Zinsen tragenDonald Wedekind publizierte später einen Reisebericht seiner Amerikareise unter dem Titel „Eine Auswandererfahrt“ in mehreren Teilen in der Beilage der „Züricher Post“ im Februar 1894 [Nr. 29 vom 4.2.1894, Nr. 36 vom 13.2.1894, Nr. 41 vom 18.2.1894, Nr. 47 vom 25.2.1894 und Nr. 53 vom 4.3.1894].. Ich habe die Zeit über sehr viel an ihn denken müssen und war entschlossen sobald ich selber erst festen Fuß gefaßt ihm diesen Vorschlag von mir aus zu machen. Geschäftlich wird er mit seinem GeldAus dem Erbe seines Vaters standen Donald Wedekind noch 28.000 Francs zu [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889]. doch schwerlich etwas anfangen können und so scheint es mir nicht unverantwortlich wenn man ihn einen Theil desselben in einen gewissen Grad von Bildung umsetzen | läßt, der ihm an sich eine Stellung und Bedeutung in der Welt verschafft. Wenn er übrigens kommt so würd ich ihm das alles nicht zu früh mittheilen und überhaupt nur dann wenn er selber nicht einen positiven Plan gefaßt hat. In diesem Fall möcht auch ich nicht störend in seinen Wandel eingreifen, aber das wird ja wol wahrscheinlich nicht der Fall sein.

Hammi setzt in seinem Brief die Eventualität, daß auch Doda „sein Vermögen in irgend einen Dunkeln Erdtheil“ werde | mitnehmen wollenArmin Wedekind hatte vermutet, Donald werde „dann wohl als getreuer Nachfolger von Willy seinen Antheil am Vermögen ebenfalls in irgend einem schwarzen Erdtheil anlegen wollen“ [Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889]. William Wedekind war im September 1889 nach Südafrika ausgewandert.. Ich weiß nicht ob das nur Hammis Voraussetzung ist oder ob Doda sich in dieser Hinsicht irgend wie geäußert hat. Ihm darin zu willfahren schiene mir aber mehr oder weniger unverantwortlich. Wenn er kommen will so würd ich ihn baldmöglichst kommen lassen (versteht sich auf seine Kosten) und mir im übrigen keine Sorge machen. Donald hat keine Anlage dazu, moralisch zu verkommen.

Seit Menschengedenken bat ich Hammi, mir doch mal ausführlich zu schreiben. Er antwortete | mir nur immer ganz lakonisch auf abgerißnen Fetzen. Nun schüttet er mir endlich sein ganzes Herz aus, wobei er so treu zu seiner Emma hält wie ein Märtyrer zum Kreuzesstamm. Wer hätte je geglaubt daß eine solche Spannung gerade zwischen ihm und dir j/m/öglich wäre. Er schreibt so treu, so ehrlich und zugleich so kindlich hülflos, daß es einen Stein erweichen müßte. Er kommt sich nachgerade zwischen uns Anderen ebenso verrathen und verkauft vor wie seine Emma als sie bei uns war. Auch mir traut er nur halb und doch kann er nicht umhin mir alles zu klagen, | wiewol er voraussieht, ich werde mich am Ende auch darüber lustig machen. Mehr als einmal macht er seinem Groll über „die freie Individualität und den gesunden Egoismus“ Luft. Diese Ungeheuer müssen an allem Schuld sein. Gegen dich findet er mit aller erdenklichen Anstrenk/g/ung doch kaum ein bitteres Wort. Er erzählt mir in trauriger Resignation die verschiedenen Hergänge, natürlich nach seiner Auffassung.

Der Grund des Zerwürfnisses wird eben im großen ganzen Emmas Lenzburger Aufenthaltvgl. dazu Erika Wedekind an Frank Wedekind, 22.9.1889. sein. w/D/as wäre mir wenigstens | schon an sich durchaus plausibel. Ich weiß zur Genüge, wie entsetzlich es ist, sie um sich zu haben und wie sich das Entsetzen in dem Maße steigert wie sie bestrebt ist sich angenehm zu machen. Daß sie wirklich auch falsch istIhrem Bruder Armin hatte Erika Wedekind gesagt, dass sie Emma „als eine rafinirte, kluge, berechnete Schlange ansehe“ [Erika Wedekind an Frank Wedekind, 22.9.1889]. wie Mieze mir schreibt wäre ja möglich. Ich hätt es ohne weiteres nicht vorausgesetzt. Ich hielt sie nur für grenzenlos dumm. Aber das findet sich ja manchmal beisammen. Um ihretwillen kann mich ja nun die Sachlage nur freuen, zum mindesten mehr freuen, als wenn du ihr Zuge|ständnisse machen wolltest auf kosten der „freien Individualität und des gesunden EgoismusZitat aus Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889, der dabei auf ein familienintern wiederkehrendes Thema rekurriert.“. Aber Hammi ist dabei doch in einer sehr traurigen Lage. Ich bin zwar überzeugt daß er die Sache schlimmer ansieht als sie liegt, daß du dich über die Situation stellst und den Riß nicht zu groß werden läßt. Solange die/seine/ Emma in Zürich und du in Lenzburg bist würd es dir ja auch schließlich nicht schwer in diesen oder jenen kleinen Liebenswürdigkeiten wenigstens den guten Willen zu zeigen, unbekümmert darum | wie es aufgenommen wird. Das beste wäre natürlich ein SeparatfriedenFriedensschluss zwischen zwei verfeindeten Parteien ohne die jeweiligen Verbündeten miteinzubeziehen. mit Hammi auf Grund allzugroßer Charakterverschiedenheit zwischen dir und D/s/einer L/F/rau. Ohne weiteres wird er das allerdings unter seiner Würde Ehre e. ct. finden. Wenn ich nur an Ort und Stelle wäre. Ich wollte die/en/ Karren schon in ein fahrbares Gleis bringen. Denn so wie sie liegen sind die Verhältnisse doch bedenklich. Daß du den Locus renovirenNach dem Tod ihres Mannes vermietete Emilie Wedekind auf Schloss Lenzburg Zimmer an Pensionsgäste und nahm zahlreiche Renovierungen vor, darunter die die Wasserversorgung und die Toiletten. läßt find ich lobenswerth, wiewol ich auch bei bei dieser NachrichSchreibversehen, statt: Nachricht. eine Thräne der Wehmuth im Auge | zu zerdrücken mich nicht entbrechen konnte.

Und nun leb wol liebe Mama und bleib gesund und guten Muthes. Meine herzlichsten Grüße an Mieze und sie soll es nicht übelnehmen daß ich Mina zuerst geschriebenvgl. Frank Wedekind an Minna von Greyerz, 16.11.1889.. Ich würde ihr antworten, sobald ich Zeit fände. Mina schreibt mirvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 13.11.1889. drei Seiten Gutes und Schönes über sie. Sie solle sich ein Beispiel dran nehmenErika Wedekind hatte sich zuletzt abfällig über Minna von Greyerz geäußert [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.10.1889].. Wenn Doda nach Lenzburg kommt und mit meinem Vorschlag einverstanden ist so könnt ich ihn ja allenfalls abholen. Wenn du mit ihm allein bist würdet ihr euch doch nur wieder die ganze Zeit über zanken, während | in meiner Gegenwart ein jeder zum uneingeschränkten Genuß seiner selbst und der Andern käme. Gruß an Mina, und meine Empfehlung an Frl. Minkein Pensionsgast auf Schloss Lenzburg..

Mit 1000 Grüßen dein
Franklin.

Akademiestraße 21.III

Frank Wedekind schrieb am 1. Februar 1890 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München 1 II 8/9/0


Liebe Mama,

eben erhalte ich einen Brief von Dodavgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 31.1. 1890. worin er mir schreibt, Du habest ihm die Alternative gestellt entweder Buchdrucker zu werden, oder das Gymnasium in AarauDonald Wedekind hatte 1888 die Kantonsschule Aarau nach der 1. Gymnasialklasse verlassen. zu besuchen, wobei er jeden | Tag nach Hause zu kommen habe. Er schreibt mir, das eine sei ihm so zu wider wie das andere. Was nun den Buchdrucker betrifft, so kann davon meiner Ansicht nach von vornherein nicht die Rede sein da die/je/der Buchdrucker an Bleikolikdurch Bleivergiftung ausgelöste Darmkoliken. leidet und die meisten an Schwindsucht zu Grunde gehn. Einen Menschen der ohnehin zu Kolik und Schwindsucht neigt wird man daher nicht gut Buchdruckerei lernen lassen können |

Wann/s/ nun anderseits Aarau betrifft so wäre das ja ganz gut wenn du und er euch zu Hause vertragen könntet. Da das aber notorisch nicht der Fall ist so müßtest entweder du oder er oder ihr müßtet alle beide darunter leiden. Wenn Doda sich nun hierüber bei mir beschwert oder vielmehr mich um Erlösung anfleht so kann ich ihm mit dem besten Willen nicht das mein Gehör verweigern. Ich habe selber noch zu grell in Erinnerung was mir die ewigen heimath|lichen Katzbalgereien waren und kann, der ich mich sehr gut mit ihm vertrage, ihm nicht verdenken, daß ihm ein Haus zur Hölle wird, in dem jede Harmlosigkeit, die er sich zu S/s/chulden kommen läßt als Teufelei bertrachtet wird.

Nun liegt ein dritter Ausweg sehr nahe der mir von vornherein vorschwebte und zu dem ich Donald nur deshalb nicht encouragirteermutigte., weil ich voraussetzte dasSchreibversehen, statt: voraussetzte, daß. ein regelmäßiges Gymnasium doch vielleicht besser sei, nota bene(lat.) wohlgemerkt., wenn | er nicht in die seinem Alter entsprechende Classe gelangen könnte. Ich meine die FremdenmaturitätZulassungsprüfung an der Universität Zürich für Nichtschweizer und Schweizer ohne schweizerische Matura. in z/Z/ürich. Thomar war hierin auch durchaus meiner Ansicht. Dann scheint ihm ja auch der Rector des Gymnasiums dazu gerathen zu haben und schließlich wart ja auch ihr, Hammi und Du und Emmchen und die alte Frey und Tante Leemann mit ihren drei Töchtern, wenn ich recht unterrichtet bin, anfänglich dem Plan ebenfalls nicht ganz abhold. | Habt ihr euch aber indessen wie er mir schreibt eines bessern besonnen, so werde ich Donald die Fremdenmaturität in Zürich auf meine Kosten absolviren lassen und ersuche dich daher mich möglichst umgehend Deinen definitiven Entschluß wissenzulassen eventuell mich darüber aufzuklären ob ich mich nicht über diesen oder jenen Punkt im Irrthum befinde.

Mit besten Grüßen an dich und Mieze dein treuer Sohn
Franklin

Akademiestraße 21.III.

Emilie Wedekind schrieb am 6. Februar 1890 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis und Zitate in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 8.2.1890 aus München:]


[…] was die Möglichkeit des Absolvirens anlangt, schreibst du mir: „wurde aber abgewiesen, weil er von zwei Schweizer Gymnasien fortgelaufen war“ […]

weil im Verkehr zwischen ihm und dir „Scheußlichkeiten, Niederträchtigkeiten, und Teufeleien“ seinerseits vorkommen von denen sonst kein Mensch was zu hören kriegt. […]

Du siehst nur daß er kein | Geld gemacht hat, daß er „sich in jeder Beziehung blamirt hat“ wie du Dich ausdrückst.

Frank Wedekind schrieb am 8. Februar 1890 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

München 8.II 90.


Liebe Mama,

nachdem Donald das Resultat seines Examens in SolothurnFür die Rückkehr ans Gymnasium musste Donald Wedekind eine Prüfung ablegen, die seine Einstufung ermöglichte. Er trat im Frühjahr 1890 ins Gymnasium in Solothurn in die 5. Klasse ein, dies entsprach in der Zählweise der Kantonsschule Aarau, der 2. Gymnasialklasse [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 6.2.1890 und 7.2.1890]. erfahren bittet er mich wiederum inständig, ihm dazu zu verhelfen, daß er in Zürich die FremdenmaturitätZulassungsprüfung an der Universität Zürich für Nichtschweizer und Schweizer ohne schweizerische Matura. absolviren könne. Nachdem ich mir nun die Sache reiflich überlegt und sämmtliche Umstände in Erwägung gezogen, hab ich mich entschlossen, es zu thun. Ich habe dies bezüglich mit dir folgende fragliche Punkte zu erledigen:

1. was die Möglichkeit des Absolvirens anlangt, schreibst du mirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 6.2.1890.: „wurde aber abgewiesen, weil er von zwei Schweizer Gymnasien fortgelaufen war“ – wogegen ich aus dem gedruckten ReglementeDonald Wedekind hatte ein mit Anstreichungen versehenes Exemplar (nicht überliefert) der Zulassungsregeln zur Fremdenmaturität einem Brief an seinen Bruder beigelegt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 6.2.1890]. ersehe daß er dessen unbeschadet im Frühling 91 zugelassen wird.

2. was Donald selber betrifft, so wärest du, falls ihm das Anerbieten von fremder Seite gemacht würde, nicht in der Lage in/h/n an dessen Annahme zu hindern, indem er in | dieser Hinsicht seit seinem 17. Jahr freies VerfügungsrechtDie Schulpflicht endete in Zürich mit dem vollendeten 16. Lebensjahr, in anderen Kantonen auch früher. besitzt.

3. was die Mittel meinerseits betrifft, so hab ich allerdings noch so wenig Reingewinn aufzuweisen wie Du, wie Hammi und wie Willy, habe aber auch noch nicht soviel verputzt wie Hammi und Willy, und stütze mich überdies auf die nämliche Berechtigung, mit der Du mir im Sommer 87Offenbar hatte Emilie Wedekind ihrem Sohn Geld angeboten, nachdem er im Juni 1887 seine Tätigkeit als Texter bei der Firma Maggi aufgegeben hatte. von Deinem Gelde zum Studium anbotest, indeß dasselbe gleichfalls nicht in Deinen Händen war. Wenn Hammi den G/g/rößten Theil seines Vermögens in der Zofingianichtschlagenden schweizerische Schüler- und Studentenverbindung, der Armin Wedekind am 18.5.1881 beigetreten war. und seinem neuen HeimArmin Wedekind hatte sich im Oktober 1888 im Zürcher Vorort Riesbach (Feldeggstraße 81) als praktischer Arzt niedergelassen [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 29.10.1888]. aufgehen läßt, wenn Willy seine ganze Baarschaft nach AfrikaWilliam Wedekind war im September 1889 nach Südafrika ausgewandert. schleppt, so werde ich wol das Recht haben von meinen frs 19000–Frank Wedekinds Anteil am Erbe seines Vaters belief sich auf rund 20.000 francs [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889]. frs 2000 auf das Studium eines jungen Menschen zu verwenh/d/en. Es existirt thatsächlich für dich nur ein Mittel mich daran zu hindern, nämlich das, mich unter Curatel stellenentmündigen. zu lassen, worauf ich selbstverständlich gefaßt bin.

4. bliebe noch zu erörtern, wie ich dazu komme, Deinen besten Bemühungen in dieser Weise entgegenzuarbeiten, was aber bei der | Grundverschiedenheit unserer Ansichten ziemlich erfolglos sein dürfte. Im Wesentlichen finde ich meine Rechtfertigung in der durchaus ungünstigen Auffassung die du von Dodas Wesen und Charakter hegst. Ohne dir damit im Geringsten einen Vorwurf machen zu wollen, da schließlich alles Geschmacksache ist, halt ich dich doch dieser ungünstigen Auffassung wegen nicht dafür geeignet, Dodas Erziehung zu leiten; schon deshalb nicht weil im Verkehr zwischen ihm und dir „Scheußlichkeiten, Niederträchtigkeiten, und Teufeleien“ seinerseits vorkommen von denen sonst kein Mensch was zu hören kriegt. Ich kenne ihn schließlich ebensogut wie Du und mir ist er unter meinen fünf Geschwistern der liebste. Die nämlichen Gefühle hegen Mieze und Mati ihm gegenüber. Das bei DirSchreibversehen, statt: Dass bei dir. nur die/er/ beste Wille vorherrscht und keine Geldrücksichten maßgebend sind, ersehe ich daraus daß du bereit bist ihn für 2 ¾ JahrDonald Wedekind schloss die Schule in Solothurn zum Ende des Schuljahres 1892 mit der Maturität ab. nach Solothurn zu schicken. Aber mit dem besten Willen ist noch nicht viel gethan. Der beste Wille hat auch zwischen dir und Papa fortwährend obgewaltet und dabei habt ihr es in 25 Jahren zu keinem einigermaßen erträglichen Modus vivendi(lat.) Art zu leben; Zusammenleben. gebracht. Ich meinerseits halte derartige auf Skandal gegrün|dete Verhältnisse für die schrecklichsten die es giebt, für Brutstätten des Verbrechens, und werde stets mein bestes thun um sie aufzulösen. Ich wiederhole daß ich dir damit keine Vorwürfe machen will, sowenig wie Papa. Ich selber habe auch schon Menschen genug angetroffen, mit denen ich mich in keiner Weise zu stellen weiß, z. B. Willy aber solchen Leuten soll man sich auch unter keiner Bedingung aufdrängen. Ich würde mich nie unterstehn, ein Wort zu sagen über deine Erziehung von Mieze und Mati, weil Mieze und Mati dich verstehn, so gut wie du sie verstehst, aber an Doda kannst du nur verderben, was gutes da ist. Wenn Einer ein Teufel ist, sollsSchreibversehen, statt: soll. man’s ihn, wenn man ihn bessern will nicht mes/r/ken lassen und du gehst bei ihm von vorn herein von der positiven Voraussetzung aus. So würden denn voraussichtlich auch deine besten Bemühungen ohne Segen sein.

Der zweite Grund weshalb ich dir O/o/pponire ist der, daß ich die Maßregel, ihn nach Solothurn zu schicken für unrichtig halte. Es kostete mich ein einziges Wort so gienge er hin aber er würde ebenso sicher in zwei drei Monaten wieder weglaufen. Und was dann? | Dann bliebe Dir nichts übrig als die Polizei. Und dann wäre er im Nu dasjenige wofür ihn jetzt schon allenfalls nur du halten kannst.

Ich begreife sehr wohl daß dir das Außergewöhnliche einer Vorbereitung auf die Fremdenmaturität nicht zusagt. Aber ist es zu verwundern, wenn ein Mensch, aus dem haarsträubendsten unmenschlichsten Zusammenleben hervorgegangen nicht in die alltäglichen Normen paßt. Deshalb muß er sich eben hineinfügen, wirst Du sagen. Natürlich, nachdem man ihn 18 Jahr lang hat thun lassen was ihm beliebte, du Dich immer wie ein Kind mit ihm herumgezankt und Papa nicht gewagt hat, ihm ein Wort zu sagen. Donald in seiner hülflosen inneren Zerissenheit ist gewissermaßen euer Beider Spiegelbild und daher auch Beiden gleich befremdend, unbehaglich. Es fehlte nun nur noch, daß er das, was er euch zu danken hat und bei sich allenfalls mit der Zeit überwinden könnte, daß er das an euch selber noch büßen müßte. Und er hat es schon zum großen Theil überwunden; AmerikaDonald Wedekind hatte von Februar bis Dezember 1889 eine Reise durch die USA unternommen. hat in dieser Beziehung den besten Einfluß auf ihn gehabt. Aber das siehst du natürlich nicht. Du siehst nur daß er kein | Geld gemacht hat, daß er „sich in jeder Beziehung blamirt hat“ wie du Dich ausdrückst. Wäre er wie WilliWilliam Wedekind hielt sich von April 1886 bis 1888 in den USA auf. Tüncher oder Schornsteinfeger geworden und spräche Mr. Fleck mit Anerkennung von ihm, so stände er in deinen Augen jedenfalls durchaus gerechtfertigt da. Daß er auf seinen mannigfachen Irrfahrten auch hundertmal hätte zu Grunde gehen, oder wie Willi in den Kneipen New-Yorks zum Schnapssäufer werden können, scheinst Du entweder nie gefürchtet oder dann längst vergessen zu haben. Du siehst in seiner Amerikanischen Reise eine Schlappe, ich sehe einen namhaften Gewinn darin. Das ist eben die Verschiedenheit unserer Ansichten. Ich zweifle nicht, daß sich genug Menschen finden, die ebenso denken wie du. Ich erwähne nur Mr FleckVermutlich der Ehemann einer Bekannten von Wedekinds Mutter aus New York, die Donald Wedekind bereits von ihrem Besuch im Sommer 1885 in Lenzburg her kannte und deren Familie er bei seiner Ankunft in New York im Februar 1889 besuchte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 138]. . Aber mir fehlen eben die Autoritäten auch nicht. So sagte vor einigen Jahren ein Berliner Professornicht ermittelt. in einem Vortrag über moderne Gymnasien: Ich habe zwei Söhne, von denen der eine das Gymnasium absolvirt und der Andere, nachdem er durchgebrannt, eine Reise um die Welt gemacht hat. Letzterer spreche nun drei lebende Sprachen, wisse mit jedermann zu verkehren und habe ein offenes Auge für alles menschlich interessante während der andere nichts kenne als seine alten | Klassiker und der ganzen übrigen Welt wie ein blinder Gaul gegenüber stehe. Der Professor fragte welchen von Beiden man wol eher einen gebildeten Menschen nennen werde. Aber all das hab ich dir ja schon gesagt ohne daß es Eindruck gemacht zu haben scheint.

In letzter Linie wirst du dich natürlich auf Hammi berufen, der durchaus deine Ansichten theilt. Donald fürchtet Hammi nun allerdings nachgerade wie Gift ohne indeß R natürlich Respect vor diesem „Gemachten Mann“ von Dr. Frey’s GnadenArmin Wedekind hatte 1887/88 dem Bezirksarzt Gottlieb Frey in Zürich (Hottingerstraße 38) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1891, Teil I, S. 94] assistiert und heiratetet dessen Tochter Emma. zu hegen.

Zum Schluß einen Vorschlag zum Guten. Nimm die Dinge wie sie liegen. Laß Doda ziehen, natürlich unter Protest, und laß mich machen. In ein, zwei Jahren, wenn Du erst mit deiner eigenen Geschichte in’s Klare gekommen wirst du vielleicht auch über diese Dinge milder denken gelernt hatSchreibversehen, statt: gelernt haben. . Dann trifft man sich wieder, ohne sich indessen durch fortwährende Streitigkeiten unzugänglich geworden zu sein, und geht jeder seinen Weg weiter ohne den andern zu genirenhinderlich zu sein, stören.. Wie gesagt, ich würde an deiner Stelle gute Miene zum bösen Spiel machen. Man kann nicht alles sein. Überlaß Doda mir, so wirst du ihn nicht verlieren und mich auch nicht.

Dein treuer Sohn Franklin.

Frank Wedekind schrieb am 7. Mai 1890 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

München 7.V 90


Liebe Mama,

meine herzlichsten Glückwünsche zum morgigen TageEmilie Wedekind hatte am 8.5.1890 ihren 50. Geburtstag.. Möge dir der kommende Sommer nutzbringend und die Zukunft weniger beschwerlich werden, als es die Gegenwart ist. Übrigens weißt du ja daß ich dir stets das Beste wünsche. Ich bitte dich | auch in Zukunft davon überzeugt zu bleiben, was auch dann und wann zwischen uns treten möge, wie zum ExempelpelSchreibversehen, statt: Exempel. meine Lebensführung die dir, wie ich wol begreife noch immer mißfallen muß und die ich doch noch vor ein, zwei Monaten nicht aufgeben kann indem ich doch in erster Linie für mich selber verantwortlich bin.

Was Doda betrifft hoffe und wünsche ich von ganzer | Seele, daß du auch für die nächsten Jahre recht behalten mögest wie du bis jetzt recht behalten. Ich persönlich habe ja wahrhaftig kein Interesse, ihn abspenstig zu machen. Ich habe ihm denn auch, als nachdem er in Solothurn eingetreten und mir nach vierwochenSchreibversehen, statt: vier Wochen., von einem KrakelSchreibversehen, statt: Krakeel; für Streit. schriebvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 28.3.1890., den er ich weiß nicht mit wem gehabt, gehörig d. h. so weit es in meiner Macht stand, den Kopf zurechtgesetztHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 30.3.1890.. So werde ich auch ferner alles thun, um das, was ich fürchtete und kommen sah, wenn irgend | möglich nicht eintreten zu lassen.

Und nun noch meinen zwar etwas verspäteten aber nicht minder herzlichen Dank für alles Liebe und Gute das Du uns letzten Winter erwiesen. Was sich damals zwischen uns drängte, lag ja weniger an uns als an Anderen, vielleicht auch an der Stimmung überhaupt. Es muß schließlich alles gelernt sein; also bitte deshalb keinen dauernden Groll.

Und nun leb wol liebe Mama,. Wenn ich dir etwas | besonders erfreuliches über mich zu schreiben hätte, würd ich es natürlich breittreten; aber so müssen wir uns beide noch etwas gedulden. Es ist nicht zu ändern.

An Mieze meine besten herzlichsten Grüße. Sonst ist ja wol niemand von uns zu Hause. Lebt Hammis Kindder am 9.1.1890 geborene Sohn von Armin und Emma Wedekind, Armin Wilhelm Gottlieb Wedekind. eigentlich noch. Da wird doch wol eine solennefeierliche. Taufe mit Pfarrer Bär möglicherweise Pfarrer Jakob Baer aus Uster [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 147].und Fischer-Eichenbergernicht identifiziert. stattgefunden haben. Indessen will ich jetzt schließen, damit der Brief noch rechtzeitig auf die Post kommt. Also bitte | noch einmal nimm es mir nicht übel daß ich keine interessanten Neuigkeiten über mich zu geben weiß. Hoffentlich kommt eine Zeit und schließlich langt auch dafür kein Briefpapier. So was erzählt sich doch viel besser. Es war mir hauptsächlich darum zu thun daß du nicht meinst, ich hätte deiner gar nicht gedacht.

Also auf recht glückliches Wiedersehn – vielleicht diesen Sommer.

Mit den besten Grüßen
dein treuer Sohn
Franklin
Akademiestraße 21.0.

Frank Wedekind schrieb am 1. Juni 1890 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind

[Hinweis in Armin Wedekinds Brief an Frank Wedekind vom 3.7.1890 aus Riesbach:]


[…] erhielt doch auch Mama ein solches testimonium... Was Du in jenem Briefe schriebst fand allerdings, abgesehen von dem liebenswürdigen Tone des Schreibens Beifall […]

Frank Wedekind schrieb am 10. November 1890 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

München 10.XI 90.


Liebe Mama,

es ist mir leider durchaus unmöglich eben jetzt nach Hause zu kommen. Im übrigen hatt ich mir vorgenommen, sobald ich hier fertig wäre, den Verkauf der SammlungenAuskunft über die von Friedrich Wilhelm Wedekind zusammengetragenen und hinterlassenen Gegenstände gibt der in Lenzburg ohne Jahresangabe erschienene „Gesammt-Katalog der Kunst- und Antiquitäten-Sammlungen von Dr. Fr. Wedekind auf Schloss Lenzburg (Ct. Aargau, Schweiz)“, klassifiziert nach I. Gemälde, II. Miniaturen, Glasbilder und Medaillons, III. Kupferstiche, Handzeichnungen, Aquarelle etc., IV. Elfenbein-, Holz- und Steinschnitzereien, V. Pfahlbauten- und römische Funde, Sonstige Antiquitäten auf insgesamt 15 Druckseiten. Hinzu kam die Bibliothek und eine Münzsammlung. Mit der gesamten Inventarisierung der auf Schloss Lenzburg vorhandenen Gegenstände begann die Mutter im Januar 1891., wenn es euch anders recht wäre, zu besorgen. Ich bin hier im Altertumsvereinder Alterthums-Verein München, 1864 gegründet, Vorstand Conrad Knoll (Promenadestr. 12) [vgl. Adressbuch für München 1890, Teil III, S. 50]. eingeführt | wo Professoren und Antiquare zusammen kommen, so daß eine gewisse Garantie geboten wäre, daß man die Sachen preiswürdig los wird. Im übrigen sehe ich gar nicht ein, weshalb die Sache so fürchterlich eilt. Die Antiquitäten verderben nicht und an einem Platz wie hier giebt es Jahr aus Jahr ein Käufer die Menge. So arm sind wir doch wol noch nicht, daß wir die Sammlungen um jeden Preis abzuschieben genöthigSchreibversehen, statt: genöthigt. wären. | Sind sie dir im Wege, so lassen sie sich in drei vier Kisten mit Bequemlichkeit unterbringen. Es bliebe ja sowieso noch die Münzsammlung und die Kupferstichsammlung übrig, die dem/u/ dem guten Manneinem potentiellen Käufer. Am 2.9.1890 notierte Wedekind im Tagebuch: „Am 13. August kam Donald von Lenzburg mit einer Anzahl Neuigkeiten. Die Antiquitäten gehen für frs 8000 an einen Herrn Weber aus New York, einen Bekannten von Emma Frey über. Er soll nichts davon verstehen und ein großer Bramarbas sein.“ Kurz darauf trat der Interessent jedoch vom Kauf zurück [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 19.9.1890]. Ein neuer Käufer fand sich offenbar nicht. Am 4.11.1891 veranstaltete Emilie Wedekind eine öffentliche Auktion auf Schloss Lenzburg, allerdings ohne Erfolg [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 149]. doch hoffentlich nicht mit en. bloc. zu geben gedenkst. Es ist mir in der That nicht plausibel weshalb alles was uns zu Hause noch an Papa erinnert, so über Hals und Kopf verkümmer/l/t(ugs.) zu Geld gemacht. werden soll. Als ich dich nach Papas Tod darum | bat die WirthschaftspläneEmilie Wedekind plante nach dem Tod ihres Mannes auf Schloss Lenzburg Zimmer an Pensionsgäste zu vermieten und dafür Umbauten vorzunehmen. aufzugeben, riefst du mit Emphase aus, du möchtest lieber begraben sein, als dem Mann einen einzigen Heller verdankenSchreibversehen, statt: Heller zu verdanken. (was du ja selbstverständlich nicht mehr weißt) – und nun sollen schon die Sammlungen daran glauben.

Übrigens wirst du ja doch beschließen was dir gefällt wie seinerzeit über den Schanzenabbruch1889 hatte die Gemeinde Lenzburg den Schlossfelsen untersucht und verlangte Sicherungsarbeiten, was zum Streit zwischen Emilie Wedekind und der Stadt Lenzburg führte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 149]. Wedekind hatte von der Absicht, das Befestigungswerk auf Schloss Lenzburg abzureißen, von seiner Schwester erfahren [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 11.8.1889]. Im Tagebuch hielt er dazu am 15.8.1889 fest: „Vormittag erhalt ich einen Brief von Mati der mich in Schrecken setzt durch die Nachricht, die Schanze solle abgebrochen werden.“ Der Regierungsrat des Kantons Aarau, mit dem Streit konfrontiert, ordnete am 10.9.1890 an, der Gemeinderat Lenzburg habe „für sofortige Ausführung der nöthigen Abbruch- u. Befestigungsbauten Sorge zu tragen“ [Schlossverkauf Lenzburg. Akte B. N.1, Stadtarchiv Lenzburg]. Die geschätzten Kosten dafür beliefen sich auf bis zu 40.000 Franken. (was du natürlich auch nicht mehr weißt) und so sehe ich nicht ein was weitere Worte für einen Zweck haben.

Mit besten grüßenSchreibversehen, statt: Grüßen. dein treuer Sohn
Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 23. Dezember 1890 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 29.12.1890 aus München:]


[…] du kannst dir nicht denken welche Freude Du mir mit dem Bilde gemacht. Es ist außerdem so ziemlich das einzige Geschenk daß ich erhalten […]

Frank Wedekind schrieb am 29. Dezember 1890 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München 29.XII 90.


Liebe Mama

du kannst dir nicht denken welche Freude Du mir mit dem Bildedie Sendung zu Weihnachten und das Begleitschreiben sind nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.12.1890. gemacht. Es ist außerdem so ziemlich das einzige Geschenk daß ichSchreibversehen, statt: das ich. erhalten, abgesehen vielleicht von einenSchreibversehen, statt: von einem. Lebkuchenherzen den mirSchreibversehen, statt: das mir. ein Bekannter mal zufällig in’s Caffee mitgebracht hatte. Seit Miezes AbreiseErika Wedekind hatte ihren Bruder am 7.12.1890 in München besucht [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 6.12.1890] und reiste spätestens am 11.12.1890 weiter nach Dresden [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 12.12.1890]. brennt mir dieser Brief an dich auf der Seele, aber gerade über Weihnachten war ich von | einem abscheulichen Zahngeschwür geplagt, was mich nicht einmal in Ruhe essen, geschweige denn mich sonst noch meines Lebens oder gar der/s/ Festes freuen ließ. Ich hoffe und wünsche dir von ganzen Herzen, daß du trotz deiner gegenwärtigen Vereinsamung eine fröhlichere Weihnacht mögest gefeiert haben.

Was im übrigen meinem Thun und Treiben betrifft, so warte ich b/s/eit mehr als einem halben Jahr auf das Erscheinen meines StückesManuskripte seines Lustspiels „Kinder und Narren“ hatte Wedekind am 26.8.1890 bzw. am 27.8.1890 an die beiden Bühnenverlage Felix Bloch Erben und Albert Entsch (Theodor Entsch, Inhaber seit 1883) geschickt [vgl. KSA 2, S. 636f.]. Beide Verlage lehnten das Stück ab. Da er keinen Verleger fand, ließ er das Buch auf eigene Kosten bei der Münchner Buchdruckerei R. Warth drucken, das Erscheinen verzögerte sich jedoch bis Anfang 1891 [vgl. KSA 2, S. 630]., das sich in unverantwortlicher Weise | Weise verzögert hat. Mein einziger Trost dabei ist daß ich indessen schon bald wieder ein zweites fertigAn „Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie“ arbeitete Wedekind seit Oktober 1890. Im April 1891 schloss er die Arbeit daran ab, das Stück erschien im Oktober 1891 im Verlag Jean Groß, Zürich [vgl. KSA 2, S. 763f.]. habe, daß/s/ dann so Gott W/w/ill nicht so lange auf sich warten läßt. Über mein Stück könnte ich dir mit dem besten Gewissen sehr viel Lobenswerthes schreiben, aber ich fürchte mich dadurch lächerlich zu machen. Ich bitte dich daher, dich noch ein zwei Monate zu gedulden, dann werden es Andere thun.

Auf Mieze hatte ich mich von ganzem Herzen gefreut, aber sie hat mir Moral gepredigt. Von dem Gedanken Privatunterricht zu nehmen rieth ich ihr dringend ab. | 1. weil sie eine gute „Schülerin“ ist, 2. weil sie am ConservatoriumErika Wedekind wurde am Königlichen Konservatorium für Musik in Dresden aufgenommen und besuchte zunächst die Klasse von Professor Gustav Scharfe, nach dessen Tod wurde sie Schülerin von Professorin Aglaja Orgeni. außer Singen auch Schauspielkunst Exerciren e ct mitmachen muß. 3. weil sie vom Conservatorium aus, wenn sie sich bewährt eventuell gleich zur Bühne herangezogen wird, 4. weil sie als Conservatoristin alle Vorstellungen und Concerte mehr oder weniger frei hat und 5. weil sie wenn sie nicht reüssirtkeinen Erfolg hat., dann doch schließlich ihre Zeugnisse besitzt, die ihr eine selbstständige Stellung in der Gesellschaft sichern. Sie wendete mir ein, man sage in Lenzburg allgemein, Minna’s StimmeWedekinds Cousine Minna von Greyerz hatte das Dresdner Konservatorium von 1884 bis 1887 besucht und Klavier und Gesang studiert. sei am Conservatorium verdorben worden. Ich entgegnete ihr daß sie noch den einen großen Vortheil habe, am Conservatorium nämlich, daß sie, wenn es ihr nicht gut gehe, das ja dann auch von sich behaupten könne.

Frank Wedekind schrieb am 1. Januar 1891 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Liebe Mama, ich möchte dich auf den Knien bitten aus dem Ton meines Schreibens auf keine pesönlicheSchreibversehen, statt: persönliche. Stimmung dir gegenüber zu schließen. Ich möchte was ich eben geschrieben zerreißen und noch einmal von vorn anfangen; aber wer sagt mir daß es besser würde. ei/U/nd dennoch muß ich dir schreiben, da ich weiß daß ich dir vielfach u/U/nrecht gethan. Ich werde das an Doda sobald ich Gelegenheit finde wieder gut zu machen suchen. Über eines glaube ich dich immerhin beruhigen zu können. Was Doda auch thun mag, ich glaub nicht daß er der Mann ist um moralisch zu grunde zu gehen, geschweige denn physisch; dazu ist er schon viel zu besorgt | um sein Leben. Was ihm passiren könnte, ist das, daß er sich mal eines Tages umbringtDonald Wedekind nahm sich am 5.6.1908 das Leben., später, wenn er sich geistig ausgewachsen. Ich habe mich während seines Hierseins sehr gut mit ihm verstanden. Wir haben uns kaum ein einziges Mal gezankt. Dessen ungeachtet habe ich ihn unendlich bedauern gelernt. Ich kenne keinen Menschen der so wenig veranlagt ist glücklich zu sein wie er.

Ich bitte dich auch hinter meiner Stimmung nicht etwasSchreibversehen, statt: nicht etwa. Unzufriedenheit mit mir selber, Reue oder was derart zu suchen. Ich bin im Gegentheil concentrirter denn je. Darin liegt auch die Ursache, in dem fortwährenden Angespanntsein | und dem ewigen WartenWedekind hatte die als Privatdruck organisierte Publikation seines Lustspiels „Kinder und Narren“ noch für Ende 1890 erhofft, das Stück erschien jedoch erst im Januar 1891 [vgl. KSA 2, S. 630].. Es ist ja vorübergehend aber momentan kann ich dir mit dem besten Willen keinen eingehenderen Brief schreiben. Ich weiß ja so gut, daß wir uns wieder vollkommen verstehen, wenn wir uns wiedersehen, daß wir einander zu verstehen überhaupt nicht aufgehört – Ich habe dich dessen in meinem letzten Briefvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.12.1890. versichert und bin und bleibe fest in der Überzeugung. Ich weiß daß du gegenwärtig nach einem mitempfindenden herzlichen Worte dürstest, daß du dir in deiner Einsamkeit jedenfalls zuviel Gedanken machst, unnöthige Gedanken, die an Leib und Seele zehren ohne einem in der Welt etwas | zu nützen. Aber ich bin ja selber dem Verschmachten nahe und bitte dich darum nur inständig, mir meine Art und Weise zu verzeihen und dir so gut wie möglich über ZeitSchreibversehen (Auslassung), statt: über die Zeit. hinwegzuhelfen, wie ich mir auch darüber hinwegzuhelfen suchen muß. Seit Papas TodFriedrich Wilhelm Wedekind war am 11.10.1888 gestorben. sind noch kaum zwei Jahr vergangen. Was Wunder daß wir uns allesamt noch in einer Übergangsperiode befinden. Da heißt es in Gottes Namen se/den/ Muth nicht sinken lassen und seinen Pfad zu verfolgen wie das Maulthier zwischen seinen Scheuledern.

Also bitte nimm mir diesen Neujahrsbrief nicht übel. Er ist gewiß so herzlich gut gemeint | wie er herzlich schlecht geschrieben ist. Wenn du mir einen großen Gefallen thun willst, so schreibe mir wenn du gerade nichts besseres zu thun weißt, damit ich sehe, daß du mich nicht vielleicht dennoch falsch verstanden hast. Grüße mein geliebtes Mati viel tausendmal von mir und sei selber aufs herzlichste gegrüßt von deinem dir unverändert ergebenen und sich auf das Wiedersehn freuenden Sohn
Franklin
Akademiestraße 21 0. l.


Matis Bildvgl. die Photographie der 14jährigen Emilie (Mati) Wedekind [Münchner Stadtbibliothek/Monacensia. Nachlass Frank Wedekind. FW F 18; abgedruckt in: Vinçon 2021, Bd. 2, S. 325]. scheint mir einige Ähnlichkeit mit Hami zu haben wie er in seiner Glanzperiode aussah, so etwa im näm|lichen Alter. Gysi in Aarau Das 1843 in Aarau von Friedrich Gysi eröffnete Fotoatelier wurde seit 1863 von dessen Söhnen Otto und Arnold Gysi geführt, seit 1889 unter dem Namen Gysi & Cie unter Leitung von Otto Gysi jun.kenne ich als einen sehr schmeichelhaften Photographen. Indessen lebe ich der Überzeugung, daß er es diesmal nicht gethan hat, respective nicht thun konnte. Zum Schluß wünsche ich Dir und Mati ein recht, recht glückliches neues Jahr mit unerwarteten Freuden und einiger Behaglichkeit zwischendurch. – Während des Schreibens scheint sich der düstere Horizont meines Gemüthes nun doch einigermaßen entwölkt zu haben. Wenn du selber keine Zeit findest, dann schreibt mir vielleicht Mati einmal. Ich würde ihr sehr sehr dankbar dafür sein. – Meine Empfehlung an Herrn Zweifelvermutlich der Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel, Ehemann von Blanche Zweifel, der Wedekind mehrere Gedichte gewidmet hatte..

Emilie Wedekind schrieb am 8. Februar 1891 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Tb Wedekind-Kammerer vom 8.2.1891 in Lenzburg:]


Bebi geschrieben.

Emilie Wedekind schrieb am 9. April 1891 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Tb Wedekind-Kammerer vom 9.4.1891 in Lenzburg:]


Frankl. geschrieben.

Frank Wedekind schrieb am 18. April 1891 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

München 18. April 91.


Liebe Mama

beiliegend die VollmachtDie beiliegende Vollmacht ist nicht überliefert. Da Schloss Lenzburg zu gleichen Teilen an die Geschwister und die Mutter vererbt worden war, benötigte Emilie Wedekind eine Vollmacht der Miterben, um Entscheidungen treffen zu können, die das Schloss betrafen. die ich vor drei Tagenam 15.4.1891. Das Schreiben Erika Wedekinds ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Erika Wedekind an Frank Wedekind, 14.4.1891. von Mieze zugeschickt erhielt. Es war mir mit dem besten Willen nicht möglich die Beglaubigung rascher zu erledigen. Von Doda erhielt ichvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 12.4.1891. den Aufsatzdas nicht überlieferte Manuskript zu der später in der Buchdruckerei Gassmann, Sohn in Solothurn erschienenen Broschüre „Schloss Lenzburg in Geschichte und Sage“ (1891) von Donald Wedekind. über die Geschichte Lenzburgs der mir sehr gut gefällt aber mehr zu corrigiren giebt, | als ich anfangs vermuthete. Ich werde ihn immerhin noch dieser Tage erledigen, damit er dann gedruckt werden kann. E/O/b i/er/ die beabsichtigte WirkungDie Broschüre wollte Emilie Wedekind an die Pensionsgäste auf Schloss Lenzburg verkaufen und hatte sie zu diesem Zweck bei Donald Wedekind in Auftrag gegeben [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 12.4.1891]. erzielt, weiß ich nicht zu beurtheilen. Es ist das schließlich Zufallssache und nicht vorauszusagen. Auf jedenfall kann Donald die Veröffentlichung nichts schaden, wohl aber da oder dort von Nutzen sein. Mit gleicher Post erhältst Du mein jüngstes OpusWedekinds Lustspiel „Kinder und Narren“ war vermutlich Anfang März als Privatdruck erschienen [vgl. KSA 2, S. 643]., über dessen Tragweite | ich auch noch kein maßgebendes Urtheil habe. Mieze schreibt mir in Begleit des Documentes nur wenige Worte. Indessen höre ich von Donaldvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 2.4.1891. daß sie sich in Dresden sehr gut macht. Die Nachricht, daß sie am eidgenössigenSchreibversehen, statt: eidgenössischen. Sängerfestdie Eidgenössische Bundesfeier in Döbeln bei Dresden am 28.6.1891. Erika Wedekind rezitierte dort ein Gedicht: „In eine Schweizerlandschaft mit einem Felsen in der Mitte und frischen grünen Fichten im Hintergrunde war die Bühne des Saales verwandelt worden. Von derselben herab sprach Fräulein Wedekind aus Lenzburg (z. Z. am Konservatorium in Dresden) mit wohlklingender deutlicher Stimme und warmem Gefühl den […] ergreifenden, von Herrn Heinrich Freuler, Schriftsteller aus Glarus (in Dresden wohnend) gedichteten Prolog“ [Festschrift zur Erinnerung an die von den Schweizern in Sachsen abgehaltene Eidgenössische Bundesfeier zu Döbeln im Schützenhause, am 28. Juni 1891. Leipzig 1891, S. 7]. mitwirken wird hat mich sehr gefreut.

Verzeih liebe Mama, daß ich hier abbreche. Ich möchte den Brief gern heute noch expedirenaufgeben.. In wenigen Tagen hörst du mehr von mir. | Mit den herzlichsten Grüßen an Dich, an Mati und Donald, falls er noch bei euch weiltDonald Wedekind hatte seinem Bruder zuletzt von Schloss Lenzburg aus geschrieben [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 12.4.1891]. dein treuer Sohn
Franklin

Akademiestraße 21.0.

Frank Wedekind schrieb am 26. August 1891 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München 26.8.91.


Liebe Mama,

es thut mir leid, daß ich, anstatt dir deine Last zu erleichtern, in der Lage bin, Dich mit etwas behelligen zu müssen. Donald schreibt mirvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 25.8.1891., du habest ihm für seinen Aufenthalt in Italien frs 350– versprochen, wovon er bis jetzt frs. 200 – emf/p/fangen, so daß er noch frs 150– zu erwarten gehabt hätte. Ich kann natürlich nicht beurtheilen, ob diese Daten richtig sind und wenn ich mich auf seinen Brief hin an Dich wende, geschieht es natürlich nur in der Voraussetzung, daß seine Angaben in allen Punkten stimmen. Ist dem d nicht so, so bitte ich dich, meine Einmischung als nicht geschehen zu betrachten. | Donald scheibt mir nun, als er dich um die restirendennoch ausstehenden. frs 150– gebeten – und allerdings noch um frs 150– mehr –, habe er folgende offene CarteTastsächlich hatte Donald Wedekind den Inhalt des nicht überlieferten Schreibens seiner Mutter im Brief an seinen Bruder nur paraphrasiert und nicht wörtlich wiedergegeben. erhalten:

Lieber Donald

Da du mit deinem Gelde zu Ende bist, so mußt du eben sehen, wie du wieder herkommst. Ich schicke dir keines mehr.

Deine treue Mutter
E. Wedekind.

Donald schickt mir eine Copie dieser Karte, von der ich dir hier wieder eine Copie gebe. Ob sich das alles thatsächlich so verhält, kann ich wie gesagt nicht beurtheilen. Aber verhält es sich so, dann hättest du meiner Ansicht nach doch wol besser gethan, ihm das Versprochne zu gewähren, respectivebeziehungsweise., wenn dir das nicht möglich war, ihn davon in anständiger Weise in Kenntniß zu setzen. Mit der Karte giebst du Donald die Mittel in die Hand, dich einer ordi|nären Handlungsweise zu zeihen und das sind die frs 150 –, zumal zwischen der treuen Mutter und dem treuen Sohne, doch wol nicht werth. Ich spreche, wie schon bemerkt, immer nur in der Voraussetzung, daß mich/r/ Donald vollständig der Wahrheit gemäß gemäßSchreibversehen (Verdopplung), statt: gemäß. geschrieben hat.

Oder glaubst du vielleicht, daß durch die/Ve/rweigerung der frs 150– der unvermeidliche Zusammensturz wesentlich hinaus geschoben wird? – Ich glaub es nicht. Übrigens trifft dich ja auch in dieser Hinsicht nicht die geringste Verantwortung. Es ist mein völliger Ernst wenn ich so spreche und mag kommen was will, so werd ich mit dieser Anschauung der Dinge immer auf deiner Seite stehen. Wenn ich Anfang nächsten Monats nach Zürich komme werden wir darüber zu sprechen Gelegenheit genug finden. Hammi hat mir nämlich auch das weitere Senden von GeldArmin Wedekind verwaltete das Vermögen des Vaters nach dessen Tod und zahlte auf Wunsch Teile des Erbes an seine Geschwister aus, worüber es, wie die Korrespondenz belegt, regelmäßig zu Konflikten mit Frank Wedekind kam. Über Auszahlungen an den noch minderjährigen Donald entschied er gemeinsam mit der Mutter. verg/w/eigert. Ich | machte ihn daraufhin darauf aufmerksam, daß das wol nicht gut ginge, solang ich noch nicht halb soviel gebraucht hätte, wie sämmtliche übrigen majorennenvolljährigen. Mitglieder der Familie. Er hat mich darauf zu einer AbrechnungEine frühere Abrechnung ist brieflich überliefert [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889]. nach Zürich gebeten.

Also bitte schicke Donald die frs 150– respective lasse sie ihm durch Hammi schicken. Mehr bliebe mir nämlich auch nicht übrig. Wenn ich sie baar hätte, hätte ich dich mit der Sache überhaupt nicht behelligt. Da er sehr in Verlegenheit zu sein behauptet sende ichdas Begleitschreiben zu der Geldsendung ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 26.8.1891. imSchreibversehen, statt: ihm. frs. 50– das äußerste was ich bis zu meiner Abreise werde entbehren können. Du magst ihm diese frs 50– ja eventuell von den frs 150 abziehen, wenn wenn du ihn aus Princip straff zu halten gedenkst, aber ich frage dich, wo soll er denn hin, wenn er meinetwegen die Reise noch zu Fuß zurücklegt, wenn seine Ferien noch nicht beendet? Lenzburg wäre um des | lieben Friedens willen wol der wenigst geeignete Platz für ihn und in Zürich oder Solothurn braucht er so gut Geld zum Leben wie anders wo auch.

Ich wiederhole noch einmal, daß ich das alles nur in der Voraussetzung schreibe daß Donalds Angaben richtig sind. Andernfalls bitte ich tausendmal um Verzeihung. Wenn dem aber so ist, so läßt sich Donald thatsächlich noch nicht so inconsequent behandeln, es müßten ihn denn auch Andere für einen Lumpenkerl halten, Hammi natürlich ausgenommen, der jeden dafür hält, der es geradeSchreibversehen (Auslassung), statt: es nicht gerade. so macht wie er. Übrigens würde ich Donald gegenüber nicht auf die Carte zurückkommen. Das wäre meiner unmaßgeblichsten Ansicht nach ihm gegenüber nicht am Platz, so wenig wie ich darauf reagiren werde. Du magst ja Hammi anweisen, ihm das Geld in meinem Namen zu schicken; er würde | das doch wahrscheinlich ohne deine Zustimmung nicht thun wollen.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Grüße mein herzinnig geliebtes Mati und sei selber aufs herzlichste gegrüßt von deinem
treuen Sohn
Franklin

Akademiestraße 21./0.

Frank Wedekind schrieb am 13. September 1891 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

München 13.9.91.

Liebe Mama,

ich werde Mittwoch den 16. in Zürich eintreffen, werde aber nothgedrungen zwei Tage dort bleiben müssen in Folge eines Auftrages, den ich nun einmal übernommen und dessen ich mich nicht gut mehr entledigen kann. Es handelt sich um eine junge Amerikanerin, Miss Edla Isabel KoerneEdla Isabel Coeurn (auch: Corn, Corne, Coerne) – 25 Jahre, ledig, geboren in New York, gemeldet in Cambridge bei Boston (Massachusetts), aus wohlhabendem Haus – dürfte ihren jüngeren Bruder Louis Adolf Coerne, der im Sommer 1890 ein dreijähriges Studium an der Königlichen Musikschule München aufnahm, begleitet haben – einen Reisepass beantragte sie Ende Mai [vgl. Passport Applications, 1795-1905, 1890-1892, Roll 351 - 24 May 1890-31 May 1890, Nr. 16.369]. – Ihren Namen adaptiert Wedekind in mehreren seiner Werke, so in der Erzählung „Jetzt ist es aber die höchste Zeit“ (1896) als Mrs. Edla Isabel Cœrne [vgl. KSA 5/I, S. 355], in Entwürfen zur Zirkuspantomime „Bethel“ als Agniella Coeürne [KSA3/II, S. 814, 817], im Einakter „Der Kammersänger“ (1899) als Miss Coeurne [KSA 4, S. 351]. aus Boston | die mit einer mir befreundeten Familiedas Ehepaar Wilhelm Carl und Therese Becker sowie deren erwachsene Kinder Edwarda und William John; wie Wedekind aß die Familie Becker mittags in der Pension Sußner: „Herr Becker mit Frau und Tochter, Pension Sussner, aus Milwaukee / Willy Becker, Polytechniker. [aus Milwaukee] Pens. Sußner“ [Tb nach dem 7.2.1890] und am Ende des Tagebuchs „1890 [...] Becker. Melchers.“ [Tb S. 115]). Willy Becker, der – wie Melchers – am Polytechnikum in München immatrikuliert war und in der Schnorrstraße 9 (2. Stock) wohnte, beendete im Sommer 1891 nach 6 Semestern sein Studium [vgl. Personalstand der Königlich Bayerischen Technischen Hochschule zu München im Winter-Semester 1888/89. München 1888, S. 16; zuletzt ebd. Sommer-Semester 1891, S. 15]. namens Becker aus Milwaukee nach Amerika zurückkehren will. Beckers halten sich gegenwärtig in Montreux auf und werden am 18. circa Zürich passiren. Miss Koerne hat nachdem ich Ihr versprochen, ihr die zwei Tage in Zürich Gesellschaft zu leisten, eine Reise nach Wiesbaden aufgegeben und so kann ich jetzt mit dem besten Willen nicht mehr zurücktreten. Sobald ich mich meines Auftrages entledigt stehe ich vollkommen zu deiner Verfügung. Ich bitte dich mir diesen Einwand nicht übel nehmen zu wollen und bitte dich meines letzten Briefesvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 26.8.1891. wegen um Verzeihung. | Doda hatte mir geschriebenvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 26.8.1891., daß er nichts zu essen habe.

Mit den besten Grüßen an dich und Mati in der frohen Erwartung eines baldigen Wiedersehends
Dein treuer Sohn
Franklin.

Frank Wedekind schrieb am 21. Januar 1892 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Paris, 21.1.92.


Liebe Mama,

ich habe dir die herzlichsten Grüße auszurichten von Mr. und Mm PerréDie Familie des Champagner- und Weinhändlers Eugène Perré war wiederholt zu Besuch auf Schloss Lenzburg gewesen, der Sohn Eugène blieb von Sommer 1889 bis September 1890 auf Schloss Lenzburg, um Deutsch zu lernen [vgl. Miranda Ludwig-Zweifel: Freundschaft mit dem Familienkreis Wedekind. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Jg. 38, 1967, S. 20f.] und heiratete 1910 Emilie (Mati) Wedekind., von Eugène und der kleinen Mimi. Sonnabend vor acht Tagenam 9.1.1892. war ich bei ihnenin Neuilly-sur-Seine, einem Vorort im Westen von Paris; der Firmensitz der Weinhandlung befand sich hingegen in Reims (Rue Coquebert 45). zum Déjeuner(frz.) Mittagessen. eingeladen. Wir tranken auf deine Gesundheit und auf diejenige von Mieze, natürlich in Champagner Perré der zugleich den Stoff zur Unterhaltung lieferte. Die Küche war delicieusSchreibversehen, statt: délicieuse, (frz.) köstlich.. Ein vorzüglicher SalmLachs. als Entrée(frz.) Vorspeise. darauf Beefsteaks wie man sie nur in Paris ißt, dann eine Schüssel gebratener SchwämmePilze. mit Zwiebelsauce und schließlich Rebhühnerpastete mit | sehr großen Trüffeln. Jedes Gericht wurde auf Mr Perrés Initiative hin eingehend besprochen und in den Pausen trug immer wieder die Champagnerfabrication die Kosten der Unterhaltung. Mr. Perré der am nämlichen Tag für einen Monat nach Havre verreiste, trug mir bei jedem Gang von neuem auf, dich zu grüßen so daß ich nicht umhin kann zu vermuthen, er erwarte auch von dir ein Echo seiner glänzenden Tafel zu hören. Eugène war seither verschiedene Male bei mir. Wir besuchten zusammen einige der hervorragenstenSchreibversehen, statt: hervorragendsten. Vergnügungslokale und wollten letzten Sonntagam 17.1.1892. zusammen in die Oper besuchen gehn. Leider blieb | er aus und hat sich seitdem noch nicht wieder sehen lassen. Über Mdm Perré habe ich noch kein Urtheil gewonnen, indem sie sich meistentheils schweigsam verhielt. Außer mir war noch ein sehr jovialer netter Junggesellenicht identifiziert. in den besten Jahren zu Gast; natürlich gleichfalls Champagnerhändler. Wir tranken im ganzen nur zwei Flaschen, sprachen aber soviel darüber, daß wir schließlich ein vollständiges BacchanalTrinkgelage. gefeiert zu haben glaubten.

Der hervorragendste Eindruck den ich bis jetzt von ParisWedekind war am 29.12.1891 gegen 8 Uhr morgens in Paris angekommen [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 29.12.1891]. erhalten ist der, daß man sich hier so über die Maßen heimisch fühlt. Man glaubt hier geboren zu sein, auch wenn man die Menschen noch kaum versteht. Wie du vielleicht von Hami erfahrenvgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 1.1.1892. traf ich mit einem jungen Amerikaner, einem angehenden OperncomponistenLeo Rich Lewis aus Woodstock in Vermont studierte drei Jahre an der Königlichen Musikschule in München Komposition und schloss beim Prüfungskonzert am 30.6.1892 mit Auszeichnung ab [vgl. Jahresbericht der K. Musikschule in München. 16. 1889/90, S. 10; 17. 1890/91, S. 10; 18. 1891/92, S. 10, 12 u. 41]. Mit ihm hatte Wedekind während seines Pariser Aufenthalts regelmäßig Kontakt [vgl. Leo Rich Lewis an Wedekind, 19.7.1892 und Tb 11.12.1892]. hier ein, mit dem ich seither die vorzüglichsten Theater besuchte. Im übrigen habe ich eigentlich noch so gut wie keinen | Umgang. Ich bin TagelangSchreibversehen, statt: tagelang. allein, was hier nicht schwer zu ertragen und meiner Arbeit trefflich zustatten kommt. Frl. HünyDie Schweizer Journalistin Emilie Hüni lebte seit 1881 in Paris und berichtete von dort unter anderem regelmäßig unter dem Kürzel „E. H.“ für die „Neue Zürcher Zeitung“., die ich gleich am ersten Tagden 29.12.1891. aufsuchte und die mir versprach mich mit den berühmten Zürcher MalerinnenWedekind lernte über Emilie Hüni u. a. die in Zürich aufgewachsene deutsche Malerin Louise-Cathérine Breslau kennen, die berühmteste Malerin ihrer Zeit in Paris. 1876 war sie zum Kunststudium an die Académie Julian nach Paris gegangen, stellte seit 1879 im Salon de Paris aus und hatte 1889 auf der Pariser Weltausstellung die Goldmedaille erhalten. Sie war eine Freundin Emilie Hünis, mit der sie sich auch über die Werke Wedekinds austauschte. bekannt zu machen, hat seither noch nichts wieder von sich hören lassen. Einen auch für die heutigen Verhältnisse beiläufig noch ganz praktikablen Führer besitze ich an Papa’s TagebuchDas Pariser Tagebuch von Friedrich Wilhelm Wedekind ist überliefert in dem Heft „Aufzeichnungen aus den Jahren 1854–1856“ [vgl. AfM Zürich, PN 169.1: 308]. Wedekinds Vater hielt sich vom 30.5.1854 bis 22.6.1854, vom 19.12.1854 bis 5.6.1855 und vom 19.8.1855 bis 31.10.1855 in Paris auf. In den kurzen Tagebucheinträgen notierte er die von ihm besuchten Theater, Lokale und Hotels.. Ich besuchte verschiedene darin namhaft gemachte Localitäten und fand das denkbar höchste an Geschmack, Eleganz und Grazie. Es ist unglaublich wie erfinderisch diese Pariser Kunsttempel darin sind sich selbst und ihre Concurrenten in Kostümen zu überbieten. Ich habe diese Art Cultus von jeher sehr hoch zu schätzen gewußt, ich habe auch in München nichts versäumt was in Kostümkunde zu profitiren war und fühle mich demgemäß hier gewissermaßen an der hohen Schule. Ich sah in den hervorragenstenSchreibversehen, statt: hervorragendsten. Theatern Stücke, deren einzige Pointe in der glänzenden Steigerung der ToilettenefecteSchreibversehen, statt: Toiletteneffecte. der betreffenden Heldin lag.

Was die Wohnung betrifft, so befinde ich mich gegenüber München, wo ich 2 Jahre parterreWedekind war in der Akademiestraße 21 vom 3. Stock ins Parterre (links) gezogen und dort seit dem 11.5.1890 gemeldet [vgl. EWK/PMB Wedekind]. wohnte, wieder in den höchsten Höhen, fühle mich indessen sehr wohl in einem kleinen Zimmer mit großem Bett und knisterndem Kaminfeuer. Der Wirth, der Kellner, das Zimmermädchennicht identifiziert. und meine Nachbarn sind alle gleich liebenswürdig und wetteifern in Zuvorkommenheit. Morgens 9 Uhr bringt mir der Kellner | den Cafe, gegen zehn stehe ich auf und arbeite bis eins. Danach gehe ich zum Frühstück und dann in irgend ein Cafe, wo ich gewöhnlich auch schreibe wie z. B. jetzt an dich, an einem der belebtesten Boulevards, wo eine dichte Menschenfluth an den Fenstern vorbeiwogt und ununterbrochen fünf Reihen Fiaker und Omnibusse über das Pflaster traben. Abends komme ich in der Regel gegen 2 nach Hause und lese noch einiges. Man schläft somit sehr wenig und befindet sich doch außerordentlich wohl dabei.

Von Tante Plümacher erhielt ich einen äußerst lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Olga Plümacher an Wedekind, 1.1.1892.. Ich hatte einige Tage vorher angefangen an sie zu schreibennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Olga Plümacher, 21.1.1892. und schloß daher mit meiner Antwort auf ihre Fragen. Über ihre Reisen nach Südamerika habe ich seinerzeit einiges im GlobusPublikationen von Olga Plümacher in „Globus. Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde“ ließen sich nicht nachweisen. Artikel über Venezuela, wo ihr Mann Eugen Herrmann Plümacher US-amerikanischer Konsul war, publizierte sie aber in „Das Ausland. Wochenschrift für Länder- und Völkerkunde“; so die Artikel „Etwas über die Goajira-Indianer“ [vgl. Jg. 61, Nr. 3, 15.1.1888, S. 41-43] und „Maracaibo“ [vgl. Jg. 61, Nr. 40, 1.10.1888, S. 781-785; Nr. 41, 8.10.1888, S. 812-814; Nr. 42, 15.10.1888, S. 836-839]. gelesen. Da sie den Brief über Lenzburg geschickt setze ich voraus, daß sie dir gleichfalls geschrieben hat. Ihre Schrift hat sich sehr verändert, sie scheint nicht mehr ganz die fließende Hand von früher zu besitzen. Ihre Ausdrucksweise ist etwas sentimental, was übrigens auch der Widerhall meines larmoyanten Opusesgemeint ist vermutlich Wedekinds Kindertragödie „Frühlings Erwachen“, die im Oktober 1891 erschienen war [vgl. KSA 2, S. 771f.]. Olga Plümacher rezensierte das Stück unter dem Titel „Frühlings Erwachen. Für Väter und Erzieher“ [in: Sphinx. Monatsschrift für Seelen- und Geistesleben. 8. Jg. 1893. Bd. 16, S. 76-80; vgl. KSA 2, S. 866-868]. sein mag. Sie scheint in dieser Beziehung auch keinen Spaß zu verstehen. Sie hat es ebenso tragisch | genommen wie Du, aber sie weiß wenigstens was darüber zu sagen.

Und wie geht es Dir liebe Mama? Hami schrieb mirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Armin Wedekind an Frank Wedekind, 13.1.1892. über vergnügt verlebtes Neujahr bei euch und bei sich zu Hause. Schreibe mir gelegentlich wenn du Zeit findest. Der Winter bringt v/j/a nicht so viel geschäftliche Sorgen mit sich. Grüße Mati von mir und sei selber aufs herzlichste gegrüßt von deinem treuen Sohn
Franklin.

Hôtel Crébillon
4. RuSchreibversehen, statt: Rue. Crébillon
Paris.

Frank Wedekind schrieb am 26. Januar 1892 in Paris folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind

[Hinweis und Referat in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 1.2.1892 aus Paris:]


[...] bitte verzeih meinen letzten Brief, der in sehr deprimirter Stimmung geschrieben war. [...] ich fürchte stündlich daß du bei deiner Vorliebe für Aufrichtigkeit Mdm Perré gegenüber etwas | von meinem leichtfertig gefällten Urtheil durchblicken lassen möchtest.

Frank Wedekind schrieb am 1. Februar 1892 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Paris 1.2.92.


Liebe Mama,

bitte verzeih meinen letzten BriefDer Kontext legt nahe, dass es sich hier nicht um den letzten überlieferten Brief [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 21.1.1892], sondern um einen weiteren, danach geschriebenen, aber verschollenen Brief handelt; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 26.1.1892]., der in sehr deprimirter Stimmung geschrieben war. Die Familie Perré war seither wirklich ausnehmend liebenswürdig gegen mich und ich fürchte stündlich daß du bei deiner Vorliebe für Aufrichtigkeit Mdm Perré gegenüber etwas | von meinem leichtfertig gefällten Urtheil durchblicken lassen möchtest. Eugène lag längere Zeit an der Influenza darnieder. Letzten Freitagden 29.1.1892. war ich mit ihm, Mdm Perré und einem Consul von Paraguay nebst Gemahlinnicht identifiziert. in einer Prosceniumsloge der großen Oper. Eugène dessen Pathe jetzt Director der großen OperSeit dem 1.1.1892 war Eugène Bertrand Direktor der Pariser Oper. ist hatte mich eingeladen. | Ich aß mit ihm in Neully zu Abend, worauf wir in die Stadt fuhren. Die Wiedergabe des LohengrinDie von öffentlichen Protesten begleitete Premiere von Richard Wagners „Lohengrin“ in Paris fand am 16.9.1891 statt. hätte ich mir trotz vieler Unzulänglichkeiten doch nicht so gut gedacht. Wir saßen in der Loge des Directors dicht hinter dem Vorhang. Leider keimte in mir am nämlichen Abend die Influenza auf, so daß ich die größte Mühe hatte mit/geg/en den Schlaf anzukämpfen. Mdm Perré | fragte mich über Tisch natürlich wieder ob ich keine Nachricht von dir hätte. Sie sagt sie erwarte gleichfalls einen Brief von dir. Also bitte schreibe ihr gelegentlich. Schreib ihr daß ich begeisterte Briefe über sie schriebe und daß ich es nicht hoch genug zu schätzen wisse in den mir völlig fremden Verhältnissen einen so liebenswürdige Aufnahme zu finden.

Mieze wird gegenwärtig | wol bereits Lenzburg in AufregungErika Wedekind trat auf Einladung von Musikdirektor Hermann Hesse in Lenzburg am 7.2.1892 in Albert Lortzings komischer Oper „Hans Sachs“ (1840) in der Rolle der Goldschmieds- und Bürgermeisterstochter Kunigunde auf. Die Presse schrieb: „Sonntags den 7. Februar brachte der Musikverein Lenzburg im dortigen Theater die Lortzing’sche Oper ‚Hans Sachs‘ zur erstmaligen Aufführung und ließ derselben seither bei stets überfülltem Haus eine Reihe von Wiederholungen folgen. […] Ein glücklicher Zufall wollte es, daß gegenwärtig zwei Lenzburger Sängerinnen zur Verfügung standen, von denen die eine ihre künstlerischen Studien am Dresdener Konservatorium absolvirt hat, während die andere sich mitten darin befindet.“ [Neue Zürcher-Zeitung, Jg. 72, Nr. 50, 19.2.1892, Erstes Blatt, S. (2)] „Daß unter denjenigen schweizerischen Ortschaften, welche gelegentlich größere dramatische Werke mit eigenen Kräften zur Aufführung bringen, Lenzburg in der vordern Reihe steht, nehmen wir als bekannt an; allein es dürfte doch eine besondere Erwähnung verdienen, wenn das kleine Städtchen es fertig bringt, eine Oper zu geben, bei welcher sämtliche Rollen und alle Orchesterpulte mit einheimischen Kräften besetzt sind und zwar zum Teil in vorzüglicher Weise. Letzten Sonntag fand die erste Vorstellung statt. (Wiederholungen sind angesetzt für die nächsten zwei Sonntage, sowie Freitag den 12., Mittwoch 17. und Freitag 19. Februar.) […] In den denkbar besten Händen ist die Rolle der Kunigunde. Fräulein W. verfügt nicht nur über die erforderliche Schulung – die sie übrigens der Dresdener Musikschule verdankt – und ist nebenbei eine reizende Erscheinung und tüchtige Darstellerin.“ [Der Bund, Jg. 43, Nr. 42, 11.2.1892, Erstes Blatt, S. (3)]. versetzen. Ich wäre sehr gespannt etwas über ihren CherubinDie Rolle des Pagen Cherubino in Mozarts „La nozze de Figaro“ (1786) ist eine Hosenrolle, also für eine Frau geschrieben, die auf der Bühne einen Mann verkörpert und entsprechend gekleidet ist. zu hören. Kurz bevor ich München verließ, sah ich dort d noch eine bestrickende Interpretation der Rolle von einer Frl BorchersDie 18jährige Schauspielerin und Opernsängerin Hanna Borchers war 1889 die Nachfolgerin von Emilie Herzog am Münchner Hoftheater. Sie debütierte dort am 8.1.1889 als Benjamin in Étienne-Nicolas Méhuls komischer Oper „Joseph von Ägypten“. Als Cherubino war sie in München vor Wedekinds Abreise zuletzt am 13.12.1891 zu erleben. Die Presse urteilte: „Der Page des Frl. Borchers war für das Ensemble zu schwach und beinahe unbedeutend.“ [Bayerischer Kurier, Jg. 35, Nr. 344, 15.12.1891, S. 5]. „Niedlich wie immer war die Erscheinung von Frl. Borchers als ‚Page‘. Wenn auch die Stimme leider nicht die erhoffte Entwicklung zeigt, so ist ihrem Vortrag doch nachzurühmen, daß er nie aus dem Stil fällt.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 44, Nr. 573, 15.12.1891, Morgenblatt, S. 4] in hellblauem Atlas mit weißer Blousenweste und Manschetten aus breiten Spitzen. Von der Stimme | abgesehen, in der ihr Mieze ohne Zweifel gewachsen wäre verfügt sie allerdings über die reichsten Mittel einer Hosenrolle gerecht zu werden. Aber das wird Mieze ja wol auch auf dem Conservatorium gelernt haben. – Emmchen von Riesbach sieht einem Familienrathe entgegen, in dem über Mieze und ihre eventuelle Bühnencarriere | ent/d/güld/t/ig beschlossen werden soll. Sie meint es sei nachgerade Zeit, daran zu denken und fragt michDie Frage seiner Schwägerin Emma Wedekind, mit der Frank Wedekind kaum direkt korrespondiert haben dürfte, stand vermutlich in nicht überlieferter Familienkorrespondenz zur Debatte. nach meiner Stellungnahme in dieser Angelegenheit. Bitte sag Mieze, meine Ansicht gehe dahin, sie möge die Familie nach bestem Ermessen über sie beschließen lassen und lediglich das thun, was ihr selber richtig erscheine, indem die Familie weder pekuniär noch künstlerisch die Competenz besitze sie bei der Wahl ihrer | Laufbahn zu beeinflussen.

Das Wetter ist hier jetzt ungefähr so wie bei uns im Mai, herrlich blauer Himmel, laue Luft und dier ersten Veilchen. Wenn nur die Influenza schon überstanden wäre. Grüße Mati zehntausend Mal von mir, gleichfalls Mieze und sei selber aufs herzlichste gegrüßt von deinem treuen Brud Sohn
Franklin

4. Rue Crébillon

Emilie Wedekind schrieb am 30. April 1892 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Tagebuch vom 1.5.1892 in Paris:]


Brief von Mama, daß das Schloß verkauft ist.

Frank Wedekind schrieb am 3. Mai 1892 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Paris 3.V.92.


Liebe Mama,

ich beeile mich die unterzeichnete BevollmächtigungAls Miterbe von Schloss Lenzburg musste Wedekind seiner Mutter eine Vollmacht zu dessenVerkauf ausstellen. Die Presse berichtete: „Ein Herr Jessup aus Philadelphia hat von der Erbschaft des Hrn. Dr. Wedekind das Schloß Lenzburg gekauft. Derselbe gedenkt an der alten Ritterburg bedeutende Restaurationsbauten vorzunehmen.“ [Der Bund, Jg. 43, Nr. 120, 29.4.1892, Erstes Blatt, S. (3)]. Tatsächlich verzögerte sich der Verkauf des Schlosses aufgrund von Streitigkeiten mit dem Gemeinderath von Lenzburg wegen der Sicherung des Schlossfelsens [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 155-157] bis Mitte März 1893 [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 1.3.1893]. so rasch wie möglich zu expedirenabzusenden.. Daß ich mich bei der Unterzeichnung als Schweizer ausgewiesenDurch den Eintrag im Familienpass seines Vaters war Frank Wedekind US-amerikanischer Staatsbürger [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 157f.]. ist eine Unrichtigkeit. Herr Dr. StummMitarbeiter des Schweizer Konsulats in Paris. Veranlasst durch einen Brief seiner Mutter [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 30.4.1892], hatte Wedekind die benötigte Vollmacht dort beantragt und nach einem fehlgeschlagenen Versuch („Ich komme zu spät in’s Schweizer Consulat“, Tb 2.5.1892) erhalten: „Unterschreibe auf dem Consulat meine Vollmachtserklärung, wobei mich Dr. Stumm zum Schweizer stempelt. Schreibe an Mama.“ [Tb 3.5.1892] hat es als selbstverständlich vorausgesetzt.

Ich gratulire Dir und uns allen dazu, daß es dir nun doch gelungen den Handel ab|zuschließen. Wir Alle haben Ursache, Dir dafür zu DankenSchreibversehen, statt: zu danken.. Das ResultatDer Kaufpreis für Schloss Lenzburg betrug 120.000 Franken [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 157]. ist, wenn auch kein glänzendes, so doch immerhin kein schlechtes. Es entspricht durchaus dem, was ich im besten Falle gehofft hatte. Das Nähere ließe sich natürlich nur beurtheilen, wenn ich wüßte, wie du es mit dem InventarEinem früheren Interessenten hatte Emilie Wedekind die zahlreichen Sammlungen und Antiquitäten von Friedrich Wilhelm Wedekind pauschal angeboten [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 19.9.1890]. gehalten. Indessen bitte ich dich, in dieser Hinsicht ganz nach deinem Gutdünken zu verfahren. Du selber bist dank deiner Anschaffungen ja doch am meisten dabei interessirt.

Ich wage es kaum dich zu fragen, was du nunmehr zu thun gedenkst, indem ich dank | meiner mangelnden Stellung nicht in der Lage bin, bestimmend auf Dich einzuwirken. Wenn du Mati um dich zu haben gedenkst wäre es gewiß das verfehlteste nicht, wenn du mit ihr hierher kämst, indem Mati hier etwas lernen könnte, in guter Gesellschaft verkehren würde, und davor geschützt wäre, aus Mangel an anständigem Verkehr auf Abwege zu gerathen. Übrigens kämst auch du dabei natürlich in erster Linie in Betracht. In Lenzburg hat sich dir die Überzeugung aufgedrängt, daß du einer gewissen körperlichen Arbeit bedarfst um dich wohl zu fühlen. Wenn einer das begreift, so bin ich es, indem ich mich in Lenzburg körperlich auch nie besonders wohl gefühlt und immer an den Folgen | von mangelnder Bewegung, Herzklopfen, Schwere in den Gliedern e. ct. gelitten habe. Ich hege die feste Überzeugung, daß deine Gesundheit hier in dieser Hinsicht in keiner Weise gefährdet wäre, indem die Ausdehnung der Stadt viel mehr Bewegung mit sich bringt, als Du Dir in Lenzburg mit aller körperlichen Arbeit machen kannst. Dabei kannst du dirs hier so behaglich wie möglich machen und kämst vielleicht doch noch einmal dazu, Dein Leben, bis zu einem gewissen Grad wenigstens zu genießen. Darf ich dich bitten, dir dies reiflich zu überlegen, so viel wie möglich an dich selbst und möglichst wenig an Andere zu denken. Vielleicht daß du Andern damit am meisten nützstSchreibversehen, statt: nützt..

Verzeih daß ich dirSchreibversehen (Auslassung), statt: ich mich dir. in diesem Moment da du einen Sieg errungen, mit guten Rathschlägen zu nahen wage. Ich bitte dich nur wenigstens an meiner guten Absicht nicht zu zweifeln und verbleibe mit herzlichsten Grüßen
dein DankbarerSchreibversehen, statt: dankbarer. Sohn
Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 19. Mai 1892 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis und Referat in Frank Wedekinds Tagebuch vom 20.5.1892 in Paris:]


Ein kurzer ganz verzweifelter Brief von Mama, daß aus dem Verkauf des Schlosses wegen der FelsenaffaireDie vom Gemeinderat Lenzburg erhobene Forderung, der Schlossbesitzer habe für die Sicherung des Schlossfelsens aufzukommen, führten bis zur Klärung des Streits im Frühjahr 1893 vorübergehend zum Rücktritt des Käufers von Schloss Lenzburg. Am 21.5.1892 reichte Emilie Wedekind gegen den Stadtrath von Lenzburg und den Regierungsrath des Kantons Aargau Rechtsverwahrung ein: „Geehrte Herren! Wie Sie wissen, hat sich der mit Herrn Jessup abgeschlossene Verkauf des Schlosses wegen der Ansprüche auf Stützung des Schloßfelsens, die die Gemeindebehörde von Lenzburg und die Regierung gegen den Schloßbesitzer erheben, wieder zerschlagen. Ich habe diese Ansprüche nie anerkannt. Meines Erachtens ist eine Reparatur überhaupt nicht nothwendig, auf keinen Fall aber hat der Schloßbesitzer eine Pflicht dazu. Durch Ihre Geltendmachung bin ich jetzt ins Unglück gestürzt worden. Dieses Besitzthum ist entwerthet, meine ganze Existenz vernichtet. Ich unglückliche Frau kann nicht anders als dafür die Behörden, die Gemeinde und den Staat, verantwortlich machen, die diese Entwerthung, wie ich der Ansicht bin, ohne ein Recht dazu zu besitzen, veranlaßt haben. Ich muss mir das Recht der Ersatzklage gegen sie vorbehalten. Und ich gebe dies Ihnen jetzt kund, weil mein Stillschweigen beim Hinfall des Kaufvertrages nicht so gedeutet werden könnte, als verzichte ich auf mein Recht und füge mich in das, was geschehen ist. Hochachtungsvoll, Frau Dr. E. Wedekind. Lenzburg, den 21. Mai 1892.“ [Schlossverkauf Lenzburg. Akte B. N.1, Stadtarchiv Lenzburg] nichts geworden ist.

Frank Wedekind schrieb am 13. September 1892 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Paris 13.IX.92.


Liebe Mama,

gesternam 12.9.1892. nach Paris zurückgekehrt beeile ich mich um dir Nachrichten über unsern Genfer AufenthaltFrank und Donald Wedekind hatten ihre Schwester Emilie (Mati) in Genf besucht, wo sie seit Anfang Mai 1892 ein Mädchenpensionat besuchte. zu geben. Es ist geradezu unglaublich was Mati für eine MethamorphoseSchreibversehen, statt: Metamorphose. durchgemacht hat. | Ich verließ sie letzten HerbstWedekind war vermutlich ab dem 19.9.1891 zu Besuch auf Schloss Lenzburg [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 13.9.1891]. mit dem Eindruck eines im höchsten GeradeSchreibversehen, statt: Grade. Nervösen Wesns/en/s, unzufrieden, launenhaft, in fortwährender Aufregung und dabei gelangweilt. Ich fand sie in Genf wieder mit ihrer ganzen Seele mit dem Hause in dem sie lebt verwachsen. Zum voraus die Thatsache, daß von der bewußten Geschichtenicht ermittelt. auch nicht mit | einer Sylbe zwischen uns die Rede war, aber auch nicht von irgend einer andern Geschichte, die an deren Stelle getreten wäre, am allerwenigsten von Themata wie Küssen e. ct. in denen sie sich letzten Herbst mit dem auf mich damals beängstigend wirkendem Feuerefifer zu ergehen pflegte.

Da wir Mati von Bern ausIn Bern besuchte Wedekind den 4. Weltfriedenskongress (22. bis 27.8.1892). Zum Abschluss fand am 27.8.1892 abends eine „litterarisch-künstlerische Soiree“ statt, auf der nicht nur Bertha von Suttner las, sondern auch Wedekinds Freund Karl Henckell: „Der ebenfalls am Kongreß anwesende sehr junge und schon so berühmte Dichter Karl Henkell wird ein auf den Kongreß hin verfaßtes Friedenslied vortragen.“ [Weltfriedenskongreß. Samstag-Soirée. In: Intelligenzblatt und Berner Stadtblatt, Jg. 59, Nr. 203, 27.8.1892, Samstag Morgen, S. (3)] Wedekind sei „nach dem Vortragsabend“ so angetan gewesen, dass er Bertha von Suttners „Buch ‚Die Waffen nieder‘ der Schwester Mati schenkte, als er sie mit Donald zusammen in ihrer Genfer Pension besuchte.“ [Kutscher 1, S. 268] telegraphirt Das Telegramm ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank und Donald Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 28.8.1892.hatten wurden wir von ihr und Frl. HäuslerErzieherin am Mädchenpensionat „Les Violettes“ in Genf. am Bahnhof erwartet. Frl. Häusler | überließ sie uns und wir gingen mit ihr in’s Hotel diniren. Was mir zuerst an bei ihr auffiel, war ihr frisches G/g/esundes Aussehen. Die dicken rothen Backen stehen ihr nicht gerade vortheilhaft (ich bitte ihr das aber nicht im nächsten Brief mitzutheilen) indessen kommt das Aussehen ja gegenwärtig bei ihr thatsächlich nicht in Betracht. Schuld daran trägt jedenfalls in erster Linie ihre vollkommene innere Ruhe, die Harmonie in | ihrer Empfindungswelt, die sich auf den denkbar engsten Kreis, nämlich auf Frl E Dürst beschränkt, dort aber offenbar alles in reichstem Maße findet, was ihr gegenwärtig seelisches Bedürfniß ist. Als uns Frl. DürstEmilie (Mati) Wedekind besuchte das von Emma und Helene Dürst geleitete Mädchenpensionat „Les Violettes“ in Genf. Über ihre Ankunft berichtete sie ihrem Bruder Armin am 6.5.1892 in einem Brief: „Um 6 Uhr kamen wir in Genf an und waren Frl. Hausler und Frl. Emma schon an dem Bahnhof. Es ist ein sehr weiter Weg bis in die Pension. Das Häuschen das wir bewohnen liegt ganz im Grünen. Man denkt absolut nicht, daß man in einer großen Stadt lebt. Ich habe mein Zimmer mit einer kleinen Engländerin zusammen. […] Ich fühle mich hier schon ganz behaglich.“ [AfM Zürich, PN 169.5:060] zwei Tage darauf zu Tisch begleitete lernte ich Mati in dieser Hinsicht auch vollkommen begreifen. Das ruhige, etwas reservirte durchaus vornehme Auf|treten von Frl. Dürst, ihre gleichmäßige innige Liebenswürdigkeit, ihre feinfühlige Art auf die Menschen einzugehen, alles wol KenntzeichenSchreibversehen, statt: Kennzeichen. einer Natur, die bei den mannigfachsten Erlebnissen den Schwerpunkt ihrer Entwicklung in sich selber gefunden, werden bei Mati eben ähnliche Veranlagungen zu honoriren verstehen. |

So lang wir in Genf waren aß Mati mit uns im Hotel den Abend des zweiten Tages ausgenommen, wo wir in der Pension eingeladen wo waren. Doda der sich indessen nicht viel Unterhaltung davon versprach und überdies einem Bekanntennicht ermittelt. begegnet war, hatte sich entschuldigt. Bei Tisch unterhielt ich mich fast ausschließlich mit Frl Häusler über allerhand | Sammlungen in München, Stuttgart e. ct. Ich war dabei sicher, es mit niemanden zu verderben. Nach aufgehobener Tafel setzte sich Helene Dürst ans Piano und gab einige Reminiscenz/c/en aus ihrem Aufenthalt in Portugal zum besten. Am andern Vormittag begleitete uns Emma Dürst in’s Hotel. Gegen S Schlß Schluß des Dinner war sie schon beinah so weit vollständig aufzuthauen, | i/I/ndessen gab ihr der u/U/mstand daß sie am selben Abend zwei neue Engländerinnen erwartete, bald ihre ganze Reservas/t/ion zurück. Wir gingen in’s Musee ArianaSchweizerisches Keramik- und Glasmuseum in der Avenue de la Paix in Genf. wo wir, da ich sehr viel Sehenswürdiges fand bis zum Abend blieben. Leider war das Wetter nicht gerade günstig und das Theater geschlossen. So beschränkten wir uns denn darauf die Stadt zu besichtigen, die | verschiedenen Confiserien zu inspizieren, nebenbei auch einige Kunstläden, in denen sich Mati mit vielem Geschmack zurechtfand. Mit einem reizenden Ballet das ich im Cursaal entdeckt hatte, hatte ich weniger Glück – offenbar Zugeständnisse, die Mati, für das was ihr die Pension bietet, ihrerseits macht, aber in aller Aufrichtigkeit macht, ohne eine Spur von Affectation(frz.) Geziertheit.. Ohne daß sie ein Wort gesagt hätte merkte ich, daß ihr | nicht ganz behaglich dabei zu Muth war, es paßte nicht recht in ihr Gefühlsleben. Letzten Herbst hätte sie sichs jedenfalls mit dem größten Genuß und Vergnügen angesehen und wird das auch später wieder thun. In dieser Erwägung begleitete ich sie, ehe das schönste, nämlich ein entzückendes Solo kam nach Hause. Es war übrigens auch schon zehn Uhr vorbei.

Doda reiste am | Freitag Abendden 9.9.1892. nach Turin ab. Ich blieb noch einen Tag mit Mati zusammen, indem wir uns des guten Hotelessens und einiger gemüthlicher Cigaretten bei schwarzen Café auf meiner Stube erfreuten, packte sie dann Sonnabend Abendden 10.9.1892. in eine Droschke nach Les Violettes, während ich selber in Gesellschaft | einer Genfer Malerinnicht ermittelt., der ich ihren mächtigen Farbenkasten in’s Coupée hatte tragen helfen nach Paris abdampfte. Ich half ihr hier ein Zimmer suchen, gab ihr eine Empfehlung an Frl. BreslauMit der Malerin Louise-Cathérine Breslau (Avenue des Terne 40) [vgl. Paris-Adresses 1893. S. 197] hatte Wedekind während seines Pariser Aufenthalts regelmäßig Kontakt [vgl. Tb]. und habe seither zwei Mal mit ihr soupirt. Sie will 24 Jahr alt sein, sieht aber noch beinah aus wie ein Backfisch„volkstümliche Bezeichnung halbwüchsiger junger Mädchen“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 2. Leipzig, Wien 1903, S. 234].. Von ihrer Malerei habe ich noch nichts gesehen. | Paris ist um vieles belebter als ich es vor 4 Wochen verlassen. Meinen Freund Weinhöppel traf ich mit seinen beiden SchülerinnenFräulein von Sonnenburg und Fräulein Schedlbauer, zwei Gesangsschülerinnen, die Hans Richard Weinhöppel von München aus nachgereist waren: „Um 12 kommt Weinhöppel. Er liest mir einige Briefe vor von zwei Schülerinnen, die ihm nachreisen wollen.“ [Tb 21.5.1892] „Morgen langen seinen beiden Schülerinnen an.“ [Tb 13.6.1892] Über seine erste Begegnung notierte Wedekind: „Ich höre schon im Corridor den Gesang seiner Schülerinnen. […] Die angenehmere von ihnen, Frl. von Sonnenburg, ist weit über die Jahre hinaus und doch wol kaum je so recht mitten drin gewesen. Die andere Frl. Schedelbauer mit herunterhängender Nase und schiefen Augen ist geradezu gewöhnlich.“ [Tb 21.6.1892] In der Folge trifft Wedekind häufiger mit Weinhöppel und seinen Schülerinnen zusammen: „Nach dem Diner suche ich Weinhöppel auf, finde ihn bei seinen Damen. Er musicirt mir einiges vor. Darauf bitte ich Frl. Schedelbauer zu singen. Ihr Gesang versöhnt mich vollkommen mit ihrer | unglücklichen Erscheinung.“ [Tb 29.7.1892] in bestem Wohlsein. Zur Feier des Wiedersehens führten wir sofort ein Violinconzert mit Guitarrenbegleitung auf. Das Loblied der SyringeLiedkomposition von Hans Richard Weinhöppel nach dem Gedicht „Lob der Syringe“ von Karl Henckell [Aus meinem Liederbuch. München 1892, S. 175]. will er dir abschreiben. Ich werde es | dir dann sofort zukommen lassen und hoffe daß du noch Gelegenheit hast, es Dir von Mieze vortragen zu lassen.

Und nun leb wohl liebe Mama. Noch vielen herzlichen Dank für die angenehmen schönen Stunden, die wir dieses Mal zu Hause zusammen verlebt. In der Hoffnung dasSchreibversehen, statt: Hoffnung dass. Mieze noch recht lange bei dir bleibt um | dir das bevorstehende Alleinsein möglichst abzukürzen, mit den besten Wünschen für deine Gesundheit, mit vielen Grü/her/zlichen Grüßen an Mieze und an dich selber dein treuer Sohn
Franklin.

4 rue Crébillon.

Emilie Wedekind schrieb am 12. November 1892 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[1. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 14.11.1892 aus Paris:]


[…] herzlichen Dank für deine SendungHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zu der Geldsendung – das hier erschlossene Korrespondenzstück. mit der ich bis März jedenfalls auszukommen hoffe […]



[2. Hinweis und Referat in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 24.1.1893 aus Paris:]


Du hattest mir seinerzeit geschrieben, wenn ich das übrige erbetene Geld nöthig hätte,| möchte ich es dich wissen lassen.



[3. Hinweis und Referat in Frank Wedekinds Brief an Armin Wedekind vom 25.2.1893 aus Paris:]


[…] daß ich […] Anfang Winters um 2000 frs gebeten habe […] und erhielt darauf hin 1000 von Mama, mit der Zusicherung, daß ich die übrigen 1000 eventuell bekommen könnte.

Frank Wedekind schrieb am 14. November 1892 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Paris 14.XI.92.


Liebe Mama,

herzlichen Dank für deine SendungDas Begleitschreiben zu der Geldsendung ist nicht überliefert: erschlossenes Korrespondenzstück: Emile Wedekind an Frank Wedekind, 12.11.1892. mit der ich bis März jedenfalls auszukommen hoffe; zumal ich noch eine Quelle in meinen eigenen Finanzen entdeckte, die ich bereits erschöpft glaubte und auf Neujahr einige kleine EinkünfteVermutlich hoffte Wedekind auf die Annahme seines Schwanks „Der Liebestrank“ („Fritz Schwigerling“), den er am 11.7.1892 beendet [vgl. KSA 2, S. 997] und das Manuskript an den Berliner Bühnenverlag A. Entsch geschickt hatte [vgl. Wedekind an Theodor Entsch, 3.8.1892]. Außerdem erwartete er zum Jahreswechsel Einkünfte vom Verleger Jean Groß in Zürich für „Frühlings Erwachen“ (1891) [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.1.1893]. erwarte. Es freut mich herzlich, daß du die Wohnung | im SteinbrüchliWegen des bevorstehenden Verkaufs von Schloss Lenzburg im Frühjahr 1893 plante Emilie Wedekind ihren Umzug in das Haus Steinbrüchli (mit seinen zahlreichen Nebengebäuden), das Friedrich Wilhelm Wedekind 1875 gekauft hatte [vgl. AfM Zürich, PN 169.1: 316]. für dich zu reserviren gedenkst und ich hoffe zuversichtlich, daß du sie nicht mit den Überbleibseln der Liquidationhier: der Verkauf des Inventars von Schloss Lenzburg. ausstattest, sondern mit allem demjenigen was dir am liebsten ist. Ebenso zuversichtlich hoffe ich, daß du trotz dieses Buon RetiroSchreibversehen, statt: Buen Retiro (span.) Zufluchtsort, Ruheort. deine Dresdner ReiseEmilie Wedekind reiste Ende des Jahres zu ihrer Tochter Erika nach Dresden, die am dortigen Konservatorium eine Ausbildung zur Opernsängerin absolvierte. nicht aufgiebst, auch wenn sich die Geschäfte in LenzburgEmilie Wedekind war nach dem Tod ihres Gatten in Lenzburg mit „der Abwicklung [...] der Erbteilung einschließlich des Verkaufs von Schloss Lenzburg [...] beschäftigt“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 161]. etwas in die Länge ziehen sollten. Du bist diese Erholung, dir/e/ | dir vielleicht vorderhand nicht als Erholung erscheint, in erster Linie dir selber schuldig, in zweiter Linie dem aufsteigenden Gestirn unserer Mieze, und in dritter Linie uns Übrigen. Darin liegt keine Anzüglichkeit, aber wenn deine energische Thätigkeit auf dem eng begrenzten Raum demnächst erlischt, so kannst du wol keine bessere Entschädigung dar/f/ür finden, als wenn du deinen Wirkungskreis, die Domäne deiner Interessen, so weit wie möglich erweiterst. Es wird | das das beste Mittel dagegen sein, dich nach der plötzlichen Beendigung einer so schweren Arbeit unglücklich zu fühlen, dich enervirt zu fühlen, und unter dem zwingenden Impuls eines unruhigen Drängens nach Thätigkeit irgend etwas anzufangen, was die Fühlung zwischen dir und dem was dir das liebste auf der Welt ist, aufs Spiel setzen möchte. Du hast von jeher deine größte Stärke darin bewiesen, muthig an Sachen heranzutreten, die dir am schwersten wurden. | Wenn du deine Reise nach Dresden von diesem Standpunkt aus betrachtest, so wird sie dich am wenigsten Überwindung kosten. Und wenn es dir in Dresden thatsächlich so wenig gefällt wie du fürchtest, so hast du dann ja immer den Trost, im Sommer wieder Lenzburger Luft zu athmen, Mieze bei dir zu haben die in die Ferien komms/t/, und wenn es dir in Lenzburg zu eintönig wird, so fühlst Du dich vielleicht wieder stärker nach Dresden hingezogen, als du jetzt noch | ermessen kannst. Es giebt wol kein größeres Glück als jemanden, zumal eine Künstlerin, die das Jahr durch arbeitet, in den Ferien bei sich zu haben, sie körperlich und geistig neue Kräfte sammeln zu sehen, und ich hege die feste Zuversicht, daß du den Muth in dir fühlst, ruhig an das Glück heranzutreten, und innere Größe und Selbstschätzung genug um dich des Glückes würdig zu erachten. Im Familienkreise mit Kind und Kegel, mit den täglichen kleinen Sorgen und | dem möglichst engen Horizont mag man sich behaglicher fühlen. Aber die Menschen, und vor allem Naturen wie du, haben ihre Gaben doch nicht vom Himmel h erhalten, um sich behaglich zu fühlen.

Verzeih mir liebe Mama, daß ich zum Dank für deine große Hülfe, schulmeistere. Du weißt daß ich es nicht lassen kann. Du wirst den Brief mit einem Achselzucken, das ich dir nicht verdenke, bei Seite legen. Aber wenn alle Geschäfte abgeschlossen, nimmst du ihn vielleicht wieder zur Hand, | und verzeihst mir eher als als du es jetzt kannst.

Vor vierzehn Tagen schrieb ichDer Brief ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Olga Plümacher, 1.11.1892. an Tante Plümacher und wagte, in der Voraussetzung daß du ihr noch nicht geantwortetDie Korrespondenz zwischen Olga Plümacher und Emilie Wedekind ist nicht überliefert., dich zu entschuldigen;/./ Sollte ich dir Unrecht gethan haben, so bitte ich mir das nicht zu schwer anzurechnen.

Und nun leb wohl, liebe Mama! Nochmals herzlichen Dank! Hier ist das herrlichste Frühlingswetter. Dessen ungeachtet habe ich Paris endlich überwunden. Ich bin wieder ganz keusch geworden. – Mit den besten Grüßen dein treuer Sohn
Franklin

4 rue Crébillon.


[Kuvert:]


Suisse

Madame
Emilie Wedekind
Schloss Lenzburg
(Aargau)

Emilie Wedekind schrieb am 6. Januar 1893 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[1. Hinweis in Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 7.1.1893 aus Paris:]


Liebe theure Mama
nimm meinen herzlichsten Dank für deinen lieben freundlichen Brief.


[2. Hinweis in Wedekinds Brief an Karl Henckell vom 9.1.1893 aus Paris:]

[...] daß Mama Lenzburg verlassen hat. Ich erfuhr es erst vor wenigen Tagen durch einen Brief von ihr selber [...]

Frank Wedekind schrieb am 7. Januar 1893 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Paris, 4. rue Crébillon                  
7.I 93.


Liebe theure Mama

nimm meinen herzlichsten Dank für deinen lieben freundlichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 6.1.1893.. Ich freue mich mit dir darüber, daß du die schwere ZeitEmilie Wedekind war nach dem Tod ihres Gatten in Lenzburg mit „der Abwicklung [...] der Erbteilung einschließlich des Verkaufs von Schloss Lenzburg [...] beschäftigt“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 161]. in Lenzburg überstanden hast, daß du glücklich zu unserem MiezleVerniedlichungsform von Mieze, Erika Wedekinds Kosename. gelangt und daß du dich in der neuen UmgebungEmilie Wedekind war zwischenzeitlich zu ihrer Tochter Erika nach Dresden gezogen, in die Pension Mehring (siehe unten). behaglich zu fühlen beginnst. Die Unannehmlichkeiten der ersten Eingewöhnung mögen ihren Grund nicht weniger als in deiner Ermüdung in der plötzlichen Luftveränderung | finden. Ohne deine Mühen und Sorgen zu unterschätzen glaub ich daß dieses Unbehagen niemanden bei so plötzlichem U ungewohnten Ortswechsel erspart bleibt. Wenn ich an das denke, was du in Lenzburg in der kurzen Zeit alles erledigt und auf dich genommen, so überläuft mich ein Schauder. Ich vermag deine StrapatzenSchreibversehen, statt: Strapazen.Schreibversehen, statt: Strapazen. nur annähernd zu ermessen, versichere dir aber daß sie dir niemand von uns je vergessen wird.

Was mich selbst betrifft, so habe ich im Lauf des letzten Jahres wieder verschiedene Bomben in die Welt gesetzt von denen aber noch keine geplatzt ist. Seit einem halben | Jahre hab ich ein Stück in Berlin liegenWedekind hatte die Niederschrift seines Schwanks „Der Liebestrank“ („Fritz Schwigerling“) am 11.7.1892 beendet [vgl. KSA 2, S. 997] und das Manuskript an den Berliner Bühnenverlag A. Entsch geschickt [vgl. Wedekind an Theodor Entsch, 3.8.1892]. das aber bis heute noch nicht gelesen ist. Wäre es gelesen und abgewiesen worden, so würde ich dir kein Hehl daraus machen. Es ist aber thatsächlich noch nicht gelesen. Außerdem hab ich ein Ballet geschriebenWedekind schrieb, nachdem er am 12.9.1892 aus Lenzburg nach Paris zurückgekehrt war, seine französischsprachige Tanzpantomime „Les Puces“ [KSA 3/I, S. 9-21], die im Herbst fertig vorlag; für die Musik suchte er den Komponisten Raoul Stéphane Pugno zu gewinnen [vgl. KSA 3/II, S. 765f.], für die Aufführung hoffte er auf das Pariser Cabaret Les Folies Bergères, wie er am 8.12.1892 notierte – er habe „ein Ballet für Follie Bergers geschrieben, mit dem es nichts vorwärts wolle“ [Tb]. zu dem mir sofort die Musik nebst der Aufführung versprochen wurde. Beides läßt indessen noch auf sich warten. Dessenungeachtet vertraue ich dem Ballet noch mehr als meinem Stück da es in der That gut ist. Gegenwärtig arbeite ich an einer SchauertragödieWedekind hat mit der Arbeit an „Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragoedie“ (1894), die fünfaktige Urfassung des Lulu-Dramenprojekts, am 12.6.1892 begonnen und sie knapp zwei Jahre später abgeschlossen [vgl. KSA 3/II, S. 833f.]., die ich rasch zu erledigen hoffte. Die Arbeit geht aber sehr langsam. Ich habe erst den ersten Akt fix und fertig und die Tragödie hat deren fünf. Von meinem Frl. Erw. erwarte ich dieser Tage den Jahresertragdie Abrechnung für „Frühlings Erwachen“ (1891) vom Verleger Jean Groß in Zürich [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 24.1.1893].. | Er wird nicht groß sein. Dafür hat es mir aber einen Namen gemacht und das werde ich dem Buch nie vergessen. Eine DameWedekind lernte die Schriftstellerin und Übersetzerin Emmy de Némethy (Pseudonym: Jean de Nethy) erst einige Monate später persönlich kennen [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 31.5.1893]. aus der hohen Pariser Gesellschaft hat mich um die Autorisation gebeten es übersetzen zu dürfen„Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie“ (1891) ins Französische. Hinweis auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Emmy de Némethy an Wedekind, 1.10.1892.. Wenn SieSchreibversehen, statt: sie. es übersetzt so erscheint es in elegantester Ausstattung beim ersten Verleger von Paris. Ich werde damit dann auch für die französischen Verhältnisse eine Empfehlungskarte in der Hand haben mit Hülfe deren es mir leicht ist jede Bekanntschaft zu machen. Was meine gegenwärtige Arbeit betrifft, so sehe ich mich in die Nothlage versetzt zu beweisen, daß nicht ein blindes Schwein eine EichelSprichwort: „Ein blindes Schwein findet auch wol eine Eichel“ [Wander 1867-1880, Bd. 4, Sp. 449] (= auch dem unfähigsten Menschen kann etwa gelingen), literarisch prominent in Friedrich Schillers „Die Räuber“ (1781), Szene I/2: „du bist ein großer Mann! – oder es hat ein blindes Schwein eine Eichel gefunden.“ gefunden habe. Es giebt zwar | auch welche die behaupten, ein Schwein habe eine taube Eichel gefunden, aber ihre Stimme hat bis jetzt noch öffentlich nicht laut zu werden vermocht. Du wirst es ermüdentSchreibversehen, statt: ermüdend. finden, daß ich mich immer noch an diesen ersten Erfolg anklammere, daß ich immer noch darauf zurückkomme. Aber es ist ja wie gesagt bis jetzt mein einziger, und beginnt mir jetzt, wo ich darüber hinaus kommen muß erst fatal zu werden. Du siehst liebe Mama, daß ich dir viel erfreulichesSchreibversehen, statt: Erfreuliches. von mir nicht schreiben kann. Und da ich weiß daß du nur das Erfreulichste von mir erwartest, so habe ich es vielleicht dann und wann vorgezogen mich in geheimnißvolles Stillschweigen zu hüllen. Ich verspreche dir | dafür, wenn ich einmal im Erfolg sitze, um so gesprächiger werden zu wollen.

Was Donald betrifft, so werden sich seine PersonalienDonald Wedekinds Geburt am 4.11.1871 war im „Geburts- und Taufbuch der Parochie Gartenkapelle“ in Hannover die „Geburtsanzeige eines namenlosen Knaben“ [Kreter 1995, S. 45] und erst am 29.2.1872 eingetragen worden [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 163]. in Hannover jedenfalls nicht leicht erledigen auffinden lassen, da er unter dem Namen Donald wol kaum in irgend einem Register erwähnt ist. Ich werde ihm das selber schreiben. Die Kirche zu der wir gehörten ist mir vollkommen unbekannt. Es ließe sich daß/s/ aber jedenfalls auf dem Standesamt unseres Quartiers leicht erfragen und das Standesamt muß Einem in dem betreffenden Quartier jeder DienstSchutzmann bezeichnen können. Es freut mich zu hören, daß Donald in Rom nun doch ernstliche SchritteDonald Wedekind bereitete in Rom die Publikation seiner Erzählung „Eine Auswandererfahrt im Jahre 1889“ vor (siehe seine Korrespondenz mit Frank Wedekind). | für seine Laufbahn thut. Er nimmt seine Sache ernst und das ist an sich schon sehr viel werth. Donald beurtheilt sich selber mit der größtmöglichsten Nüchternheit. Er weiß daß er leicht unglücklich sein kann und sucht sich davor zu schützen. Wenn ihm das gelingt wird er auch vor dem schrecklichsten aller Schrecken geschützt sein, nämlich davor, Andere unglücklich zu machen. Bei einer so heiklen Natur, wie sie Donald mit auf die Welt gebracht kann man meines Erachtens dem Himmel nicht genug danken, daß er ihm dabei eine Objectivität sich selbst gegenüber verliehen, wie sie in seinen Jahren gewiß nur wenig Menschen besitzen. Wenn du den Weg den er einschlägt von dieser Seite aus betrachtest, wüßte ich wirklich nicht wie du anders als mindestens zufrieden darüber sein könntest. Vor mir hat er doch den enormen Vortheil, daß er ge auf jeden Fall einer gesicherten | Existenz entgegengeht. Dabei hält er sich in der Sphäre gebildeter Menschen was wol auch nicht zu unterschätzen ist. Was sich später dann daraus ergiebt läßt sich ja in aller Ruhe abwarten. Franz Lißt war gleichfalls PriesterFranz List „erwog nur, Priester zu werden, beeindruckt von Abbé Félicité de Lamennais [...], einem sozial engagierten Priester und Philosophen“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 163], war dann aber als Musiker erfolgreich. Donald Wedekind „konvertierte“ in Rom „zum katholischen Glauben und nahm sich vor, in ein Jesuitenkolleg einzutreten.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 159] und so noch viele andere, die dadurch die vortheilhafteste Carriere gemacht haben.

Mieze bitte ich meine herzlichsten Glückwünsche zu ihrem tapfern FortschreitenErika Wedekind, noch Gesangsschülerin am Königlichen Konservatorium in Dresden, die zuvor schon mehrfach Konzerteinladungen erhalten hatte, sang dann am 5.2.1893 erfolgreich in Zürich: „Vor einem ungewöhnlich zahlreichen Publikum, das den großen Tonhallesaal bis zum letzten Platze besetzt hielt, gab der Sängerverein ‚Harmonie‘ vergangenen Sonntag sein Winterkonzert. [...] In wirkungsvoller Weise läßt der Komponist eine Sopranstimme eingreifen. Dieses Sopran-Solo wurde von Fräulein Erika Wedekind aus Dresden mit großer Sicherheit und Ruhe gesungen. Die Vorzüge dieser Sängerin hatten wir im Verlaufe des Konzertes noch mehrfach kennen zu lernen Gelegenheit. Fräulein Wedekind ist eine geborene Lenzburgerin. Sie hat ihre Studien in Dresden gemacht, ist aber bis jetzt unseres Wissens nur wenige Male in der Schweiz öffentlich aufgetreten. Die Stimme ist ein reiner, heller Sopran, dessen mittlere Lagen besonders schön klingen.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 73, Nr. 40, 8.2.1893, 1. Blatt, S. (1-2)] zu übermitteln. Wenn Mieze gegenwärtig vielleichSchreibversehen, statt: vielleicht. auch noch Bedenken trägt auf mich stolz zu sein, so bin ich es jetzt doch schon im höchsten Grade auf sie und habe, mit dir, die feste Zuversicht, daß ich es immer mehr werde sein können. Ich bitte m/M/ieze noch herzlich dafür zu danken, daß sie vor zwei Monaten so v/b/ereitwillig und rasch auf meine Bitte eingegangen. Ich wollte ihr damals sofort dafür danken, habe auch damit angefangen. Der Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Erika Wedekind, 14.11.1892. Es ging um Geld aus dem vom Vater geerbten Vermögen für Wedekinds Unterhalt in Paris [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 8.11.1892], das er dann von der Mutter erhielt [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 14.11.1892]. ist aber leider | unvollendet liegen geblieben. Was ich Mieze übrigens nie in meinem Leben vergessen werde ist daß sie dich dazu vermocht hat, nach Dresden zu gehen. Ich bitte dich nur um das Eine, dich durch Miezes Stolz auf die Herrlichkeiten ihrer neuen Heimath nicht etwa dazu verleiten zu lassen, dich mit dem Aufnehmen von ermüdenden Eindrücken zu überstürzen. Ich bitte das Mieze in meinem Namen zu Gemüthe zu führen. Sie weiß noch nicht daß ein wahrer Genuß viel mehr ermüdet als die anstrengensteSchreibversehen, statt: anstrengendste. Arbeit. Sie weiß vielleicht auch noch nicht, daß man wenn man das Theater wirklich zu schätzen weiß, so selten wie möglich hineingeht, wenigstens nur dann wenn man das Bedürfniß dazu hat, indem die Freude wächst mit der Größe des Bedürfnisses. |

Vor allem freut es mich daß dir der Zwinger„Gebäudekomplex“ in Dresden „mit Gartenanlagen und dem Museum“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 163], dort auch die Gemäldegalerie (siehe unten). zu einer Genußquelle geworden. Da braucht man sich in seiner Behaglichkeit nicht stören zu lassen. Wenn du mit den neueren Bildern fertig geworden findest du an den älternden älteren Bildern von Malern der italienischen Renaissance, die Wedekind dann nennt (Tizian, Paolo Veronese, Jacopo Palma il Vecchio), in der „Gemäldegalerie“ im „Museum im Zwinger [...] in den westlichen Sälen [...] sowie in dem mit der Galerie durch einen bedeckten Gang verbundenen südwestlichen Zwingerpavillon die italienischen Schulen“ [Wohnungs- und Geschäfts-Handbuch der Königlichen Residenz- und Hauptstadt Dresden für das Jahr 1893, Teil II, S. 8]. vielleicht umso mehr gefallenSchreibversehen, statt: Gefallen., an der edlen Farbenpracht eines Titian, an der Großartigkeit eines Paul Veronese. Wenn ich mich recht erinnere ist auch die Fürstin von Urbino von TitianWedekind kannte Tizians Ölgemälde ‚Venus von Urbino‘ (1538) durch die Kopie des Gemäldes (1866) von Franz von Lenbach, das in München hing [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 164], nicht in Dresden. da. In dem Venussaal zur linken hängt liegt in einer traumhaften Landschaft hingestreckt das reizende, entzückend unschuldsvolle Mädchen – es ist von Palma vecchiodas Ölgemälde ‚Ruhende Venus‘ des Renaissancemalers Jacopo Palma il Vecchio im Bestand der Königlichen Gemäldegalerie [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 164] im Museum im Zwinger (siehe oben). – das Hänschen RilowSchüler in „Frühlings Erwachen“ (1891), der in der Szene II/3 „eine Reproduction der Venus von Palma Vecchio“ [KSA 2, S. 285] „als Onanie-Vorlage“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 164] benutzt. so verhängnißvoll geworden. Wenn du ihr mal wieder gegenüberstehst, so bitte ich dich sie von Hänschen Rilow und mir zu grüßen.

Mati hat mich zu Weihnachten reich beschenktHinweis auf einen nicht überlieferten Weihnachtsbrief; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 23.12.1892. und ich habe ihr noch nicht | einmal dafür gedankt. Ich habe eine solche Menge Briefschulden, daß ich vor dem Schreiben zurückschrecke. Auch Tante Plümacher hat mir wieder geschriebenHinweis auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Olga Plümacher an Wedekind, 27.12.1892.. Sie läßt dich herzlich grüßen. Ihr Mann hat sie wieder besucht, sie selber baut Häuser, DagiDagmar Plümacher, Olga Plümachers Tochter; sie heiratete am 23.8.1898 Fred Ferdinand Bohr in Grundy (Tennessee). ist noch unverheiratet. Eine reizende Neujahrskartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Karl Henckell an Wedekind, 1.1.1893. erhielt ich von Carl Henckell. Er schreibt mir „in aller Freundschaft“ zurückgreifend auf die Tage unserer ersten Begegnungim Sommer 1886 in Lenzburg.. Er zeigt mir die Verlobung von BerthchenKarl Henckells Schwester Bertha „heiratete den Kölner Kaufmann Karl Keydel“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 164]. an aber nicht mit wem.

Ich schicke dir die herzlichsten Grüße von meinem traulichen Kaminfeuer. Wenn es auch nicht warm hält, so sieht es doch umso schöner aus. Meine Musewohl die im Pariser Tagebuch vielfach erwähnte Rachel Decoulange, wie der folgende Brief an die Mutter nahelegt [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 24.1.1892], die Wedekind am 5.6.1892 kennenlernte und mit der er bis zu seiner Abreise nach London eine Liaison hatte. ist gerade ausgegangen, um PunschessensSchreibversehen, statt: Punschessenz (= stark konzentrierte Mischung von Alkohol und Geschmackszutaten für die Herstellung von Punsch). zu kaufen. Hoffentlich kommt sie sobald nicht wieder. Auch meine Guitarre läßt dich grüßen [Notenzeichnung] | Schreibe mir doch bitte bald wieder, liebe Mama. Es interessirt mich um Deinet- um Miezes und auch um Dresdens willen, und du machst mir auf keinen Fall eine weniger große Freude damit, als ich es dir im besten Falle mit meinem Brief. Geht ihr auch hin und wieder in’s Café KönigDas Café König in Dresden (Waisenhausstraße 15, Parterre und Halb-Etage, Eingang Johannesallee) [vgl. Wohnungs- und Geschäfts-Handbuch der Königlichen Residenz- und Hauptstadt Dresden für das Jahr 1893, Teil I, S. 355, 1374; Teil II, S. 246] war ein Wiener Café.? Das muß in Mieze doch süße Erinnerungen erwecken. Man trinkt dort einen vorzüglichen Café mit Schlagrahm. Das Haus in dem ich seinerzeit logirteWedekind besuchte seine Schwester „in Dresden im Jahr 1891“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 164], wann genau und wo er logierte, ist nicht ermittelt. ist seither abgerissen. Dresden muß sich in der kurzen Zeit enorm verschönert haben. Hoffentlich genießen wir es noch einmal mit einander. Und nun leb wohl, liebe Mama. Meine herzlichsten Grüße an Mieze und dich. Küsse wag ich euch nicht zu schicken, da ich den Schnupfen habe. Grü/Me/ine besten Empfehlungen auch an die Frl. Mehringsdie Sprachlehrerinnen Maria Magdalena (Wilhelmine Berta Maria Magdalena) und Emma (Martha Maria Ernestine Antonie Emma) Mehring, die mit ihrer Mutter, der Pastorenwitwe Louise (Amalie Louise Dorothee Wilhelmine) Mehring (geb. König), seinerzeit in Dresden die Pension Mehring in der Struvestraße 16 (2. und 3. Stock) betrieben [vgl. Wohnungs- und Geschäfts-Handbuch der Königlichen Residenz- und Hauptstadt Dresden für das Jahr 1890, Teil I, S. 380, 1150]; alle drei Frauen wohnten noch im Haus, die Pension aber betrieb nun als Möbellogisvermieterin (möblierte Vermietung) nur noch die nach wie vor auch als Sprachlehrerin verzeichnete Emma Mehring [vgl. Wohnungs- und Geschäfts-Handbuch der Königlichen Residenz- und Hauptstadt Dresden für das Jahr 1893, Teil I, S. 448, 1347]. Erika Wedekind hatte anfangs in Dresden in der Pension gewohnt [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 12.12.1890] und dürfte seinerzeit noch immer dort gewohnt haben., die mich seinerzeit so freundlich aufgenommen.

Dein dich liebender Sohn
Franklin.

Frank Wedekind schrieb am 24. Januar 1893 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Paris 4. rue Crébillon.
24.I.93.


Liebe Mama,

ich habe dieser Tage die Abrechnung von meinem BuchhändlerDer Verleger Jean Groß aus Zürich hatte Wedekinds „Frühlings Erwachen“ (1891) herausgebracht. Wedekind war damals mit den Druckkosten in Vorschuss gegangen [vgl. KSA 2, S. 767]. erwartet. Er schuldet mir 200–300 frs für die in diesem Jahr verkauften Exemplare. Es ist das keine Übertreibung, da ich ja seiner Zeit die Auslagen bestritten habe. Nun schreibt er mirDer Brief ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Jean Groß an Wedekind, 22.1.1893. aber, er sei mit | der Abrechnung noch immer nicht zu Ende gekommen und bringt mich dadurch in eine momentane große Verlegenheit, zumal der Monat seinem Ende entgegen geht. – Du hattest mir seinerzeit geschriebenDer Brief ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück, Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 12.11.1892., wenn ich das übrige erbetene Geld nöthig hätte, | möchte ich es dich wissen lassen. Ich kann nun natürlich nicht auf die 1000frs rechnen; ich weiß nicht ob du sie hast und brauche sie auch augenblicklich nicht. Solltest du indessen vielleicht 200 frs übrig haben, so könntest du mich damit aus meiner Rathlosigkeit befreien. Ich wende mich damit an dich weil du seinerzeit meiner an Mieze gerichteten | BitteHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Erika Wedekind, 7.11.1892. von dir aus entgegen zu kommen so freundlich warst. Solltest du jetzt nicht in der Lage sein oder dadurch eventuell selber in Verlegenheit kommen so sei bitte so gut und schreib mir umgehend auf diesen Brief zwei Worte auf einer Carte. Ich würde mich dann an Donald wendenvgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 25.1.1893 und 5.2.1893. | der mir mit einer Kleinigkeit wenigstens jedenfalls helfen könnte.

Ich bitte dich nachträglich noch, die scherzhafte Bemerkung in meinem letzten Briefvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.1.1893. nicht etwa ernst zu nehmen. Ich biete meiner Musewohl die im Tagebuch wiederholt erwähnte Rachel Decoulange, die Wedekind am 5.6.1892 kennenlernte. Neben der ausführlich geschilderten, bis zu seiner Abreise nach London andauernden Liaison notierte er einmal: „Nachdem mir Rachel mein letztes Hemd geflickt“ [Tb 20.7.1892]. kein Obdach. Ich kann es leider nicht. Dazu ist mir schon meine Zeit und meine Freiheit zu lieb. Und wenn | sie mich alle vierzehn Tage einmal heimsucht so geschieht das ebensowohl um meine zerrissenen Strümpfe und Hemden zu flicken wie um der geistigen Inspiration willen. Wenn du sie so für deinen Sohn sorgen oder ihm auch was vortanzen sähest würdest du ihr auch im Stillen gewiß deinen mütterlichen Segen | nicht versagen können. Mieze sag bitte nichts davon. Ich wüßte nicht, wie ich ihr wieder unter die Augen treten könnte. Deswegen bitte ich dich hingegen doch, sie nicht weniger herzlich von mir zu grüßen. – Mit den besten Grüßen an dich und bestem Dank im voraus – auch wenn du nicht in der Lage sein solltest – deiner Antwort entgegenharrend,

dein treuer Sohn
Franklin.

Emilie Wedekind schrieb am 26. Januar 1893 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Armin Wedekind vom 25.2.1893 aus Paris:]


Ich habe darauf hin noch 200 frs von Mama erhalten […]

Frank Wedekind schrieb am 26. Februar 1893 in Paris folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Donald (Doda) Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

[Hinweis in Donald Wedekinds Brief an Frank Wedekind vom 1.3.1893 aus Zürich:]


Unterdessen war Mati in Lenzburg angekommen, und deine Depesche informierte uns von ihrer Ankunft.

Frank Wedekind schrieb am 8. Mai 1893 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Paris, 8. Mai 1893.


Liebe Mama,

meine herzlichen Gratulationen zu deinem GeburtstagEmilie Wedekind hatte am 8.5.1893 ihren 53. Geburtstag.. Du selber hast mir auf meinen letzten Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 20.2.1893., den ich dir nach Dresden schickte noch nicht wieder geantwortet. Indessen weiß ich aus Mittheilungen von Hami, Mieze und | DonaldVon den Briefen der Geschwister aus dem relevanten Zeitraum ist nur ein Schreiben Donald Wedekinds überliefert [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 1.3.1893]; erschlossene Korrespondenzstücke: Erika Wedekind an Frank Wedekind, 7.3.1893; Armin Wedekind an Frank Wedekind, 15.3.1893., daß du von deiner Reise im besten Wohlbefinden zurückgekehrtEmilie Wedekind kehrte Ende Februar vom Besuch ihrer Tochter Erika in Dresden nach Lenzburg zurück, vermutlich am 26.2.1893 [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 1.3.1893]. bist und reichlich zu erzählen hattest. Ich freue mich von ganzenSchreibversehen, statt: ganzem. Herzen darauf deine Erlebnisse über kurz oder lang auch mitanhören zu DürfenSchreibversehen, statt: dürfen.. Mieze soll wie mir Frl SchäppiSophie Schäppi aus Winterthur; die schweizerische Künstlerin besuchte seit 1874 die Académie Julian in Paris und hatte eine Ateliergemeinschaft mit Louise-Cathérine Breslau. Als Fayencemalerin war sie für die Keramik-Manufaktur Théodore Deck tätig. Sie zählte zu Wedekinds Kontakten in Paris; dem mit ihr befreundeten Michael Georg Conrad gab er ihre aktuelle Adresse (Avenue des Ternes 40) weiter [vgl. Wedekind an Michael Georg Conrad, 13.5.1892]. erzählte ein glänzendes ExamenAm 29.3.1893 erhielt Erika Wedekind vom Königlichen Konservatorium in Dresden das „Preiszeugnis, die höchste Auszeichnung der Anstalt“ [Dresdner Journal, Nr. 74, 30.3.1893, abends, S. 571]. hinter sich haben. | Das ist freilich von Mieze nicht anders zu erwarten und ich gratulire dir auch dazu. Daß du nach deiner Rückkehr die ungeheuren Geschäfte des UmzugesEmilie Wedekind war anlässlich des Verkaufs von Schloss Lenzburg im März 1893 ins Haus Steinbrüchli am Fuße des Schlossbergs umgezogen. glücklich erledigt, habe ich auch gehört, ebenso daß du dich hübsch und gemüthlich im Steinbrüchli eingerichtet und daß Mati jetzt seit einigen Tagen bei dir ist, was | dir, so hoffe ich von Mati, gleichfalls zur Freude gereicht. Ich habe Mati noch für ihr liebes Neujahrsgeschenkvermutlich das früher bereits erwähnte Geschenk zu Weihnachten 1892 [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.1.1893], für das Wedekind seiner Schwester noch Dank schuldete. nicht gedankt. Ich lasse sie bitten, darüber nicht ungehalten sein zu wollen. Ich werde es gelegentlich wieder gut zu machen suchen.

Ende Juni führen mich dringende Geschäftemöglicherweise zur Vorbereitung des von Wedekind angestrebten Verlagswechsels für „Frühlings Erwachen“ (1891), der im Oktober von Jean Groß zu Cäsar Schmidt in Zürich erfolgte [vgl. Kutscher 1, S. 254]. | nach Zürich und da freue ich mich dies mal wirklich wie ein Kind darauf, einige Tage in Lenzburg zu sein. Ich verspreche dir im Voraus, dir in keiner Weise zur Last fallen zu wollen. Ich werde wie Hami und Donald in der Krone wohnen und hoffe mich nur tagsüber in deiner /So/nne wandeln und mich Abends an deiner | Herzenswärme erlaben zu dürfen. Man weiß das, je älter man wird um so mehr zu schätzen, zumal wenn mann nicht verheiratet ist, was bei mir wol noch in weitem, sehr weitem Felde steht. Deine diesbezüglichen Prophezeiungen scheinen in der That in Erfüllung gehen zu wollen. Es wäre auch kein Wunder, indem | man mit jedem Jahr wählerischer wird und dabei doch schließlich an Werth als präsumtivermutmaßlicher, wahrscheinlicher. Ehegatte nicht zunimmt. Ich lebe hier jetzt im engsten Verkehr mit der alten Frau Herwegh,Die 75jährige Schriftstellerin und Politikerin Emma Herwegh, Witwe des Dichters und Revolutionärs Georg Herwegh, lebte seit 1878 in Paris und zählte dort Wedekinds Tagebuch zufolge zu seinen engen Kontakten. der ich so ziemlich alles was ich in Paris Gesellschaftliches kennen gelernt und genossen, zu danken habe. Sie hat mich mit SarasatePablo de Sarasate, berühmter spanischer Geigenvirtuose und Komponist, der das Pariser Konservatorium besucht hatte. nicht weniger | als mit einer Menge Comptessen und Marquisen bekannt gemacht. Sie hegt für alles Interesse. Sie ist ebenso jung wie alt, ebenso arm wie geehrt, ja sogar einflußreich.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Nochmals meine besten Glückwünsche. In froher Hoffnung auf baldiges Wiedersehen mit den innigsten Grüßen an Mati und dich dein treuer Sohn
Frank.

Frank Wedekind schrieb am 20. Juli 1893 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich 20. Juli 93.


Liebe Mama,

darf ich dich um die Gefälligkeit bitten, mir die beiden beigelegten Briefenicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Unbekannt an Frank Wedekind, 1.7.1893 und 10.7.1893. Um welche Briefe es sich hier handelte, ließ sich nicht ermitteln. Vermutlich bat Wedekind seine Mutter um eine Übersetzung aus dem Englischen, so dass die Briefe möglicherweise aus den USA verschickt wurden. Emilie Wedekind übersandte ihm die Übersetzungen wenig später [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 28.7.1893]. möglichst wörtlich übersetzen zu wollen und mir die Übersetzungen mit den Briefen hierher zurückzuschicken. Ich wäre dir unendlich dankbar, wenn du es tun wolltest sobald es dir deine Zeit irgend erlaubt, da sich die Angelegenheit so wie so schon bedeutend verzögert hat. Der Sinn der Briefe ist mir im großen Ganzen klar aber | ich möchte in meiner Beantwortung um alles kein Mißverständniß unterlaufen lassen.

Sag Mieze bitte, daß ich heute an die Fürstin geschriebenDie Adressatin ist nicht identifiziert, der Brief nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an eine Fürstin, 20.7.1893.. Prof. ForelDer Schweizer Psychiater Auguste Forel, Leiter der Klinik Burghölzli, galt „als Autorität auf dem Gebiete des Hypnotismus“ [Meyers Konversations-Lexikon. 5. Aufl. Bd. 6. Leipzig, Wien 1895, S. 623] und hatte der Hypnose als Behandlungsmethode zum Durchbruch verholfen. 1889 war von ihm das Buch „Der Hypnotismus und die suggestive Psychotherapie“ erschienen, das mehrfach neu aufgelegt wurde. Wedekind dürfte Auguste Forel in seiner Zürcher Studienzeit 1888 über Carl und Gerhart Hauptmann kennengelernt haben [vgl. Hauptmann 1937, S. 410-412]. war, wie ich gefürchtet, bei aller Liebenswürdigkeit, so wenig wie möglich geneigt, der Neugierde der Dame entgegenzukommen. Er gab mir die Adresse eines | praktischen Hypnotiseurs hier in Zürich, an/von/ dem sich die Dame nach Herzenslust hypnotisieren lassen könne.

SadiSpitzname von Karl Henckell. befindet sich ersichtlich auf dem Wege der Besserung und freut sich sehr auf unsere Vierwaldstätter-ExcursionDer in vier Kantonen gelegene Vierwaldstätter See, an dem sich mit dem Rütli und der Tellsplatte Schauplätze der Wilhelm Tell-Sage befinden, war ein beliebtes Ausflugsziel.. Wir erwarten nur die Befehle und Anordnungen Miezes. Prof. Forel sagte mir, er werde nun voraussichtlich für einige Zeit ins Gegen-|TheilVon psychischen Erkrankungen Karl Henckells, der offenbar bei Auguste Forel in Behandlung war, war bereits in früheren Briefen die Rede [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 8.1.1891]. übes/r/schlagen. Es sei daher nicht angezeigt, ihn nach Paris zu nehmen. Man werde ihn ohnehin eher etwas dämpfen müssen.

Im Fall Briefe an mich in Lenzburg eintreffen sollten, so hast du vielleicht die Güte sie mir hierherzuschicken. Dr. JacobiDer sozialistische Lyriker Leopold Jacoby lebte seit 1892 nach einem Schlaganfall in Zürich und wurde dort von Karl Henckell unterstützt [vgl. Mathieu Schwann: Leopold Jacoby. In: Das Magazin für Litteratur, Jg. 65, Nr. 2, 11.1.1896, Sp. 47f.]. habe ich noch nicht wieder gesehen.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Mit bestem Dank im Voraus und den herzlichsten Grüßen an Mati, Mieze und dich dein ergebenster Sohn
Frank

Hotel Pfauen Zürich

Emilie Wedekind schrieb am 22. Juli 1893 in Lenzburg folgenden Zettel
an Frank Wedekind

Anbei, mein lieber Bebi die UebersetzungenFrank Wedekind hatte seine Mutter um Übersetzung zweier Briefe gebeten [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 20.7.1893].. Ich denke u. hoffe, Du werdest sie lesen können. Ich freute mich, Dir den kleinen Dienst erweisen zu können und biete mich an, auch fernerhin auf diese Weise nützlich zu sein. Mieze u. Mati lassen grüßen und ich schließe mich ihnen an. In Liebe
Deine AlteIn den 1880er Jahren unterschrieb Emilie Wedekind noch als ‚liebende‘ Mutter, seit den 1890er Jahren betonte sie in der Grußformel ihr Alter..

Emilie Wedekind schrieb am 28. Juli 1893 in Lenzburg folgenden Zettel
an Frank Wedekind

Mein lieber Bebi!

Hoffentlich bekommst Du die Wäsche noch vor Sonntag, damit Du Dich schön machen kannst. An Deinem GeburtstagAm 24.7.1893 wurde Wedekind 29 Jahre alt. gedachte ich Deiner und hatte allerlei Wünsche für Dein Glück und Wohlergehen. Da unsere Ansichten jedoch in diesem Punkte so weit auseinandergehen so behielt ich Gedanken u. Wünsche für mich, und stelle es dem Himmel anheim, Dich, Gottweiß wie glücklich zu machen. Mieze hat mir übrigens gesagt, daß Du vielleicht bald wieder herkommst, und da alsdann Doda vielleicht auch da sein wird, so hoffe ich, noch eine recht fröhliche Zeit vor mir zu haben.

Den Korbein Wäschekorb. kannst Du mir per Gelegenheit schicken, wenn es Dir recht ist, mit Deiner schmutzigen Wäsche. Es wird zwar erst in 14 Tagen gewaschen. Somit Gott befohlen und eine TuppiKüsschen. von Deiner alten MamaIn den 1880er Jahren unterschreibt Emilie Wedekind noch als ‚liebende‘ Mutter, ab den 1890er Jahren betont sie in der Grußformel ihr Alter..

Frank Wedekind schrieb am 5. September 1893 in Paris folgende Postkarte
an Emilie Wedekind

CARTE POSTALE

Ce côté est exclusivement réservé à l’adresse.

M/M/adame
Emilie Wedekind
Lenzburg
(Argovie) Suisse |


Liebe Mama,

ich bin glücklich angelangtWedekind erreichte Paris am Morgen des 5.9.1893: „Die Umgegend von Paris im milden Morgenlicht blendet mich durch ihren paradiesischen Reiz. Im Gare de l’Est nehme ich eine Droschke, versäume leider meinen Koffer gleich mitzunehmen, und fahre in’s Hotel Mont Blanc, rue de Seine 63. Ich miethe mir ein großes helles nach dem Hof gelegenes ruhiges Zimmer im zweiten Stock, mache Toilette und fahre mit der Trambahn zum Bahnhof zurück um meinen Koffer zu holen.“ [Tb 5.9.1893].; habe die ganze Nacht durch geschlafenso auch im Tagebuch: „In Basel erobere ich mir einen guten Platz und schnarche in Gesellschaft von drei uninteressanten Herren beinah die ganze Nacht hindurch.“ [Tb 4.9.1893] und wohne jetzt 63. rue de Seine. Ich bitte dich im Fall Briefe oder andere Geschichten an mich eintreffen, sie mir umgehend herschicken zu wollen. – Mit den besten Wünschen für dein Wohlergehen und den herzlichsten Grüßen auch an Doda dein treuer Sohn
Frank.

Emilie Wedekind schrieb am 8. September 1893 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[1. Hinweis in Frank Wedekinds Tagebuch vom 10.9.1893 in Paris:]


Ich gehe nach Hause, finde auf meinem Tisch [...] einen Brief [...] von Mama.


[2. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 12.9.1893 aus Paris:]


[...] deinen freundlichen Brief

Frank Wedekind schrieb am 12. September 1893 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Paris 63.rue de Seine
Dienstag.


Liebe Mama,

ich danke dir herzlich für deinen freundlichen Nach/Brie/fnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 8.9.1893. Der Brief traf am 10.9.1893 ein, wie ein Tagebucheintrag Wedekinds belegt: „Ich gehe nach Hause, finde auf meinem Tisch […] einen Brief […] von Mama.“ und die Übersendung der/s/ Paketes. Ich muß dich nun leider mit einer unangenehmen GeschichteIm Tagebuch notierte Wedekind über einen Besuch bei Emma Herwegh: „Plötzlich unterbricht sie sich selber, sie müsse mich in einer sehr schwierigen Angelegenheit um einen Rath fragen. […] Sie fragt mich, was ich dazu meine wenn sie meine Mutter bäte, ihr bis Neujahr 200 frs vorzuschießen. Um Neujahr werde sie es ihr zurückgeben können. Sie kenne meine Mutter zwar nicht, habe sie nie gesehen, aber ob ich glaube daß sie es ihr geben würde. So überraschend mir der Vorschlag ist, lasse ich mich doch nicht aus dem Sattel heben. Ich sage ihr, es wäre doch wol natürlich, wenn sie mir diese Mission meiner Mutter gegenüber übertrage. Darin hat sie indessen kein Vertrauen. Sie sagt, sie werde ihr selber schreiben, würde es auch schon gethan haben, wenn sie sich nicht gescheut hätte, es ohne mein Mitwissen zu thun. Das wäre ihr nicht reell erschienen, wie denn die Adresse meiner Mutter sei. Meine Mutter sei ja meiner Beschreibung nach allerdings eine sehr einfache Frau, müsse auch entsetzlich heruntergekommen sein, aber wenn sie ja nur ein gutes Herz habe. Um ihrer selbst willen würde sie es nicht thun. Es handle sich aber um Marcell, den sie um alles gern vor Beginn der Saison noch für vierzehn Tage in’s Seebad reisen lassen möchte. Meiner Mutter schreibe sie natürlich nichts davon, daß es sich um Marcel handle. Sie werde so schreiben, als brauche sie die 200 frs für sich selber.“ [Tb 10.9.1893] bekannt machen, die von dir abzulenken mir nicht möglich war, so gerne ich es gethan hätte. Du wirst wahrscheinlich in den nächsten Tagen einen Brief von Frau Herwegh erhalten in dem sie dich um 200 frs anpumpt. Ich bitte dich auf keinen Fall darauf hineinzufallen, schon | deshalb nicht, weil das Geld gar nicht für sie, sondern für ihren Lumpenkerl von MarcelMit Emma Herweghs Sohn, dem Geiger und Publizisten Marcel Herwegh, traf Wedekind bei ihr mehrfach zusammen. „Er […] benimmt sich dabei so lümmelhaft, daß es mir schwer wird, ihm eine Antwort zu geben“ [Tb 5.1.1894], notierte er einmal. Und kurz darauf: „Wie er sich verabschiedet bringe ich es da noch über mich ihm freundschaftlich die Hand zu drücken aber kaum ist er draußen, so spüre ich einen grauenhaften Nervenanfall. Ich habe die Sprache verloren, ich bringe den Mund nicht auf und schlage der Länge nach auf die Diele hin. Ich fühle es wäre mir eine Wohlthat zu schreien, aber ich kann nicht.“ [Tb 7.1.1894] bestimmt ist. Da ich dir gerne jede v/w/eitere Mühe in dieser Geschichte ersparen möchte, so für/g/e ich hier einige Zeilen bei, dir/e/ du einfach abschreiben kannst, wenn sie dir passenSchreibversehen, statt: passend. erscheinen.

Sehr geehrte Frau,

da ich mich nicht in der glücklichen Lage befinde, Ihrem Wunsche entsprechen zu können, so verzeihen Sie mir, wenn ich mich auf die wenigsten Worte beschränke. Ich habe im Lauf der letzten Jahre Verluste erlitten, die mich zu erdrücken drohe/t/en und diesen Sommer, gelegentlich des Besuchs meinerKinder, mehr | geopfert als mir mein geringes Einkommen erlaubt, so daß mir für die kommenden Monate kaum mehr das wenige bleibt was ich zur Bestreitung meiner eigenen bescheidenen Bedürfnisse nöthig habe.

Seien Sie versichert, gnädige Frau, daß ich stets in meinem Leben geholfen habe, wo es mir möglich war. Ich habe wenig Menschen um mich, die n/d/as nicht schon erfahren hätten und mein Sohn wir IhnenSchreibversehen, statt: wird Ihnen. wol auch das nämliche gesagt haben. Entschuldigen Sie mich also und genehmigen Sie Versicherung meiner größten Hochschätzung.

Ergebenst
Emilie Wedekind. |

Sollte Frau Herwegh dessen ungeachtet noch einmal kommen, so antworte ihr bitte nicht mehr. Sie hat Bekannte die zehnmal reicher sind als du, mit denen sie aber die Freundschaft nicht verderben will. Ich/Es/ thut mir wie gesagt leid, daß ich dich in diese Angelegenheit verwickelt habe. Sie hat die Geschichte aber mit einem Raffinement eingefädelt, die/a/s einer SpitzederAdele Spitzeder war eine bekannte Betrügerin, die eine Privatbank gründete zur Veruntreuung der eingezahlten Gelder. Diese sogenannten „Dachauer Banken“ waren „Schwindelanstalten, die 1871 und 1872 in München bestanden und gegen sehr hohe Zinsen Depositengelder auf kurze Kündigung annahmen, indem sie darauf rechneten, aus immer weiter folgenden neuen Einlagen Verzinsung und etwanige Kapitalrückzahlungen bestreiten zu können. […] Die bekannteste der Anstalten war die der ehemaligen Schauspielerin Adele Spitzeder, die 20. Juli 1873 wegen betrügerischen Bankrotts zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Die Einlagen bei der Spitzeder berechneten sich auf ungefähr 8 ½ Mill. Gulden, von ca. 30,000 Gläubigern.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 5. Aufl. Bd. 4. Leipzig, Wien 1894, S. 465]. würdig wäre. Sie selber ist dessenungeachtet eine famose Frau. Was sie in dieser Hinsicht unternimmt das fällt wie gesagt alles auf Rechnung ihres Mustersöhnchens.

Paris habe ich diesmal schöner gefunden als je vorher. Tante Pl. schreibt mir einen dicken Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Olga Plümacher an Frank Wedekind, 28.8.1893. Der Brief erreichte ihn am 10.9.1893: „Ich gehe nach Hause, finde auf meinem Tisch […] einen Brief von Tante Plümacher“ [Tb].. Was nicht geschäftlich ist, schicke ich dir hier mit. Vielleicht schreibst du ihr doch mal wieder im Laufe des Winters. Und nun leb wol/h/l liebe Mama. Nochmals mit bestem Dank dein treuer Sohn
Frank.

Emilie Wedekind schrieb am 14. September 1893 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

Frank Wedekind schrieb am 16. September 1893 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama,

in aller Eile besten Dank für deinen freundlichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 14.9.1893.. Frau H.Emma Herwegh wollte sich, wie Wedekind in seinem letzten Brief an die Mutter schrieb [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 12.9.1893], mit der Bitte um Geld an sie wenden. Wedekind hatte seiner Mutter mit dieser Ankündigung auch einen ablehnenden Antwortentwurf auf das erwartete Bittschreiben formuliert. hat sich vortrefflich mit der Sache abgefunden. Der BriefDer Brief Emilie Wedekinds an Emma Herwegh ist nicht überliefert. hat ihr außerordentlich imponirt. Ich hatte mir alle erdenkliche Mühe gegeben, sie von dem abenth/e/uerlichen | Unternehmen abzubringen. Es war indessen alles umsonst. Dagegen hat sie durch meine Vermittlung jetzt wenigstens 150 frs von einer deutschen Verlagsanstalt für ihrSchreibversehen, statt: ihre. Spritzlederbro|chüreUm den Revolutionär Georg Herwegh zu diskreditieren, wurde von seinen politischen Gegnern die Anekdote kolportiert, er habe nach dem Sieg der württembergischen Truppen über die Deutsche Demokratische Legion bei Dossenbach am 27.4.1848 nur entkommen können, da er sich unter dem Spritzleder einer Kutsche versteckte, die von seiner Frau gesteuert wurde. Emma Herwegh hatte diese „allerliebste Geschichte […], welche die Runde durch alle wohlorganisirten Lügenbureaux deutscher Journalistik gemacht hat“ [Emma Herwegh: Zur Geschichte der deutschen demokratischen Legion aus Paris. Grünberg 1849, S. 54] in einer Broschüre bereits frühzeitig dementiert. Wedekind hatte für deren Neupublikation einen Kontakt zum Verlag von Johann Heinrich Wilhelm Dietz in Stuttgart hergestellt: „Dietz in Stuttgart hat ihr auf meine Veranlassung hin ein Anerbieten von 150 frs für ihre Brochüre gemacht, die er zu Feuelletons verwenden wollte. Sie hat es ausgeschlagen, dazu sei ihre Brochüre zu gut. Ich sage ihr, die Feuelletons wären doch in jedem Fall eine Reclame für ihre Brochüre gewesen und die 150 frs hätte sie gewissermaßen geschenkt gehabt. Sie bittet mich noch einmal an Dietz zu schreiben. Ich verspreche es ihr so unangenehm es mir ist.“ [Tb 6.9.1893]. Ob es zu einer Verwertung des Textes durch Dietz kam, ist unklar. Wiederabgedruckt wurde der Text der Broschüre in der von Marcel Herwegh herausgegebenen und bei Albert Langen erschienenen Briefausgabe Georg Herweghs [vgl. 1848. Briefe von und an Georg Herwegh. Hg. von Marcel Herwegh. Albert Langen. Paris, Leipzig, München 1896, S. 127-214] – nun mit der Angabe des Urhebers der Legende in einer Fußnote. erhalten. Im übrigen geht es mir soweit sehr gut. Indem ich

von Herzen das nämliche für dich hoffe dein tr. S.
Frank.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
im Steinbrüchli
in Lenzburg.

Frank Wedekind schrieb am 15. August 1894 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Paris 15.8.94.
45 rue Monsieur le Prince.


Liebe Mama,

jetzt komme ich auch noch an dich. Du wirst es erwartet haben. Aber ich komme mit einer bescheidenen Bitte, so bescheiden wie es mir meine Verhältnisse erlauben. Ich bitte dich, mir die Summe von frs 150 leihen zu wollen. Wenn ich nicht sehr viel verlieren willenSchreibversehen, statt: will., so | muß ich noch 14 Tage hier in Paris bleiben. Für diese 14 Tage fehlt mir das Geld. Nach her gehe ich nach BerlinWedekind verließ Paris erst im Januar 1895 und traf am 20.1.1895 in Berlin ein [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 169].. Das Geld für die Reise steht mir zur Verfügung.

Du hattest mich diesen Sommer so freundlich eingeladen. Ich konnte mit gutem Gewissen nicht darauf eingehen, da ich mir jetzt keine Ruhe gönnen darf.

Mieze und Donald haben mir schon einmal ausgeholfen. Du wirst es von Hammie erfahren haben. Aber ich werde an Niemanden | zwei Mal gelangen. Ich wende mich jetzt an dich weil du mir letzten Sommer für den Nothfall deine Hülfe angeboten und weil du mir diesen Sommer eine Wohlthat zugedacht, die ich nicht annehmen konnte.

Ich weiß, liebe Mama, wie du über mich denkst. Das macht es mir sch nicht leicht, dich um das Darlehen zu bitten. Aber ich habe erstens werthe Menschen genug um mich her, die besser von mir denken. Ich denke auch besser von mir. Das giebt mir den moralischen Muth dich darum zu bitten. |

Wenn du mir den Gefallen erweisen willst, so thue es bitte so rasch wie möglich, denn ich hätte nicht geschrieben, wenn ich nicht am äußersten wäre. Darf ich dich dabei darum bitten, Hammi nichts davon sagen zu wollen. Was die Übrigengemeint sind die übrigen Geschwister. betrifft so habe ich keine Geheimnisse vor ihnen.

Wenn du mir das Geld nicht leihen kannst, so schicke mir bitte umgehend eine Carte. Ich rechne zuversichtlich darauf, daß du mich gleich benachrichtigst, wenn es dir nicht möglich ist, mir zu helfen. Ich gebe dir im Voraus die | Zusicherung, daß es in meinen Gefühlen Dir gegenüber nichts ändern wird, indem ich immer von deinem besten Willen überzeugt bin.

Aus einem Brief von DodaGemeint ist vermutlich eine Postkarte von Donald Wedekind, auf der es nach den vorangegangenen brieflichen Mitteilungen über den schlechten Gesundheitszustand der Mutter nun hieß: „Mama geht es bedeutend besser.“ [Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.6.1895] erfahre ich daß es dir umvielesSchreibversehen, statt: um vieles. besser geht. Ich habe mich herzlich darüber gefreut, daß du dir diesen Sommer endlich auch einige Erholung gegönnt hast. Während du den Winter so krank warst hat mich nichts von der Überzeugung abgebracht, daß nur die körperlichen und G/g/eistigen | Entbehrungen, die du dir zugemuthet, Ursache der Krankheit waren. Die Gefälligkeit um die ich dich jetzt bitte, ist eine Kleinigkeit. Den größten Dienst wirst du mir immer damit erweisen, wenn Du dich selber geistig und körperlich so frisch und gesund erhältst wie es dir irgendwie möglich wird.

Grüße mein liebes Mati vielmals und sei selber aufs herzlichste

gegrüßt von deinem treuen Sohn
Frank.

Emilie Wedekind schrieb am 18. August 1894 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 20.8.1894 aus Paris:]


[…] ich danke dir aufs herzlichste für das Geschenk aber noch viel mehr für den lieben freundlichen Brief.

Frank Wedekind schrieb am 20. August 1894 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Paris 20.8.94.
45 rue Monsieur le Prince


Liebe Mama,

ich danke dir aufs herzlichste für das GeschenkOb es sich dabei um das zuletzt von Frank Wedekind erbetene Geld handelt, ist unklar. aber noch viel mehr für den lieben freundlichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 18.8.1894.. Er war mir eine wahre Stärkung. Das wirkt nachhaltiger als irgend eine Ermahnung deren ich übrigens auch nicht bedarf, indem ich in jeder Beziehung nur mein bestes thue. Was nun Mietze betrifft, so scheint mir die Sache nicht so verzweifelt. Daß die Affaire W. OschwaldDie Beziehung zwischen Wedekinds ehemaligem Mitschüler Walther Oschwald und seiner Schwester Erika war nur vorübergehend unterbrochen, sie heirateten am 15.10.1898 in Baden (Kanton Aargau). zum Abschluß gekommen, freut mich in jeder Beziehung. | Ich werde ihr in den nächsten Tagen einen Brief schreibenKorrespondenz mit Erika Wedekind aus dieser Zeit ist nicht überliefert., ohne die Geschichte mit einem Wort zu berühren, und um sie zu ermuthigen. Ich glaube, daß/s/ ist auch das einzige was du thun kannst. Ich würde es mir auch noch überlegen an deiner Stelle, ob es nicht doch für dich wie für sie und vor allem auch für Mati besser ist, wenn du den Winter nach Dresdenum Erika Wedekind zu besuchen, die dort seit Frühjahr 1894 an der Hofoper als Sängerin engagiert war. gehst. Jedenfalls mußt du dich jetzt vor Einsamkeit und vor Mangel an Bewegung sehr in Acht nehmen. In Dresden bist du allerhand Erkältungen ausgesetzt aber das gesteigerte Lebensinteresse wird einen Rückfall nicht aufkommen lassen. Du wirst gut essen und trinken und dir viel Bewegung machen, ohne es selber zu merken. | Ich glaube auch daß an deiner Erkrankung vor allem der Luftwechsel schuld war, der plötzliche ÜbergangNach dem Verkauf von Schloss Lenzburg im März 1893 war Emilie Wedekind in das Haus Steinbrüchli am Fuße des Schlossbergs gezogen. nach ununterbrochenem zwanzigjährigen Aufenthalt in/au/f dem Schloß in die dumpfe Athmosphäre des Steinbrüchli. Nimm dich deshalb vor dem Steinbrüchli in Acht. Je mehr du gegenwärtig deinen Aufenthalt wechselst, um so weniger wird der Wechsel in die WagschaleSchreibversehen, statt: Waagschale. fallen.

Wenn Miezte über dem Bruch mit W. Oschwald leidet so ist das eine gewisse Garantie dagegen, daß sie sich morgen oder übermorgen wieder in irgend einer unsinnigen Weise verlobt. Vielleicht lernt sie dabei auch, ihre Kunst um ihrer selbst willen und nicht um W. O’s willen lieben. Wenn es mir irgendwie möglich wird, so werde ich sie besuchen. | Ich glaube, daß ich eventuell ermutigend und beruhigend auf sie wirken kann und ihr ein wenig Fassung geben. Dazu muß ich aber natürlich selber die Ellbogen frei haben. Ich erwarte hier in den nächsten Tagen meinen VerlegerBereits seit Januar stand Wedekind in Paris in Kontakt mit Albert Langen wegen einer Übersetzung von „Frühlings Erwachen“ ins Französische, zu der es allerdings nicht kam: „Stehe sehr spät auf und fahre, ohne dejeunirt zu haben zum Buchhändler Langen, 112 Boulevard Malsherbes. Ich gebe ihm mein Buch.“ [Tb 18.1.1894]. Daneben beabsichtigte er „Die Büchse der Pandora“ bei Langen erscheinen zu lassen [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 14.4.1894], die er in London fertiggestellt hatte. Die Verhandlungen mit Langen führten zu einer Umarbeitung der Monstretragödie zu dem vieraktigen Stück „Der Erdgeist“ (die beiden letzten Akte wurden zum zweiten Teil der Doppeltragödie, dem dreiaktigen Stück „Die Büchse der Pandora“) [vgl. KSA 3/II, S. 833f.]., dann wird sich das weitere zeigen.

Und nun leb wol liebe Mama. Nochmals besten Dank und die herzlichsten Wünsche für dein Wohlergehen. Grüße Mati aufs beste wenn sie zurück kommt. Meiner neuen NichteAm 4.8.1894 war Charlotte Luise Wedekind als viertes Kind von Armin und Emma Wedekind geboren. wünsche ich alles Gute fürs Leben. Vielleicht erfahre ich auch noch gelegentlich wie sie heißt.

Mit herzlichem Gruß dein treuer Sohn
Frank.


[Kuvert:]


Suisse

Madame Emilie Wedekind
Lenzburg
(Aargau)

Frank Wedekind schrieb am 21. Juli 1895 in Zürich folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 2.8.1895 aus Zürich:]


Ich bitte dich also aufrichtig um Verzeihung, liebe Mama, wegen des Briefes den ich dir schrieb.

Emilie Wedekind schrieb am 23. Juli 1895 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 2.8.1895 aus Zürich:]


[…] aus dem Brief, den du mir zu meinem Geburtstag schriebst […]

Frank Wedekind schrieb am 2. August 1895 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama,

aus dem Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1895., den du mir zu meinem Geburtstag schriebst, konnte ich mit dem besten ehrlichen Willen kein herzliches Wort herauslesen. Ich las nichts heraus als den Hohn und die Vorwürfe, die ich, wenn ich deiner EinladungTatsächlich folgte Wedekind der Einladung der Mutter und fuhr am 4.8.1895 nach Lenzburg [vgl. Frank Wedekind an Hans Kaeslin, 6.8.1895]. Folge leiste, am dritten, wenn nicht schon am zweiten Tage zu hören bekommen würde. Am Abend | desselben Tages kam MiezeErika Wedekind war am 7.7.1895 als Solistin in der vom Musikverein Lenzburg veranstalteten Aufführung von Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ in Lenzburg aufgetreten [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 116, Nr. 175, 26.6.1895, Erstes Abendblatt, S. (4)] und blieb danach offenbar gut drei Wochen in Lenzburg., der gegenüber ich mich in meinen Briefen und wo ich sie sonst getroffen, so correct benommen wie sich ein Mensch nur benehmen kann und beschuldigt mich der Erpressung. Mir ist das Leben zu ernst und zu schwer als dass ich solche Dinge ruhig hinnemenSchreibversehen, statt: hinnehmen. kann. Ich bitte dich um alles, nicht glauben zu wollen dass ich mich irgendwie beklage. Wenn ich kein Geld mehr habe, so habe ich es dafür weiter in der Welt gebracht als hunderte die den gleichen Weg mit mir eingeschlagen haben. Hätte ich | im Traum ahnen können, wie niedrig Mieze von mir denkt, dann wäre sie sicher gewesen, von mir verschont zu bleiben. Und hätte ich eine Ahnung davon gehabt, dass sie sich wieder mal verlobtder seinerzeit aktuelle Verlobte Erika Wedekinds ist nicht ermittelt. hat, dann würde ich mich gleichfalls wol besonnen haben, mich immer an sie zu wenden. Von dem Augenblick an, wo ich das erfuhr, war mir ihr Verhalten vollkommen klar, nur hätte ich geglaubt, dass sie der BettelKram, nutzloses Zeug; hier wohl im Sinne von Almosen., den ich ihr schulde, darum doch noch nicht so schwer zu drücken braucht.

Mieze stellt mir in Aussicht, dass ich mein Unrecht an dir eventuell wieder gut machen kann. Schreib mir bitte, was ich thun soll, was du | von mir forderst. Du weisst sehr wol, liebe Mama, dass ich dir nie etwas Böses gewünscht! Es ist mir in meiner Lage nur schlect/c/hterdings unmöglich, mich beschimpfen zu lassen, wie mich Mieze um deinetwillen gethan hat. Der Werth meiner eigenen Person ist in diesem Augenblick alles was ich habe und da lasse ich mir von niemandem daran rühren. In wenigen MonatenWedekind hoffte auf einen Erfolg seiner Tragödie „Der Erdgeist“, deren Publikation bei Albert Langen er in den nächsten Wochen erwartete [vgl. Wedekind an Hans Kaeslin, 6.8.1895]. werde ich darüber hinaus sein und mir den Luxus erlauben können, weniger exact zu empfinden. Vorderhand muss ich mich selber rein halten. Das ist das, was Mieze in ihrem Briefnicht überliefert, erschlossenes Korrespondenzstück: Erika Wedekind an Frank Wedekind, 30.7.1895. an mich einen moralischen Sumpf nennt. |

Ich bitte dich also aufrichtig um Verzeihung, liebe Mama, wegen des Briefes den ich dir schriebnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 21.7.1895.. Es thut mir aufrichtig leid, dir das schwere Unrecht zugefügt zu haben; es thut mir mehr leid als ein Unrecht, das man mir selber zufügt. Wenn du mir ein paar Worte schreiben willst, so kannst du sicher sein, dass du mir eine drückende Last abnimmst.

Dein treuer, dich unverändert liebender Sohn
Frank.

Universitäts Strasse 15.
3.8.95.Wie der Postausgangsstempel belegt, hat Wedekind den Brief bereits am Vortag geschrieben.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg.
Aargau.

Frank Wedekind schrieb am 29. Oktober 1895 in Zürich folgende Postkarte
an Emilie Wedekind

Postkarte.
Carte postale.
– Cartolina postale.

Nur für die Adresse.
Côté réservé à l’adresse.
Lato riservato all’indirizzo.

––––––––––

Frau Dr. E. Wedekind.
Lenzburg.
Aargau |


Liebe Mama, mein VortragWedekind, der kurz zuvor noch auf Vortragsreise war [vgl. Wedekind an Otto Eisenschitz, 7.10.1895 und 24.10.1895], bei der er als Ibsen-Rezitator auftrat und jedenfalls die Rezitation von Henrik Ibsens „Gespenstern“ anbot [vgl. Wedekind an Hans Bodmer, 24.10.1895], hat den Vortrag (eine Rezitation der „Gespenster“) unter dem Pseudonym Cornelius Minehaha im Arbeiterbildungsverein Eintracht (Präsident: Ludwig Witt) in Zürich (Neumarkt 5) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich für 1896, Teil III, S. 79] gehalten (spätestens am 28.10.1895), nachgewiesen durch eine Pressebericht (siehe unten). ist nicht sehr glänzend aber glücklich vonstatten gegangenDie Presse berichtete über Wedekinds Vortrag im Arbeiterbildungsverein Eintracht in Zürich (siehe oben): „Henrik Ibsens ‚Gespenster‘ wurden auf der kleinen Bühne des Festsaales der Eintracht am Neumarkt von dem bekannten Rezitator Cornelius Minehaha in sehr bedeutsamer Weise interpretiert. Diese Rezitation war eine wirkliche Kunstleistung, wenn man auch über das äußere Arrangement, namentlich die Markierung der verschiedenen Personen, zweierlei Meinung sein kann. Herr Minehaha markiert die Personen durch sehr geschickte Modulation der Stimme, ferner durch Platzwechsel für jedes Hin und Her eines Gesprächs, aber nur durch sehr wenig Gesten. Er ist in seinen Bewegungen sehr gewandt und fast möchte man sagen graziös. Sein Organ ist außerordentlich biegsam und so fein getönt, daß selbst die leisesten Worte zum letzten Winkel des großen, übervollen Saales drangen. Ungekünstelt, ohne den mindesten Anklang an Deklamation zauberte der eigenartige Künstler doch die Illusion der Wirklichkeit so lebensvoll hervor, daß man nur bewundernde Anerkennung über ihn aussprechen hörte. Daß diejenigen Zuhörer, welche an die feine Berechnung des Ibsen’schen Zwiegesprächs noch nicht gewöhnt sind und dieses darum noch nicht recht verstehen, eingeschlafen sind, konnte dieser Anerkennung keinen Abbruch thun. Man muß auch mit der durch das Tages Last und Müh erzeugten Müdigkeit rechnen, die das Verständnis dieser Feinheiten erschwert. Und dann ist es doch keine kleine Aufgabe volle drei Stunden einem einzigen Mann mit voller Frische zuzuhören. Es war im Gegenteil bewunderungswürdig, daß Herr Minehaha die Aufmerksamkeit der meisten Zuhörer so lange fesseln konnte. Und in welchem Grade hat er sie gefesselt! Es war rührend zu sehen, wie wachen Geistes die Mehrheit des Publikums der künstlerischen Leistung folgte. Also auch hier erwies sich das Eintracht-Publikum als ein besonders dankbares.“ [Tages Anzeiger für Stadt und Kanton Zürich, Nr. 259, 4.11.1895, 2. Beilage, S. (1)]. Darf ich dich bitten mir eventuelle Briefe zu schicken an Fr. W. Hôtel zum Goldenen Stern, SchiffländeDie Anlegestelle der Dampschiffe befand sich in unmittelbarer Nähe zum Hotel Goldener Stern am Bellevueplatz. Zürich. Ich werde vermutlich erst in drei, vier Tagen meine Sachen holen. Ich wünsche euch herzlich Glück zur ReiseEmilie Wedekind fuhr mit ihrer Tochter Emilie (Mati) mehrere Wochen nach Italien. „Wir reisen auf jeden Fall am 30. Okt. hier weg“ [AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 165.5.76], schrieb Mati ihrem Bruder Armin Wedekind am 20.10.1895 aus Lenzburg. Als Wedekinds Postkarte dort eintraf, waren Mutter und Schwester bereits abgereist.. Mit den besten Wünschen und Grüßen an Mati und Dich dein

Dankbarer
Frank.

Frank Wedekind schrieb am 22. Dezember 1895 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich, Festgasse 211 21. I. – 22.12.95.


Liebe Mama,

ich schreibe dir wegen Donald, weil ich mir anders nicht helfen kann. Ich schulde Donald 1400frs. Ich habe Mieze zwei Briefenicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Frank Wedekind an Erika Wedekind, 10.12.1895 und 15.12.1895. geschrieben, die einen Stein hätten erweichen können. Sie hat sich nicht einmal die Mühe genommen mir zu antworten. Dann besprach ich mich mit Hammi. Hammi erklärte sich bereit meine Bitte bei Mieze zu unterstützen, wenn ich Mieze notariell meinen Antheil am SteinbrüchliDas Haus Steinbrüchli war nach dem Tod des Vaters, ebenso wie Schloss Lenzburg, an die Kinder und die Mutter gemeinschaftlich vererbt worden. Nach dem Verkauf des Schlosses war Emilie Wedekind in das Haus umgezogen. verpfände. Auch darauf hat Mieze in keiner Weise geantwortet. Es wäre das ein Geschäft | gewesen auf das sich ein Schacherjude eingelassen haben würde. Meine ganze Zuversicht ist nun die, daß Donald in eurer Nähe lebt und ich habe auch vollkommene Gewißheit bei deiner Liebe zu ihm daß es ihm nicht schlecht gehen kann. Mir liegt es schwer auf der Seele, daß ich ihm auf seinen letzten Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 7.12.1895. hin keinen Trost bieten kann, da ich außer Stand bin, meine Schuld abzutragen. Ich verdiene so viel wie ich eben zum Leben brauche. Ich habe mich dessen gewiß nicht zu schämen. Hundert und hundert geachtete Schriftsteller in meinem Alter sind noch nicht so weit. Und das Geld das ich verdiene dient mir schließlich nur dazu, um | meine Stücke zur Aufführung zu bringen und auf diese Weise weiter zu kommen. Mit Donald wird es auch daran/fü/r dahin kommen, rascher und früher wahrscheinlich als mit mir, dessen bin ich vollkommen sicher. Anderseits ist Donald gesundheitlich nicht so resistenzfähig wie ich es bin. Das ist es was mir am meisten Sorge macht, ganz abgesehen von seiner hypochondrischen Gemüthsart. Wenn ich nur einen Pfennig übrig hätte, so würde ich ihn ihm schicken. Sobald ich etwas mehr verdiene als ich zum nothwendigsten brauche werde ich das auch thun, obschon ich mein Geld jeden falls zehnmal „saurer“ verdiene als Mieze. Ich beneide Mieze um ihre Hartgesottenheit nicht. Ich habe mich ihr gegenüber stets nur correct benommen. Mein einziges | Vergehen ist, daß ich ihr 1300 frs. schuldig bin. Als sie vor 14 TagenErika Wedekind gastierte am 3.12.1895 in der neuen Zürcher Tonhalle. Die Presse berichtete: „Das nächste Abonnementkonzert vom 3. Dezember bringt uns eine Sängerin, auf deren Auftreten die hiesigen Musikfreunde gespannt sind. Der Fräulein Erika Wedekind geht ein Ruf voraus, der sie neben die größten Namen stellt. Fräulein Wedekind ist in Lenzburg aufgewachsen; ihre Studien machte sie bei Fräulein Orgeni in Dresden. […] Seit dem vorigen Jahr ist sie an dem Hoftheater in Dresden engagiert […] Ihr Ruf breitete sich so schnell aus, daß sie noch in derselben Spielzeit zu Gastspielen an allen bedeutenden deutschen Bühnen eingeladen wurde. […] Die Stimme der Fräulein Wedekind ist ein außerordentlich weicher, biegsamer und in allen Lagen ausgeglichener Sopran. Die brillante Koloratur, der Fräulein Wedekind vor allem ihren Ruf verdankt, wird sie in der bekannten Verdischen Arie aus ‚Ernani‘ zur Geltung bringen, während ihr die Lieder Gelegenheit geben werden, zu zeigen, daß sie auch noch über andere Töne verfügt.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 116, Nr. 333, 1.12.1895, Beilage, S. (2)] Und nach dem Konzert hieß es: „Der Klang ihres bloßen Namens wirkte Wunder; der Zudrang war so außerordentlich groß, daß die Tonhallenverwaltung sich genötigt sah, dem Publikum auch den Verbindungsgang und den kleinen Konzertsaal zu öffnen. Eine festliche Versammlung jubelte der schweizerischen Nachtigall begeistert zu […] Brausende Beifallsstürme und ein reicher Segen von herrlichen Blumenspenden lohnten die liebenswürdige Sängerin.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 116, Nr. 336, 4.12.1895, Morgenblatt, S. (3)] hier in Zürich sang ist es ihr nicht eingefallen mir ein Billet zu schicken, und da ich augenblicklich nicht bei Casse war um mir einen guten Platz zu kaufen, war ich unter meinen sämmtlichen Bekannten der einzige der sie nicht gehört und gesehen. Sie meint wie Hammi mir sagt, ich hätte einfach kommen sollen, nachdem sie meine Briefe in der flegelhaftesten Weise ignorirt, wie sie es nie einem Fremden gegenüber thun würde und wenn es der ausgemachteste Windhund wäre. So kam es, daß ich während sie hier war die drei entsetzlichsten Tage meines Lebens durchgemacht, indem sich natürlich Jedermann bemüssigt | fühlte mir von ihr zu sprechen. Ich beneide Mieze nicht um ein Glück mit dessen Hülfe es ihr gelingt, Anderen solche Stunden zu bereiten. Dieses Erlebniß hat mich dann auch zu einem endgültigen Entschluß gebracht. Vor drei Tagen bekam ich eine BesprechungEine Erwähnung Frank Wedekinds in der „Frankfurter Zeitung“ lässt sich für den Dezember 1895 nicht nachweisen. Auch in den anderen beiden großen Frankfurter Tageszeitungen, dem „Frankfurter Journal“ und der „Kleinen Presse“, findet sich in diesem Zeitraum nichts. Insofern ist Wedekinds Angabe, er habe den Artikel dementiert, zweifelhaft. über mich von der Frankfurter Ztg in der ich wieder als der Bruder der Sängerin erwähnt werde. Ich habe sofort ein Dementi hingeschickt, daß ich weder mit der Sängerin verwandt bin noch sie überhaupt kenne. Ich bin übrigens auch fest überzeugt, daß Mieze nur erleichtert aufathmen wird, wenn sie das liest, indem sie einerseits zu dumm, anderseits zu feige ist, und nebenbei nicht s/S/tolz genug ist m hat um mich jemals | anzuerkennen. Es thut mir furchtbar leid liebe Mama daß ich dir das alles schreiben muß. Aber ich nehme, was diese Gelegenheit Sache, mein Zerwürfniß mit Mieze betrifft principiell niemandem gegenüber ein Blatt vor den Mund, da ich sonst sicher sein kann daß die Sache von der anderen Seite zu meinen Ungunsten entstellt wird. Unter all meinen Bekannten in der weiten Welt, meistens Leuten von Namen, von Auszeichnung, bin ich sicher niemanden zu haben, der nachtheilig von mir denkt ausgenommen meine Schwester. Letzten Winter in DresdenWedekind besuchte vermutlich im Februar 1895 seine Schwester in Dresden [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 174]. hätte sie mir mit einem Wort von größtem Nutzen sein können. Sie war zu feige dazu. Sie | schämte sich nicht, mir das Anerbieten zu machen, mein StückVermutlich hoffte Wedekind auf eine Vermittlung seiner Schwester Erika ans Residenztheater Dresden, um seine vor kurzem fertiggestellte Tragödie „Der Erdgeist“ dort einzureichen. Im Frühjahr 1895 hatte er das Stück (unter dem Titel „Irrlicht“) in Berlin bei Otto Brahm am Deutschen Theater in Berlin eingereicht [vgl. Frank Wedekind an die Direktion des Deutschen Theaters, 17.8.1895]. ohne meinen Namen eiz einzureichen. Pfui Teufel, das habe ich anderswo nicht nöthig.

Ich werde gereizt, wenn ich daran denke. Ich bitte um Verzeihung aber diese Denkungsart ist mir nicht verständlich. Ich würde dich nicht damit behelligen wenn es sich nicht um Donald handelte. Donald hat s alle Ursache empört über mich zu sein, indem er sich immer so anständig gegen mich benommen wie sich nur ein Bruder benehmen kann und ich ihn jetzt sitzen lasse.

Dir, liebe Mama, und Mati wünsche ich von ganzem Herzen fröhliche Feiertage. Was mich betrifft, so habe | ich gerade jetzt sehr viel zu arbeiten und wenn ich Erholung suche, so habe ich Bekannte genug in Zürich denen ich jederzeit willkommen bin, so wie ich bin, ohne daß sie mir Bedingungen über mein Benehmen stellen und mir vorschreiben was ich sagen soll und was nicht, wie Hammi das thut. Übrigens sage ich nichts gegen Hammi. Er ist zurückhaltend aber liebenswürdig und wenigstens anständig. Ich werde nie mit ihm in Streit gerathen können, da immerhin auf beiden Seiten persönliche Achtung vorhanden ist und nicht Dummheit, Beschränktheit, Feigheit und Mangel an Lebensart unser Verhältniß unhaltbar machen können.

Mit den besten Grüßen und Wünschen für dich und Mati dein dankbarer treuer Sohn
Frank.


[Kuvert:]


<lat>Frau Dr. E. Wedekind
5 Piazza di Spagna
Roma.<lat>

Emilie Wedekind schrieb am 26. Dezember 1895 in Rom folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 29.12.1895 aus Zürich:]


[…] ich habe beinahe geweint vor Freude über deinen lieben warmen Brief.

Frank Wedekind schrieb am 29. Dezember 1895 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich, Festgasse 21.I. – 29.12.95.


Liebe Mama

ich habe beinahe geweint vor Freude über deinen lieben warmen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 26.12.1895.. Mit gleicher Post erhältst du zwei Schriftstückenicht überliefert., die ich dich bitte Donald zu geben. Er wird darin aufgefordert am ersten deutschen belletristischen UnternehmenWie der weitere Brief deutlich macht, handelt es sich um die von Albert Langen herausgegebene und verlegte illustrierte Münchner Wochenschrift „Simplicissimus“. Das erste Heft – eröffnet mit Frank Wedekinds Erzählung „Die Fürstin Russalka“ [vgl. Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 1, 4.4.1896, S. 1-3] – erschien im April 1896 und enthält Gedichte von Richard Dehmel, Theodor Wolff, Georg Herwegh, Carl Busse. Donald Wedekind publizierte in den ersten beiden Jahrgängen sieben Erzählungen im „Simplicissmus“, zum ersten Mal Ende Mai die Titelgeschichte „Bébé Rose oder Der verirrte Freier“ [vgl. Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 9, 30.5.1896, S. 1-3]. mitzuarbeiten. Das Blatt bezahlt 20 pro Zeile. Das ist der größte Honorarsatz den man in Deutschland überhaupt bekommt. Außerdem stehen Donald eine Menge Zeitungen offen, die Zürcher Post die Basler Nachrichten, die schweizerische Rundschau, die allerdings weniger gut bezahlen. Das Anerbieten von Langen verdankt er lediglich seinem Roten Röckchen„Das rote Röckchen“ – Donald Wedekinds erste Novellensammlung – war 1895 bei Steinitz in Berlin erschienen.. Wenn er mit der Schriftstellerei weitermacht, kommt er vielleicht mit der Zeit am leichtesten zu irgend einer anderen einträglicheren Stellung. Ich halte es nicht für gerathen, ihn in diesem Augenblick einen anderen Beruf | beginnen zu lassen, da ich nicht glaube, daß er die nöthige Kraft dazu hat. Immerhin muß er Geld in der Hand haben und darnach werde ich mich in den nächsten Tagen auf dem Weg der AnnonceZusammenhang unklar. umsehen. In diesem Augenblick ist es mir nicht möglich da ich selber nur ein paar Pfennige habe, aber am 1. erhalte ich 200 frs.

Wenn ich bedenke, daß es in Deutschland 20000 Schriftsteller giebt und Donald mit seinen 24 Jahren es durch seine Arbeiten dahin gebracht, an den ersten Unternehmungen mitarbeiten zu können, so finde ich das allerehrenwerth. Ich wüßte unter all meinen Bekannten nicht Einen, der es dahin gebracht hätte. Hätte er irgend etwas anderes studirt so wäre er jetzt wol auch noch kaum in der Lage seinen Lebensunterhalt vollkommen verdienen zu können. Vielleicht hätte er dann noch Geld, vielleicht auch nicht. Ich werde Donald selber das nöthige über den Simplicissimus schreiben. Für ihn ist es jetzt das wichtigste, daß er seine eigene Arbeit liebgewinnt. Das wird ihn auch am ehesten aufrichten. ThomarDer Bakteriologe und Schriftsteller Elias Tomarkin war ein langjähriger gemeinsamer Freund von Armin, Frank und Donald Wedekind. dem ich Deinen lieben Brief vorlas, meinte | wir sollten ihn hierherkommen lassen, er wollte mit ihm zusammenwohnen. Aber jedenfalls hat er es bei euch in RomDonald Wedekind hielt sich wie seine Mutter und seine Schwester Emilie (Mati) in Rom auf. zehnmal besser als er es hier hätte. Ich arbeite hier an den/r/ Aufführung zweier meiner Stücke, in denen ich selber die TitelrollenDie Formulierung legt nahe, dass es sich bei den Stücken, nicht um die aktuelle Tragödie „Der Erdgeist“, sondern um den noch ungedruckten Schwank „Der Liebestrank“ (damals noch unter dem Titel „Fritz Schwigerling“) und die schon ältere Posse „Der Schnellmaler“ (1889) handelte, über den sich Wedekind zu der Zeit auch mit Franz Blei austauschte [vgl. Wedekind an Franz Blei, xx.12.1895]. Wedekinds Bemühungen blieben erfolglos. In der Uraufführung von „Der Liebestrank“ am 1.7.1898 in Leipzig spielte er den Fritz Schwigerling. spiele. Das kann mich noch zwei Monate in Anspruch nehmen. Sobald das vorüber ist, hoffe ich Donald herkommen lassen zu können.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Tausend Grüße an Mati und ebenso an Donald. Mit den herzlichsten Glückwünschen zum neuen Jahr dein dankbarer treuer Sohn
Frank. |

Privatim!!nicht öffentlich, vertraulich. Das so gekennzeichnete Blatt ist vermutlich nach dem Eintreffen von Donald Wedekinds nicht überliefertem Brief [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 27.12.1895] verfasst und von Wedekind dem zuvor bereits fertigen Brief beigefügt worden.

Liebe Mama, ich halte es für meine Pflicht, dir etwas mitzutheilen, was du zum Theil schon zu wissen oder doch zu ahnen scheinst. Donald ist krank.Wie der weitere Brief deutlich macht, hatte sich Donald Wedekind offenbar beim Besuch von Prostituierten mit Syphilis infiziert. Es handelt sich bei ihm thatsächlich um Leben und Tod. Daher hauptsächlich auch seine DepressionDer Zusammenhang zwischen der psychischen Erkrankung und der Syphiliserkrankung galt zeitgenössisch als belegt: „Aber auch die psychische Verfassung des Kranken ist zuweilen schon früh verändert, nicht sowohl durch den Gedanken, dass man sich etwa durch Unvorsichtigkeit, durch Leichtsinn eine ernste, langdauernde Krankheit zugezogen hat, als wie vielmehr durch Einwirkung des Infectionsstoffes auf die psychischen Centren. Mutlosigkeit, düstere Auffassung seines Leidens, verzweifelte Stimmung bis zu Selbstmordideen wird der Kranke trotz der ernstesten und noch so oft wiederholten Zusicherung seiner Heilung seitens des Arztes erst dann los, wenn die eingeleitete Behandlung die nachteilige Einwirkung des Krankheitsstoffes immer mehr vermindert hat.“ [Ludwig Schuster: Die Syphilis, deren Wesen, Verlauf und Behandlung. Berlin 1887, S. 13] . Er hat sich verdorben in der ersten Zeit als er in Berlin war. Er muß nothwendig unter ärztlicher Controlle stehen. Er muß wöchentlich einm/zwei/mal, mindestens einmal zum ArztSyphilis wurde zeitgenössisch durch die regelmäßige Verabreichung von Quecksilberpräparaten über einen längeren Zeitraum behandelt: „Zur symptomatischen Behandlung sind natürlich sämmtliche Quecksilberpräparate und alle diejenigen Applicationsmethoden geeignet, welche eine schnelle und gründliche Merkuralisirung des Körpers erreichen lassen. Man kann diesen Anforderungen gerecht werden durch Schmierkuren, durch innerliche Darreichung, durch hypodermatische Einspritzungen und durch Fumigationen.“ [Ferdinand Grimm: Die Behandlung der Syphilis nach den gegenwärtig üblichen Methoden. Berlin 1896, S. 84]. Als besonders erfolgversprechend galten dabei regelmäßige Injektionen von Quecksilberchlorid (Sublimat): „Georg Lewin, der Repräsentant der Berliner Schule, hat mit seinen Injectionen von Sublimat bei einem überwältigenden Materiale glänzende Erfolge zu verzeichnen.“ [Ebd.] gehen. Wenn er das thut kann er in einigen Monaten geheilt sein. Solange er Geld hatte war er gewissenhaft darin aber ich fürchte daß er sich jetzt vernachlässigt, und das wäre kurzweg das Verderben für ihn. Schicke ihn also bitte zum Arzt, unter irgend einem Vorwand, wenn er nicht selber hingeht. Deshalb meinte Thomar auch, er solle hierherkommen. Er schickt mirDer Brief Donald Wedekinds an Frank Wedekind sowie der beigelegte Brief an Erika Wedekind sind nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 27.12.1895. einen herzzerreißenden Brief an Mieze worin er ihr alles mittheilt und sie bittet ihm die Mittel zu gewähren, daß er sich behandeln lassen kann. Die Cur kann ihn monatlich immerhin 100 frs kosten, wenigstens wenn er sich an einen Specialisten wendet. Ich fürchte aber daß der Brief auf Mieze die entgegengesetzte Wirkung haben wird. Statt dessen giebt sie WohlthätigkeitsconcerteErika Wedekind hatte am 30.11.1895 „ihre magnetisch wirkende Kraft zu Aarau in den Dienst edler Wohltätigkeit [ge]stellt. Das Konzert, das hier zu Gunsten des chirurgischen Kinderpavillons in der Aarg. Krankenanstalt abgehalten wurde, gestaltete sich durch ihre Mitwirkung zu einem Tonfest auserlesener Art und verdankte derselben eine Reineinnahme von über 1500 Franken.“ [A. Niggli: Erika Wedekind, eine schweizerische Sängerin. In: Die Schweiz, Jg. 1, 1897, Bd. 1, S. 19]! | In BerlinWedekind war am 20.1.1895 nach Berlin gekommen und hielt sich dort die nächsten Monate auf. sprach ich mit seinem Arzt, als er an der BlindarmentzündungSchreibversehen, statt: Blinddarmentzündung. Der Zeitpunkt der Erkrankung ließ sich nicht bestimmen. niederlag und nichtSchreibversehen, statt: und ich nicht. zu ihm konnte, dem ersten dortigen Specialisten, Geheimrat LewinProf. Dr. med. Georg Lewin, Geheimer Medicinal-Rat, Spezialarzt für Syphilis und Hautkrankheiten und Direktor der Klinik für Syphilis in der Charité (Roonstr. 8) [vgl. Berliner Adreß-Buch 1895, Teil I, S. 790]. Von ihm stammt das Standardwerk „Die Behandlung der Syphilis mit subcutaner Sublimat-Injection“ (Berlin 1869).. Er sagte mir, es sei eine sehr leichte Attaque bei ihm und entließ ihn einige Monate darauf als geheilt. Er hat sich aber geirrt, da er in Lenzburg wieder einen Anfall hatte und auch jetzt wier er mir schreibt. Daher kommt vor allem seine absolute Muthlosigkeit. In Berlin habe ich in dieser Beziehung furchtbare Stunden mit ihm durchgemacht. Und jetzt trage ich schließlich die Schuldda Frank Wedekind die Schulden bei seinem Bruder, der offenbar um Geld gebeten hatte, nicht begleichen konnte (siehe die vorangegangene Korrespondenz mit der Mutter)., daß er seine Cur nicht fortsetzen kann. Wenn Mieze einen Funken Herz hätte, sie die ihr ganzes väterliches v/V/ermögen noch besitzt, so würde sie ihm das Nöthige zur Verfügung stellen, bis er geheilt wäre. Ich werde es noch einmal mit einem Brief an sie versuchen. Donald kann ihr durch sein Talent und seine Begabung nur Ehre in der Welt machen, sie kann nur stolz auf ihn sein. Aber auf solche Empfindungen versteht sie sich nicht. Er ist ihr höchstens im Wege, weil er kein gewöhnlicher Dutzendmensch ist. Übrigens schickst du ihr vielleicht diese Zeilen, nachdem du sie gelesen. Bis jetzt war ich der Einzige, der um die Sache wußte. Thomar hat es geahnt, so gut wie du es vielleicht geahnt hast. Aber der Brief von Donald an Mieze giebt mir wol das Recht zuerst dir davon zu sprechen. Ich werde ihn vorderhand noch nicht abschicken. Bitte, schreib mir, wenn auch nur mit ein PaarSchreibversehen, statt: paar. Worten. Seine Umgebung hat nicht das geringste zu fürchtenÜbertragungswege der Syphilis jenseits von Geschlechtsverkehr galten als sehr unwahrscheinlich., wenn er sich nur gewissenhaft behandeln läßt, aber ich glaube, daß er den letzten Rest von Un|befangenheit verlieren wird, wenn er erfährt, daß du genau um die Sache weißt.

Schreib mir bitte sofort per Carte, ob du Mieze diese Zeilen schicken willst oder nicht. Andernfalls schreibe ich noch einmal, sos/n/st schicke ich ihr nur den Brief von D.


[Kuvert:]


Madame Emilia Wedekind
5 Piazza di Spagna
Rome.

Frank Wedekind schrieb am 4. Februar 1896 in Zürich folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Zürich, Festgasse 21.I. – 4 II.96.


Liebe Mama,

erlaube mir, daß ich Dir noch einmal wegen Donald schreibe, nicht daß er mir geschrieben hätte. Ich habe seit langer Zeit keine Nachricht mehr von ihm. Ich weiß nur daß er wieder angefangen hat, Artikel für die Zürcher Post1894 war von Donald Wedekind in der Beilage der „Züricher Post“ [Nr. 29 vom 4.2.1894, Nr. 36 vom 13.2.1894, Nr. 41 vom 18.2.1894, Nr. 47 vom 25.2.1894 und Nr. 53 vom 4.3.1894] der Reisebericht „Eine Auswandererfahrt“ erschienen. zu schreiben. Aber ich möchte dir etwas vorschlagen, oder besser dich um etwas bitten, was soweit mein Ermessen reicht, das vortheilhafteste für ihn wäre, nämlich wenn du mit Mati und ihm zusammen nach Dresden gingest. Von dem was Donald jetzt verdient und bei aller Arbeit verdienen kann, kann er unmöglich schon leben. Wenn er, darauf angewiesen, hierher käme, wäre die Folge, daß er äußerlich und vielleicht auch gesundheitlich herunter käme. Ich bin jetzt soweit, daß ich ihm monatlich | dreißig Franken geben könnte aber nicht mehr. Es ist das das Geld welches mir Jemandnicht identifiziert, vermutlich einer der Verlagsmitarbeiter oder Albert Langen selbst., der bei unserer Zeitung die in München im Albert Langen Verlag ab April 1896 erscheinende illustrierte Wochenschrift „Simplicissimus“, deren erste Nummer mit Wedekinds Erzählung „Die Fürstin Russalka“ eröffnete [vgl. Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 1, 4.4.1896, S. 1-3]. Wedekind war von Anfang an stark mit Beiträgen – vor allem mit Gedichten – im „Simplicissimus“ vertreten.interessirt ist ausgesetzt hatte, damit ich bis die Sache im Gang ist, ungehinderter arbeiten konnte. Ich bin jetzt soweit, daß ich das Geld zur Noth entbehren könnte, indem ich um vieles rascher arbeiten gelernt, aber es wäre für Donald nur eine geringe Hülfe.

Ich glaube nicht, daß Mieze, wenn Du ihr davon schreibst, Donald mitzubringen, damit einverstanden wäre. Wenn du sie indessen mit ihm überraschst, dann wird sie zuerst einen schiefen Mund ziehen, wird aber, sobald sie sieht, wie Donald in der Gesellschaft aufgenommen wird, ihn gerne überall mithinnehmen. Sie wird, sowieSchreibversehen, statt: so wie. ich sie kenne, sehr überrascht darüber sein, daß man ihn um das zehnfache höher schätzt, als sie bei ihrer Art die Menschen zu beurtheilen, erwartet hätte. Das „Rote Röckchen“Donald Wedekinds erste Novellensammlung, die 1895 bei Steinitz in Berlin erschienen ist. | sowie unser Blatt, das in München erscheint und in jeder Nummer Artikel von mir bringen wird und über ganz Deutschland verbreitet sein wird, wird ihn überall, wo es etwas zu verdienen giebt aufs beste empfehlenDonald Wedekind publizierte in den ersten beiden Jahrgängen des „Simplicissmus“ sieben Erzählungen, zum ersten Mal Ende Mai die Titelgeschichte „Bébé Rose oder Der verirrte Freier“ [vgl. Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 9, 30.5.1896, S. 1-3].. Diesen Vortheil hat er jetzt in Rom nicht und würde ihn hier in Zürich nur in geringerem Maße haben. Es wird dann mit ihm gehen wie es mit mir gegangen, er wird sich zuerst sein Taschengeld verdienen, wie ich letzten Sommer in LenzburgIm Sommer hatte Wedekind „um ein sehr geringes Honorar“ [Wedekind an Hans Kaeslin, 6.8.1895] sein neues Stück „Der Erdgeist“ an Albert Langen verkauft [vgl. Wedekind an Albert Langen und Albert Langen Verlag, 10.7.1895]. und unter so günstigen Verhältnissen, vielleicht rascher als man denkt auf eigenen Füßen stehen. Mieze wird ihn durch die persönliche Nähe, und vor allem dadurch, daß sie sieht, wie ihn fremde Menschen beurtheilen, wieder liebgewinnen wovon jetzt, seiner Abenteuer wegen e. ct. wol wenig die Rede ist, und wird nichts zu bereuen haben. Donald wird davor bewahrt bleiben, äußerlich herunterzukommen, was später immer zu einem der schwersten Hindernisse wird. Ich weiß nicht wie er sich gegenwärtig fühlt und be|nimmt und wie es überhaupt mit ihm steht. Vielleicht bist du so freundlich mir etwas darüber zu schreiben. Ich habe seit Wochen keinen Brief mehr von ihm. Er schreibt mir nicht, da er weiß daß ich selber nichts übrig habe an Zeit und Geld. Ich habe wie gesagt nur für von einem Artikelnicht ermittelt (die „Züricher Post“ ist archivalisch in Deutschland nicht verfügbar). gehört den er an die Z. Post geschickt.

Aus dem beigelegten Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Albert Langen Verlag an Wedekind, 1.2.1896. wird Mati ersehen, daß ich ein Verlagsanerbieten auf den „HänsekenArmin und Frank Wedekind hatten zu Weihnachten 1879 ihrer dreijährigen Schwester Emilie (Mati) ein Bilderbuch mit Illustrationen von Armin und Text von Frank Wedekind geschenkt, das der Autor nun Albert Langen zur Publikation anbot. Die Buchfassung erschien unter dem Titel „Der Hänseken. Ein Kinderepos“ im Dezember 1896 im Verlag Albert Langen [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 284, 7.12.1896, S. 8347]. Die Illustrationen besorgte Josef Benedikt Engl unter Rückgriff auf die existierenden Vorlagen Armin Wedekinds, die sich für die Reproduktion nicht eigneten [vgl. KSA 1/II, S. 1237].“ habe. Ich zweifle noch sehr daran, daß Langen, wenn er das Buch gelesen, es wirklich nimmt. Immerhin laß ich Mati bitten, mir das Buch, wenn sie es bei sich hat hierherzuschicken, oder direct an den Verlag Langen, mich dann aber wissen zu lassen, ob sie es gethan oder nicht. Dem Buche kann nichts dabei passiren, wenn sie es recommandirtper Einschreiben. schickt. Es ist vollkommen sicher. Das neue ExemplarEine Kopie des Bilderbuches hatte Armin Wedekind bereits 1880 angelegt [vgl. KSA 1/II, S. 1236]. was Hami hergestellt, schicke ich nicht an Langen, weil ihm die Vor|züge des alten ursprünglichen fehlen. Jedenfalls würde ich darauf drängen, daß das Buch sogar im gleichen Format veröffentlicht würde. Den Brief hast du vielleicht die Güte mir zurückzuschicken.

Das Stückunklar; Wedekind erwog zuletzt, sich um die Aufführung von „Der Schnellmaler“ und „Der Liebestrank“ zu bemühen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.12.1895]., das ich hier zur Aufführung bringen wollte ist leider, da ich wochenlang nicht wol war und auch aus Mangel an Geld ins Wasser gefallen, wenigstenSchreibversehen, statt: wenigstens vor der Hand. Viel ist nicht dabei verloren, wenn auch viel zu profitiren gewesen wäre. Vor acht TagenDie Lesung fand am 24.1.1896 statt (siehe den beigelegten Programmzettel). recitirte ich im Vereinshaus kaufmännischen Vereinshaus mein Fr. Erw. mit leidlichem pecuniärem Erfolg. Die Kritik der N. Z. ZeitungDer beigelegte Zeitungsausschnitt ist nicht überliefert. Die Rezension erschien mit dem Kürzel „-b.“ unter der Rubrik „Lokales“: „Vor einem mit gespannter Aufmerksamkeit folgenden Publikum las gestern abend Herr Frank Wedekind sein großes, erschütterndes Drama ‚Frühlings Erwachen‘. Es ist doch ein eigenes Gefühl, das Geistesprodukt eines Dichters aus dem Munde des Verfassers selbst zu hören. Die Dinge wirken mit unmittelbarer Gewalt und viel überzeugender, als wenn sie erst in der Reflexion der Schauspieler oder eines Berufs-Rezitators erscheinen. Diesem Eindruck unterlag man beim Anhören von Wedekinds Dichtung, wenn schon ein gesundes Gefühl sich gegen manche allzu drastischen Einzelheiten sträuben wollte. ‚Frühlings Erwachen‘ ist eine Kindertragödie, welche pädagogische Zwecke verfolgt. Sie enthält große und unleugbare Wahrheiten, Wahrheiten, die jeder Vater, jede Mutter beherzigen sollte. Ob es aber richtig ist, diese Wahrheiten dramatisch zu verarbeiten, ist eine andere Frage. Bewundernswert ist jedenfalls der Mut und die logische Schärfe, mit welcher Wedekind die unerbittlichsten Folgerungen aus seinen Voraussetzungen zieht.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 117, Nr. 26, 26.1.1896, S. (2)]. lege ich bei. Ich habe in dem Stück nicht ein einziges Wort ausgelassen und hatte vorwiegend Damen als Publicum

Und wie geht es dir, liebe Mama. Der Winter ist bis jetzt, wenigstens für uns sehr gnädig gewesen. Ich habe die feste Überzeugung, daß dir der Aufenthalt in jeder | Beziehung und vor allen dingenSchreibversehen, statt: Dingen. durch seine Schönheit, gut thut. Meine besten Wünsche sind bei dir und mein herzlicher Dank für alles was du an mir gethan und an Donald thust. Grüße Mati und Donald aufs beste von mir. Donald darf nicht denken, ich wolle ihn hier nicht aufnehmen und alles für ihn thun. Was ich dir schreibe ist nur das, was ich für viel vortheilhafter für ihn halte. Er selber wird es nicht wagen Dich darum zu bitten, aber wenn du ihm den Vorschlag machst, wird er die Gründe einsehen. Und nun leb wohl, liebe Mama. Mit den herzlichsten Grüßen und besten Wünschen dein dankbarer Sohn
Frank.


Hammi kam vor einigen Wochen mit einer sehr schmutzigen Geschichtenicht ermittelt. zu mir. Ich habe mich dagegen verantwortet vor dem Tribunal des Dr FreyArmin Wedekinds Schwiegervater, der Bezirksarzt Dr. Gottlieb Frey. wohin er mich citirt. Beide können dir die Versicherung geben, daß ich nichts mit der Sache zu thun habe. Wenn mich Mieze vor der ganzen Welt bloßstellt und blamirt, kann sie nicht erwarten, daß ich auch noch in ihrem Interesse und zu meinem Schaden den Mund halte. Übrigens habe ich von keiner anderen Seite etwas gehört und gelesen. Ich bin ziemlich sicher, daß nicht ein Funken Wahrheit an der Sache ist.

Bitte Mati, mir sobald als möglich zu antworten.


[Beilage:]


Freitag, den 24. Januar
im Saale des kaufmännischen Vereinshauses,
Sihlstrasse (Seidenhof):

Frühlings Erwachen
Eine Kinder-Tragödie.

–––––––––––––

Dramatische Dichtung von Frank Wedekind.

–––––––––––––

Vorgetragen vom Autor.

Entrée: Fr. 1.– Beginn 8¼ Uhr.

Das Programm dient als Eintrittskarte.

J. SCHABELITZ, ZÜRICH.


[Kuvert:]


Madame Emilia Wedekind
5. Piazza di Spagna

Roma.

Frank Wedekind schrieb am 10. Mai 1896 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München, Adalbertstraße 34. – 10 Mai 96.


Liebe Mama,

heute sehe ich auf einmal mit Schrecken daß schon der 10. ist. Ich habe mich seit 8 Tagen nicht mehr um das Datum gekümmert. Das kann dich bei JemandenSchreibversehen, statt: Jemandem. der in seinen Gedanken lebt, nicht Wunder nehmen. Ich bitte dich, nachträglich noch meine herzlichsten Wünsche zu Deinem GeburtstagEmilie Wedekind hatte am 8.5.1896 ihren 56. Geburtstag. e/h/inzunehmen und noch einmal meinen Dank für deine Güte, der ich mein jetziges relatives Wohlbefinden verdanke. Ich habe nur noch Dich, du bist die Einzige, der ich zum Geburtstag gratuliere. Donald und Mati, die ich nicht weniger liebe, habe ich es nie gethan. Du wirst es mir also nicht zu schwer verdenken, wenn ich zwei Tage zu spät komme.

Da ich seit meinem HierseinWedekind war seit dem 21.3.1896 in München (Adalbertstraße 34, Parterre) bei der Bankbeamtenwitwe Anna Flohr gemeldet [vgl. EWK/PMB Wedekind]. von Niemanden, außer Donald, etwas gehört habe, so hoffe ich annehmen zu dürfen, daß es dir gut geht, daß du dich in DresdenEmilie Wedekind besuchte gemeinsam mit ihrer Tochter Emilie (Mati) bis Ende des Jahres ihre Tochter Erika in Dresden (Struvestraße 34, 3. Stock) [vgl. Adreßbuch Dresden 1896, 1. Teil, S. 850]. | wieder vollkommen eingewöhnt hast und dich des Aufenthaltes von Herzen erfreuen kannst. An Gesellschaft wird es dir jedenfalls nicht fehlen, vielleicht auch nicht an Sorgen, an Anregung und das ist meiner unmaßgeblichen Ansicht nach das allerbeste für deine Gesundheit, denn deine schwere Krankheit war doch nichts als die Folge von Mangel an Lebensmuth, als die Folge der Einsamkeit. Daß man sich geistig wohlfühlt ist für die körperliche Gesundheit vortheilhafter als alle Ärzte, Medicinen und Kuren.

Was mich betrifft, so geht es mir gut, jedenfalls bin ich im besten Fahrwasser. Ich habe die Möglichkeit an meinen eigenen Sachen zu arbeiten, solang ich Geld in der Tasche habe und wenn ich welches brauche, schreibe ich eine Novelle oder ein GedichtNach der Publikation der Erzählung „Die Fürstin Russalka“ in der ersten Nummer des „Simplicissimus“ [vgl. Jg. 1, Nr. 1, 4.4.1896, S. 1-3] erschienen von Wedekind dort im Jahr 1896 noch die Erzählungen „Der greise Freier“ und „Die Liebe auf den ersten Blick“ sowie zehn Gedichte und sieben fiktive Interviews., das mir augenblicklich honorirt wird. Vier Stunden arbeite ich täglich auf der RedactionDie Redaktion der von Albert Langen verlegten und herausgegebenen Münchner illustrierten Wochenschrift „Simplicissimus“ hatte 1896 ihren Sitz zunächst in den Verlagsräumen des Albert Langen Verlags in der Kaulbachstraße 51a [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1896, Teil I, S. 267]. ohne fest engagirt zu sein, Das wird mir gleichfalls anständig bezahlt. Außerdem gelingt es mir hie und da eine | Zeichnung zu verkaufen, Sachen die ich vor fünf Jahren in München erworben und die seither bedeutend im Preise gestiegen sind.

Daß Donald mit seinen 24 Jahren noch nicht so weit ist, kann keinen vernünftigen Menschen wundern. Seine Bébé RoseDonald Wedekinds Erzählung „Bébé Rose oder Der verirrte Freier“ erschien Ende des Monats [vgl. Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 9, 30.5.1896, S. 1-3]. ist gedruckt, ich habe heute die Correctur besorgt. Erscheinen wird sie aber erst in 3 Wochen; in der 9. Nummer des S. Donald schrieb mir verschiedentlichDie Briefe Donald Wedekinds aus Paris sind nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 16.4.1896 (und mindestens ein weiteres verschollenes Schreiben). von Paris. Daß er mit seinen 150frs nicht ganz auskommt, besonders bei seinem Unwohlseinaufgrund seiner Syphiliserkrankung und ihrer Behandlung [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.12.1895]. wundert mich durchaus nicht. Ich habe ihm dreimal hintereinanderDie Begleitschreiben zu den Geldsendungen sind nicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 4.4.1896, 11.4.1896 und 18.4.1896. An diesen Tagen erschienen die ersten drei Nummern des „Simplicissimus“, in denen Texte von Frank Wedekind publiziert wurden, für die er Honorar erhalten haben dürfte. Der nächste Beitrag von ihm erschien am 9.5.1896. die Hälfte von dem „sauerverdienten Geld“ geschickt, das ich gerade als Honorar erhalten. Ich bitte dich jetzt nur um das Eine, und das wäre ja eigentlich Mati’s Sache, nämlich mit ihm in Correspondenz zu bleiben und ihm hin und wieder kleine Summen, 30 oder 40 Mk. zu schicken, wie ich es gethan habe und auch fernerhin thun werde, wenn es mir irgendwie möglich ist. Ich hals/t/e es für eine heilige Pflicht desjenigen der sich in glücklichen Verhältnissen befindet, mit dem Andern wenigstens in Beziehungen | zu bleiben. Das Elend entschuldigt manche Taktlosigkeit, manche Vernachlässigung. Das Glück entschuldigt nichts. Leute wie Mieze, die immer den Tisch voll Essen vor sich gehabt haben, können das nicht begreifen. Sie würde einem, der am Galgen hängt, noch allerhand übelnehmen, sonst wäre ich wol auch schwerlich jemals mit ihr in Streit geraten. Mieze weiß nicht, wieviel ein knurrender Magen sogar vor Gericht entschuldigt.

Ich sage das alles jetzt nicht für mich, sondern für Donald, als Beweis dafür, daß es an uns ist, mit ihm in Beziehung zu bleiben.

Ich hoffe sehr liebe Mama, daß Du mich auf deiner Rückreise, besuchen wirst. und hoffe auch, daß es noch eine geraume Zeit ist bis s/d/ahin, erstens weil ich glaube daß dir der Aufenthalt in Dresden um vieles vortheilhafter ist als der in Lenzburg und zweitens, damit ich dich um so besser empfangen kann.

Noch einmal meine herzlichsten Glückwünsche und die besten Grüße von deinem DankbarenSchreibversehen, statt: dankbaren. treuen Frank.


Mati magst du auch grüßen, wiewol sie mich in Zürich nicht besucht und Mieze meinetwegen auch.


[Kuvert:]


Madame Emilie Wedekind
Struve Strasse 34.
Dresden.

Emilie Wedekind schrieb am 30. Juli 1896 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis und Zitat in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 1.8.1896 aus München:]


[…] besten Dank für Deine herzlichen Zeilen. […] Wenn du in deinen freundlichen Zeilen schreibst: „Wenn ich fröhliche Mütter von ihren Söhnen erzählen höre, dann möchte ich am liebsten tief unter dem Boden liegen“

Frank Wedekind schrieb am 1. August 1896 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München 34. Adalbertstraße. – 1. August 96.


Liebe Mama,

besten Dank für Deine herzlichen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 30.7.1896.. Sie enthalten nur einen Irrthum. Du scheinst vorauszusetzen, daß ich mich jemals in einer nicht ehrenvollen Stellung befunden habe. Das ist nicht wahr. Wenn ich zeitweise nichts zu essen hatte, so ist das besseren Menschen als ich bin auch passirt und giebt niemandem Grund, meine Ehre in Zweifel zu ziehen. Irgend ein f/F/remder hat es auch noch nicht gethan.

Was Donald betrifft, so soll er wenn ihm die Mittel ausgehen, nur | ganz ruhig hierherkommen. Ich glaube zwar nicht, daß sich sofort etwas passendes für ihn finden wird. Aber das macht gar nichts. Ich werde ihm meine Stellung hier, meine ArbeitWedekind arbeitete auf Honorarbasis in der Redaktion der neu gegründeten, im Albert Langen Verlag in München erscheinenden illustrierten Wochenschrift „Simplicissimus“ [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 10.5.1896]. e. ct., alles was ich mir in diesem halben Jahre errungen, mit Vergnügen abtreten. Mir selber kann es Gott sei Dank nicht mehr schlecht gehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ich ziemlich viel erreichen kann. Ich gehe einfach nach Dresden und schaffe mir dort einen anderen Wirkungskreis. Ich wähle Dresden weil ich dort eine Menge persönliche Freunde und Verehrer habe.

Daß Mieze Donald noch 600 frs geschickt hat ist sehr schön von ihr. Ich sprach schon vor mehreren Wochenvermutlich bei einem gemeinsamen Anlass; nicht ermittelt. mit | Bjiörnsonder Schriftsteller Bjørnsterne Bjørnson, Schwiegervater von Albert Langen; dessen Sohn Bjørn Bjørnson wurde Wedekind erst 1898 vorgestellt [vgl. Wedekind an Beate Heine, 14.8.1898]., Hartleben und Max Halbe darüber, die sich erkundigten, wie es Donald gehe. Ich sagte, soviel ich wisse erhalte er Unterstützung von seiner Schwester, worüber man sich allgemein freute. Daß es 600frs. sind wußte ich nicht, werde es ihnen aber das nächste Mal sagen. Es ist ungefähr ebenso viel wie ich der Gräfin N.Wedekind kannte die in Paris lebende Schriftstellerin und Übersetzerin Emmy de Némethy seit Ende Mai 1893 [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 31.5.1893] und unterhielt mit ihr freundschaftliche Beziehungen. Emmy de Némethys Mutter war eine geborene Gräfin von Schärffenberg. schuldig bin Da ich aber weiß, daß die Dame nicht davon spricht, fühl ich mich auch nicht verpflichtet es weiter zu erzählen. Apropos, hat Donald Mieze denn auch einen Schuldschein ausgestellt? Sie soll doch ja nicht vergessen, ihn daran zu erinnern. Daß ich Hartleben davon erzählt habe war jedenfalls gut und Mieze wird mir dafür DankbarSchreibversehen, statt: dankbar. sein. Er verkehrt sehr viel in Gesellschaft und ist nicht derjenige der so was für sich behält. Vielleicht schreibt er auch eine Novelle darüber. Nun ich die Ziffer genau weiß, habe | ich sie auch an Eisenschitz geschriebenDas Schreiben ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Otto Eisenschitz, 31.7.1896. Frank Wedekind hatte den österreichischen Schriftsteller und Journalisten Otto Eisenschitz über seinen Bruder Donald kennengelernt, der mit ihm befreundet war., der vielleicht eine kleine Notiznicht nachweisbar. darüber durch die Blätter gehen läßt.

Wenn du in deinen freundlichen Zeilen schreibst: „Wenn ich fröhliche Mütter von ihren Söhnen erzählen höre, dann möchte ich am liebsten tief unter dem Boden liegen“ so ist das nicht gerade sehr schmeichelhaft, hat mich aber doch gefreut. Ich bin nämlich beauftragt einen Operntext zu schreibenDas Projekt mit dem Titel „Nirwana“ hatte Otto von Grote, vermittelt durch den Schriftsteller Michael Georg Conrad, bei Wedekind in Auftrag gegeben (siehe dazu die Korrespondenz mit Otto von Grote). Den ersten Akt schickte Wedekind ihm Anfang August zu und rechnete mit einem Abschluss des Librettos innerhalb eines Monats. Als Komponisten für das „Musikdrama in fünf Aufzügen“ erwog er Hans Richard Weinhöppel oder Richard Strauss [vgl. Wedekind an Otto von Grote, 8.8.1896]. Das Projekt wurde nicht fertiggestellt [vgl. KSA 3/II, S. 1459-1461]., den Richard StraußAn Richard Strauss hatte sich Wedekind bereits Anfang des Jahres mit dem Vorschlag zur Bühnenbearbeitung und Vertonung eines (nicht näher ermittelten) Novellenstoffs sowie seiner beiden Tanzpantomien „Les Puces“ und „Der Mückenprinz“ [vgl. KSA 3/II, S. 765, 767] gewandt [vgl. Wedekind an Richard Strauss, 11.2.1896], jedoch ohne Erfolg. Richard Strauss, Kapellmeister am Münchner Hoftheater (Intendant: Ernst Possart) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1896, S. 436], war als Opernkomponist zu dieser Zeit noch nicht bekannt. oder HumpperdingEngelbert Humperdinck verzeichnete mit seiner Märchenoper „Hänsel und Gretel“ (1893) einen enormen Publikumserfolg. Vermutlich wollte Wedekind mit diesem bekannten Opern-Komponisten seine Mutter beeindrucken, seinem Auftraggeber gegenüber nannte er andere Namen (siehe oben). componiren soll. Da schrieb ich denn vor drei Tagenam 29.7.1896. die Worte:Es folgt ein Zitat („Ich unglücksel’ge“ bis „gebeut“) aus dem 2. Auftritt des 1. Aufzugs (Figurenrede Richhilde) von „Nirwana“ [KSA 3/I, S. 725].

„Ich unglückselge, schwergeprüfte Mutter,
wodurch hab ich verschuldet diese Zücht’gung
Von dir, o Herr!
Die letzte Mutter unter dem Gesinde
Beneid’ ich um ihr Kind!
Das wählet ruhig den Pfad,
Sei er ihm nicht gewiesen,
Als wär’ es blind geboren,
Den ihm die Pflicht gebeut. e.ct

Ich hatte schon gefürchtet, übertrieben zu | haben und sehe nun mit Vergnügen, daß meine Zeichnung wahr ist. Deshalb ist mir dein Brief auch sehr willkommen. Ich de werden den Charakter der Mutter im weiteren Verlauf ganz nach dem Brief zeichnen. Eine hochstehende Mutter wird freilich nicht daraus aber es giebt eben Mütter und Mütter. Welch blödsinniger Esel ist doch, wenn man dein Urtheil hört, z. B. ein J. V. WidmannJoseph Victor Widmann war Feuilletonredakteur der Berner Zeitung „Der Bund“., der von uns, Mieze inbegriffen öffentlich als von Gotteskindern sprichtDie Formulierung ließ sich nicht belegen. Tatsächlich findet sich in Widmanns Blatt ein kritischer Beitrag gegen die „‘Von Gottesgnaden‘-Künstler“, also „gewisse Phrasen und Schlagwörter, bei denen man sich doch wundert, wie ein Journalist nicht schließlich rot wird, sie immer wieder anzuwenden. […] Aller Augenblicke liest man von einem ‚Dichter von Gottes Gnaden‘, von einem ‚gottbegnadeten Virtuosen‘, von einer ‚Sängerin von Gottes Gnaden‘. Wie oft z. B. die reizende Erika Wedekind so genannt worden ist, läßt sich nicht mehr zählen.“ [Der Bund, Jg. 47, Nr. 52, 22.2.1896, S. (2)]!

Und nun leb wohl, liebe Mama. Nochmals besten Dank. Auf Wiedersehen in Dresden! Mit den herzlichsten Wünschen für Dein Wohlergehen dein treuer Sohn
Frank.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind

Frank Wedekind schrieb am 6. Oktober 1896 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Postkarte an Emilie Wedekind vom 9.10.1896 aus München:]


[...] daher das Telegramm.

Emilie Wedekind schrieb am 7. Oktober 1896 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

[1. Hinweis in Frank Wedekinds Postkarte an Emilie Wedekind vom 9.10.1896 aus München:]


[...] besten Dank auch für Deinen lieben süßen Brief.


[2. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 15.12.1896 aus Berlin:]


[...] die hartherzigen, geradezu gehässigen Zeilen, mit denen du mich vor zwei Monaten beglücktest.

Frank Wedekind schrieb am 9. Oktober 1896 in München folgende Postkarte
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Königreich Bayern.
POSTKARTE.


An Frau Emilie Wedekind
in Dresden.
34. StruvestrasseErika Wedekind, Königliche Hofopernsängerin in Dresden, wohnte in der Struvestraße 34 (3. Stock) [vgl. Adreßbuch Dresden für das Jahr 1896, Teil I, S. 850].. |


München, Türkenstraße 69Frank Wedekind war seit dem 23.8.1896 in München in der Türkenstraße 69 (2. Stock) gemeldet [vgl. EWK/PMB Wedekind].. – 9.10.96.

Liebe Mama, besten Dank auch für Deinen lieben süßen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 7.10.1896. – Der verschollene Brief dürfte auf das Telegramm reagiert haben, das Emilie Wedekind von ihrem Sohn erhalten hat (siehe unten), das eine Bitte um Geld enthielt, der die Mutter entsprochen hat. Wie der Kontext der Postkarte erkennen lässt, ist die Formulierung ironisch gemeint. Später schrieb Wedekind von den „hartherzigen, geradezu gehässigen Zeilen“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 15.12.1896], die ihm seine Mutter in dem Begleitschreiben zu der Geldsendung sandte.. Ich reise morgenam 10.10.1896 (Samstag). Abend hier ab und zwar nach Dresden. Ursprünglich hätte ich schon Dienstagder 6.10.1896. da sein sollen, daher das Telegrammnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.10.1896. – Das verschollene Telegramm dürfte Wedekind gleich aufgegeben haben, nachdem er das Telegramm des Verlegers Georg Bondi erhalten hatte (siehe unten).. Indessen telegraphirte mirHinweis auf ein nicht überliefertes Telegramm; erschlossenes Korrespondenzstück: Georg Bondi an Wedekind, 6.10.1896. – Georg Bondi dürfte Wedekind von Berlin aus telegrafiert haben (siehe unten). mein dortiger VerlegerDr. phil. Georg Bondi in Dresden (Goethestraße 8) [vgl. Adreßbuch Dresden für das Jahr 1896, Teil I, S. 69], Inhaber des im Vorjahr von ihm gegründeten Georg Bondi Verlag (Goethestraße 8) [vgl. Adreßbuch Dresden für das Jahr 1896, Teil II, S. 277], der gerade nach Berlin (Waterloo-Ufer 17) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1897, Teil IV, S. 41] übergesiedelt war: „Dresden, den 2. Oktober 1896. Georg Bondi. Der Sitz der Firma ist nach Berlin verlegt worden.“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 237, 10.10.1896, S. 6419] Eintrag in das Handelsregister Berlin am „16. Oktober 1896. Georg Bondi (früher in Dresden). Inhaber der Firma ist Dr. phil. Georg Bondi.“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 249, 24.10.1896, S. 6855] „Offenbar hatte Wedekind zu dem Jungverleger Kontakte geknüpft, um als Autor vom Albert Langen-Verlag zu ihm zu wechseln. Dazu kam es jedoch nicht.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 180] Herr Bondi, daß er erst Sonntagder 11.10.1896. wieder von Berlin zurück sei. Ich denke dir das betreffende„wahrscheinlich geliehenes Geld.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 180] gleich zurückzugeben, vorausgesetzt, daß du mich empfängst. Vermutlich bleibe ich 14 Tage bis drei Wochen in DresdenWedekinds Aufenthalt in Dresden ist anderweitig nicht belegt; falls er am 10.10.1896 von München nach Dresden abreiste und dort wie angegeben blieb, wäre das bis zum 24.10.1896 oder 31.10.1896 (oder an einem der Tage dazwischen).. Ich schreibe dir off auf offner Cartedie vorliegende Postkarte, die Erika (Mieze) Wedekind mitlesen konnte, da ihre Mutter bei ihr logierte. damit M. womöglich doch erfährt, daß es nicht für einen Fremden war. – Mit herzlichem, innigen Gruß
Dein treuer Sohn
Frank Wedekind.

Frank Wedekind schrieb am 11. Dezember 1896 in Berlin folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 13.12.1896 aus Berlin:]


Du kannst dir doch denken, daß ich nicht ohne dringende Notwendigkeit telegraphirte.

Frank Wedekind schrieb am 13. Dezember 1896 in Berlin folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

13.XII.96


Liebe Mama,

wenn du mir wenigstens 20 Mk geschickt hättest! Du kannst dir doch denken, daß ich nicht ohne dringende Notwendigkeit telegraphirteHinweis auf ein nicht überliefertes Telegramm; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.12.1896. Der Sohn dürfte um Geld gebeten haben, das seine Mutter ihm offenbar nicht geschickt hat.. Verhungern kann ich ja allerdings nicht, aber wenn ich mich in den nächsten Tagen ums Geld arbeiten muß so ist mir das ein Schaden, der schwerlich je wieder gut zu machen ist. Ich habe am Mittwochder 16.12.1896, an dem Wedekinds „Erdgeist“-Lesung in der Wohnung von Max Liebermann (Pariser Platz 7) stattfand; Max Liebermanns Erinnerung zufolge waren außer ihm selbst bei der Lesung Otto Brahm, Otto Erich Hartleben, Paul Schlenther, Ludwig Fulda, Wilhelm Bölsche, Fritz Mauthner, Heinrich und Julius Hart sowie Walter Leistikow anwesend und es „machte der ‚Der Erdgeist‘ gerade die entgegengesetzte Wirkung, die sich Wedekind versprochen hatte: die tragischen Stellen hatten einen starken Heiterkeitserfolg, und namentlich Otto Erich berstete vor Lachen.“ [Friedenthal 1914, S. 213] hier eine zweistündige Vorlesung zu und/hal/ten und muß bis dahin noch eine Menge Besuche machen. Du hast doch Geld f/F/ällt es dir denn so furchtbar schwer einem in solchem Moment die Situation etwas zu erleichtern? – Für Dich ist jeder schmutzige gemeine Fleischerknecht und jeder schafsköpfige Millionärssohn ein ehrenhafter Mensch. Aber Dein eigener Sohn, der sich einen geachteten Namen in Deutschland gemacht | hat, ist es nicht. Und das ist die Mutter der ersten SängerinErika Wedekind, als Königliche Hofopernsängerin in Dresden [vgl. Neuer Theater-Almanach 1897, S. 329] und anderorts gefeiert, hatte mit Gastspielauftritten bereits während der Gesangsausbildung in kurzer Zeit „eine steile Karriere“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 181] gemacht., die der Himmel mit der Gabe beschenkt hat, in einer halben Stunde 1000 Mark zu verdienen!

Du wirst diesen Brief wieder impertinent nennen. Ich bitte dich nur ihn zu zeigen, wo und wem du willst. Bei anständigen Menschen kann er mir nichts schaden. Du siehst in allem Glück, das du deiner Chamäleonsnatur auf dieser Welt verdankst, dein persönliches Verdienst. Eine Frau, die einen Mann, den sie nicht ausstehen kann und dem sie nichts sein kann, heiratetEmilie Wedekind (geb. Kammerer) hatte Friedrich Wilhelm Wedekind am 28.3.1863 in Kalifornien geheiratet – unter nicht ganz einfachen Umständen [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 181]., weil er reich ist, hat noch lange, lange, lange nicht das Recht über meine | Ehrenhaftigkeit abzuurtheilen! Hätte ich meine Naturanlagen in dieser Richtung verwerthen wollen, dann wäre ich heute auch nicht in der Lage dich um etwas Geld zu bitten.

Um etwas mehr als Geld kann ich dich leider nicht bitten, so gern ich es thäte, weil du mir nichts anderes zu geben hast und mir nie was anderes zu geben hattest als ekelhaftes hämisches Nasenrümpfen. Wenn du noch sonst etwas für mich hättest würde das Geld schwerlich eine so gewichtige Rolle spielen. Aber fr es ist damit genau gerade so wie mit etwas Anderem meinem Vater gegenüber.

Ich kann schlechterdings nicht | anders schreiben, als mir’s ums Herz ist. Hoffentlich trifft der Brief dich bei einem gemütlichen Kaffeeklatsch an, bei dem du nicht nötig hast, länger als zwei Minuten über mich und das übrige nachzudenken.

Mit deiner Achtung mir gegenüber halte es bitte ganz wie du willst. Auf die Ehre, von Dir für einen ehrenhaften Menschen gehalten zu werden, verzichte ich mit Freuden, schon der Gesellschaft wegen, in die ich dadurch geriethe. Das hindert mich nicht eine Unterstützung von dir anzunehmen, weil mich der Umstand, daß du die Mutter einer berühmten s Sängerin bist, daran hindert, die Hülfe Anderer in Anspruch zu nehmen. Ich bitte dich darum überzeugt sein zu wollen, daß ich mich nur im alleräußersten Nothfall an dich wende und daß mich kein anderer Schritt so viel Überwindung kostet.

Mit herzlichem Gruß dein treuer Sohn Frank.


[Kuvert:]


Frau Emilie Wedekind
34 Struve Strasse 34.
Dresden.

Emilie Wedekind schrieb am 14. Dezember 1896 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 15.12.1896 aus Berlin:]


Für die Mk 20. meinen besten Dank [...]

Frank Wedekind schrieb am 15. Dezember 1896 in Berlin folgenden Brief
an , , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

CLUB DER DEUTSCHEN
SCHRIFTSTELLER-GENOSSENSCHAFT

BERLIN W. 8, KRONEN-STRASSE 61.


Lindenhotel, kleine Kirchstraße

15.12.96.


Liebe Mama,

Hartleben erzählt mir ebenOtto Erich Hartleben, Vorsitzender im Aufsichtsrat der Deutschen Schriftsteller-Genossenschaft [vgl. Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1897, Teil I, Sp. 13], auf deren Briefpapier Wedekind den vorliegenden Brief geschrieben hat (siehe Briefkopf), war wegen der möglichen Aufführung von Stücken Wedekinds in Berlin seinerzeit mit ihm in engem Kontakt., daß er gestern an dich geschriebenOtto Erich Hartlebens Brief an Emilie Wedekind vom 14.12.1896 ist nicht überliefert. hat. Ich weiß nicht was er geschrieben hat, aber wenn du mir nichts schicken kannst, dann schreib mir das nur. Das giebt mir schon ein Mittel in die Hand um das lumpichte Geld das mir jetzt im Augenblick fehlt, weil ich Tag und Nacht nur an ein und dieselbe Sache denke, von jemand anders zu bekommen. | Näheres kann ich dir unmöglich schreiben, da du mich nicht verstehst oder nicht verstehen willst. Sobald es mit mir aufwärts geht, deutest du die Lage so, als ging es abwärts mit mir und umgekehrt, indem du die Menschen nach nichts anderem beurtheilst als nach dem Geld.

In acht oder vierzehn Tagen beginnen meine schriftstellerischen Arbeite Einnahmen wieder. Ich schreibe dir diese Zeilen mit dem vollen Bewußtsein, daß ich dadurch wieder klaftertief in Deiner Achtung sinke, unter jeden Bäckergesellen und jeden Wein|reisendenVertreter (Handlungsreisender) für Wein.. Ich bin in deinen Augen wieder um jede Ehre gekommen. Glücklicherweise hängt meine öffentliche Ehre nicht von deinem Urtheil ab. Wenn du mir etwas Geld schickst werde ich sogar die Unklugheit begehen, d. h. ich werde schamlos genug sein, es jedem zu erzählen, der es hören will, von wem ich das Geld habe, ohne dabei zu verschweigen, wieviel ich dir scho und Mieze schon schulde und wie wenig du an eigenem Vermögen hast.

Eine so bodenlose Frechheit, die mich deinem Urtheil nach der allgemeinen Verachtung preisgeben muß, wirst Du vielleicht einer beginnenden | Geistesstörung zu gute halten. Aber solange berufenere Autoritäten nicht an meinem gesunden Verstande zweifeln, kann mich auch in dieser Hinsicht dein Urtheil nicht um meine Ruhe bringen.

Der Grund warum ich dir in dieser eigenartigen Weise schreibe, sind die hartherzigen, geradezu gehässigen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 7.10.1896. Es handelte sich offenbar um den Begleitbrief zu der Geldsendung von 100 Mark., mit denen du mich vor zwei Monaten beglücktest. Du schienst mich darin für ein Stück Holz oder ein Stück Vieh zu halten. Einem ähnlichen Begleitbrief möchte ich vorbeugen. Übrigens wie du für gut findest. Ich bekomme solche Briefe wenigstens von niemand anders. Die 100 Mk. von damals kann ich dir heute nun leider noch nicht zurückgeben. Für die Mk 20. meinen besten DankHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Geldsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 14.12.1896. – Frank Wedekind hatte in seinem letzten Brief bemerkt, seine Mutter hätte ihm wenigsten 20 Mark schicken können [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 13.12.1896], was sie dann offenbar sofort getan hat., d. h. ich ersterbe vor Dank dafür.

[am linken Rand, um 90 Grad gedreht:]

Mit den besten Grüßen und – aber jetzt aufrichtig, mit den herzlichsten Wünschen für dein Wohl dein treuer Sohn Frank.


[Kuvert:]


CLUB DER DEUTSCHEN
SCHRIFTSTELLER-GENOSSENSCHAFT

BERLIN W. 8, KRONEN-STRASSE 61.


Frau Emilie Wedekind
Struvestrasse 34.
Dresden. |


Abs: Wedekind, Lindenhotel
Kl. Kirchstrasse Berlin.

Frank Wedekind schrieb am 15. August 1897 in Berlin folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 8.9.1897 aus Dresden:]


[...] in meinem Briefe von Berlin aus [...]

Emilie Wedekind schrieb am 16. August 1897 in Zürich folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 23.8.1897 aus Dresden:]


[...] deinen lieben freundlichen Brief [...]

Frank Wedekind schrieb am 23. August 1897 in Dresden folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Dresden, Walpurgisstraße 14 IIFrank Wedekind wohnte in Dresden in einer von der Zimmerwirtin Emilie Schubert vermieteten Wohnung (Walpurgisstraße 14, 2. Stock) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1898, Teil II, S. 475].. – 23.8.97.


Liebe Mama,

ich hätte dir auf deinen lieben freundlichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 16.8.1897. früher geantwortet, wenn ich die letzten Tage nicht noch durch meinen UmzugWedekind zog am 17.8.1897 (Dienstag) von Berlin nach Dresden um (siehe unten). beschäftigt gewesen wäre. Ich bin nämlich schon seit Dienstagder 17.8.1897. hier. Ich mußte notwendig von Berlin fort und danke Gott, daß ich dazu noch rechtzeitig eine Gelegenheit gefunden habe. Ich mußte fort da sonst wieder ein heilloser Skandalein drohender Skandal. Wedekind hatte in Berlin ein Liebesverhältnis mit Julia Rickelt (geb. Woelfle) begonnen (siehe seine Korrespondenz mit ihr), der Gattin des mit ihm befreundeten Gustav Rickelt, Schauspieler und Regisseur am Berliner Residenztheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 285], mit dem sie seit dem 21.5.1891 verheiratet war [vgl. Wer ist’s? 1911, S. 1177]. entstanden | wäre. Ich bin dem Skandal nicht aus dem Wege gegangen, sondern der wird dadurch daß ich nicht mehr dort bin überhaupt nicht ausbrechen. Ich kann dir die Dinge nicht schriftlich auseinandersetzen. Ich Glaube bitte nicht, daß ich hier auf Miezes KostenDie erfolgreiche Hofopernsängerin Erika Wedekind in Dresden (Struvestraße 34) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1898, Teil I, S. 618] verfügte über beträchtliche Einnahmen. leben will. Sie hat mir für meine ersten Einrichtung allerdings etwas Geld gegeben aber im Übrigen werde ich hier mit meinem Verdienst auskommen können was ich in Berlin mit dem besten Willen nicht konnte; und was mir die Hauptsache ist, ich werde meine | Garderobe wieder einiger maßen in Ordnung bringen, denn augenblicklich habe ich so gut wie gar nichts.

Ich denke nicht länger als zwei Monate hier zu bleiben. Für den Winter gehe ich wenn irgend möglich wieder nach BerlinWedekind ging zum Winter dann nicht nach Berlin, sondern nach Leipzig, wo er an Carl Heines Ibsen-Theater engagiert wurde und längere Zeit blieb.. Es würde mir eine große Freude sein, dich vor meiner Abreise noch zu sehen. An Mati werde ich nächster Tage die Photographienicht ermittelt. zurückschicken, vielleicht schreibt mir Mati einmal, wenn sie nicht auch zu denen gehört, die der Ansicht sind, ich sei nicht mehr werth, daß man sich mit mir beschäftige.

Mieze ist sehr lieb und freundlich, | IchSchreibversehen, statt: freundlich. Ich. habe sie als Neddadie weibliche Hauptrolle in Ruggero Leoncavallos Oper „Der Bajazzo“ („Pagliacci“; 1892). Die Aufführung an der Dresdner Hofoper, die Wedekind besuchte, war am 19.8.1897 [vgl. Dresdner Nachrichten, Jg. 42, Nr. 229, 19.8.1897, S. (6)]. und als Frau Flutheine der weiblichen Hauptrollen in der komisch-phantastischen Oper „Die lustigen Weiber von Windsor“ (1848) von Otto Nicolai. Erika Wedekind hat diese Rolle bereits als Musikschülerin am 28.3.1893 bei einer Prüfungsaufführung am Königlichen Konservatorium in Dresden gesungen: „Der Opernabend, welchen das Institut gestern als zehnte Prüfungs-Aufführung [...] veranstaltete [...], bot den Hörern zum Teil [...] Produktionen verschiedener Opernscenen. Mit besonderem Gelingen führten die Frls. Wedekind und Walker (Klasse Frl. Orgeni) die erste Scene der Nicolaischen Oper ‚Die lustigen Weiber von Windsor‘ aus: [...] Frl. Wedekind entfaltete hier, wie auch in der späteren Soloscene, eine entschiedene Begabung für den schauspielerischen Ausdruck des kecken und humoristisch derben Naturells der Frau Fluth.“ [Dresdner Journal, Nr. 73, 29.3.1893, abends, S. 562] Die Rolle war am 15.3.1894 ihr Debüt an der Dresdner Hofoper: „Frl. Erica Wedekind, Schülerin von Frl. Orgeni, ist für die Königl. Hofoper engagirt worden. Frl. Wedekind debutirt nächsten Donnerstag in der Rolle der Frau Fluth in Nicolai’s ‚Lustigen Weibern‘.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 39, Nr. 70, 11.3.1894, S. (3)] Sie wurde eine ihrer Paraderollen, die sie zuletzt am 20.8.1897 an der Dresdner Hofoper gespielt hatte [vgl. Dresdner Nachrichten, Jg. 42, Nr. 230, 20.8.1897, S. (6)], wo ihr Bruder sie gesehen haben dürfte. gesehen. Heute verkauft sie LoseErika Wedekind hat nicht am 23.8.1897 („Heute“), sondern am 22.8.1897 Lose auf dem Albertfest (siehe unten) verkauft; angekündigt war: „Mit dem Albertfest, das in diesem Jahre in hergebrachter Weise am 22. August in Dresden gefeiert wird, soll wiederum eine Lotterie verbunden werden.“ [Der sächsische Erzähler, Nr. 96, 19.8.1897, S. 3] Die Presse berichtete: „Nach einer Pause von 4 Jahren fand gestern endlich wieder ein Albertfest im Königl. Großen Garten statt [...]. Daß Lotterien bei Wohlthätigkeitsfesten immer noch am meisten ziehen, das sah man auch gestern wieder [...]. An Loosständen um den Palaisteich fehlte es [...] nicht, und ein reichliches Aufgebot von liebenswürdigen und schönen Damen war erfolgt [...]. So sah man in den verschiedenen kleinen Pavillons“ vom „Hoftheater [...] beim Publikum besonders beliebte Mitglieder [...]; so traten unter Anderem die Damen v. Chavanne, Wedekind, Gasny und Huhn mit einander in heißen Wettbewerb um die höchsten Einnahmen“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 42, Nr. 233, 23.8.1897, S. (1)], die einem wohltätigen Zweck dienten: „schon jetzt gehen die Gaben sehr zahlreich ein. Auf den Wunsch Ihrer Majestät der Königin wird diesmal das Erträgniß nicht allein dem Albertvereine, sondern zur Hälfte den durch Hochwasser Geschädigten zu Gute kommen. Möchte in Anbetracht des edlen Zweckes das diesmal außerordentlich reichhaltig ausgestattete Fest sich eines recht zahlreichen Besuches erfreuen!“ [Sächsische Dorfzeitung, Jg. 59, Nr. 93, 10.8.1897, S. 4] auf dem Albertfestseit 1867 veranstaltetes Wohltätigkeitsfest in Dresden, benannt nach König Albert von Sachsen. „Das große Albertfest, veranstaltet zu Gunsten des Albert-( Hilfs-)Vereins findet unter Beteiligung der ersten Gesellschaftskreise der Stadt alljährlich im August oder September im Großen Garten statt. Konzerte, Theateraufführungen, Verkaufs- und Losstände, Illumination usw.“ [Führer durch Dresden. Überreicht von Gustav Härtig / Härtigs Hôtel. Dresden (1891), S. 28] im großen GartenParkanlage in Dresden mit barocker Grundstruktur, im 17. Jahrhundert angelegt.. Morgen gehen wir zusammen zu Scheidemantelam 24.8.1897 zu Karl Scheidemantel in Dresden (Striesener Platz 8) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1898, Teil I, S. 492], Kammersänger an der Oper des Dresdner Hoftheaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 353] und Kollege der Hofopernsängerin Erika Wedekind., der sie gebeten hat, ihn mit mir bekannt bekanntSchreibversehen, statt: bekannt. zu machen, als er hörte, daß ich hier sei. Mieze schickt dir die herzlichsten Grüße und ich selber bin mit den besten Grüßen dein treuer Sohn
Frank.

Emilie Wedekind schrieb am 7. September 1897 in Zürich folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 8.9.1897 aus Dresden:]


[...] Was du mir, liebe Mama [...] schreibst [...]

Frank Wedekind schrieb am 8. September 1897 in Dresden folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Dresden, Walpurgisstraße 14. II. – 8.9.97.


Liebe Mama,

ich muß dir doch endlich, endlich einmal schreiben um dich über deine verschiedenen Befürchtungen zu beruhigen. Daß ich dir noch nicht geschrieben, daran ist nur das hiesige Klima schuld, das bei mir eine ungeheure Müdigkeit hervorbringt und mir neben meinen Arbeiten nicht viel Zeit übrig läßt. Was nun also zuerst den SkandalWedekinds Liebesverhältnis mit der verheirateten Julia Rickelt (siehe unten), über das er seiner Mutter bereits geschrieben hatte [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 23.8.1897]. anbetrifft so ist das eine rein, wenn ich mich so ausdrücken darf, familiäre Angelegenheit. | Und dadurch, dasSchreibversehen, statt: daß. ich für zwei Monate von Berlin fortWedekind ist am 17.8.1897 von Berlin nach Dresden umgezogen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 23.8.1897]. bin, ist es eben kein Skandal geworden, sondern hat sich zum Wohlgefallen sämmtlicher Betheiligten gestaltet. Ich habe Mieze gegenüber kein Geheimniß aus der Angelegenheit gemacht und werde es auch dir gegenüber nicht thun, sobald Du hier bist, aber zu Papier bringen lassen solcheSchreibversehen, statt: lassen sich solche. Dinge nicht, wenn so bedeutende Interessen, das was man Familienglück e.ct. nennt, dabei auf dem Spiele stehen. Die betreffende DameJulia Rickelt (geb. Woelfle) in Berlin, Gattin des mit Wedekind befreundeten Schauspielers und Regisseurs Gustav Rickelt, mit dem sie seit dem 21.5.1891 verheiratet war [vgl. Wer ist’s? 1911, S. 1177]. Wedekind hatte in Berlin ein Liebesverhältnis mit ihr begonnen (siehe seine Korrespondenz mit Julia Rickelt). und ich sind augenblicklich gezwungen uns ohne Anrede und ohne Unterschrift zu schreiben und so könnte ich es doch nicht gut verantworten, ihren Namen | sonstwo ohne Notwendigkeit zu nennen. Übrigens habe ich dir in meinem Briefe von Berlin ausnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 15.8.1897., in dem ich dir meine Lage auseinandersetzte, doch schon die Verhältnisse charakterisirt. Es handelt sich lediglich um die ZurückkunftGustav Rickelt war Ensemblemitglied des Kurtheaters Berg (Direktion: Theodor Brandt) bei Stuttgart, wo er sich während der Sommersspielzeit vom 23.5.1897 „bis Ende August 1897“ [Neuer Theater-Almanach 1898, S. 531] aufhielt und anschließend nach Berlin zurückkehrte, wo am 9.9.1897 das Berliner Residenztheater unter der neuen Direktion von Theodor Brandt eröffnet wurde und er nun wieder in Berlin auf der Bühne stand [vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 421, 9.9.1897, Morgen-Ausgabe, S. 8]. Er spielte am Kurtheater Berg in verschiedenen Schwänken, so am 6.8.1897 im Schwank „Die Einberufung“ [vgl. Schwäbischer Merkur, Nr. 180, 5.8.1897, Mittagsblatt, S. 1645] oder am 15.8.1897 im Schwank „Die vierte Dimension“ [vgl. Der Beobachter, Jg. 67, Nr. 188, 14.8.1897, S. (2)], außerdem am 19.8.1897 die Rolle des Pfarrers Hoppe in Max Halbes Drama „Jugend“ [vgl. Schwäbischer Merkur, Nr. 193, 20.8.1897, Mittagsblatt, S. 1741]. ihres MannesGustav Rickelt (siehe oben), Schauspieler und Regisseur am Berliner Residenztheater (Direktion: Theodor Brand), dessen Winterspielzeit offiziell am 1.9.1897 begann [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 285]., eines meiner besten Freunde, der ich aus dem Wege gegangen bin da weder sie noch ich uns voraussichtlich genügend hätten beherrschen können, um ihn, der so schon das Herz voll Mißtrauen hat, über dien wirklichen Sachverhalt zu täuschen.

Ich habe hier vollkommen das gefunden, was ich suchte und werde es noch mehr haben, wenn du hier | bist, nämlich vor allen Dingen etwas Ruhe und Sammlung. Ich freue mich sehr darauf, daß du kommst. Mieze sagt mir, du werdest am 20.am 20.9.1897. hier sein. Ich besuche sie nicht zu oft und rauche auch nicht in ihrem Zimmer. Im Theater war ich so oft es mir meine Zeit noch erlaubte. Daß ich unvorsichtig mit meiner Kritik bin brauchst du nicht zu fürchten. Wir waren auch zusammen bei Scheidemantelbei dem Kammersänger Karl Scheidemantel in Dresden (Striesener Platz 8) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1898, Teil I, S. 492], dem Kollegen Erika Wedekinds an der Dresdner Hofoper, den sie und ihr Bruder Frank Wedekind am 24.8.1897 besucht haben [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 23.8.1897]., nützen wird er mir nicht viel können, dagegen sind andere Leutenicht identifiziert. hier beim Schauspielentweder am Schauspiel des Königlichen Hoftheaters in Dresden (Generaldirektion: Nikolaus von Seebach) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 352], dem Wedekind dann seine Komödie „Die junge Welt“ zur Aufführung angeboten hat [vgl. Wedekind an Nikolaus von Seebach, 24.10.1897], oder am Dresdner Residenztheater (Direktion: Madeleine Karl) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 356]., die ich von früher her kenne und die ich aber bis jetzt nicht aufgesucht | habe, da mein neues Stück, das eben im DruckWedekinds Komödie „Die junge Welt“, eine Überarbeitung seines Lustspiels „Kinder und Narren“ (1891), erschien im Oktober 1897 in Berlin bei W. Pauli’s Nachfolger (H. Jerosch) [vgl. KSA 2, S. 631, 646]. ist, noch nicht fertig ist.

Was du mir, liebe Mama über eine Stellung schreibstHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 7.9.1897., hat meinen vollen Beifall. Ich habe mich nie abweisend gegen eine solche Eventualität gezeigt und würde ebenso auch heute mit Freuden zugreifen. Es ist auch gar nicht ausgeschlossen daß sich hier etwas bietet.

In Gesellschaft bin ich mit Mieze noch nicht gewesen, das wird sich aber auch geben. Ich habe auch noch nicht viel von Gesellschaft gemerkt, wenigstens noch nichts von besonderer Bedeutung. Die betreffenden Zirkel scheinen sich erst später aufzuthun. |

Die GerüchteWedekind hatte mit Frida Strindberg, die er 1894 in Paris kennengelernt hatte, nach der Wiederbegegnung 1896 in München eine intime Beziehung, aus der ein unehelicher Sohn hervorging – der am 21.8.1897 geborene Friedrich Strindberg – und die offenbar in München Gesprächsstoff war. Rainer Maria Rilke berichtete dem mit Wedekind bekannten Musiker Oskar Fried im Januar 1897 aus München, zu den „Hauptklatschgeschichten Münchens“ gehöre „die Verlobung Frank Wedekinds mit Frau Strindberg“ [J. A. Stargardt: Katalog 560 (1962), Nr. 953]. Frida Strindberg ist Wedekind nach Berlin nachgereist [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 20.1.1897]., was Frau Strindberg betrifft, bitte ich dich mit Vorsicht aufzunehmen. Erstens ist Fr. St. nicht reich, zweitens bin ich gar nicht mit ihr verlobt und drittens stehe ich gar nicht mehr mit ihr in Beziehungen. Ich würde sie auch niemals heiraten, so wenig wie sie mich. Wir haben einander gegenseitig gründlich satt gekriegt. Sie hat mich sehr geliebt aber durch ihre ungeheure Dummheit nicht wenig zu den Mißgeschicken beigetragen, die in Berlin meine dortigen Aussichten zu Wasser werden ließen. Hoffentlich geht das alles in diesem bevorstehenden Winter besser. |

Ich habe hier in Dresden einstweilen noch keinerlei nähere Bekanntschaften und du brauchst nicht zu fürchten, daß ich Mieze in irgendwelche Verlegenheit bringe. Um so mehr freue ich mich darauf wenn du hier bist. Ich bin sicher, daß wir das Leben einander gegenseitig behaglicher machen werden. Komm daher bitte sobald du kannst. Ich kenne ja die Verhältnisse in denen du in Zürich lebst, nicht und weiß nicht, was dich dort eigentlich fesselt. Mati sage bitte meine herzlichsten Grüße. Die Photographienicht ermittelt. Wedekind hat die Fotografie bereits in seinem letzten Brief erwähnt [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 23.8.1897]. werde ich ihr nächster Tage schicken. | Und sei du selber, liebe Mama, aufs herzlichste gegrüßt von deinem getreuen Sohn
Frank.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Seefeldstrasse 88Emilie Wedekind wohnte bei ihrem ältesten Sohn, dem Arzt Dr. med. Armin Wedekind in Zürich (Seefeldstraße 88) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich für 1898, Teil I, S. 576]..
Zürich


Schweiz.

Emilie Wedekind schrieb am 21. November 1897 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Briefkarte an Emilie Wedekind vom 22.11.1897 aus Dresden:]


[...] verzeih, daß ich Dir auf Deine ungemein liebe Einladung hier auf dieser Carte antworte.

Frank Wedekind schrieb am 22. November 1897 in Dresden
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

DRESDEN, ELISENSTR. 3boffenbar Frank Wedekinds Adresse, wobei für das Haus Elisenstraße 3b in der Dresdner Johannstadt lediglich der Eigentümer (der Fabrikbesitzer Ernst Christian Teichert) verzeichnet ist [vgl. Adreßbuch für Dresden 1898, Teil II, S. 97]; seine Schwester Erika Wedekind, Hofopernsängerin in Dresden, war wie ihre Mutter Emilie Wedekind in der Struvestraße 34 (3. Stock) gemeldet [vgl. Adreßbuch für Dresden 1898, Teil I, S. 618]..


Liebe Mama, verzeih, daß ich Dir auf Deine ungemein liebe Einladungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 21.11.1897. hier auf dieser Carte antworte. Ich würde gerne einen Brief schreiben und werde es auch thun. Dies ist nur auf Abschlag. Also, so schön ich mir den Aufenthalt in Lenzburg ausmale, ich kann mich jetzt, mitten in der Saison nicht gut vom Schauplatz entfernen. Ich gefährde dadurch meinen Sommeraufenthalt, | für den ich jetzt im Winter arbeiten muß. Mieze ist auf einen Tag nach Kassel gefahren zu einem ConcertErika Wedekinds Gastauftritt in Kassel ist nicht ermittelt; sie war bereits in den zurückliegenden Tagen viel auf Gastspielreisen – so gastierte sie am 8. und 9.11.1897 am Großherzoglichen Hoftheater in Karlsruhe [vgl. Karlsruher Zeitung, Nr. 490, 7.11.1897, Beilage, S. (2)], am 10.11.1897 in Hannover [vgl. Hannoverscher Courier, Jg. 44, Nr. 21020, 10.11.1897, Morgen-Ausgabe, 2. Blatt, S. 5] und vom 16. bis 21.11.1897 in Stuttgart [vgl. Neues Tagblatt, Jg. 54, Nr. 267, 15.11.1897, S. 8; Schwäbischer Merkur, Nr. 271, 19.11.1897. Mittagsblatt, S. 2177; Filder-Bote, Jg. 26, Nr. 265, 22.11.1897, S. 1108].. Mit meiner Lunge steht es unberufen gut obschon hier ganz mörderliche Winde wehen. In einigen Tagen werde ich in Theaterangelegenheiten nach Leipzig gehenFrank Wedekinds fuhr zu einer Lesung auf dem I. Gesellschafts-Abend der Literarischen Gesellschaft in Leipzig [vgl. Leipziger Volkszeitung, Jg. 4, Nr. 237, 25.11.1897, S. (4)], die für 20 Uhr angekündigt war: „In der Litterarischen Gesellschaft, deren erster Gesellschafts-Abend [...] heute Freitag pünktlich 8 Uhr im oberen Saale des Hotel de Pologne stattfindet, wird nach dem Vortrage von Georg Fuchs ‚über den neuen Stil in der angewandten Kunst‘ Frank Wedekind eigene Dichtungen lesen. Als echter Vertreter des zu wirklicher Kunsthöhe erhobenen Variété-Stiles wirkt er am packendsten da, wo die Tragik sich mit der Lächerlichkeit verbindet und die tiefsten menschlichen Räthsel wie Vexir-Fragen erscheinen. Man darf Frank Wedekind als eine der complicirtesten und radikalsten Erscheinungen unserer jüngsten Literatur-Epoche bezeichnen. – Zum Besuche des Gesellschafts-Abends ist der Beitritt als Mitglied der Litterarischen Gesellschaft erforderlich.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 91, Nr. 603, 26.11.1897, Morgen-Ausgabe, S. 8691] Angekündigt war auch das Leseprogramm: „Im zweiten Theile des Abends wird der Dichter Frank Wedekind Scenen der Kinder-Tragödie ‚Frühlings-Erwachen‘, sowie Einiges aus seiner grotesk-komischen Lyrik recitiren.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 91, Nr. 599, 24.11.1897, Morgen-Ausgabe, S. 8636] und dann zurück nach MünchenWedekind fuhr nicht zurück nach München, sondern blieb für längere Zeit in Leipzig, wo Carl Heine, Schatzmeister und artistischer Direktor der Literarischen Gesellschaft [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1898, Teil II, S. 220], ihn „als Sekretär, Schauspieler und Regisseur für sein neu zu gründendes Ibsen-Theater“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 185] engagierte.. Mit meinenSchreibversehen, statt: meinem. aufrichtigsten Dank für Deine Liebe sende ich Dir 1000 Grüße an Dich und Mati.

Dein Frank.

Frank Wedekind schrieb am 2. Dezember 1897 in Leipzig folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama,

ich bitte dich zu verzeihen, daß ich heute erst schreibeWedekind hatte seiner Mutter einen Brief versprochen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 22.11.1897]., aber es ist der erste Tag, daß ich etwas zuSchreibversehen, statt: zur. Ruhe komme. Bis jetzt war ich täglich irgend wo anders zum Tisch geladen. Die Aufnahme die ich hier fand war die denkbar herzlichste. Der VortragWedekinds Lesung auf Einladung der Literarischen Gesellschaft in Leipzig am 26.11.1897 um 20 Uhr: „Litterarische Gesellschaft in Leipzig. Freitag den 26. November pünktlich 8 Uhr I. Gesellschafts-Abend im oberen Saale des Hotels de Pologne. I. Teil. Vortrag des Kunsthistorikers Georg Fuchs ‚über den neuen Stil in der angewandten Kunst.‘ II. Teil. Dichtungen von Frank Wedekind, vorgetragen vom Dichter.“ [Leipziger Volkszeitung, Jg. 4, Nr. 237, 25.11.1897, S. (4)]. Wedekind las, wie er dem Vorsitzenden der Literarischen Gesellschaft vorgeschlagen hatte [vgl. Wedekind an Kurt Martens, 28.10.1897 und 4.11.1897], Szenen aus „Frühlings Erwachen“, Gedichte, eine Szene aus „Der Kammersänger“ und die Erzählung „Rabbi Esra“ [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 185]. Die Lesung war nur mäßig besucht: „Der erste Vortragsabend, mit dem in diesem Jahre die Literarische Gesellschaft hervortrat, fand im Saale des Hotel de Pologne statt, und war nicht so zahlreich besucht, wie die früheren Abende, weil in diesem Jahre nur Mitgliedern der Gesellschaft der Zutritt gestattet ist.“ [Literarische Gesellschaft. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 91, Nr. 612, 1.12.1897, Morgen-Ausgabe, 2. Beilage, S. 8837] ging flott von statten; ich erhielt | seitdem sehr schmeichelhafte KritikenDie Presse urteilte nicht sonderlich schmeichelhaft über den Abend: „Der zweite Theil gab Herrn Frank-Wedekind Gelegenheit, aus einer Kindertragödie ‚Frühlingserwachen‘ einzelne Scenen vorzutragen, die mit ihrem gewaltsamen Gemüth von Komik und Tragik nicht gerade auf großen Beifall rechnen konnten. Vielleicht lag es auch am Vortrag, daß das Publicum sich nicht zu erwärmen vermochte. Er war auch für die folgenden Gedichte nicht günstig und man kann nicht behaupten, daß sich der Dichter hier mit Erfolg eingeführt hätte [Literarische Gesellschaft. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 91, Nr. 612, 1.12.1897, Morgen-Ausgabe, 2. Beilage, S. 8837] Edgar Steiger urteilte am 27.11.1897 in der „Leipziger Volkszeitung“ (über „Rabbi Esra“): „In dem endlos ausgesponnenen Dialog, den der Dichter [...] etwas stockend aus dem Gedächtnis vortrug, erlahmte die Geduld des Publikums. Die beabsichtigte Wirkung blieb aus.“ [KSA 5/I, S. 765] Eine weitere Besprechung erschien in den „Leipziger Neuesten Nachrichten“ [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 185]. Franz Adam Beyerlein schrieb rückblickend über Wedekinds Lesung: „Er sprach großenteils frei, begleitete seine Worte mit eckigen, abgerissenen Gebärden, bleckte die Zähne und blitzte die verblüfften Zuhörer aus tiefliegenden Augen aufreizend an. In dem Einakter ‚Das Gastspiel‘, später ‚Der Kammersänger‘ betitelt, führte er die peinlichen Erlebnisse des großen Tenors sozusagen handelnd vor, wechselte je nach den Redenden Ton und Geste und erzielte einen fast vollständigen szenischen Eindruck.“ [Beyerlein 1923, S. 109], die ich aber direct nach München schicken mußte.

Ich bin noch nicht dazu gekommen mir hier ein Zimmer zu nehmen, werde es aber nächster Tage thun. Ich wohne hier Hôtel du Nord, BlücherstrasseWedekind logierte in Leipzig im Hôtel du Nord in der Blücherstraße 10; Besitzer war der Bildhauer Carl Friedrich Hermann Sachse, betrieben wurde es von Friedrich Carl August Wachsmuth [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1898, Teil I.2, S. 35], dem „Hôtelier des ‚Hôtel du Nord‘“ [Leipziger Adreß-Buch für 1898, Teil I.1, S. 947]., Leipzig.

Und nun noch etwas, liebe Mama; ich sehe mich noch einmal in der Lage, Mieze um 50 Mk bittenErika Wedekind schickte ihrem Bruder 100 Mark [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 5.1.1898]. zu müssen. Ich schreibe an dich, weil ich | nicht weiß, ob sie nicht vielleicht noch auf der TourneeErika Wedekind war auf Gastspielreise; sie hat zuletzt am Königlichen Hoftheater in Stuttgart die Titelrolle in der Oper „Lucia von Lammermoor“ gesungen [vgl. Filder-Bote, Jg. 26, Nr. 265, 22.11.1897, S. 1108] und sang am 7. und 9.12.1897 am Großherzoglichen Hof- und Nationaltheater in Mannheim in der Oper „Mignon“ die Titelrolle und in der Oper „Der Barbier von Sevilla“ die Rolle der Rosine [vgl. General-Anzeiger der Stadt Mannheim, Jg. 107, Nr. 333, 5.12.1897, S. 2]. ist. Ich erwarte Geld von Langenvon dem Verleger Albert Langen in München Honorare für Wedekinds Beiträge im „Simplicissimus“ [vgl. KSA 1/II, S. 2235] und für Wedekinds im Sommer 1897 erschienenen Sammelband „Die Fürstin Russalka“ [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 133, 12.6.1897, S. 4287]. und von der JugendUnklar ist, wofür Wedekind von der Münchner illustrierten Wochenschrift „Jugend“ Geld erwartete, da er seinerzeit dort noch nichts veröffentlicht hatte und die nächsten Jahre dort auch nichts von ihm erschien; der Hintergrund der Bemerkung „lässt sich nicht mehr aufklären.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 186], aber ich bin nicht sicher wann es eintrifft und durch einen Fehltritt kann ich mir hier alles verderben. Ich habe noch 10 Mk; wenn du also nicht mehr hast, dann bitte schicke mir umgehend wenn möglich 20 Mk. damit ich wenigstens einige Tage zuwarten kann.

Das Unternehmen mit meiner Pantomime„Die Kaiserin von Neufundland. Große Pantomime in drei Bildern“ [KSA 3/I, S. 57-90], gedruckt in Wedekinds Sammlung „Die Fürstin Russalka“ [vgl. KSA 3/II, S. 778], die im Sommer 1897 im Albert Langen Verlag in München erschienen ist (siehe oben). „Die im November 1897 von der ‚Literarischen Gesellschaft‘ in Leipzig geplante und für den Dezember vorgesehene Aufführung kam, da der Musiker Hans Merian die gewünschten Kompositionen nicht lieferte, nicht zustande.“ [KSA 3/II, S. 794] hier ist thatsächlich | nur auf Geldertrag angelegt, deswegen wenn auch das nicht wieder fehlschlägt, werde ich bis zum Frühling einträgliche Tantièmen zu beziehen haben. Im übrigen werde ich regelmäßig arbeiten, sobald ich nur erst wieder eingerichtet bin, aber das kalte Hotelzimmer ließ mich nicht rasch genug vorwärts kommen, um ganz oh außer Sorge zu sein.

Ich fand in den hiesigen maßge|benden Kreisen sehr viel Sympathie und die günstigste Stimmung. Nun will nämlich der Zufall, daß gerade heute Abend Hartleben hier in demselben Hotel absteigt, in dem ich wohne. Einer seiner Freundenicht identifiziert. hier sagte mir, daß er schon in Dresden nach mir gesucht habe. Es scheint also daß er wieder einlenken willWedekind hatte sich mit Otto Erich Hartleben, Vorstandsmitglied der Berliner Dramatischen Gesellschaft [vgl. Neuer Theater-Almanach 1897, S. 281], überworfen, nachdem die geplante Uraufführung von Wedekinds Komödie „Die junge Welt“ durch die Dramatische Gesellschaft im Berliner Residenztheater [vgl. Frank Wedekind an Otto Erich Hartleben, 11.1.1897 und 18.1.1897], die so gut wie sicher schien, nicht zustande gekommen war [vgl. KSA 2, S. 631]. Otto Erich Hartleben notierte am 6.2.1897: „Krach mit Wedekind“ [Tb Hartleben].. Ich habe ihn noch nicht gesehen aber es wäre mir von großer Wichtigkeit, da es mir für die Zukunft viele Un|annehmlichkeiten ersparen würde, die mir andernfalls aus seinem bösen Geschwätz überall erwachsen.

Bitte, liebe Mama, sag Mieze, sie möge nicht darüber böse sein, daß ich nicht direct an sie schreibe. Ich fürchte nur, du könntest ihr den Brief sonst vielleicht nachschicken und dann wäre sein Zweck verfehlt, da ich jedenfalls vor Sonntag noch kein Geld aus München erhalte. | Meines aufrichtigen Dankes ist Mieze gewiß. Ich mache meiner bescheidenen Welt gegenüber kein Hehl daraus, wie und in welchem Maße sie mir geholfen hat. Grüße Sie bitte herzlichst von mir und sei selber aufs beste gegrüßt von deinem
treuen Sohn
Frank


Hôtel du Nord
Blücherstrasse.


Rudinoff war natürlich auch | hierWilly Rudinoff gastierte seit einiger Zeit im Leipziger Kristallpalast: „Im Variété-Theater des Krystall- Palastes sind bereits wieder neue Kräfte mit bestem Erfolge aufgetreten. [...] Aus dem früheren Ensemble sind in das neue mit eingetreten: Willy Rudinoff, Universalartist“ [Krystall-Palast. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 91, Nr. 597, 23.11.1897, Morgen-Ausgabe, S. 8606]. bei meinem Vortrag. Er brachte mir beruhigende Nachrichten aus München, wo er durch meine dortigen Freunde Frau St.Frida Strindberg [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 8.9.1897]. kennen gelernt hatte. Jetzt ist er auf sechs WochenWilly Rudinoff wurde „von dem international mächtigsten Vaudeville-Manager jener Jahre, Benjamin Franklin Keith [...], für viele Monate auf eine Tournee kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten“ [Raff 2015, S. 35] engagiert, nicht nur auf 6 Wochen. „Es ist nicht klar, wie lange diese Tournee dauerte, aber spätestens im Sommer 1899 war Rudinoff zurück in Europa“ [Raff 2015, S. 36]. nach New York gefahren.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Struve Strasse 34.III.Emilie Wedekind war wie ihre Tochter Erika Wedekind in der Struvestraße 34 (3. Stock) verzeichnet [vgl. Adreßbuch für Dresden 1898, Teil I, S. 618].
Dresden.

Emilie Wedekind schrieb am 4. Dezember 1897 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 5.12.1897 aus Leipzig:]


[...] ich danke dir bestens für die Mark 20.

Frank Wedekind schrieb am 5. Dezember 1897 in Leipzig folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Liebe Mama,

ich danke dir bestens für die Mark 20Hinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Geldsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 4.12.1897. – Wedekind hatte seine Mutter um 20 Mark gebeten [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 2.12.1897].. Ich war eben dabei ein Gedicht zu schreibenwahrscheinlich das mit Anspielungen auf Weihnachten versehene Gedichtfragment „Brüder u. Herren, geliebte Andächtige...“ [KSA 1/I, S. 748-750], das „Anfang Dezember“ 1897 „mit Blick auf eine Veröffentlichung im ‚Simplicissimus‘“ [KSA 1/1, S. 1104] entstand und jedenfalls für die Wochenschrift im Albert Langen Verlag „vorgesehen“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 186] war, für die Wedekind seit rund einem halben Jahr Gedichte schrieb. Die zuletzt – am 30.11.1897 – dort veröffentlichen Gedichte waren „Ein politisch Lied. Von Germanias Ehestand“ und „Tingel-Tangel“ [vgl. Simplicissimus, Jg. 2, Nr. 36, S. 283, 288], das nächste Gedicht war „Sylvester“ [vgl. Simplicissimus, Jg. 2, Nr. 40, S. 314], das am 28.12.1897 erschien [vgl. KSA 1/I, S. 2235]., als mir das Geld ausging. In zwei Tagen bekomme ich jetzt wieder.

Nochmals besten Dank
Dein treuer Sohn
Frank.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Struve Strasse 34.
Dresden.

Emilie Wedekind schrieb am 9. Dezember 1897 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 10.12.1897 aus Leipzig:]


[...] ich danke dir bestens für die Mr. 20. [...]

Frank Wedekind schrieb am 10. Dezember 1897 in Leipzig folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Liebe Mama,

ich danke dir bestens für die Mr. 20.Hinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Geldsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 9.12.1897., mit denen ich vorderhand auszukommen hoffe. Ich wohne hier
Haydnstrasse 1. pt. l.
in einer sehr angenehmen warmen WohnungWedekind wohnte in Leipzig offenbar in der Wohnung von Kurt Martens (Haydnstraße 1, Parterre) [vgl. Leipziger Adreßbuch für 1898, Teil I, S. 135, 558], Referendar und Vorsitzender der Literarischen Gesellschaft in Leipzig [vgl. Leipziger Adreßbuch für 1898, Teil II, S. 220].. Heute waren wir wieder den | ganzen Nachmittag mit CompositionDie Musik zu „Die Kaiserin von Neufundland. Große Pantomime in drei Bildern“ [KSA 3/I, S. 57-90], gedruckt in Wedekinds Sammlung „Die Fürstin Russalka“ [vgl. KSA 3/II, S. 778], die im Sommer 1897 im Albert Langen Verlag in München erschienen ist [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 133, 12.6.1897, S. 4287], sollte Hans Merian, Schriftsteller und Verlagsbuchhändler in Leipzig (Thalstraße 21) [vgl. Leipziger Adreßbuch für 1898, Teil I, S. 574], dessen Verlag der „Gesellschaft“ (das war der Verlag der naturalistischen Zeitschrift „Die Gesellschaft“) am 18.12.1897 allerdings aus dem Handelsregister gelöscht wurde [vgl. Leipziger Tageblatt, Jg. 91, Nr. 649, 21.12.1897, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 9491], für die von der Literarischen Gesellschaft in Leipzig geplante Uraufführung komponieren oder jedenfalls arrangieren [vgl. Wedekind an Kurt Martens, 15.11.1897]. „Die im November 1897 von der ‚Literarischen Gesellschaft‘ in Leipzig geplante und für den Dezember vorgesehene Aufführung kam, da der Musiker Hans Merian die gewünschten Kompositionen nicht lieferte, nicht zustande.“ [KSA 3/II, S. 794] der Pantom. beschäftigt. An Verkehr mangelt es mir hier nicht. Von München ist Geld eingetroffenHonorar vom Albert Langen Verlag in München.. Ich denke, es wird alles gut gehen. Grüße Mieze bitte aufs herzlichste, übrigens werde ich vermutlich zu ihrer RückkehrErika Wedekind war auf Gastspielreise; sie sang am 7. und 9.12.1897 am Großherzoglichen Hof- und Nationaltheater in Mannheim in der Oper „Mignon“ die Titelrolle und in der Oper „Der Barbier von Sevilla“ die Rolle der Rosine [vgl. General-Anzeiger der Stadt Mannheim, Jg. 107, Nr. 333, 5.12.1897, S. 2]. schreiben.

Sonst habe ich noch weiter | nichts neues zu berichten. Nochmals besten Dank und sei aufs herzlichste G/g/egrüßt von deinem
getreuen Sohn
Frank.


Meine Wirthin in DresdenWedekinds Zimmerwirtin seiner Wohnung in Dresden (Walpurgisstraße 14, 2. Stock) war die ledige Emilie Schubert (Walpurgisstraße 14, Parterre), verzeichnet als „Logisvermietherin“ [Adreßbuch für Dresden 1898, Teil II, S. 475; vgl. Teil I, S. 527]. habe ich eben beauftragtHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Emilie Schubert, 10.12.1897., mir meine Sachen zu schicken, wozu sie sich bei meiner AbreiseWedekind ist am 26.11.1897 von Dresden nach Leipzig abgereist und logierte dort zunächst in einem Hotel [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 2.12.1897]. erboten hatte.


[Kuvert:]


Frau Dr. Wedekind
Struve Str. 34.
Dresden.

Emilie Wedekind schrieb am 29. Januar 1898 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 30.1.1898 aus Leipzig:]


Ich danke dir bestens für die Übersendung des Artikels.

Frank Wedekind schrieb am 30. Januar 1898 in Leipzig folgenden Brief
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

Liebe Mama,

es thut mir herzlich leid, daß ich dir deinen WunschEmilie Wedekind dürfte ihren Sohn in einem nicht überlieferten Schreiben (siehe unten) um Gedichte gebeten haben, die sie gut besprochen gefunden hat (in einer nicht ermittelten Kritik). nicht erfüllen kann; ich besitze weiter keine Gedichte, als die, die du kennst und die ich zum größten Theil schon vor fünfzehn Jahren auf dem Gymnasium geschrieben habe. Diese Gedichte sind sämmtlich in der „Fürstin RussalkaGedichte Wedekinds in der Sammlung „Die Jahreszeiten“ (sie enthält insgesamt 84 Gedichte) im Band „Die Fürstin Russalka“ (1897) im Albert Langen Verlag [vgl. KSA 1/I, S. 808-810, 813], der im Sommer des Vorjahres erschienen ist [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 133, 12.6.1897, S. 4287]. „Mindestens ein Drittel der in den ‚Jahreszeiten‘ veröffentlichten Gedichte entstanden bereits in den 1880er Jahren“ [KSA 1/I, S. 809]. Die Gedichtsammlung wurde später unter dem Titel „Die vier Jahreszeiten“ (1905) als selbständiges Buch neu veröffentlicht. erschienen. Ich kann wirklich nichts dafür daß das Urtheilnicht ermittelte Rezension, wahrscheinlich nach dem 24.1.1898 (siehe unten) in einer Zeitung erschienen, dem vorliegenden Brief zufolge eine lobende Besprechung von Gedichten Wedekinds (siehe unten). dieses Kritikersnicht identifiziert. über diese Sachen so sehr von dem | Deinigen abweicht indem er, wie er schreibt, prachtvolle Exemplare darunter findet. Der Geschmack ist eben verschieden und wenn ich die Gedichte zufällig auch noch besser wären, so würde das wol wenig an deinem Urtheil ändern. Ich bitte dich auch aufrichtig, liebe Mama, lieber bei deiner bisherigen Überzeugung zu bleiben, denn ich halte nicht viel von Menschen, die sich erst dann entschließen, sich für etwas zu | erwärmen, wenn es in der Zeitung gestanden hat, daß man sich dafür erwärmen darf. Ich danke dir bestens für die Übersendung des ArtikelsHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 29.1.1898. Beilage war eine Besprechung von Gedichten Wedekinds, vermutlich als Zeitungsausschnitt übersandt.. Man hatte mir schon von verschiedenen Seiten davon gesprochen aber ich hatte ihn noch nicht zu Gesicht bekommen. Es ist mir auch wirklich eine große Freude, mit Yvette GuilbertWedekind hat die berühmte Pariser Chansonsängerin, die in der nicht ermittelten Besprechung seiner Gedichte erwähnt sein dürfte (siehe oben), in seiner Zeit in Paris auf der Bühne gesehen [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 188]. Yvette Guilbert gab gerade seit dem 24.1.1898 im Apollotheater in Berlin ein Gastspiel: „Apollo-Theater. [...] Montag, den 24. Januar: Debut der Mme. Yvette Guilbert.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 27. 18.1.1898, Morgen-Ausgabe, S. 18] Sie hatte großen Erfolg: „Yvette Guilbert hat gestern bei ihrem ersten öffentlichen Auftreten in Berlin das Publikum im Sturm erobert. [...] der Erfolg steigerte sich von Minute zu Minute, so daß die Hervorrufe kaum zu zählen waren, die Jubelrufe des Publikums durch den Saal tosten, und des Händeklatschens kein Ende werden wollte.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 27, Nr. 43, 25.1.1898, Morgen-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (2)] Der 6. Gastspielauftritt fand am 29.1.1898 statt: „Apollo-Theater. [...] Heute 6. Abend: Yvette Guilbert.“ [Vorwärts, Jg. 15, Nr. 24, 29.1.1898, 2. Beiblatt, S. (2)] Die Presse erwähnte zum „Auftreten der gefeierten Pariser Sängerin: Madame Yvette Guilbert, der ‚grande Ivette‘, wie sie die Franzosen nennen, im Apollo-Theater“ auch die Höhe ihrer Gage: „Freilich hat es sich die Direktion des Apollo-Theaters auch eine Stange Gold kosten lassen, diese Künstlerin, die alle Welt entzückt, für ein auf zehn Tage berechnetes Gastspiel zu gewinnen, denn sie bezahlt ihr bare 30000 Mk. dafür, das macht pro Abend 3000 Mk.“ [Julius Pasig: Berliner Stimmungsbilder. In: Wittener Tageblatt, Jg. 39, Nr. 28, 29.1.1898, 2. Blatt, S. (2)] Wedekind hat sie Jahre später persönlich kennengelernt, bei einem gemeinsamen Bühnenabend am 3.9.1907 – „Wir treten mit Ivette Guilbert auf“ [Tb] – im Münchner Schauspielhaus [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 60, Nr. 411, 3.9.1907, General-Anzeiger, S. 2], der sich wiederholte, wie Wedekind am 8.3.1911 – „Erstes Auftreten mit Yvette Guilbert“ [Tb] – und 9.3.1911 – „Zweites Auftreten mit Yvette Guilbert“ [Tb] – notierte; am 19.7.1913 verbrachte er einen Abend mit ihr in kleinerer Runde im Münchner Hoftheater-Restaurant [vgl. Tb]. Korrespondenz ist überliefert [vgl. Yvette Guilbert an Wedekind, 26.3.1908]. öffentlich in einem Athemzug genannt zu sein. Eigentlich bedaure ich dich nur, daß du an dieser Freude | nicht theilnehmen kannst, aber es wird dir ja nicht viel ausmachen.

Ich bitte dich Mieze meinen herzlichen Dank für Übersendung der 30 MkHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Geldsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Erika Wedekind an Frank Wedekind, 29.1.1898. Frank Wedekind hatte seine Schwester um 50 Mark gebeten [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 5.1.1898]. zu sagen. Ebenso danke ich euch beiden für eure freundlichen Wünsche und bin mit besten Grüßen
dein
treuer Sohn
Frank.


Eben bin ich wieder auf dem Wege zu einem Gastmahl bei Dr. Heinebei Dr. phil. Carl Heine, Privatgelehrter in Leipzig (Lampestraße 3) [Leipziger Adreß-Buch für 1898, Teil I, S. 312], Regisseur und Direktor des Theaters der Literarischen Gesellschaft (Ibsen-Theater) in Leipzig, wo Wedekind als Dramaturg und unter dem Pseudonym Heinrich Kammerer als Schauspieler engagiert war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408]. nachdem wir fast die ganze Woche Erdgeist geprobtProben für die Uraufführung der „Erdgeist“-Tragödie durch das Ibsen-Theater (Direktion: Carl Heine) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408] am 25.2.1898 im Kristallpalast in Leipzig unter der Regie von Carl Heine – die erste Bühneninszenierung eines Wedekind-Stücks überhaupt; angekündigt war als „fünfte[r] Theaterabend“ der Literarischen Gesellschaft „Der Erdgeist, eine Burleske von Frank Wedekind. Der Erdgeist, der an diesem Abend seine Première erlebt, stellt eine völlig neue Gattung der modernen Dramatik dar. Das Drama ist für seine hiesige Ausführung vom Dichter einer Umarbeitung unterworfen worden, die der Bühnenwirkung des Stückes zum Vortheil gereichen dürfte“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 96, 23.2.1898, Morgen-Ausgabe, 5. Beilage, S. 1415], dann nochmals: „Die Literarische Gesellschaft in Leipzig veranstaltet, wie schon gemeldet, Freitag, den 25. Februar im Theatersaale des Krystall-Palastes ihren letzten Theaterabend. Das zur Aufführung gelangende Stück ‚Der Erdgeist‘ von Frank Wedekind (Verlag von Albert Langen, München) giebt eine Mischung von schwerem Lebensernst und souveränem Humor. Die weibliche Hauptrolle liegt in den Händen von Leonie Taliansky. Die männliche Hauptrolle wird von Frank Wedekind gespielt, der längere Zeit hindurch in der Schweiz und in Paris an der Bühne thätig war und unter seinem Theaternamen Heinrich Kammerer in der Literarischen Gesellschaft in Leipzig gastirt. Die Aufführung beginnt pünctlich um 8 Uhr.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 100, 25.2.1898, Morgen-Ausgabe, 4. Beilage, S. 1470] Neben Leonie Taliansky als Lulu und Wedekind als Dr. Schön spielten in weiteren Rollen Eugen Albu (Maler Schwarz), Ferdinand Schindler (Dr. Goll), Franz Ferdinand (Alwa Schön), Marianne Knorr (Gräfin Geschwitz), Max Henze (Schigolch) und Eugen Kalkschmidt (Prinz Escerny) [vgl. Rudolf von Gottschall: Literarische Gesellschaft. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 104, 27.2.1898, 3. Beilage, S. 1510]. haben.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Struve Strasse 34.
Dresden.

Emilie Wedekind schrieb am 12. September 1898 in Zürich folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 14.9.1898 aus München:]


um vorerst auf Deine Anfrage betreffend […] zu antworten […]. Du fragst mich […] und versicherst mir […] Wie ich aus deinem Brief ersehe […] das hast du mir nicht geschrieben […]

Frank Wedekind schrieb am 14. September 1898 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München 14. September 1898.


Liebe Mama,

um vorerst auf Deine Anfragenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 12.9.1898. betreffend das TheeserviceDas Hochzeitsgeschenk für Erika Wedekind und Walther Oschwald am 15.10.1898 in Baden, Kanton Aargau [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 189]. zu antworten, so habe ich selbstverständlich gegen Erwähnung meines Namens nichts einzuwenden. Ich müßte sie mir im Gegenteil wol noch zur Ehre anrechnen, wenn ich den namenlos verächtlichen Ton in Betracht ziehe, mi/in/ dem ich von Mieze und ihrem Bräutigam behandelt werde.

Du fragst mich theilnahmsvoll nach meinen Plänen und Erlebnissen und versicherst mich/r/, daß es nicht aus Neugierde sondern aus thatsächlichem Interesse geschehe. Wenn | wirklichSchreibversehen (Auslassung), statt: Wenn das wirklich. der Fall ist so möchte ich gerne offen zu dir sprechen. Wie ich aus deinem Brief ersehe, wenn ich ihn richtig verstanden habe wirst du vor der Hand nicht nach Dresden zurückkehren, sondern mit Mati zusammen wohnenTatsächlich hatte Emilie (Mati) Wedekind am 1.6.1896 eine dreijährige Lehrerinnenausbildung bei den Baldegger Schwestern des katholischen Klosters Baldegg, 30 km von Lenzburg entfernt, begonnen, wo sie auch wohnte, wie sie ihrem Bruder Armin am 4.5.1896 schrieb [vgl. AfM Zürich, PN 169.5:81].; wo unter welchen Verhältnissen, das hast du mir nicht geschrieben; davon hinge es aber ab, ob du mir eine sehr große Bitte erfüllen könntest. Vorderhand bitte ich dich aber um Verschwiegenheit. Da nur Du und Mati allein über Erfüllung meiner Bitte zu entscheiden hättet und beide alt genug seid, um das zu thun, so wäre es unnötig, daß sich andere mit der Frage beschäftigen zumal sie dir bei ihrer Engherzigkeit | nur den Rat geben könnten Nein zu sagen. Ich habe nämlich einen einjährigen JungenFrank Wedekinds und Frida Strindbergs gemeinsamer Sohn Friedrich Strindberg war am 21.8.1897 in München geboren. Mutter und Sohn lebten in Tutzing, wo Wedekind sie im Sommer besucht hatte [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898 und 14.8.1898]., einen Prachtskerl, sehr hübsch, äußerst ruhig, die Bewunderung eines Jeden der ihn sieht. Ich habe nun noch durchaus nicht die Gewißheit, daß ihn mir seine Mutter überlassen würde. Da es mir aber nicht möglich ist, mit der Frau zusammenzuleben, müssen wir uns auf irgendwelche Art zurechtfinden. Da sie mein Kind bei sich hat so giebt ihr das ein selbstverständliches moralisches Recht auf meine Person und die hiesige Gesellschaft würde es uns beiden nicht verzeihenIn seiner Korrespondenz mit Beate Heine schrieb Wedekind mehrfach von dem gesellschaftlichen Druck, unter dem er stand [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898 und 14.8.1898]., wenn wir uns vollkommen trennten. Anderseits hindert aber das Kind die arme Frau wesentlich daran sich ihr LebensglückUm eine Karriere als Journalistin und Übersetzerin zu verfolgen, gab Frida Strindberg ihren Sohn im Sommer 1899 in die Obhut ihrer Mutter Marie Uhl und ihrer Großmutter Marie Reischl im oberösterreichischen Saxen, wo bereits ihre Tochter Kerstin Strindberg lebte. auf eine andere Art zu gründen. Sie ist 26 Jahr alt. Ich habe dir in DresdenOb es nach dem gemeinsamen Aufenthalt in Dresden im Herbst 1896 dort noch einmal zu einem Zusammentreffen von Frank und Emilie Wedekind kam, ist ungewiss. das Zustandekommen unserer Beziehungen auseinandergesetzt. Ich | habe nie im Traum daran gedacht, sie zu heiraten und hielt sie nicht für so unerfahren, wie sie sich im Verlauf unserer Bekanntschaft erwiesen. Heute würde ich sie schon um des Kindes willen ohne Besinnen heiraten, wenn ein Zusammenleben nicht nach beiderseitiger tiefbegründeter Überzeugung ein Ding der Unmöglichkeit wäre.

Ich habe kaum ein Wort hinzuf/z/ufügen, liebe Mama, als daß ich dir natürlich unendlich des/zu/ Dank verpflichtet wäre. Ich schreibe dir nicht unter irgend welchem zwingendem Beweggrund. Wenn du dich entschließen könntest den Jungen zu dir zu nehmen, so schreib mir das in einer Art, daß ich den Brief seiner Mutter zeigen kann. Es würde das eventuell entscheidend und beschleunigend auf | ihren Entschluß wirken. Wenn du dich nicht dazu entschließen könntest, so wäre es nicht nötig auf die Angelegenheit mit einem Wort zurückzukommen oder sonstwo davon zu reden.

Was mich betrifft so bin ich am hiesigen SchauspielhausDas am 17.11.1897 von Emil Drach eröffnete Münchner Schauspielhaus (Neuturmstraße 1), in dem Georg Stollberg als Schauspieler und Oberregisseur engagiert war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 468], wurde von ihm, als „das Unternehmen finanziell zu scheitern droht“, im Sommer 1898 übernommen, „gemeinsam mit Cajetan Schmederer, Eigentümer eines der ersten hiesigen Geschäftshäuser“ [Vinçon 2014, S. 130] mit entsprechenden Geldmitteln; der Wechsel der Direktion war ökonomisch begründet, nicht konzeptionell. Georg Stollberg war nun Direktor des Münchner Schauspielhauses und stellte Wedekind als Dramaturgen, Schauspieler und Sekretär an [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443]. Die Münchner Presse meldete erst kurz vor Eröffnung des Hauses unter neuer Leitung am 7.9.1898, dass Georg Stollberg „als Dramaturgen den Schriftsteller Frank Wedekind gewonnen“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 101, Nr. 243, 3.9.1898, S. 6] habe. als Dramaturg und Schauspieler engagirtWie die Korrespondenz mit Georg Stolberg belegt, war Wedekind am 20.8.1898 bereits in seiner neuen Funktion tätig [vgl. Wedekind an Georg Stolberg, 20.8.1898], während er noch eine Woche zuvor die Arbeit für den „Simplicissimus“ als seine „Hauptbeschäftigung“ [Wedekind an Beate Heine, 14.8.1898] nannte. und zugleich Mitarbeiter des SimplicissimusWedekind war seit der ersten Nummer der illustrierten Wochenschrift „Simplicissmus“ am 4.4.1896 nicht nur regelmäßiger Beiträger, sondern auch redaktioneller Mitarbeiter der Zeitschrift [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 10.5.1896].. Ich habe beinahe jeden Abend zu spielen und zwar größere CharakterrollenIn der Schauspielpraxis des 19. Jahrhunderts wurden die Schauspieler und Schauspielerinnen verschiedenen Rollenfächern zugeordnet, eines davon waren die Charakterrollen: „Die Darsteller scharf ausgeprägter Charaktere nennt man Charakterspieler oder auch Intriguants, und die Rollen, welche die Aufgabe haben, den Charakter vollständig in seiner Entwicklung zu zeichnen, nennt man Ch[arakterrollen].“ [Adolf Oppenheim und Ernst Gettke (Hg.): Deutsches Theater-Lexikon. Eine Encyklopädie alles Wissenswerthen der Schauspielkunst und Bühnentechnik. Leipzig 1889, S. 165] „Die hauptsächlichen Rollenfächer im Schauspiel sind: Held (Heldin), Liebhaber (Liebhaberin), Väterrollen (Mütterrollen), Intriguant (Salondame), Komiker (Soubrette resp. naive und muntere Liebhaberin).“ [Ebd., S. 701], zweites FachUm die Relevanz der Rollen als Haupt- oder Nebenrollen zu charakterisieren, wurde innerhalb der Rollenfächer eine entsprechende Einteilung vorgenommen: „Durch die Bezeichnung ‚erste‘ (Helden, Liebhaber etc.) soll die besondere Stellung unter den Fachrivalen gekennzeichnet, meistens auch ein Monopol auf die bedeutenden Rollen des Faches eingeräumt werden.“ [Adolf Oppenheim und Ernst Gettke (Hg.): Deutsches Theater-Lexikon. Eine Encyklopädie alles Wissenswerthen der Schauspielkunst und Bühnentechnik. Leipzig 1889, S. 701]. Tags über bin ich theils auf der Redaction, theils im Theaterbüreau. Ende OktoberDie Premiere von „Erdgeist“ am Münchner Schauspielhaus fand am 29.10.1898 statt – mit Wedekind in der Rolle des Dr. Schön, die er schon bei der Uraufführung des Stücks in Leipzig (Regie: Carl Heine) am 25.5.1898 gespielt hatte. Die Presse kündigte an: „Samstag, 29. Oktober, findet die erste Aufführung der vieraktigenTragödie ‚Erdgeist‘ von FrankWedekind statt. Die Hauptrollen sind in den Händen der Damen Gnad, Delmar und Enzinger, sowie der Herren Sturm, Stock, Raabe, Wallner, Freyer, Robert und Wedekind. Dieser hat auch die Regie seines Stückes übernommen.“ [Münchner Schauspielhaus. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 500, 29.10.1898, Vorabendblatt, S. 2] geht mein Erdgeist hier in Scene, wahrscheinlich spiele ich wieder die Hauptrolle. Daß er zu unserer großen Bestürzung in Wien bei | unserem dortigen GastspielDer „Erdgeist“ konnte während des Gastspiels von Carl Heines Ibsen-Theater in Wien vom 2.6.1898 bis 12.6.1898 nicht aufgeführt wurden. Geplant war eine Aufführung im Wiener Carl-Theater zunächst für den 5.6.1898, dann für den 11.6.1898. Die Presse berichtete: „Das für heute im Carl-Theater zur Aufführung bestimmt gewesene Lebensbild ‚Erdgeist‘ von Frank Wedekind wurde von der Censur verboten. – Einem Berichterstatter, der gestern den Verfasser des verbotenen Stückes, Herrn Frank Wedekind, mit dem Director des Ibsen-Ensembles, Herrn Dr. Heine, besuchte, sprachen diese ihr größtes Erstaunen über das Censurverbot aus. In Hamburg, Breslau, Stettin, Halle, Leipzig und allen anderen Städten Deutschlands, wo das Ensemble gastirte, sei das Stück anstandslos gegeben worden. […] Infolge dessen waren die Herren, als sie gestern Früh den lakonischen Bescheid erhielten, die Statthalterei sehe sich veranlaßt, die Aufführung als für Wien nicht geeignet zu untersagen‘, aufs Peinlichste überrascht. […] Herr Wedekind meinte sein Stück entspreche allen Anforderungen des Grafen Kielmannsegg. Staat, Gesellschaft, Moral seien in seinem Werke peinlich geschont, so daß sogar die socialistische Presse in Deutschland über ihn hergefallen sei. Selbst den Reactionären war er zu ‚lau und zahm‘. Der Dichter ist überzeugt, daß der Statthalter das Stück, wenn er es gelesen hätte, freigegeben haben würde.“ [Neues Wiener Journal, Jg. 6, Nr. 1663, 11.6.1898, S. 6] verboten wurde wirst du aus den Zeitungen ersehen haben. Augenblicklich suche ich nach einer neuen LuluDie Rolle der Lulu wurde in München von Milena Gnad gespielt, vormals Ensemblemitglied des Raimund-Theaters in Wien [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 558], dann am Schänzli-Thater in Bern [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 273]., habe auch schon beinah eine gefunden, eine PrachtvolleSchreibversehen, statt: prachtvolle. pompöse Wienerin. Entschuldige, liebe Mama, ich werde unterbrochen.

Mit herzlichen Grüßen auch an Mati
Dein treuer
Frank.

Münchner Schauspielhaus
München.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Zürich
Seefeldstrasse 30.III.
Schweiz.

Frank Wedekind schrieb am 25. Mai 1899 in Paris folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Paris 25. Mai 99. – 49 rue Bonaparte.


Liebe Mama,

ich weiß nicht ob es eine erfreuliche oder unerfreuliche Nachricht ist, die ich dir mitteile. Donald kommt in den nächsten Tagen nach Zürich d. h. er ist wenn du diese Zeilen erhältst vermutlich schon dort, und zwar hauptsächlich aus dem Grunde, weil ich nächsten Dienstag oder Mittwochden 30. oder 31.5.1899. nach Leipzig reise um mich endlich einsperren zu lassenNach der Beschlagnahmung einer Ausgabe des im Albert Langen Verlag erscheinenden „Simplicissimus“ am 24.10.1898 am Druckort in Leipzig, erging kurz darauf gegen Wedekind aufgrund der Spottgedichte „Im heiligen Land“ und „Meerfahrt“ ein Haftbefehl wegen Majestätsbeleidigung. Wedekind floh daraufhin am 30.10.1898 von München nach Zürich und später nach Paris. Der Prozess wurde am 19.12.1898 in Leipzig eröffnet [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 585, 20.12.1898, Vorabendblatt, S. 2]. Wedekind stellte sich am 2.6.1899 der Polizei in Leipzig [vgl. Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 277, 3.6.1899, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4365]. Am 3.8.1899 wurde er dort zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt; die Strafe wurde Anfang September in Festungshaft umgewandelt, die Wedekind vom 21.9.1899 bis 3.2.1900 auf der Festung Königstein verbüßte..

Ich bitte dich nun vor allen Dingen, liebe Mama, all diese Nachrichten nicht tragisch zu nehmen. Es existirt in Deutschland nicht ein namhafter Schriftsteller, der nicht einmal gesessen hat. Ich habe hier in Paris ein neues Stück geschriebenWedekind schrieb in Paris das Drama „Ein gefallener Teufel“, das er später zum „Marquis von Keith“ umarbeitete [vgl. KSA 4, S. 411-413]. mit dem ich eben zu Ende bin. Um dieses Stück sowie meine anderen dramatischen Arbeiten ausnützen zu können, muß ich notwendig nach Deutschland zurückkehren, da ich keine Absicht habe | meiner Lebtag LohnschreiberAuch nach seiner Flucht aus Deutschland konnte Wedekind unter Pseudonym weiterhin Gedichte im „Simplicissimus“ publizieren, zwei Ende des Jahres 1898 und sieben weitere 1899 bis zu seiner Inhaftierung [vgl. KSA 1/II, S. 2236]. Wedekind hatte für Albert Langen jede Woche ein Gedicht zu schreiben, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten [vgl. Wedekind an Beate Heine, 12.11.1898]. im Dienste des Simplicissimus zu bleiben, so gut sich diese Arbeit auch bezahlt. LangenAuch Albert Langen war nach Zürich und Paris geflohen, um sich einer Verhaftung zu entziehen. Seine Verlagsgeschäfte betrieb er für viereinhalb Jahre vom Ausland aus, bis er nach Deutschland zurückkehren konnte. kommt dieser Entschluß der Art in die Quere, daß er um mich zu zwingen hier zu bleiben, Donald hat fallen lassenDonald Wedekind publizierte regelmäßig in den ersten beiden Jahrgängen (1896/97) des von Albert Langen herausgegebenen „Simplicissimus“. Sein letzter Beitrag dort erschien in der Nummer vom 15.5.1897. Für den Albert Langen Verlag übersetzte er außerdem Skizzen von Marcel Prévost, die unter dem Titel „Flirt“ 1900 erschienen. Die Sammlungen mit Donald Wedekinds Novellen erschienen indes in anderen Verlagen.. Donald sprach zuletzt in Mailand mit ihm, da er nicht wußte was anfangen, kam er hier nach Parisgemeinsam mit Frida Strindberg [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 22.5.1899].. Ich riet ihm aber dringend, da ich nicht hier bleibe und ich fürchte, daß er hier in seine frühere Lethargie verfällt nach Zürich zu gehen, wo er unendlich mehr Chancen hat, und Zürich nicht eher zu verlassen als bis seine Position gefestigSchreibversehen, statt: gefestigt., ebenso wie ich es vor drei JahrenWedekind hielt sich seit Ende Oktober 1895 in Zürich auf und zog im März 1896 nach München um. gemacht habe.

Liebe Mama, ich muß dir gestehen, ohne Groll, daß ich selten eine eisigere unfreundlichere, abweisendere Aufnahme gefunden habe als letzten HerbstWedekind war am 30.10.1898 von München nach Zürich geflohen, um der Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung zu entgehen und wird im Laufe des Novembers mit seiner Mutter und Schwester zusammengetroffen sein – eine Begegnung, die er aus Angst vor Vorwürfen zunächst vermied [vgl. Wedekind an Frida Strindberg, 4.11.1898]. von dir und Mati. Ich will nicht darauf zurückkommen. Aber ich hoffe, daß das Donald | DonaldSchreibversehen (Verdoppelung beim Seitenwechsel), statt: Donald. jetzt zu gute kommt. Er sucht in Zürich nur Arbeit und wird sie, dank meiner Verbindungen dort sehr bald finden. Er hat während des letzten halben Jahres fleißig gearbeitet und seine Schuld ist es nicht wenn es sich noch nicht genügend rentirt hat. Aber das wird auch kommen. Er hat die besten redlichsten Absichten. Es kann dir unmöglich unerfreulich sein, dich davon zu überzeugen und an seinem ehrlichen Streben theilnehmen zu können. Wenn er bei alledem nur im Notfall weiß, wo er etwas zu essen finden kann, wenn der Ertrag noch nicht langt, es braucht ja nicht einmal etwas warmes zu sein.

Liebe Mama, so lange die Menschen dir gegenüber gastlich sind, könntest du es im Notfall, wiewol ich die Beschränktheit deiner Mittel kenne, auch andern gegenüber noch sein. Es ist mehr um einen Anhalt zu | thun als um Unterstützung. Donald hat praktisch arbeiten gelernt und wird in kurzer Zeit in Zürich auf festen Füßen stehen. Um irgendwelche Summen handelt es sich dabei nicht; es wird ihm nicht über die Lippen kommen dich darum zu bitten. Sobald ich aus dem Gefängniß bin werde ich mich seiner wieder annehmen, aber in dieser kritischen Zeit habe ich wirklich zu viel mit mir selbst zu thun.

Ich wollte dich noch um eines bitten; ich erzählte dir seinerzeit den ZwistFrank Wedekind hatte seinen Bruder Donald als Nachfolger für seine Stelle als Sekretär des Theaterdirektors Georg Stollberg am Münchner Schauspielhaus empfohlen, es kam jedoch wegen Donald Wedekinds ungebührlichem Verhalten gegenüber Georg Stollbergs Frau Grete (vermutlich ein verbaler oder tätlicher sexueller Übergriff) nach nur drei Wochen zum Bruch. Frank Wedekind hatte sich daraufhin brieflich bei Georg Stollberg entschuldigt, aber auch nachdrücklich für seinen Bruder eingesetzt [vgl. Wedekind an Georg Stollberg, 21.11.1898]. zwischen ihm und Director Stollberg und zwar nur um Dir zu zeigen wie man für jemanden einstehen kann, da du dich von Herrn Hünerwadevermutlich Schreibversehen, statt: Hünerwadel; die Person ist nicht näher identifiziert, möglicherweise Fritz Hünerwadel aus Lenzburg, bei dem Frank Wedekind als junger Erwachsener zu einer Tanzveranstaltung eingeladen war [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883]. über meine Charakterqualitäten glaubtest trösten lassen zu müssen. Ich bitte dich nun, ihm diese Sache nicht vorzuhalten. Ich habe per Zufall vergessen, ihm zu sagen, daß ich dir sie dir erzählt habe.

Donald wird in Zürich dank seiner Mitar|beiterschaftIn der Beilage der „Züricher Post“ war im Februar 1894 Donald Wedekinds Reisebericht seiner Amerikareise unter dem Titel „Eine Auswandererfahrt“ in mehreren Teilen erschienen [Nr. 29 vom 4.2.1894, Nr. 36 vom 13.2.1894, Nr. 41 vom 18.2.1894, Nr. 47 vom 25.2.1894 und Nr. 53 vom 4.3.1894]. an der Zürcher Post und meine ehemalige MitarbeiterschaftIn der „Neuen Zürcher Zeitung“ waren von Wedekind 1887 die Essays „Der Witz und seine Sippe“ [vgl. KSA 5/III, S. 204-205] und „Zirkusgedanken“ [vgl. KSA 5/III, S. 901f.] sowie die Charakterskizze „Gährung“ [vgl. KSA 5/I, S. 644] erschienen, 1888 der Essay „Im Zirkus“ [vgl. KSA 5/III, S. 454f.] und zuletzt 1895 der Aufsatz „Schriftsteller Ibsen“ [vgl. KSA 5/III, S. 754f.]. an der Zürcher Zeitung so wie durch seine Persönlichkeit sehr viel Entgegenkommen finden. Ich möchte durch diese Zeilen nur verhindern daß er eventuell hungernd und in folge dessen arbeitsunfähig in einer Stadt herumlaufen muß in der seine Schwester die glänzendsten Triumphe gefeiert hat und sein Bruder als namhafter Schriftsteller bekannt ist. Ich habe in Zürich unter anderem an einem AbendErika Wedekind gastierte als überaus erfolgreiche Opern- und Konzertsängerin am 3.12.1895 in der neuen Zürcher Tonhalle und hatte versäumt ihrem mittellosen Bruder eine Karte zukommen zu lassen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 22.12.1895]. gehungert, an dem meine Schwester durch viertelstündiges Singen ein halbes Vermögen verdiente. Ich will das mit Freuden gethan haben, wenn Donald solche Schicksale erspart bleiben.

Ich vergesse bei dem allem nicht, liebe Mama, was du bisher für uns Beide geopfert hast und werde dir ZeitlebensSchreibversehen, statt: zeitlebens. dankbar dafür bleiben. Wenn du jetzt nur noch ein|mal das selbe Vertrauen zu Donald haben willst, das du im Sommer 95Die aus dieser Zeit überlieferte Korrespondenz lässt davon nichts erkennen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 2.8.1895], mag aber der Anlass für ein klärendes Gespräch während eines Besuchs Frank Wedekinds in Lenzburg gewesen sein. in Lenzburg mir gegenüber hattest, dann wird alles gut werden.

Ich verbleibe mit herzlichen Grüßen und auf baldiges frohes Wiedersehen dein dir treu ergebener Sohn
Frank.


Donald weiß nicht, daß ich dir schreibe und es wird besser sein, wenn er es nicht erfährt.

Schreib mir hierher bitte nicht mehr da mich der Brief nicht mehr antreffen würde. Solltest du Anlaß haben mir nach Leipzig zu schreiben, dann vergiß bitte nicht, daß die Briefe geöffnet werdenIn Leipzig erwartete Wedekind Untersuchungshaft, in der das Briefgeheimnis aufgehoben war..


[Kuvert:]


Suisse

Frau Dr. Emilie Wedekind
geb. Kammerer
Zürich
FeldeggstrasseVermutlich wohnte Emilie Wedekind bei der Familie ihrer Verwandten, der verwitweten Emilie Leemann (geb. Kammerer) in der Feldeggstraße 52 [vgl. Adreßbuch der Stadt Zürich 1899, Teil I, S. 324]. (Riesbach) |

sofort

Emilie Wedekind schrieb am 23. September 1899 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 4.12.1899 aus der Festung Königstein:]


Es handelt sich um ein Paar Filzpantoffeln. Die Du mir geschickt hastHinweis auf das nicht überlieferte Begleitschreiben zu einer Sendung. sind vollkommen durchgetreten.

Frank Wedekind schrieb am 5. Oktober 1899 in Festung Königstein folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Meine liebe Mama,

ich hoffe keinen TaktfehlerWedekind war wegen Majestätsbeleidigung verurteilter Häftling auf der Festung Königstein. oder eine sonstige Ungehörigkeit zu begehen, wenn ich dem heißen Bedürfnis nachgebe Dir zu schreiben unter dem noch heißeren, etwas von dir zu hören. Vor allen Dingen hoffe ich daß du gesund und wohl bist, daß es dir auch sonst gut geht und du über nichts zu klagen hast.

Was meine Wenigkeit betrifft, aber ich hatte gar nicht die Absicht, so rasch von mir anzufangen. Wie geht es Mieze? In der Leipziger ZeitungWedekind meinte vermutlich das „Leipziger Tageblatt“ (die relevanten Nummern sind online nicht verfügbar); in der „Leipziger Volkszeitung“ ist die Meldung nicht nachweisbar. las ich die NachrichtDie Presse berichtete: „In der Familie des gefeierten Mitgliedes unserer Hofbühne Frau Erika Wedekind ist die Freude eingezogen durch die Ankunft eines Töchterchens. Die ersten Stimmversuche der kleinen Weltbürgerin sollen unverkennbare Anklänge an Stellen in der ‚Nachtigall‘ von Alabieff geboten haben.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 44, Nr. 217, 7.8.1899, S. (1)] von der glücklichen Geburt ihres TöchterchensEva Erika Oschwald ist am 5.8.1899 geboren.. Ich weiß und fühle es auch sehr schmerzlich, daß ich ihr viel Kummer bereitet habe. Und als das UnglückDie Verfolgung Wedekinds wegen Majestätsbeleidigung nach dem Abdruck seines Gedichts „Im heiligen Land“ in der Zeitschrift „Simplicissimus“ und seine Flucht nach Zürich am 30.10.1899. letzten Herbst in München passierte | gab ich mir das Wort, ihr nichts von mir hören zu lassen bis alles glücklich wieder vorüber sei. Es war ja einzig und allein auch nur möglich, da ich in München in jener Zeit über alle Maßen beschäftigt war in meiner Stellung als Dramaturg Sekretär Schauspielerbei Theaterdirektor Georg Stollberg am Münchner Schauspielhaus seit Ende August 1898. Dramatischer Autor und Journalist. Wäre das Unglück nicht hereingebrochen, dann säße ich jetzt mitten im Fett statt in der Tinte. Aber diese Tinte verdient ihren Namen so wenig daß ich mir auf der Welt keinen schöneren Aufenthalt wünschen könnte. Ich bin von früh bis spät im Freien, alles erinnert mich an zu Haus, wiewol weder die architektonische noch die LandschaftlicheSchreibversehen, statt: landschaftliche. Schönheit an Lenzburg heranreicht. Nicht einmal die Felsen sind so majestätisch. Aber nachdem ich | zehn Jahre lang nur Stadtluft geatmet habe ist mir jeder Schritt ein Genuß. Gleich in den ersten Tagen erhielt ich den Besuch meines ersten Theaterdirectors Dr. Heine aus Hamburg. Wir sprachen viel von unserer vorjährigen TourneeWedekind war als Ensemblemitglied mit Carl Heines Ibsen-Theater von März bis Juni 1898 auf Tournee gewesen.. Damals fuhr ich von Wien nach Leipzig in sehr fideler Gesellschaft mit Frl TalianskyLeonie Taliansky spielte die Lulu in der Leipziger Uraufführung von „Erdgeist“ am 25.2.1898, die Katherina Alexandrowna in der Uraufführung von „Der Liebestrank“ am 1.7.1898 in Leipzig und die Miss Isabel Coeurne in der Uraufführung von „Der Kammersänger“ am 10.12.1899 in Berlin. Sie war Ensemble-Mitglied am Neuen Theater Berlin (Schiffbauerdamm 5) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 258]. die jetzt die erste Rolle bei Nuscha ButzeDie Schauspielerein war seit 1898 Direktorin des Neuen Theaters Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 257]. in Berlin spielt, am Königstein vorbei und ließ mir nicht träumen daß ich eh ein Jahr vergeht, hier obenDie Festung Königstein im Elbsandsteingebirge diente seit 1591 als sächsisches Staatsgefängnis. sitzen würde. Nicht daß ich mir etwas darauf einbilde, um Gottes Willen. Ich bin auch sehr fleißig und werde bald mit einem neuen StückWedekind nutzte die Haftzeit zur Umarbeitung seines Stücks „Der gefallene Teufel“ zum „Marquis von Keith“ [vgl. KSA 4, S.413]. vor die Öffentlichkeit treten daß hoffentlichSchreibversehen, statt: das hoffentlich. besser und aufführbarer ist als mein Erdgeist.

Ich habe es sehr bedauert, liebe Mama daß ich dich in Zürich nicht mehr gesehen habe, aber so sehr ich es vermeiden wollte vor meinem VortrageWedekind trat in Zürich am 12.12.1898 im Rahmen eines „Literarische[n] Abends des akademischen Lesevereins“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 119, Nr. 345, 13.12.1898, 1. Abendblatt, S. (2)] mit einer Lesung seines „Rabbi Esra“ auf. Das übrige Programm bestand aus Vorträgen, Gedichtrezitationen, Gesangseinlagen und Dialektdichtung: „Der große Saal im Hotel Bellevue vermochte die Personen kaum zu fassen, die gekommen, ‚das prächtig servierte Menü‘, wie Dr. Betz das Programm launig nannte, zu genießen. […] . Die leichtgeschürzte Muse Frank Wedekinds ist in ihrem Innersten eine Lebensphilosophin. Der anhaltende Beifall galt dem Dichter des ‚Rabbi Esra‘, aber auch dem Rezitatoren Frank Wedekind.“ [Ebd.] jemanden zu sprechen, da | ich eine Höllenangst hatte, so sehr hätte ich mich gefreut, nachher mit dir zusammen zu bleiben aber da warst du verschwunden. Übrigens ist mir die ganze Zürcher ZeitWedekind war am 30.10.1898 von München nach Zürich geflohen und reiste von dort Ende Jahres weiter nach Paris. dieses Schweinekerls von Langen wegen in sehr düstrer Erinnerung.

Jetzt wirst du ja voraussichtlich wieder deines Erzieheramtesbei ihrer Enkelin Eva Oschwald (siehe oben) in Dresden. walten; ich setze daher voraus daß du noch in Dresden bist. Grüße Mieze und Walter herzlich von mir. Von Donald habe ich seit zwei Monaten keine Nachricht mehr und von Mati weiß ich gar nichts.

Mit den besten Wünschen für dein Wohlergehen grüßt dich herzlichst dein
gehorsamer Sohn
Frank.


Festung Königstein
5. Okt. 99.


[Kuvert:]


Frau Emilie Wedekind.
pa. Frau Erica Wedekind.
kgl. Sächs Hofopernsängerin
Dresden. StrehlenErika Wedekind und Walther Oschwald wohnten im Dresdner Stadtteil Strehlen in der Julius Ottostraße 9 [vgl. Adreßbuch für Dresden und seine Vororte 1900, Teil I, S. 453]. In der vormaligen Wohnung in der Struvestraße 34, 3. Stock war weiterhin Emilie Wedekind verzeichnet [vgl. ebd., S. 679].

Emilie Wedekind schrieb am 13. Oktober 1899 in Dresden folgenden Brief
an Frank Wedekind

Von Willy hatte ich kürzlich durch einen Johannesburgernicht identifiziert. William Wedekind war im September 1889 nach Südafrika ausgewandert und lebte in Johannesburg. gute Nachrichten. Er ist Angestellter mit 500 Frs. monatlichem Gehalt. Jetzt aber fürchten wir sehr, daß der KriegDer sogenannte Zweite Burenkrieg zwischen Großbritannien und den Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Transvaal begann nach Ablauf eines Ultimatums zum britischen Truppenabzug an der Grenze zu Transvaal mit Kampfhandlungen am 12.10.1899. Die deutschsprachigen Zeitungen berichteten: „Das transvaalische Ultimatum bedeutet Krieg: daran ist nach vernünftiger menschlicher Berechnung nicht mehr zu zweifeln.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 44, Nr. 283, 12.10.1899, S. (1)]. Der Krieg endete mit einem Friedensschluss am 31.5.1902 und der Eingliederung der beiden Burenrepubliken in das britische Empire. mit seinen Schreken das Land und seine Bewohner in’s Unglück stürze, und Willy auch darunter zu leiden haben werde. Ich habe lange keine direkten Nachrichten mehr bekommen; am Ende kommt Willy mit seiner Familie wieder heim, da ja die meisten Europäer flüchten u. d. Land verlassen. Um Dir zu zeigen, daß man sich seines Glückes freuen kann und doch noch zu klagen hat spreche ich von Donald. Nachdem er nun in Zürich leidlich Fuß gefaßt hatte und, wie er mich versicherte gut verdiente (150 Fr. pr. Monat) schreibt er unsDie genannte Korrespondenz zwischen Donald Wedekind und seiner Mutter sowie seiner Schwester Erika ist nicht überliefert. plötzlich, daß er seinen Antheil am SteinbrüchliDas Haus Steinbrüchli, in dem Emilie Wedekind nach ihrem Umzug von Schloss Lenzburg wohnte, war nach dem Tod des Vaters an die Geschwister und Mutter gemeinschaftlich vererbt worden. an einen gewissen BollakDas Haus Steinbrüchli, in dem Emilie Wedekind nach ihrem Umzug von Schloss Lenzburg wohnte, war nach dem Tod des Vaters an die Geschwister und Mutter gemeinschaftlich vererbt worden. um 500 Franken verkauft habe. Er fragt Mieze an, ob sie dem | Juden 1000 Franken geben wolle, wofür dieser es ihr ablassen würde. Natürlich bedankt sich Mieze dafür und will mit solchem Schmutzkerl nichts zu thun haben. Wir sind so empört über diesen gemeinen Bubenstreich von Donald, daß wir nichts mehr mit ihm zu thun haben wollen. Ich dachte immer, das bleibe Donald für später, sodaß er doch noch einen Nothpfennig habe und hatte ihm das feste Versprechen abgenommen, es nicht zu verkaufen solange er sich noch was verdienen könne. Auch hat er mir versprochen zuerst e/E/inem von uns Mittheilung zu machen wenn er es verkaufen wolle. Wir hätten ihm ja selbstverständlich den richtigen Preis dafür bezahlt, wie ich dir s. Z.Zeitpunkt und Höhe der Auszahlung von Wedekinds Anteil am Haus Steinbrüchli durch seine Mutter sind nicht ermittelt. für Deinen Antheil bezahlte. Und nun | gibt er ihn für 500 Franken an den Juden, den wir jetzt als Miteigenthümer unter uns haben und Donald hat sein Letztes zum Fenster hinausgeworfen Nun, ich komme mit der Zeit auch wohl darüber hinweg, obgleich ich jetzt noch grimmig darunter leide, daß aus dem Jungen mit aller Gewalt ein Lump wird. Gott sei Dank habe ich Tag und Nacht meine ArbeitEmilie Wedekind zog nach der Geburt Ihrer Enkelin Eva Oschwald am 5.8.1899 nach Dresden, um die Kinderbetreuung zu übernehmen., die mich daran verhindert meinen traurigen Gedanken nachzuhängen. Das ist ein Segen für mich, sonst weiß ich, daß ich den Kummer den mir Donald macht, nicht mehr lange ertragen könnte.

Mieze meinte, ich könnte Dich vielleicht einmal auf d. Königstein besuchen. Was meinst Du dazu? Und wenn ich komme, könnte ich Dir vielleicht Etwas mitbringen? Schreibe mir darüber. Ich komme | nemlich nur dann fort, wenn Mieze einen ganzen Tag frei hat, damit sie dann bei der Kleinen bleiben kann wenn ich fort bin. Das wäre so ungefähr in 10 – 14 Tagen. Mieze läßt Dich herzlich grüßen. Sie ist ein famoses Weibchen geworden und kann vergessen u. vergeben. Walther ist seit vorgestern in BaselWalther Oschwalds Eltern Theodor und Fanny Oschwald waren 1895 von Lenzburg nach Basel (Friedensgasse 7) [vgl. Adressbuch der Stadt Basel 1899, Teil I, S. 313] gezogen. bei seinen Eltern.

Sei Du mein lieber Frank herzlichst gegrüßt und umarmt von Deiner Dich innigst liebenden
Mama.


Matis Adresse ist. E. W. in PettighofenEmilie (Mati) Wedekind hatte nach vor Abschluss ihrer Ausbildung zu Lehrerin im Kloster Baldegg die Übernahme einer Hauslehrerinnenstelle bei der Unternehmerfamilie Emil und Josefine Hamburger im oberösterreichischen Pettighofen zugesagt, die sie von Juli 1899 bis Juni 1902 innehatte, wie aus der Korrespondenz mit ihrem Bruder Armin hervorgeht [vgl. AfM Zürich, PN 169.5.78-101]. „Der Unternehmer Hamburger, bereits im Besitz mehrerer Papiermühlen bei Lenzing (Österreich), ließ in Pettighofen bei Kammer 1894/1895 eine Papierfabrik bauen, welche am 1. August 1896 ihren Betrieb aufnahm.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 195]
Post Kammer,
Ober. Oestreich.Schreibversehen, statt: Oberösterreich.

Frank Wedekind schrieb am 27. Oktober 1899 in Festung Königstein folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama,

würdest du mir erlauben, dich wieder mit einer Besorgung zu behelligen. Ich brauche zu einem notwendigen Geschenk einen kleinen Handspiegel,Der Handspiegel war als Geburtstagsgeschenk für Beate Heine zu ihrem 40. Geburtstag am 31.10.1899 vorgesehen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 2.11.1899 und Beate Heine an Wedekind, 5.11.1899]. Wedekind nahm hier irrtümlich ein falsches Geburtsdatum an. Emilie Wedekind delegierte den Auftrag an Walther Oschwald [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 31.10.1899]. ich denke ihn mir so in der Art wie Mieze einen von einer amerikanischen Freundinnicht identifiziert. erhalten hat, in Leder, Elfenbein oder Ebenholz, einfach, patent und geschmackvoll. Den Preis denke ich mir 10-15 Mark kann auch 20 sein. Der betreffende Geburtstag ist am 5 November. Ich muß ihn dann noch verschicken. Außerdem bräuchte ich MomentanSchreibversehen, statt: momentan. höchstens vielleicht ein halbes Pfund Thee. Sonst weiß ich nichts und | DankeSchreibversehen, statt: danke. dir im Voraus für die Besorgung.

Vielleicht schreibst du mir auch wann Donalds und wann Miezes GeburtstagDonald Wedekind hatte am 4.11.1871, Erika Wedekind am 13.11.1868 Geburtstag. ist; der eine ist am 4 und der andere am 13 aber welcher, das weiß ich nicht. Donald hat mir zum Geburtstag ins Gefängnis geschriebenDer Geburtstagsbrief ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1899. und ich möchte dafür sorgen, daß er sich an dem Tag wenigstens keinen Flüchen und Verwünschungen hingiebt. Ich werde ihm 10. M. schicken, vielleicht hättest du auch gerade so viel übrig um einem freundlichen Glückwunsch etwas Plastikhier im Sinne von Form, Gestalt. zu geben. Aber ja nicht mehr! Solche unerwartete Kleinigkeiten im rechten Moment wirken erzieherisch, krazenSchreibversehen, statt: kratzen. ihn auf | und fesseln ans Leben. Denn sein Unglück ist nicht daß er kein Geld hat, sondern, daß er keinen Funken Lebensmut mehr hat. Sein Geldmangel ist nur eins der SympthomeSchreibversehen, statt: Symptome. und nicht das schlimmste. Solang man die Sache als eine Geldfrage ansieht schadet man ihm. Ich möchte aber ebenso sehr von jeder Sentimentalität abraten. Im Gegentheil: Vorderhand so wenig Worte wie irgend möglich. Keine Moralpredigten. Sondern so thun als sei nichts geschehn und alles in bester Ordnung. Die Moralpredigten muß er sich selber halten, sonst nutzen sie nichts. Unserer moralischen Unterstützung aber und dessen was man beim Reiten „Hülfen„Hilfen (Hülfen), Einwirkungen des Reiters auf sein Pferd mit Zaum, Schenkel etc.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 5. Aufl. Bd. 8. Leipzig, Wien 1895, S. 805].nennt kann er nicht entbehren. Dazu steht es zu schlimm mit ihm. Ich schreibe auch das mit seinem Geburtstag nicht aus Sentimentalität | sondern nur um des praktischen Nutzens willen, und bitte dich liebe Mama, also nicht darüber gekränkt zu sein, daß ich im Strudel der/s/ Lebens Deinen Geburtstag unzählige Male vergessen habe.

Grüße Walther und Mieze aufs beste und sei herzlich gegrüßt und bedankt von deinem treuen Sohn
Frank.


Festung. Königst.

27.X 99.


Über Deinen freundlichen BesuchEmilie Wedekind hatte zuletzt einen Besuch auf der Festung Königstein in Aussicht gestellt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 13.10.1899]. würde ich mich unendlich freuen, ich bin aber momentan tief in der Arbeittief in der Arbeit] Wedekind nutzte die Haftzeit zur Umarbeitung seines Stücks „Der gefallene Teufel“ zum „Marquis von Keith“ [vgl. KSA 4, S. 413]. und der Winter ist ja noch lang. In einigen Wochen werde ich mich freier fühlen und dann mit Freuden darauf zurückkommen.

Emilie Wedekind schrieb am 30. Oktober 1899 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Walther Oschwald vom 31.10.1899 aus der Festung Königstein:]


Heute erhalte ich die Nachricht von Mama […]

Frank Wedekind schrieb am 7. November 1899 in Festung Königstein folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 4.12.1899 von der Festung Königstein:]


[…] willst Du mir erlauben, eine BitteHinweis auf das nicht überlieferte Schreiben des inhaftierten Wedekind, in dem diese Bitte erstmals geäußert wurde. zu wiederholen, mit der ich Dich schon einmal belästigte.

Frank Wedekind schrieb am 4. Dezember 1899 in Festung Königstein folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama,

willst Du mir erlauben, eine Bitte zu wiederholenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben, in dem die Bitte erstmals formuliert wurde; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.11.1899., mit der ich Dich schon einmal belästigte. Es handelt sich um ein Paar Filzpantoffeln. Die Du mir geschickt hastHinweis auf eine Sendung und ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.9.1899. Emilie Wedekind dürfte ihrem Sohn zu Beginn seiner Haftzeit auf der Festung Königstein, wohin er am 21.9.1899 aus dem Gefängnis in Leipzig verlegt worden war [vgl. Wedekind an Beate Heine, 22.9.1899], Dinge für den täglichen Bedarf geschickt haben. sind vollkommen durchgetreten. Das kommt von schlechten Fußböden und weil ich sie fast den ganzen Tag trage. Bitte, kauf mir wieder ein ganz gleiches Paar, das wird | halten bis sich meine Zeit hier erfüllt hatWedekind wurde am 3.2.1900 aus der Haft entlassen.. No 43 zu 2 Mark. Außerdem bedürfte ich notwendig wollner Socken. Würdest du mir bitte ein halbes Dutzend schwarze wollne Socken schicken aber nicht zu dick sondern so daß man sie im Salon tragen kann. Bis jetzt trage ich d noch die allerdünnsten baumwollnen Socken in allen Farben aber die werden mir doch etwas zu kühl. Ich hoffe daß mein Geld noch soweit reicht. Andernfalls schreib es mir bitte oder | laß sie mir auf Nachnahme schicken.

Mir geht es soweit gut. Walther schrieb mirDas Schreiben ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Walther Oschwald an Wedekind, 4.11.1889. von Eurer Taufevon Emilie Wedekinds Enkelin Eva Oschwald, der am 5.8.1899 geborenen Tochter von Erika Wedekind und Walther Oschwald. und anderen Herrlichkeiten. Ich setze voraus daß er mit Mieze jetzt in der Schweiz ist, werde ihm aber heute doch wahrscheinlich noch schreibenvgl. Wedekind an Walther Oschwald, 4.12.1889.; der Brief eilt dann aber gar nicht und kann ruhig bis zu seiner Rückkehr warten.

Ich hoffe, liebe Mama, daß dir der milde Winter ebenso | wohlthut wie mir und daß Du auch im Übrigen nichts zu klagen haben mögest. Grüße bitte Mieze und Walther aufs herzlichste auch Deine kleine Großtochter und sei selbst herzlichst gegrüßt von Deinem Dir treu ergebenen Sohn
Frank.


Festung KönigstenSchreibversehen, statt: Königstein.
4. Dec. 1899.

Emilie Wedekind schrieb am 16. Dezember 1899 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 17.12.1899 von der Festung Königstein:]


[…] das ist ja eine recht traurige BotschaftHinweis auf das nicht überlieferte Schreiben mit der Todesnachricht von Wedekinds Tante.. […] Was du mir schriebst […]

Frank Wedekind schrieb am 17. Dezember 1899 in Festung Königstein folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama,

das ist ja eine recht traurige Botschaftder Tod von Wedekinds Tante Auguste Bansen, der Schwester seines Vaters, aus Hannover am 15.12.1899. Zugleich Hinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 16.12.1899.. Mir bleibt nichts anderes, als zu condolierenBeileid zu bekunden.. Meine Dienste kann ich Dir nun leider nicht anbieten. Ich denke, es wäre wol Armins Sache nach Hannover zureisen, vorausgesetzt daß du von Dresden momentan nicht abkommen kannst. Mir sind diese Verhältnisse sämmtlich so vollkommen fremd, indem ich außer dir und meinen Geschwistern ja thatsächlich nicht einen einzigen Verwandten | persönlich kenne, daß man mich nicht vermissen wird.

Hier oben war es die letzten drei Tage empfindlichst kalt, während man sich jetzt wieder vollkommen wol fühlt. Was du mir schriebst von dem Urlaubsgesuch wegen der Aufführungdie Uraufführung von „Der Kammersänger“ (Regie: Martin Zickel) am Neuen Theater in Berlin (Direktion: Nuscha Butze-Beermann) am 10.12.1899. in Berlin muß sich einer von Miezes guten Freunden aus den Fingern gesogen haben. Es ist nicht ein wahres Wort daran, indem ich im Traum nicht daran dachte um Urlaub einzukommen sondern mich herzlich darüber freute, daß ich weit vom Schuß war. Dem Menschen war es offenbar nur darum zu thun ein | Dementi von mir zu erhalten, damit er seinen LesernDie Zeitung, in der vom angeblichen Urlaubsgesuch Wedekinds berichtet wurde, ließ sich nicht identifizieren. noch mal unter die Nase reiben kann, daß ich hier oben sitze. Ich habe deshalb natürlich auch gar nicht darauf reagirt.

Ich wünsche Dir von ganzem Herzen fröhliche Feiertage. Vielleicht schickst du Donald zu Weihnachten wieder eine Kleinigkeit, vorausgesetzt natürlich, daß er sich in der Zwischenzeit anständig gegen dich betragen hat. Auf diese Weise wird das a/A/ufkommen unheilvoller Spannungen verhindert. Und er ist ja nun einmal im Pech; des wegenSchreibversehen, statt: deswegen. kann man nicht von ihm erwarten, daß er das Gleiche thut. |

An Neuigkeiten habe ich natürlich nichts zu bieten. Wir sind augenblicklich nur unserer ZweiWedekinds Mithäftling war ein nicht näher identifizierter „Agrarier“, wie er seinem Schwager schrieb [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 21.12.1899]. und leben wie in einem Trappistenklosterdas heißt, ohne miteinander zu sprechen; andere Ordensverpflichtungen der Trappisten, wie vielstündige Gebete und Feldarbeit, können hier kaum gemeint sein..

Die Pantoffeln und Strümpfe habe ich glücklich erhaltenDas Begleitschreiben zu der Sendung ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Walther Oschwald an Frank Wedekind, 11.12.1899. und lasse Walther bestens dafür danken. Deine EinsamkeitEmilie Wedekinds Tochter Erika und ihr Schwiegersohn waren in die Schweiz gereist [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 4.12.1899], vermutlich zu den Eltern von Walther Oschwald in Basel. wird ja nun auch bald zu Ende sein. Meine dauert nur noch anderthalb MonatWedekind wurde am 3.2.1900 aus der Haft entlassen. und ich fürchte nur daß ich das mir gesetzte Pensumdie Fertigstellung des „Marquis von Keith“. Tatsächlich zog sich die Arbeit an dem Stück bis in den Mai 1900 hin [vgl. KSA 4, S. 413]. nicht zu Ende bringe. Auf alle Fälle aber hoffe ich dich auf der Durchreise in Dresden zu sehen.

Mit den herzlichsten Grüßen bin ich dein treuer Sohn
Frank


Festung Königstein, 17.12.99.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Dresden-Strehlen
9. Julius-Otto-Strasse 9.

Emilie Wedekind schrieb am 23. Dezember 1899 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 28.12.1899 aus der Festung Königstein:]


[…] erfuhr ich zu meiner noch größeren Freude aus deinen lieben Zeilen […]

Frank Wedekind schrieb am 28. Dezember 1899 in Festung Königstein folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Mein liebe süßenSchreibversehen, statt: Meine liebe süße Mama,

Ohne noch zu wissen von wem sie kamen zog ich die eine der Unterhosen die mich glücklicher Weise noch zu Bett antrafen, sofort an. und nachdem ich mich herzlich darüber gefreut, erfuhr ich zu meiner noch größeren Freude aus deinen lieben ZeilenDas Begleitschreiben zu der Sendung ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.12.1899., daß sie von Dir kommen. Ich habe leider auch dies Jahr wieder nur | leere Hände aber das wird ja nun bald anders werden. Mit meinem herzlichen Dank schicke ich dir meine aufrichtigen besten Wünsche für das kommende Jahr. Wie ich in Kleinigkeiten immer Pech habe geht mir gerade jetzt am Jahreswechsel das Papier aus, so daß ich auf die elendesten Fetzen schreiben muß.

Ich bin hier oben wieder ebenso dick geworden wie | ich in Leipzigwährend der Haftzeit im Leipziger Gefängnis seit dem 2.6.1899. Wedekinds Haftstrafe wurde infolge eines Begnadigungsgesuchs vom 23.8.1899 in Festungshaft umgewandelt, die er am 21.9.1899 antrat. Zu den Haftbedingungen dort vgl. Wedekind an Beate Heine, 22.9.1899 und Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 2.11.1899. zu Taille gekommen war. Aber es dauert ja jetzt nur noch einen MonatWedekind wurde am 3.2.1900 aus der Haft entlassen. dann kann ich wieder Bantingkur„Methode zur Heilung übertriebener Wohlbeleibtheit und Fettsucht, führt ihren Namen von William Banting, Kaufmann in Kensington (gest. 1878), der die Kurmethode zuerst an sich selbst angewendet hat und sie 1863 in seinem berühmt gewordenen offenen Brief (‚Letter on corpulence‘, zuletzt 1885) beschrieb. Er genoß zum Frühstück 120–150 g mageres Fleisch, 30 g Zwieback oder geröstetes Brot und eine Tasse Tee ohne Milch und Zucker. Sein Mittagessen bestand aus 150–180 g Fisch (mit Ausnahme von Lachs), magerm Fleisch, Gemüse (mit Ausnahme von Kartoffeln), Geflügel oder Wildbret, etwas Kompott und geröstetem Brot. Dabei trank er 2–3 Gläser guten Rotwein, Sherry oder Madeira. Nachmittags genoß er 60–90 g Obst, 1–2 große Zwiebacke und eine große Tasse Tee ohne Milch und Zucker. Sein Abendessen bestand aus 90–120 g Fleisch oder Fisch und 1–2 Glas Rotwein. Bei dieser Diät verlor Banting innerhalb eines Jahres 23 kg Körpergewicht, wobei sein körperliches Wohlbefinden sich fortwährend steigerte.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 2. Leipzig, Wien 1903, S. 355] machen.

In Berlin wollen Hartleben und Wohlzogen ein künstlerisches literarisches VarietéeErnst von Wolzogens Buntes Theater (Überbrettl) wurde am 18.1.1901 im Berliner Alexanderplatz-Theater (Alexanderstraße 40), Spielstätte der Secessionsbühne, offiziell eröffnet und gilt als das erste deutsche Kabarett. Wedekind lehnte kurz vor Eröffnung eine Mitarbeit an dem Projekt ab [vgl. Wedekind an Ernst von Wolzogen, 23.12.1900] unter meiner Mitwirkung begründen. Ich bin aber noch sehr im ZweifelAusführlicher erörterte Wedekind seine Bedenken in einem anderen Brief vom gleichen Tag [vgl. Wedekind an Beate Heine, 28.12.1899]. ob ich daran theilnehme indem ich befürchte die Sache wirSchreibversehen, statt: wird. ein KladeradatschKladderadatsch, „in Norddeutschland gebräuchlicher Ausruf, um einen mit klirrendem oder krachendem Zerbrechen verbundenen Fall zu bezeichnen“ [Meyers Konversations-Lexikon. 5. Aufl. Bd. 10. Leipzig, Wien 1895, S. 189]; im übertragenen Sinne für Chaos, Aufregung, Skandal.. Meine neuste ErrungschaftSchreibversehen, statt: Errungenschaft. ist | meine MitarbeiterschaftWedekind war es gelungen, noch vor Fertigstellung des „Marquis von Keith“, die Abdruckrechte seines Dramas an die von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder herausgegebenen und aufwendig gestaltete Monatsschrift „Die Insel“ zu verkaufen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 28.12.1899]. Der 1. und 2. Akt des Stücks erschienen dort unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet“ im April 1900 [Jg. 1, 3. Quartal, Nr. 7, S. 3-76], im Mai und Juni folgten die übrigen Teile des Dramas [vgl. KSA 4, S. 413]. an der „Insel“ bei der fünf Millionen in Druckerschwärze verpulvert werden müssen.

An Dich, liebe Mama, an Mieze und Walther meine herzlichsten Wünsche zum neuen Jahr.

Dein treuer Sohn
Frank.


Festung Königstein
28. Dec. 99.

Frank Wedekind schrieb am 7. Mai 1900 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama!

Von ganzem Herzen gratuliere ich Dir zum heutigen TageEmilie Wedekinds 60. Geburtstag war am 8.5.1900. und wünsche Dir daß Du noch sehr viel Freude und über nichts zu klagen haben mögest. Eure Rosen im Garten beginnen jetzt wol schon zu blühen und die kleine Eva wird Dir deine Mühe gewiß auch mit jedem Tag den sie älter wird mehr vergelten. | Was mich betrifft so sitze ich in einer entzückenden WohnungIn die Wohnung in der Franz Josephstraße 42 in Schwabing war Wedekind am 21.3.1900 gezogen [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 21.3.1900] und dort seit dem 22.3.1900 gemeldet [vgl. EWK/PMB Wedekind]. in einer Vorstadt Münchens, durchaus modern eingerichtet, freilich noch mit wenig Möbeln, aber die muß die Zeit bringen. Bis Du wieder einmal in die Schweiz reist oder von dort zurückkommst hoffe ich so weit zu sein, auch jemanden bei mir beherbergen zu können. Mein neues fünfaktiges Stück an das ich eben die letzte Hand lege erscheint in den nächsten drei MonatenWedekinds Schauspiel „Marquis von Keith“ erschien zuerst unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet“ in den Monaten April bis Juni in Fortsetzungen in der Zeitschrift „Die Insel“ (Herausgeber: Otto Julius Bierbaum, Alfred Walther Heymel, Rudolf Alexander Schröder) [Jg. 1, Bd. 3, Nr. 7-9 (April bis Juni 1900), S. 3-76, 166-198, 255-310; vgl. KSA 4, S. 425]. in der pompös ausgestatteten Zeitschrift „Insel“ | mit der ich mich auf den besten Fuß gestellt und auch für die ZukunftIm August beklagte Wedekind zunächst den Abbruch der Beziehungen zu dem „Insel“-Herausgeber Alfred Walter Heymel [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 24. und 28.8.1900]. 1901 erschien in der Zeitschrift der „Prolog zum Erdgeist“ [vgl. Die Insel, Jg. 2, Nr. 6 (März 1901), S. 351-354], 1903 dann der Zeitschriftenvorabdruck von Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ [vgl. Die Insel, Jg. 3, Nr. 10 (Juli 1903), S. 19-105]. festen Vertrag gemacht habe. Ich werde froh sein wenn ich endlich mit der Arbeit fertig bin um mich wieder meiner Bühnenthätigkeit zuwenden zu können. Mit dem ersten Regisseur des hiesigen Hoftheaters habe ich mich dahin verabredet, daß er mir meine Rollen einstudiertSchon während seiner Haftzeit plante Wedekind nach seiner Entlassung Schauspielunterricht zu nehmen [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.8.1899], um vermehrt in seinen Stücken auftreten zu können. Der geplante Unterricht bei dem Hofschauspieler Fritz Basil, seit 1896 auch Regisseur am Münchner Hoftheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 455], kam jedoch erst später zustande und lässt sich erst für Frühjahr 1904 belegen [vgl. Tb 15.4.1904].. Die ersten zwei Monate meines hiesigen Aufenthaltes waren ziemlich verdüstert durch die unerquicklichen AbrechnungenDie Korrespondenz mit Albert Langen und seinem Verlag aus dieser Zeit ist nicht überliefert. Einblick in den Gegenstand der Auseinandersetzungen gewähren die Briefe an Walther Oschwald [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 15.3.1900 und 16.3.1900]. mit Albert Langen, die ich aber | durch Ausdauer und Hartnäckigkeit zu meiner vollen Zufriedenstellung zu Ende geführt habe. Langen sitzt gegenwärtig mit seiner Frau in Zürich und wäre frohAlbert Langen war im Oktober 1898 noch vor Wedekind, unverzüglich nach der Beschlagnahmung des „Simplicissimus“, über Zürich und Rom nach Paris geflohen, um einer Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung zu entgehen, und war, anders als Wedekind, nicht bereit, sich den Behörden zu stellen. Er konnte erst im April 1903 nach Deutschland zurückkehren. Kurz zuvor war er, gegen Zahlung eines Bezeigungsgeldes in Höhe von 20.000 Mark, begnadigt worden [vgl. Abret/Keel 1985, S. 33-38]. wenn er an meiner Stelle wäre.

Grüße Walther und Mieze aufs herzlichste. Mit dem bestenSchreibversehen, statt: den besten. Wünschen für die Zukunft und herzlichsten Grüßen bin ich dein
treuer Sohn
Frank.


München 7. Mai 1900
Franzjosefstraße 42.II.

Emilie Wedekind schrieb am 23. Juli 1900 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 10.10.1900 aus München:]


[…] ich komme herzlich spät dazu, Dir Deine beiden lieben Briefe zu beantworten.

Emilie Wedekind schrieb am 10. September 1900 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 10.10.1900 aus München:]


[…] ich komme herzlich spät dazu, Dir Deine beiden lieben Briefe zu beantworten.

Frank Wedekind schrieb am 10. Oktober 1900 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama,

ich komme herzlich spät dazu, Dir Deine beiden lieben Briefenicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1900 und 10.9.1900. zu beantworten. Aber daran sind die Verhältnisse schuld. Vor allem, daß diese ErbschaftsgeschichteWedekinds Tante Auguste Bansen, die jüngste Schwester seines Vaters, war am 15.12.1899 in Hannover kinderlos gestorben und hinterließ ihren Neffen und Nichten ein Erbe von je 5000 bis 6000 Mark [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 20.1.1900; AfM Zürich, PN 169.05.92]. Noch in der Haft beauftragte Wedekind seinen Schwager Walther Oschwald mit der Interessensvertretung in dieser Sache gegenüber dem Hannoveraner Anwalt Hans Heiliger, der die Erbschaftangelegenheit abwickelte. Zum Leidwesen Wedekinds zog sich die Auszahlung jedoch in die Länge und gestaltete sich für ihn entsprechend konfliktreich (siehe seine Korrespondenz mit Walther Oschwald). zusammenfiel mit meinem neuen Eintritt ins Leben, mit dem Ende meiner Festungshaft. Ich möchte denjenigen sehen den unter solchen Verhältnissen nicht die Aussicht auf eine außerordentliche Hülfe, deren Eintritt sich von Monat zu Monat von Woche zu Woche verzögert, aus | aller Contenance brächte. In der That war ich zum Schluß auch mit meiner Gesundheit am alleräußersten RandeWedekind hatte sich aufgrund einer „Nervenkrise“ [Wedekind an Walther Oschwald, 1.8.1900] im Juli 1900 in Leipzig in eine Klinik einweisen lassen, nachdem er persönlich nach Hannover gereist war, um die Auszahlung der Erbschaft zu erwirken, jedoch ohne Erfolg. und auch heute noch ist jeder Tag eine Art von Reconvalescenz für mich. Es kam vor allem auch daher, daß ich mich in den ersten Monaten meines Aufenthaltes in München bei der Fertigstellung meines neuen StückesWedekind arbeitete bis Mitte Mai 1900 am „Marquis von Keith“ [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 28.5.1900], also auch dann noch, als im April und Mai die ersten Akte in der Zeitschrift „Die Insel“ bereits erschienen waren [vgl. KSA 4, S. 413].Marquis v. Keith“ effectiv geistig überanstrengt hatte. Ein Trost bei alledem war mir der Gedanke an das arme LehnchenWedekinds Cousine Helene Wedekind (verwitwete Maedge), seit 1.5.1897 verheiratet mit dem Kaufmann Georg Uhlig, war mit ihrer Familie am 24.1.1899 nach New York ausgewandert. in Amerika, die unter der infernalischen Procedur dieses Herrn | Heiliger wahre Höllenqualen gelitten haben muß.

Wie Du weißtvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1900. hatte ich die Absicht, mich in meiner dramatischen Kunst zu vervollkommnen, um wieder selber als Schauspieler auftreten zu können. Ich hatte mich auch thatsächlich mit einem hiesigen Hofschauspieler in Verbindung gesetzt und war eben im Begriff die erste Unterrichtsstunde zu nehmen als heute vor acht Tagenam 2.10.1900 (genau gerechnet). ein Agentnicht identifiziert. hier eintraf und mich aufforderte, sofort mit nach Rotterdam zu kommen und dort im kgl. Schauspielhaus, wo eine deutsche Truppe gastiert, die Titel|rolle des Kammersänger zu spielenAm 6.10.1900 fand in Rotterdam am Großen Schauspielhaus ein „Gastspiel des Dr. HEINE-Ensemble“ statt ‒ im Anschluss an Max Halbes „Jugend“ wurden Wedekinds drei Szenen „Der Kammersänger“ aufgeführt [vgl. Rotterdamsche Nieuwsblad, Jg. 23, Nr. 6919, 6.10.1900, S. (4)]. Wedekind spielte in seinem Stück erstmals die Titelrolle; eingeladen dazu habe ihn Carl Heine, wie die niederländische Presse berichtete.. Bedingungen: freie Hin-und Rückfahrt, freie Unterkunft im ersten Hotel in Rotterdam und 100 Mark Honorar. So abenteuerlich mir die Sache erschien ging ich darauf ein. Heute Morgen bin ich zurückgekommen Alles gelang aufs beste; ich hatte mit meinem Stück sowohl wie als Darsteller den größten Erfolg. So ist in der unverhofftesten Weise das Eis gebrochen und ich beginne jetzt sofort mit der Einstudierung der TitelrolleWedekind spielte die Rolle des Marquis von Keith erstmals am 20.10.1902 in einer geschlossenen Vorführung des Akademisch-Dramatischen Vereins am Münchner Schauspielhaus, bei der er auch Regie führte – ein Jahr nach der Uraufführung des Stücks am Berliner Residenztheater am 11.10.1901 unter der Regie von Martin Zickel. meines Marquis v. Keith. Dieses Stück erscheint im Lauf der nächsten Tage als BuchWedekinds neues Stück erschien unter dem Titel „Marquis von Keith (Münchner Scenen)“, datiert auf 1901, bereits im Herbst bei Albert Langen in München [vgl. KSA 4, S. 425], so dass er Exemplare an Freunde verschicken konnte [vgl. Wedekind an Otto Eisenschitz, 1.11.1900]. bei Albert Langen. Ich werde mir die Freude machen, Dir ein Exemplar | davon zuzuschicken. Nach dem allgemeinen UrtheilWedekind hatte sein Stück nach der Fertigstellung im Mai seinen Münchner Freunden vorgelesen [vgl. KSA 4, S. 533, 536f.]. Da Rezensionen der Zeitschriftenpublikation des „Marquis von Keith“ (unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet von Frank Wedekind“) in „Die Insel“ nicht belegt sind, bezieht sich Wedekinds Äußerung wahrscheinlich auf die Reaktionen seiner Zuhörer. ist es das beste und reifste was ich bis jetzt geschrieben habe.

Das erste was ich mir anschaffte als ich das Geld erhaltenWedekind hatte, um nicht länger auf das bevorstehende Erbe seiner Tante Auguste Bansen warten zu müssen, bei seiner Schwester Erika ein Darlehen über 3000 Mark aufgenommen [vgl. Walther Oschwald an Wedekind, 9.9.1900]. hatte war ein Rad. Dieses Rad hat mir bis jetzt schon ungemein viel Freude bereitet. Ich radle täglich mit Max Halbe, dem Dichter der Jugend, in der Umgegend von München herum. Das prachtvolle Herbstwetter kommt uns dabei ungemein zu statten. Überhaupt hab ich das Gefühl, als ob ich jetzt, wo ich einigermaßen den Ertrag meiner langjährigen Mühen und Arbeit erndte, | erst richtig jung würde. Vor vierzehn Tagen war in München das OktoberfestDas Oktoberfest auf der Münchner Theresienwiese dauerte vom 23.9.1900 bis zum 7.10.1900 [vgl. October-Fest-Zeitung, Jg. 7, 1900, S. (2)]., dasselbe was in /Dre/sden die Vogelwiesetraditionelles Dresdner Volksfest: „Die Dresdner Vogelwiese, ein großes Volksfest, veranstaltet von der Dresdner Bogenschützen-Gilde, mit Vogelschießen, Schau- und Schankbuden, Karussels, Illumination und Feurwerk usw. findet alljährlich Ende Juli und Anfang August auf den Elbwiesen oberhalb Dresdens statt und dauert 8 Tage.“ [Führer durch Dresden. Überreicht von Gustav Härtig. Dresden 1901, S. 28] ist, nur mit dem Unterschied, daß hier auch die geistige Aristokratie, HeyseAn den berühmten und einflussreichen Münchner Schriftsteller Paul Heyse (Louisenstraße 22) [vgl. Adreßbuch von München 1900, Teil I, S. 228 und Tb 5.7.1889] hatte sich Wedekind 1891 mit seinem Lustspiel „Kinder und Narren“ mit der Bitte um Fürsprache gewandt [vgl. Wedekind an Paul Heyse, 9.3.1891], allerdings ohne Erfolg., LenbachDer Professor und Kunstmaler Franz Ritter von Lenbach (Louisenstraße 33) [Adreßbuch von München 1900, Teil I, S. 326] zählte zu den Münchner Honoratioren und war ein bekannter und erfolgreicher Porträtmaler. e. ct. an den Belustigungen theilnimmt. Bisher hatte ich immer eine unüberwindliche Abneigung gegen derartige Veranstaltungen, während ich mich auf der heurigen Oktoberwiese mit meinen Freunden kostbar amüsirt habe. Möglich auch, daß an alledem die acht MonateWedekind war seit dem 2.6.1899 im Leipziger Gefängnis, ab dem 21.9.1899 dann auf der Festung Königstein inhaftiert und wurde am 3.2.1900 entlassen. Gefängnis und Festung schuld sind. So war auch vor acht Tagen | die Fahrt den Rhein hinunter ein ungetrübter Genuß für mich. Ich kam dabei nicht über das Gefühl hinaus als hätte ich in frühester Kindheit schon einmal dieselbe ReiseFriedrich Wilhelm Wedekind war am 18.7.1872 mit seinen beiden 8 und 9 Jahre alten Söhnen Frank und Armin und von Hannover in die Schweiz gereist. Armin Wedekind schilderte die Reise, die über Frankfurt und Heidelberg den Rhein entlang nach Zürich führte, in seinem „Tagebuch aus Bändlikon“ [vgl. Tb Armin Wedekind]. gemacht. Jeder Ausblick, jeder Berggipfel, jede Ruine war mir eine dunkle Erinnerung. Nach meinem Auftreten in Rotterdam am vergangenen Samstagam 6.10.1900. habe ich mir ganz Holland angesehen, Amsterdam, den Haag, Harlem, Utrecht, Dortrecht. Auf der Rückfahrt blieb ich einen Tag in Köln und studierte den Dom von InnenSchreibversehen, statt: von innen. und außen. Jetzt bin ich eben im Begriff, einen neuen Einakter„Die Konzeption des unvollendet gebliebenen dramatischen Werkes in 4 Akten entwickelte Wedekind bereits 1893 in Paris. Fragmente des ‚Sonnenspectrum. Ein Idyll aus dem modernen Leben‘, welche den 1. und 2. Akt betreffen, sind aus dem Jahr 1894 überliefert. Die zeitlich letzte Fassung besteht nur aus dem gesamten 1. Akt aus dem Jahr 1895/1896. […] Um das Fragment […] zu verwerten, entschloss er sich, Teile des 1. Akts, leicht überarbeitet, als Einakter zu edieren.“ [Vinçon, 2021, Bd. 2, S. 202] Die ersten beiden Szenen des Stücks erschienen unter dem Titel „Garten des Todes“ im „Simplicissimus‘ [Jg. 6, Nr. 31, 21.10.1901, S. 242] [vgl. KSA 3/II, S. 1355 f.].Das Sonnenspectrum“ | fertig zu schreiben, vom dem ich mir mindestens in der Presse einen bedeutenden Erfolg verspreche. Mein Kammersänger ist derweil schon in dritter AuflageWedekinds Einakter „Der Kammersänger. Drei Scenen“ erschien im Februar 1899 bei Albert Langen. Mitte 1900 folgte die zweite Auflage in einer überarbeiteten Fassung [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 67, Nr. 142, 22.6.1900, S. 4730] und noch im selben Jahr deren unveränderter Nachdruck als dritte Auflage [vgl. KSA 4, S. 332f.]. Der Verlag bewarb die Neuauflage mit den Worten: „Der Kammersänger wurde bisher in Berlin (Sezessionsbühne), Breslau, Halle, Hannover (Dr. Carl Heine-Ensemble), Leipzig, München, Prag und Wien (Sezessionsbühne) mit durchschlagenden Erfolge aufgeführt und gelangt demnächst in Altona, Berlin (Lessingtheater), Dresden, Hannover (Residenz-Theater), Hamburg, Wien (Theater in der Josephstadt) Wiesbaden, Zürich und Zwickau zur Aufführung. Ich bitte die Herren Sortimenter, in deren Stadt ‚Wedekinds Kammersänger‘ auf dem Spielplan steht, das Buch ständig auf Lager zu behalten und an den Aufführungstagen im Schaufenster auszustellen. […] München, Anfang September 1900. Albert Langen“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 67, Nr. 217, 18.9.1900, S. 6953]. erschienen.

Ich hoffe von Herzen, liebe Mama, daß es Dir sehr gut gehe/t/ und daß Du Dich dieser schönen Tage in vollem Besitz Deiner Gesundheit erfreust und daß Du Dich ihrer noch recht recht lange erfreuen mögest. Grüße bitte Mieze und Walther.

Mit den herzlichsten Grüßen und besten Wünschen für Dich
Dein treuer Sohn
Frank.


München, Franz-Josef-Straße 42.II.
10. Oktober 1900.

Emilie Wedekind schrieb am 22. Dezember 1900 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 24.12.1900 aus München:]


Dein lieber Brief hat mir sehr weh gethan. […] Du sprichst von harter Arbeit […] Du hast sagst ganz richtig […] Du beklagst dich […]

Frank Wedekind schrieb am 24. Dezember 1900 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

FRANK WEDEKIND.
MÜNCHEN, den
24.12.1900.
Franz Josefstr. 42/II.


Meine liebe Mama,

Dein lieber Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 22.12.1900. hat mir sehr weh gethan. Warum mußte das auch kommen. Ich habe Walther extra noch darum gebetenvgl. Wedekind an Walther Oschwald, 23.5.1900. Dir nichts davonIm Zuge der Erbschaftsangelegenheit von Wedekinds verstorbener Tante Auguste Bansen kam es zu Konflikten bezüglich des Identitätsnachweises und der Frage, ob Wedekind getauft wurde, mit dem mit der Abwicklung beauftragten Hannoveraner Anwalt Hans Heiliger und außerdem zu Spannungen zwischen Wedekind und seinem Schwager Walther Oschwald, den er mit der Vertretung seiner Interessen beauftragt hatte (siehe dazu ausführlich die Korrespondenz Wedekinds mit Walther Oschwald). zu sagen. Daß er es trotzdem that, das darüber mag er mit sich mit sich selber abfinden. Es handelte sich für um ein für mich vollkommen unfaßbares Mißverständnis. Der Advokat Heiliger schrieb mirDer Brief ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Heiliger an Wedekind, 6.4.1900., Walther habe ihn davon benachrichtigt, ich sei in Hannover getauft worden und als ich das in Abrede stellteDas Schreiben ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Hans Heiliger, 19.4.1900. Im Geburts- und Taufbuch der Ägidienkirche in Hannover ist Wedekind ohne Vornamen registriert und der Eintrag vom 1.8.1865 mit der Bemerkung versehen: „Das Kind wird ungetauft die Eltern auf der Rückreise nach Californien begleiten.“ [In: Kreter 1995, S. 63] bekam ich GrobheitenDas Antwortschreiben Hans Heiligers ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Heiliger an Wedekind, 15.5.1900. von ihm. Ich wandte mich nun an Walthervgl. Wedekind an Walther Oschwald, 14.5.1900. Als Wedekind seinem Schwager schrieb, wartete er noch auf die Antwort Hans Heiligers und dürfte sich hier falsch erinnern. der mir ein Ammenmärchen von einer HebammeDas zugehörige Schreiben ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Walther Oschwald an Wedekind, 16.5.1900. Die „Hebammengeschichte“ der Mutter besagte, „daß unsere standesamtlichen Anmeldungen nicht von Papa ausgegangen sonder[n] gegen seinen Willen durch die Hebamme vollzogen worden“ [Wedekind an Walther Oschwald, 18.5.1900] seien, was die Legitimierung der Erben gefährdete. auftischte. Nun riß mir die Geduld. Woher sollte er das haben. Ich schrieb ihmvgl. Wedekind an Walther Oschwald, 18.5.1900 und 21.5.1900., er möchte sich nicht auf Deine Aussagen ver/zu/ sehr verlassen, da du dich der Thatsachen offenbar nicht mehr | recht erinnertest. Das thut mir heute furchtbar leid. Meine Aufregung wird Dir aber einiger Maßen erklärlich werden, wenn ich dir folgende Thatsachen mittheile: Ich bin im Jahr 1888 in Hannover wegen Verletzung des Militärgesetzes zu zwei Monaten Gefängnis verurtheilt wordenIn der Rekrutierungsstammrolle der Wehrpflichtigen und der Restantentenliste der abhandengekommenen Wehrpflichtigen des Stadtkreises Hannover wurde Wedekind ohne Vornamen aufgenommen mit der Bemerkung: „Das Kind wird ungetauft die Eltern auf der Rückreise nach Californien begleiten.“ [In: Kreter 1995, S. 84]. Weiter heißt es dort: „15.12.[18]87 zur Verurtheilung eingereicht“ und „16.4.1888 von der Strafkammer I hier wegen Verletzung der Wehrpflicht zu 300 Mark Geldstrafe ev[entuell] zu 60 Tagen Gefängnis verurtheilt.“ [Ebd.] . Dieselbe Strafe hat Willi im Jahr 1890 und Donald im Jahr 94 getroffen. Für meine eigene Person hatte ich nun nicht mehr viel zu fürchten, da meine Strafe bei meinem Prozeß in Leipzig vom Richter mit verrechnet worden war. Willi und Donald haben kaum zu fürchten, daß man die Strafe an ihnen vollzieht wenn sie nicht irgendwelche Veranlassung dazu geben. Nun entstanden aber in dieser Erbschaftsangelegenheit von unserer eigenen SeitSchreibversehen, statt: Seite. in Sachen unserer Anmeldung und Taufe Mißverständnisse und Verwirrungen, während die Dinge doch so einfach wie möglich lagen, daß wir ohne Vor-Namen standesamtlich von Papa selber angemeldet sind und nicht getauft sind. Bekanntlich ist nun Verletzung des MilitärgesezesSchreibversehen, statt: Militärgesetzes. ein Grund zur Vermögensconfiscation„§ 140. (Verletzung der Wehrpflicht. Vermögensbeschlagnahme.) […] Das Vermögen des Angeschuldigten kann, insoweit als es nach dem Ermessen des Richters zur Deckung der den Angeschuldigten möglicherweise treffenden höchsten Geldstrafe und der Kosten des Verfahrens erforderlich ist, mit Beschlag belegt werden.“ [Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. (Neue Fassung). 4. Aufl. Leipzig 1877, S. 44]. Es konnte daher die ganze Erbschaftsangelegenheit auf die leichteste Weise an diesem | Haken scheitern. Die Behörden besinnen sich zehn Mal bevor sie solche Geschichten aufwühlen und sind von der denkbar größten Nachsicht und Discretion: Wenn aber von unserer eigenen Seite Mißverständnisse und Verwirrungen veranlaßt werden, dann m/sie/ht sich die Behörde mit der Nase darauf gestoßen und muß gegen ihr bestes Wollen dem Gesetz schließlich seinen freien Lauf lassen.

Was mich vielleicht sonst noch gereizt haben mochte, das waren die Äußerungen in Deinen BriefenEmilie Wedekind schrieb im Herbst 1899, dass sie „jetzt noch grimmig darunter leide, daß aus dem Jungen mit aller Gewalt ein Lump wird.“ [Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 13.10.1899] Diese Befürchtung hatte sie früher schon geäußert, wie die Paraphrase vom „Lumpenkerl“ [Frank Wedekind an Emile Wedekind, 26.8.1891] durch Frank Wedekind belegt. Offenbar hat die Mutter diesen Vorwurf in weiteren, nicht überlieferten Briefen wiederholt. über Donald, er wolle absolut zum Lumpen werden e. ct. ich will sie hier nicht wiederholen. Als Donald 15 Jahr alt war, da sagte sein Vater nach ruhiger reiflicher Überlegung von ihm „Der Junge ist verrückt“. Jeder halbwegs gebildete Mensch, der ihn seit zwanzig Jahren kennen gelernt hat, hat dasselbe Urtheil über ihn gewonnen. Er leidet an hochgradiger DiscolieDyskolie, (gr.) Unterleibsbeschwerden, Unzufriedenheit [vgl. Bernhard Schwalbe: Griechisches Elementarbuch. Grundzüge des Griechischen zur Einführung in das Verständnis der aus dem Griechischen stammenden Fremdwörter. Berlin 1887, S. 90]. In der philosophischen Terminologie der Gegensatz zur „Eukolie Heiterkeit, Zufriedenheit […]. Ein Eukolos ist leichten, ein Dykolos schweren Sinnes.“ [Friedrich Kirchner: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. 3. Aufl. Berlin 1897, S. 128] Bei Eduard von Hartmann, dessen Schriften Wedekind über Olga Plümacher kannte, heißt es: „Schon eine bestimmte Beschaffenheit des Charakters (Dyskolie) kann bei vollkommener Gesundheit den Menschen dazu bringen, an allem, was ihm begegnet, vorzugsweise die schlimme Seite herauszufinden, und Befürchtungen und Sorgen leichter zugänglich zu sein als Hoffnungen und Zuversicht“ [Eduard von Hartmann: Gesammelte Philosophische Abhandlungen zur Philosophie des Unbewussten. Berlin 1872, S. 72]. und Taedium Vitae(lat.) Lebensekel, Lebensüberdruss.. Außerdem ist er durch und durch Neurasthenikerdie zeitgenössische Modediagnose „Nervenschwäche (lat. Nervosität, griech. Neurasthenie), eine in unserm Jahrhundert immer häufiger werdende Störung des gesamten Nervensystems, d. h. des Gehirns, des Rückenmarks, des peripherischen und sympathischen Nervensystems. In diesem weitesten Sinne gefaßt, sind es die ‚Nerven‘, welche bei den erhöhten Ansprüchen an die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit der vornehmen Gesellschaftsklassen angegriffen werden“; als Symptome gelten „Reizbarkeit, Schwindelanfälle, Kopfschmerzen, reißende Schmerzen in Armen und Gesicht, Herzklopfen, Abgeschlagenheit und Unfähigkeit zu körperlichen Anstrengungen“, so „ergeht es auch den jungen Lebemännern, welche zu viel geschwelgt und zu wenig geschlafen haben. […] Ganz irrig ist aber die vielverbreitete Annahme, daß die N. nur ein Leiden der begüterten und gebildeten Klassen sei, denn Not und Sorgen, Entbehrung der notwendige Nahrung bei harter körperlicher Arbeit, Überreizung durch Alkohol und Tabak, Kummer und Niedergeschlagenheit führen zu der gleichen Anomalie des Nervensystems. Die N. ist eine Funktionsstörung, keine eigentliche Krankheit“ [Meyers Konversations-Lexikon. 5. Aufl. Bd. 12. Leipzig, Wien 1896, S. 853f.]., das allerdings wol eher in Folge seiner Lebensführung. Woher Donald diese geistige Veranlagung hat, danach braucht man nicht lange zu suchen: Sein einer Großvater war geistig anormalÜber die Geistesverfassung des Großvaters Wilhelm Wedekind, Königlich Hannoverscher Amtmann im ostfriesischen Esens, existieren keine Dokumente, die Einschätzung stützt sich wohl auf Erzählungen von Wedekinds Vater [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 205]. und sein anderer ist im Irrenhaus gestorbenIn einem Nachruf auf den am 23.10.1857 gestorbenen Jakob Friedrich Kammerer hieß es: „Nach einem Leben voll Arbeit und Geschäftigkeit verfiel er seit etwa vierthalb Jahren in einen Nachlaß der Geisteskräfte, in Folge dessen er, von Zürich nach Ludwigsburg in ärztliche Pflege gebracht, in seinem 61 sten Jahre dem Tode erlag.“ [Monatliche Nachrichten für Kaufleute und Fabrikanten. Hg. v. Johann Carl Leuchs. Nr. 9, September 1858, S. 129]. Schon kurz darauf hieß es: „Der Erfinder der Phosphorfeuerzeuge ist […], gestorben im Irrenhaus zu Ludwigsburg 1857“ [Jahres-Bericht über die Fortschritte der chemischen Technologie. Jg. 4. 1858. Leipzig 1859, S. 647]. Es handelte sich dabei vermutlich um die von dem Wundarzt Friedrich Krauß geleitete Privatirrenanstalt in Ludwigsburg [vgl. Vinçon 2021, Bd. 1, S. 401] . Das ehemalige „Tollhaus“ in Ludwigsburg war 1812 aufgelöst und durch die „Königlich-Württembergische Staatsirrenanstalt“ im über 100 Kilometer entfernten Zwiefalten ersetzt worden [vgl. Festschrift zur Hundertjahrfeier der Kgl. Württ. Heilanstalt Zwiefalten (1812 bis 1912). Berlin 1912, S. 5]. Wedekind wiederholte die Behauptung vom Tod seines Großvaters im Irrenhaus in seiner Selbstbiographie [vgl. Wedekind an Ferdinand Hardekopf, 28.4.1901].. Die Discolie an der er leidet, verliert sich aber sehr oft im mittleren | Lebensalter, zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Jahr und es folgt dann ein um so sonnigerer Lebensabend, vorausgesetzt, daß der physische Organismus so lange stand hält. Über alles das habe ich schon vor zwölf Jahren mit Dir gesprochen als Donald nach Amerika gingDonald Wedekind war im Februar 1889 in die USA gereist und kam Ende November zurück.. Wer über eineSchreibversehen, statt: über einen. körperlich verkrüppelten Menschen schimpft, gieltSchreibversehen, statt: gilt. allgemein als ein roher Patronhier im Sinne von: Kerl [vgl. Daniel Sanders: Fremdwörterbuch. 2. Aufl. Bd. 2. Leipzig 1891, S. 204].. Donald ist geistig verkrüppelt und das ist ein viel größeres Unglück. Du sprichst von harter Arbeit, durch die er genesen könne. Es handelt sich nicht um harte Arbeit sondern um die Freude an der Arbeit, die ihm ebenso fehlt wie jede andere Freude, sei es an Menschen, an der Unterhaltung, an der Kunst oder an etwas anderem. Donald ist der ärmste Mensch den ich kenne. Du hast sagst ganz richtig, daß sich eine solche Veranlagung nur durch die strenge Gesetzmäßigkeit des Lebens corrigiren läßt. Dazu brauchen aber wir, die wir am besten wissen, woher er seine Veranlagung hat, nicht über unter uns über ihn zu schimpfen. Wäre Mieze oder wäre Walter am 4 November 1871 als Donald Wedekind zur Welt gekommen, sie wäreSchreibversehen, statt: sie wären. heute mit logischer Notwendigkeit ganz auf dem nämlichen Punkte auf dem sich Donald befindet. Beide können Gott DankenSchreibversehen, statt. danken. | daß das nicht der Fall ist. Ich kann diesen verfluchten vermaledeiten MoralischenSchreibversehen, statt: moralischen. Hochmut nicht ausstehn und es giebt nichts in der Welt was mich mehr empören kann.

Ich könnte diese Erörterungen noch weiter ausführen; ich glaube aber das/ß/ das Gesagte genügt damit Du mich nicht mehr mißverstehst. Ich bitte Dich, die Angelegenheit nicht zu ernst zu nehmen. Früher sind in unserer Familie ganz andere Schrecknisse passiert. Die Verhältnisse haben sich seither um vieles gebessert, aber wir sind noch das gleiche Fleisch und Blut. Du beklagst dich, liebe Mama, daß du Dich unglücklich fühlst. Ich glaube dir darauf die Antwort schuldig zu sein, daß du Dich heute immerhin wenigstens glücklicher fühlst als jemals in deinem ganzen Leben. Erinnerst Du dich noch der Worte:Das folgende Zitat ist vermutlich eine frühere Äußerung der Mutter. In ihrem Tagebuch von 1891 finden sich analoge Passagen: „Nimmermehr!! Ich werde in meinem Leben keinen frohen Tag mehr haben. Alles hat mich verlassen. Was mir Freude machen sollte ist mir eine Qual. […] Keine Arbeit erfreut mich mehr – Alles wiedert mich an.“ [Tb Wedekind-Kammerer 17.4.1891] „Wieder ein Tag vorbei!“

Ich bitte Dich herzlich, liebe Mama, mir meine Offenheit nicht zu verdenken. Die Unannehmlichkeit hätte uns beiden sehr leicht erspart bleiben können. Ich bitte Dich um Verzeihung, daß ich Dich | durch einige Äußerungen an Walterzu den die abfälligen Bemerkungen Wedekinds vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 18.5.1900 und 21.5.1900., die nicht für dich bestimmt waren, gekränkt habe. Im übrigen hoffe ich, daß wir uns sehr bald froh und gesund wiedersehen. Mit den herzlichsten Grüßt/e/n und den besten aufrichtigsten Wünschen für Dich, meine liebe Mama
Dein getreuer Sohn
Frank.

Emilie Wedekind schrieb am 19. Januar 1901 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 21.1.1901 aus München:]


[…] herzlichsten Dank für Deine lieben Zeilen.

Frank Wedekind schrieb am 21. Januar 1901 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

FRANK WEDEKIND.


Meine liebe Mama,

herzlichsten Dank für Deine lieben Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 19.1.1901.. Wenn es/e/s Dir recht ist gehe ich gleich zum geschäftlichen Theil über. Nachdem ich Mieze einmal den Vorschlag gemachtHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Erika Wedekind, 20.1.1901. Nachdem Donald Wedekind bei mangelnder Unterstützung durch seine Familie mit Selbstmord gedroht hatte [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.12.1900] und gedruckte Todesanzeigen von sich verschickte [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.1.1901], schlug Frank Wedekind seiner Schwester Erika vor, alle weiteren Briefe Donalds ungeöffnet an ihn weiterzuleiten und die gesamte Kommunikation mit dem Bruder ihm zu überlassen, wie sich aus späterer Korrespondenz ergibt [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 26.2.1901]., halte ich es für das beste, wenn auch Du mir jede weitere Mittheilung, die Du von Donald erhältst, zukommen läßt. Ich mag Dir nicht zumuten, mir die Briefe | uneröffnet zu schicken; dazu habe ich Dir gegenüber kein Recht. Ich bitte Dich, das halten zu wollen, wie du willst.

Deine Annahme, daß ich Donald noch Geld schuldig sei, trifft nicht zu. Er schreibt dasDonald Wedekind hatte seiner Mutter aus Mailand geschrieben: „Da […] ich am Äußersten bin, ich habe noch 10 Lire in der Tasche, möchte ich Dich bitten mir die Summe von 50 oder 60 M. telegraphisch zuzuschicken, da ich sonst nicht weiß, wo aus noch ein. Willst Du mir diesen Gefallen tun? […] Bebi läßt mich vollständig sitzen, was nicht schön ist, da ich ihm noch erst diesen Sommer wieder ausgeholfen. Aber so ist die Welt. Mieze verhält sich auch ablehnend, was ich ihr nicht verdenke, da sie schon viel für mich getan. Immerhin, wenn es Dir gelänge sie zu bewegen, mir doch wenigstens 100 M. zu schicken, telegraphisch (denn ich weiß wirklich übermorgen nicht mehr, wovon leben.) so wäre mir das lieber als Dir eine Ausgabe verursachen. Geht es aber nicht anders, so tuhe Du, was Du vermagst. […] Ihr wollt mich doch hier, wo mir alle Resourcen abgeschnitten sind, nicht Hungers sterben lassen.“ [Donald Wedekind an Emilie Wedekind, 14.1.1901; Mü FW B 304] Offenbar hatte Emilie Wedekind diesen Brief ihrem Schreiben an Frank Wedekind beigelegt. in seinem Brief an dich auch nicht. Er schreibt nur, daß er mir verschiedentlich ausgeholfenDonald Wedekind hatte seinem Bruder im Sommer 1990 400 Mark geschickt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1900], wie aus späterer Korrespondenz hervorgeht [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 3.10.1900]. habe; aber diese Angelegenheiten sind selbstverständlich s/l/ängst beglichen.

Als er vor zwei MonatenDonald Wedekind kündigte im Oktober aus Dresden an, er werde auf seiner geplanten Rückkehr nach Italien seinen Bruder Frank in München besuchen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 3.10.1900], was vermutlich Mitte November geschah. hier war, forderte ich ihn | auf, hier in München zu bleiben und hier hie/sic/h nach Gesellschaft und Arbeit umzusehen. Das war ihm aber zu unbequem, da er an gesellschaftlichen Verkehr gar nicht mehr gewöhnt ist; er zog es vor sich wieder nach Mailand in seine Einsamkeit zu begeben. Donald weiß nun recht gut, daß er das nötige Geld zur Reise nach München, wenn er mich darum bittet, sofort bekommt. Aber dazu kann er sich bis jetzt noch nicht ent|schließen; meine Gesellschaft ist ihm vorderhand noch viel zu unbequem. Deshalb warte ich eben ruhig ab, bis ihn die Verhältnisse dazu zwingen, auf meine Vorschläge einzugehen und meinem Rat zu folgen. Deshalb bitte ich dich auch, ihm vorderhand unter keinen Umständen mehr Geld zu schicken, weil seine Bekehrung nur dadurch verzögert wird.

Mir geht es soweit gut. Mein Marquis von Keith wird zu Ende dieser SaisonWedekind ging von einer Aufführung des „Marquis von Keith“ durch Emil Meßthaler im Juni in Berlin und durch Josef Jarno im Herbst in Wien aus [vgl. Wedekind an Carl Meinhard, 15.4.1901]. Die Uraufführung des „Marquis von Keith“ (Regie: Martin Zickel) fand erst zu Beginn der folgenden Saison am 11.10.1901 am Berliner Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg) statt. in | Berlin und zu Beginn der nächstenDie Wiener Premiere des „Marquis von Keith“ am Theater in der Josefstadt (Direktion: Josef Jarno) fand erst am 30.4.1903 statt, war aber im September noch von der Presse unter der Überschrift „Frank Wedekind im Josephstädter Theater“ angekündigt worden: „Eine interessante Nachricht kommt aus dem Theater in der Josephstadt. Frank Wedekind, der Führer der Naturalisten in München, wird sich im Laufe des nächsten Monats im Theater der Josephstadt als Dichter und Schauspieler vorstellen. Er wird in seinem modernen Drama ‚Der Marquis von Keith‘ die Rolle des Scholz geben. Die Titelrolle wird Director Jarno spielen.“ [Illustrirtes Wiener Extrablatt, Jg. 30 Nr. 242, 4.9.1901, Abend-Ausgabe, S. 3] in Wien gegeben. Hier in München steht für die nächsten Wochen mein KammersängerNach dem Gastspiel von Carl Heines Ibsen-Theater am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) vom 24. bis 27.7.1900, kam „Der Kammersänger“ dort erneut am 16.2.1901 für fünf Wochen (zusammen mit zwei Stücken anderer Autoren) auf die Bühne [vgl. KSA 4, S. 392]. Wedekind gab die Titelrolle ab dem 8.3.1901 an Hans Schwartze ab [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 26.2.1901]. wieder in Aussicht und zwar mit mir selber in der Titelrolle. Augenblicklich bin ich damit beschäftigt, einen Dramatischen Prolog zur EröffnungAm 19.4.1901 wurde das neu gebaute Münchner Schauspielhauses in der Maximilianstraße 26 und 28 eröffnet. Ein Prolog von Wedekind zu diesem Ereignis ist nicht überliefert. Gespielt wurde die Tragödie „Johannes“ von Hermann Sudermann [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 186, 21.4.1901, S. 1f.]. des neuen hiesigen Schauspielhauses zu schreiben.

Im Lauf der nächsten Wochen | kommt mein lieber Freund Max Halbe auf einige Zeit nach Dresden um am dortigen Hoftheater Inscenierung und Proben seines neuen Dramas „Haus RosenhagenDie Presse berichtete: „Max Halbe hat sein neuestes dramatisches Werk, das dreiaktige Drama ‚Haus Rosenhagen‘ der Generaldirektion der Königl. Hoftheater zur ersten Aufführung überlassen. ‚Haus Rosenhagen‘ wird nach den vorläufigen Dispositionen in der ersten Hälfte des Monats Februar am Königl. Schauspielhause zum ersten Male in Scene gehen.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 45, Nr. 15, 15.1.1901, S. (3)] Die erfolgreiche Premiere von Halbes Stück am Dresdner Hoftheater fand am 14.2.1901 statt [vgl. Dresdner Nachrichten, Jg. 45, Nr. 45, 14.2.1901, S. (3)]: „Daß für den Erfolg des gestrigen Abends die ausgezeichnete Aufführung der Novität zum großen Theil mit verantwortlich zu machen ist, wird der Dichter selbst am besten wissen, der aufrichtig beglückt über die ehrenvolle Aufnahme seines Dramas schein. […] Für eine stimmungsvolle Inscenirung des Dramas, die keine Anweisung des Regiebuches unbeachtet gelassen, hatte Herr Oberregisseur Lewinger Sorge getragen, so daß auch nach dieser Hinsicht kein berechtigter Wunsch unerfüllt blieb.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 45, Nr. 47, 16.2.1901, Abend-Ausgabe, S. (2)] zu leiten. Er freut sich sehr darauf bei dieser Gelegenheit Mieze und auch Dich kennen zu lernen. Er ist ein Mensch von hoher Intelligenz, unantastbar was Charakter betrifft und in Bezug auf Energie und Vitalität ein leuchtendes | Beispiel für mich. Ich habe Weihnachten und Neujahr in seiner Familie gefeiertMax und Luise Halbe wohnten mit ihren Kindern in der Wilhelmstraße 6, 2. Stock [vgl. Adressbuch von München 1910, Teil I, S. 212]. und bin glücklich, einen so werthvollen Verkehr hier in München gefunden zu haben. Wenn nichts dazwischen kommt werden wir im Frühjahr zusammen eine Radpartie durch NiederöstreichSchreibversehen, statt: Niederösterreich. und Ungarn machen.

Und nun leb WohlSchreibversehen, statt: leb wohl., liebe Mama. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß ich im Lauf der nächsten Zeit auch | wieder einmal über Dresden komme. Mit den herzlichsten Grüßen und den aufrichtigsten besten Wünschen für Dich bin ich Dein treuer Sohn
Frank.


München, FranzJosefstraße 42.II.
21.I.1901.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Dresden-Strehlen
9. Julius Otto Strasse 9.

Emilie Wedekind schrieb am 25. Februar 1901 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Erika Wedekind vom 26.2.1901 aus München:]


Mama lasse ich herzlichst für ihre lieben Zeilen danken.

Emilie Wedekind schrieb am 23. April 1901 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 25.4.1901 aus München:]


Du schreibst mir, liebe Mama, ich solle jetzt etwas für Donald thun. […] Du schreibst mir, liebe Mama, ich | möchte Donald jetzt eine feste Stellung verschaffen.

Frank Wedekind schrieb am 25. April 1901 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Meine liebe Mama!

um Weihnachten machte ich MiezeHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Erika Wedekind, 23.12.1900. sowohl wie dir den VorschlagDer Mutter gegenüber machte er den Vorschlag erst einen Monat später [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 21.1.1901]., mir jede Zuschrift an Donald sofort zuzuschicken. Ich bin heute noch überzeugt daß, wenn Ihr meinen Rat befolgt hättet, diese trostlose Dresdener EpisodeDonald Wedekind versuchte während seines Aufenthalts bei seiner Schwester Erika in Dresden im September und Oktober 1900 eine regelmäßige Unterstützungszahlung durch seine Familie zu erwirken [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 3.10.1900]. Er erneuerte diesen Vorschlag aktuell in einem (nicht überlieferten) Brief an seinen Schwager Walter Oschwald [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 22.4.1901] und drohte möglicherweise – wie früher schon – mit Suizid [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.12.1900], sollte ihm dies verweigert werden (siehe unten). nicht stattgefunden hätte. Statt dessen hat ihm Mieze ohne mein Wissen sofort wieder einen langen BriefDer Brief Erika Wedekinds an ihren Bruder Donald – wahrscheinlich die Antwort auf dessen Schreiben an Walther Oschwald von Mitte des Monats [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 22.4.1901] – ist nicht überliefert. geschrieben, in dem sie ihm die Stellung die ich in der Angelegenheit zu nehmen gedachte, vollkommen preisgiebtDies konnte Frank Wedekind aus der Schlusspassage von Donald Wedekinds letztem Brief schließen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 22.4.1901]. Woher er allerdings Kenntnis von weiteren Inhalten in Erika Wedekinds Brief hatte, ist unklar, möglicherweise aus dem nicht überlieferten Brief der Mutter (s.u.).. Ich bin nun | auch jetzt noch dazu bereit, die Beantwortung m/s/einer Briefe auf mich zu nehmen. Aber erste Bedingung dabei wäre natürlich, daß Donald nichtsNeben der Unterstreichung des ganzen Satzes hat Wedekind dieses Wort zusätzlich noch zweimal unterstrichen.. Wenn Ihr euch zur Erfüllung dieser Bedingung nicht verstehen könnt dann kann ich euch auch mit dem besten Willen nicht helfen. Wie soll ich meinen Einfluß auf Donald wahren, wenn ihm Mieze Dinge über mich schreibt, von denen ich selber gar keine Ahnung habe, wie die Mittheilung, ich hätte ihr irgend etwas in ihrem Verhalten zur Pflicht gemacht. Ich finde überhaupt daß in dieser Angelegenheit viel zu viel geschrieben wird. Jetzt soll ichvermutlich Aufforderungen der Mutter in ihrem letzten (nicht überlieferten) Brief (s. u.). an Armin schreiben, Armin soll an mich schreiben, Donald soll an Armin sh/c/hreiben. Wozu das alles! Was kann Armin jetzt in | dieser Angelegenheit helfen! Wenn ihr mit Donald fertig werden wollt, dann antwortet ihm auf seine Briefe das, was ich euch in die Feder dictieren werde; aber auch nicht ein Wort mehr. Dann gebe ich euch die Versicherung, daß die ganze Correspondenz innerhalb weniger w/W/ochen eingeschlafen sein wird.

Du schreibst mirDas Schreiben ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.4.1901., liebe Mama, ich solle jetzt etwas für Donald thun. Aber du lieber Gott, ich thue ja fortwährend für ihn was man nur für einen Menschen thun kann. Wenn sich meine Freunde in BerlinDonald Wedekind war seit der letzten Märzwoche in Berlin [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 22.4.1901]. seiner annehmen, so geht das alles auf meine Rechnung. Und wenn er in Berlin täglich Gelegenheit hat mit den einflußreichsten Menschen zusammenzutreffen, so trage ich das Risico dafür. | Mieze ist eine reiche Frau, sie verdient im Jahr fünf Mal mehr als ich und hat die besten Beziehungen zu allen Bühnen Deutschlands. Dabei hat sie aber in der ganzen Welt niemanden, der Donald auch nur drei Tage bei sich beherbergen würde. Mein Freund ReßnerDer mit Wedekind befreundete Franz Ressner (Pseudonym von Carl Rößler) war Oberregisseur und Schauspieler an Ernst von Wolzogens Buntem Theater (Überbrettl) (Direktion: Ernst von Wolzogen und Moritz Muszkat) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 263] in Berlin. Eine Mitarbeit Donald Wedekinds dort kam nicht zustande [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 13.5.1901]. hat sich Donad/l/ds nur/n/ meinetwillen angenommen, ohne ihn zu kennen und ohne von mir bis jetzt auch nur ein Wort des Dankes dafür erhalten zu haben. Thatsächlich bin ich Reßner natürlich ungeheuer dankbar dafür, es hätte mir kaum je jemand einen größeren Gefallen erweisen können. Ich habe ihm aber eben deshalb bis heute noch nicht geschrieben, weil ich das Briefschreiben in solchen Fällen für durchaus nachtheilig halte.

Du schreibst mir, liebe Mama, ich | möchte Donald jetzt eine feste Stellung verschaffen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn er nicht zu vertrode/d/elt wäre hätte er bei seinem Verkehr in Berlin nach den ersten acht Tagen eine feste Beschäftigung gehabt. Aber ich bin überzeugt, daß er nicht einmal das Ein Mal Eins auswendig kann. Anderseits ist das Element in dem er in Berlin augenblicklich verkehrt, das allergünstigste für ihn. Wenn er irgendwo schwimmen lernen kann, so ist es eben gerade diese Gesellschaft. Übrigens höre ich von so und soviel Bekannten, die ihn in Berlin getroffen haben, daß er kreuzfidel ist, daß er wieder sprechen gelernt hat und daß seine Interessen am praktischen Leben | sich mit jedem Tage steigern. Anderseits höre ich auch von Beiträgen die er dem Simplicissimus und der Insel eingeschickt ist/ha/t, die aber leider vor der Hand noch nicht zu gebrauchenNach Donald Wedekinds Novellen-Publikationen im „Simplicissismus“ in den Jahren 1896 und 1897 ist dort nichts mehr von ihm erschienen, ebensowenig in der Zeitschrift „Die Insel“. sind. Meiner Ansicht nach kann er jetzt gar nicht lange genug in dem Berliner Hexenkessel schmoren. Je mehr er durchmacht, je mehr er erlebt, um so besser ist es für ihn. Seinen dortigen Bekannten kann er nicht mit solch albernen DrohungenDonald Wedekind versuchte wiederholt seinen Bitten um Geld mit der Androhung von Selbstmord Nachdruck zu verleihen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.12.1900 und Frank Wedekind an Donald Wedekind, 7.1.1901]. kommen wie er sie euch auftischt und die unter allen Umständen eines Menschen unwürdig sind. Wenn ihm das Wasser am Mund steht, dann weiß er ja auch immer noch daß er nach München kommen kann. Das ist ihm aber vorderhand noch viel zu unbequem, | er hat eine Heidenangst vor dem Verkehr mit mir und das ist das was mich an unseren Beziehungen am meisten freut.

Also liebe Mama, lassen wir die Dinge am besten gehen, wie sie gehen müssen und wollen. Wenn ich einsehe, daß Donald zu einem praktischen Zweck wirklich einmal Geld braucht, dann würde ich m/M/ieze darum bitten, es ihm zu schicken. Sonst aber ist es für ihn jetzt daß/s/ Wichtigste, daß er sich möglichst viel mit fremden Menschen abfinden lernt. Dazu giebt es für ihn keinen besseren Platz als Berlin. Wenn ihm ein verliebtes Mädchen 10 Mark schenkt, so ist al/d/as allerdings an sich nichts erfreuliches. Es ist aber immer noch viel erfreulicher als wenn er die 10 Mark durch unwürdige Drohungen von Dir erpreßt. |

Seit acht Tagen sind Graf Keyserling und ich wieder in MünchenWedekind hatte Mitte oder Ende März 1901 in Begleitung von Max und Luise Halbe, Eduard von Keyserling und Hans Richard Weinhöppel eine Reise nach Italien unternommen, „die ihn über Bozen und Verona nach Venedig führte“ [KSA 4, S. 590]. Am 13.4.1901 war er zurück in München [vgl. Wedekind an Bertha Doebler, 14.4.1901].. Ich singe jetzt jeden Abend bei den „ScharfrichternDas Münchner Kabarett Die Elf Scharfrichter, das seine Bühne im Hinterhaus des Wirtshauses Zum goldenen Hirschen (Türkenstraße 28) hatte, eröffnete am 13.4.1901: „Wir machen nochmals darauf aufmerksam, daß die Eröffnungsvorstellung der elf Scharfrichter Samstag, 13. April, Abends 8 Uhr, als Galaexekution [...] stattfindet.“ [Die elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 166, 10.4.1901, Vorabendblatt, S. 2] Diese Vorstellung hat Wedekind besucht. Tags zuvor, am 12.4.1901, hatte bereits eine als ‚Ehrenexekution‘ bezeichnte Auftaktveranstaltung stattgefunden: „Mit der Ehrenexekution des gestrigen Abends hat das sogenannte ‚Ueberbrettl‘ auch in München seinen Einzug gehalten.“ [Die elf Scharfrichter. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 104, Nr. 102, 13.4.1901, Abendblatt, S. 1] „Am letzten Freitag haben die Elf Scharfrichter uns zum ersten Male in ihre Henkerstube an der Türkenstraße blicken lassen“ [Ernst Posselt: Die Elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 178, 17.4.1901, Vorabendblatt, S. 2]. Wedekind war Gründungsmitglied und gehörte dem Ensemble mit Unterbrechungen bis 1903 an., dem Münchner Überbrettl, und zwar vor dem besten Publicum Münchens. Wir haben die ganze Hofoper zu Zuhörern. Ich habe zu dem Zweck zu meinen Gedichten die allerconfiscirtestenzeitgenössisch verbreitet für: allerübelsten. Melodien gemacht. Mein Freund Richa Hans RichardDer Komponist und Sänger Hans Richard Weinhöppel gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Elf Scharfrichter und trat dort unter dem Pseudonym Hannes Ruch auf., dessen sich Mieze vielleicht noch erinnert und meine Wenigkeit, sind, was die Musik betrifft die beiden Stützen des Unternehmens. Jeden Abend ist das Haus bis auf den letzten Platz ausverkauft. Dabei haben wir eine Anzahl der schönsten Frauen zu Mitwirkenden, mit denen man nach Schluß der Vorstellung im Zuschauerraum zusammen kneipt. Nach dem | allgemeinen Urtheil steht unser Unternehmen künstlerisch in jeder Beziehung hoch über dem Wolzogen’schen Bunten TheaterErnst von Wolzogens Buntes Theater (Überbrettl) wurde am 18.1.1901 in Berlin im Secessions-Theater (Alexanderstraße 40) eröffnet und gilt als das erste deutsche Kabarett. Im November bezog Wolzogen mit seinem Theater ein eigenes Haus in der Köpenickerstraße 67/68 [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 268]. in Berlin. Meine Compositionen werden übrigens demnächst auch im DruckIm November 1901 erschienen „Brettl-Lieder von Frank Wedekind“ bei der Harmonie Verlagsgesellschaft für Literatur und Kunst in Berlin (o. J.) – fünf Gedichte in einer Fassung für Gesang, Gitarre und Klavier, die auch als Separatdruck erschienen waren. In der Sammlung enthalten waren „Ilse“, „Brigitte B.“, „Das Goldstück“, „Die sieben Heller“ und „Mein Lieschen“ [vgl. KSA 1/III, S. 324-326]. erscheinen.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Mach dir Donalds wegen nicht zu viel Sorgen. Mit den herzliche/st/en Wünschen für Euer Aller Wohlergehen und den besten Grüßen an Dich und die Andern bin ich Dein getreuer
Sohn
Frank.


Max Halbe kommt mit seiner Frau erst Morgen von Wien zurück. Er wird sich sehr freuen, daß Ihr seiner in Freundschaft gedenktMax und Luise Halbe hatten anlässlich der Uraufführung von Halbes Drama „Haus Rosenhagen“ am 14.2.1901 in Dresden [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 21.1.1901] während ihres Aufenthalts dort Wedekinds Mutter und Schwester getroffen, woran die Mutter in ihrem nicht überlieferten Brief offenbar erinnert hat..

München 25. April 1901.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Dresden-Strehlen
Julius Otto Strasse 9. |

FRANK WEDEKIND
Franz Josefstr. 42/II.

Frank Wedekind schrieb am 6. Mai 1901 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

FRANK WEDEKIND.


Meine liebe Mama!

Empfange meine herzlichsten Glückwünsche zu Deinem heutigen GeburtstagAm 8.5.1901 wurde Emilie Wedekind 61 Jahre alt.. Hoffentlich begehst Du ihn in bester Stimmung und ohne über irgend etwas klagen zu müssen. | Ich hoffe nun zuversichtlich daß wir uns sehr bald wiedersehen, da im Juni mein Marquis v. Keith in Berlin gegebenWedekind ging von einer Aufführung des „Marquis von Keith“ durch Emil Meßthaler im Juni in Berlin aus [vgl. Wedekind an Carl Meinhard, 15.4.1901]. Die Uraufführung des „Marquis von Keith“ (Regie: Martin Zickel) fand jedoch erst zu Beginn der folgenden Saison am 11.10.1901 am Berliner Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg) statt. werden soll. Wenn nichts dazwischen kommt und die Sache gut abläuft, werde ich mich auf der Rückreise einige Tage in Dresden aufhalten. Bei dieser Gelegenheit werde ich ja dann auch Donald sehen und werde mir alle Mühe geben, ihn ins richtige | Geleis zu bringen.

Was mich betrifft so thue ich bei dem anhaltenden schönen Wetter mein möglichstes um die Corpulenz die sich während des langen Winters aufgestaut durch Bewegung in freier Luft wieder loszuwerden. Von Arbeit ist nicht viel die Rede, da ich zuerst sehen muß wohin mein Marquis läuft. Dagegen erweist d/s/ich der Kammersänger immer noch | als ergiebige QuelleNach den Vorstellungen des Einakters „Der Kammersänger“ am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) ab dem 16.2.1901, folgte die Premiere am Prager Nationaltheater am 25.4.1901 (auf Tschechisch unter der Regie von Jaroslav Kvapil) und am 31.8.1901 die am Berliner Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg). „Der Kammersänger“ war mit 297 Premieren zu Lebzeiten Wedekinds sein meistinszeniertes Werk [vgl. Seehaus 1973, S. 260]..

Grüße Mieze bitte auf das herzlichste von mir. Hoffentlich hat sie mir die Auseinandersetzungen in meinem letzten Brief an Dichvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 25.4.1901. nicht krumm genommen.

Nochmals mit den aufrichtigsten Wünschen und besten Grüßen bin ich dein getreuer Sohn
Frank


München 6. Mai 1901.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Dresden-Strehlen
9. Julius Otto Strasse 9.

Emilie Wedekind schrieb am 31. Dezember 1901 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 11.1.1902 aus München:]


[…] ich danke dir herzlichst für deinen lieben GlückwunschHinweis auf das nicht überlieferte Schreiben zum Jahreswechsel..

Frank Wedekind schrieb am 11. Januar 1902 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

FRANK WEDEKIND.


Meine liebe Mama!

ichSchreibversehen, statt: Ich. danke dir herzlichst für deinen lieben GlückwunschHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1901. Es dürfet sich um Glückwünsche zum Jahreswechsel gehandelt haben.. Ich hätte dir längst geschrieben, wenn ich nicht gerade in den letzten zwei Monaten auf das fleißigste gearbeitet hätte. Außerdem hatte ich auch sehr gehofft, dich im Lauf des Winters wiederzusehen. Aber meine verschiedenen Durchfälle in Berlin und Wiendie Uraufführung des „Marquis von Keith“ (Regie: Martin Zickel) am 11.10.1901 am Berliner Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg) und Wedekinds Auftritte mit dem Vortrag eigener Lieder am Jung-Wiener Theater „zum lieben Augustin“ (Direktion: Felix Salten) im Theater an der Wien bei der Eröffnungsvorstellung am 16.11.1901 und einigen weiteren Veranstaltungen (bis 22.11.1901), die beim Publikum auf Ablehnung stießen, so dass er vorzeitig nach München zurückkehrte: „Frank Wedekind wurde schon seiner Verpflichtungen enthoben und ist abgereist.“ [Illustrirtes Wiener Extrablatt, Jg. 30, Nr. 321, 22.11.1901, S. 8] ließen mich nicht dazu kommen, den Umweg | über Dresden zu nehmen. Mit meinem jetzigen StückWedekinds Schauspiel „So ist das Leben“, dessen Manuskript er vor kurzem abgeschlossen hatte [vgl. KSA 4, S. 564], erschien bei Albert Langen Ende Juni [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 148, 30.6.1902, S. 5327]., das im Februar hier zur Aufführung„So ist das Leben“ wurde am 22.2.1902 am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) durch den Akademisch-Dramatischen Verein uraufgeführt. gelangt hoffe ich indessen auch nach Dresden zu gelangenWedekinds Hoffnung, das Stück auch am Hoftheater Dresden (Direktion: Nikolaus von Seebach) zur Aufführung zu bringen, erfüllte sich nicht [vgl. Wedekind an Max Halbe, 21.9.1902].. Im übrigen geht es mir gut. Mit meinem Auftreten bei den ScharfrichternWedekind war Gründungsmitglied des Kabaretts Die Elf Scharfrichter, das am 13.4.1901 im Hinterhaus des Wirtshauses Zum goldenen Hirschen (Türkenstraße 28) eröffnet hatte, und trat bis März 1903 regelmäßig mit dem Ensemble auf. verdiene ich mehr als mir bis jetzt jemals die edle Muse eingetragen hat. Nächsten Sommer mache ich vielleicht wieder eine Tournee mit einer größeren Theatergesellschaftnicht ermittelt; Wedekind nahm im Sommer an keiner Tournee teil.. Als ich in Wien warvom 14. bis 22.11.1901 anläßlich seines Gastspiels im Jung-Wiener Theater „zum lieben Augustin“ (s. o.). erhielt ich eine Einladung von Matinicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 16.11.1901. Wedekinds Schwester war seinerzeit Hauslehrerin im oberösterreichischen Pettighofen. Sie hatte ihren Bruder vermutlich für das kommende Wochenende eingeladen, wo er jedoch bereits wieder in München bei den Elf Scharfrichtern auftrat., der ich aber auch leider nicht folgen konnte | da ich an dem betreffenden Tag leider schon wieder in München im Rabbi EsraWedekind trug seine zum Dialog umgearbeitete Novelle „Rabbi Esra“ im Rahmen seiner Auftritte bei den Elf Scharfrichtern vor: „Scharfrichter Frank Wedekind ist aus Wien zurückgekehrt und wird von Freitag an wieder in seinem ‚Prolog‘ und in ‚Rabbi Esra‘ auftreten.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 543, 22.11.1901, Morgen-Blatt, S. 3] auftreten mußte. In unserem nächsten Programm wird wahrscheinlich die Kaiserin von Neufundland gespieltWedekinds Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897) wurde am 12.3.1902 bei den Elf Scharfrichtern uraufgeführt., die ich dir seinerzeit in Dresden vorlas. Von Donald höre ich nur sehr wenig aber dafür klingt das Wenige nicht schlecht. Ich hoffe sehr daß ihm das Berliner Leben allmählig zur Überwindung seiner geistigen Abnormalität verhelfen werde. Vielleicht nimmst du, liebe Mama, wenn du im Frühjahr oder Sommer in die Schweiz reist, doch einmal den Weg über | München und siehst dir unser hiesiges Getriebe an. Eben hat der Carneval begonnen. Ganz München steht auf dem Kopf und man kommt Tag und Nacht nicht zur Ruhe. Ich glaube nicht daß es dir hier schlechter als in Dresden gefallen würde.

Und nun leb wohl, liebe Mama, auf recht baldiges Wiedersehen. Mit den allerherzlichsten Grüßen bin ich dein treuergebener Sohn
Frank.


München 11. Januar 1902.
FranzJosefstraße 42.2/II/.


[Kuvert:]


Hochwohlgeboren
Frau Dr. Emilie Wedekind
Dresden-Strahlen
Julius Ottostrasse 9.

Frank Wedekind schrieb am 7. Mai 1902 in Berlin folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Meine liebe Mama!

zuSchreibversehen, statt: Zu. Deinem heutigen GeburtstageAm 8.5.1902 hatte Emilie Wedekind ihren 62. Geburtstag. sende ich Dir meine herzlichsten Glückwünsche und hoffe, daß Du ihn froh und in bestem Wohlsein verbringst. Ich bin seit zwei Tagenseit dem 5.5.1902. hier in Berlin, wo ich DemnächstSchreibversehen, statt: demnächst. wieder auftreteSo auch die Presse: „In E. v. Wolzogens Buntem Theater wird in den nächsten Tagen Frank Wedekind ein Gastspiel absolviren. Zunächst wird Wedekind als Darsteller in seiner eigenen Dichtung ‚Rabbi Esra‘ auftreten.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 31, Nr. 229, 7.5.1902, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Der Auftritt erfolgte eine Woche später, am 14.5.1902: „In Wolzogens Buntem Theater fand gestern ein Novitätenabend statt. Er brachte eine besondere Sensation: Frank Wedekind trat zum ersten Mal im Rahmen des Ueberbrettls vor das Berliner Publikum. Freilich zeigte er nur einen Theil dessen, was er kann. Anstatt uns einen zwar pointenreichen, aber doch gequälten Prolog zu sprechen (im Kostüm des Menageriedirektors, wie man ihn auf Jahrmärkten zu treffen pflegt), anstatt uns in Verbindung mit Frau Elsa Laura v. Wolzogen, die sich übrigens im Ton beträchtlich vergriff, seinen unmöglichen, aber geistreichen Dialog ‚Rabbi Esra‘ vorzuführen, hätte er besser gethan, wie er es sonst pflegt, zu Guitarrenbegleitung eines seiner kecken, prächtigen Lieder zu singen. […] Das Publikum hatte das Gefühl, daß ihm Wedekind etwas schuldig blieb, und verhielt sich darum einigermaßen reservirt.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 31, Nr. 242, 15.5.1902, Morgen-Ausgabe, S. (2)] Wedekinds Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ wurde nicht gegeben., vielleicht auch die Kaiserin von Neufundland zur Aufführung bringe. Donald habe ich noch nicht gesehen, denke ihn aber heute Abend noch zu treffen. | Nach allem was ich höre geht es ihm gut. Auf jeden Fall befindet er sich in aufsteigender Linie. Ich hatte sehr gehofft, Dich diesen Winter einmal zu sehen. Jetzt vertröste ich mich damit auf meine Rückreise nach München, die vermutlich in ein oder zwei MonatenWedekind kehrte bereits Ende Mai, Anfang Juni nach München zurück. statt findet. Mieze sah ich in München einige Minuten, später traf ich dann am gleichen Tagevermutlich der 23. oder 24.3.1902. Erika Wedekind war vom 24. bis 27.3.1902 zu Gast am Nürnberger Stadttheater [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 138, 23.3.1902, S. 4]. mit ihr in Nürenbergveraltet für Nürnberg. ein, wo ich mit Max Halbe in Geschäftenvermutlich ein Treffen mit Emil Meßthaler, dem Direktor des Intimen Theaters in Nürnberg, der bereits Ende 1900 die Uraufführung des „Marquis von Keith“ als Gastspiel in Berlin geplant hatte [vgl. Wedekind an Beate Heine, 29.12.1900], die er aber nicht realisierte. Von ihm wurde das Stück erstmals am 31.10.1903 in Nürnberg inszeniert [vgl. KSA 4, S. 534]. | weilte aber die dortigen Theaterverhältnisse ermöglichten es uns nicht, ihrer habhaft zu werden. Mein neues Stück „So ist das Leben“ befindet sich augenblicklich im DruckWedekinds Schauspiel „So ist das Leben“ erschien bei Albert Langen Ende Juni [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 148, 30.6.1902, S. 5327]. und wird in einigen Wochen erscheinen. Von Karl Henckell hörte ich vor einem halben Jahr, daß Du und Mati wieder nach Lenzburg ziehenEmilie Wedekind lebte seit der Geburt ihrer Enkelin Eva Oschwald im August 1899 bei ihrer Tochter Erika in Dresden. Als die Hauslehrerinnenstelle von Emilie (Mati) Wedekind bei der Familie Hamburger in Pettighofen im Juli endete, zogen die Mutter Anfang Juli und die Tochter Emilie Mitte Juli wieder nach Lenzburg [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 11.6.1902; AfM Zürich, PN 169.05.105]. wolltet. Wenn das richtig wäre, so würden Halbe und ich Euch vielleicht diesen Sommer besuchen, da wir eine Radtour | durch die Schweiz projectiert haben. Übermorgenam 9.5.1902; tatsächlich fand der Auftritt erst am 14.5.1902 statt (siehe oben). spiele ich hier mit der neuesten Frau Baronin von WolzogenElsa Laura von Wolzogen (geb. Seemann von Mangern), Lautenliedsängerin, Komponistin und Schriftstellerin, hatte Ernst von Wolzogen, Direktor des Bunten Theaters (Überbrettl), am 25.1.1902 in Berlin geheiratet. Sie war seine dritte Ehefrau; in erster Ehe war er mit Marinka (Maria Leopoldine Anna Hermine) von Wolzogen (geb. Catel) verheiratet gewesen (Heirat am 15.10.1882, Scheidung 1893), mit Klara von Wolzogen (geb. Hackenthal) in zweiter Ehe (Heirat am 14.4.1894 in München, Scheidung 1901). Wedekind war mit der geschiedenen zweiten Gattin Klara Freifrau von Wolzogen in München (Werneckstraße 9) [Adreßbuch von München für das Jahr 1901, Teil I, S. 684; 1902, Teil I, S. 717] bekannt [vgl. Wedekind an Max Halbe, 30.3.1902]; mit der dritten Gattin Elsa Laura von Wolzogen sollte er am 14.5.1902 gemeinsam auftreten (siehe oben). zusammen den „Rabbi Esra“. Trotzdem glaube ich, daß es mit der ganzen Überbrettelei bald ein Ende nehmen wird.

Herzliche Grüße an Mieze und Walter. Mit dem herzlichen Wunsch daß Du den heutigen Tag noch recht oft in Gesundheit und Frische feiern wirst grüßt Dich Dein
getreuer Sohn
Frank.


7.V.02.
Berlin, Köpenickerstraße 109, bei Frau SchwabeWedekind wohnte bei der Kaufmannswitwe Louise Schwabe in der Köpenickerstraße 109, 1. Stock [vgl. Berliner Adreßbuch 1903, Teil I, S. 1663], in der gleichen Straße wie das Bunte Theater (Köpenicker Straße 67/68). Das Zimmer hatte ihm Carl Rößler vorübergehend überlassen [vgl. Wedekind an Max Halbe, 7.5.1902]..


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Dresden=Strehlen
p. a. Frau Kammersängerin Wedekind.

Frank Wedekind schrieb am 6. Mai 1903 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama!

Empfange meine herzlichsten Glückwünsche zu Deinem morgigen GeburtstagEmilie Wedekind hatte am 8.5.1903 ihren 63. Geburtstag.. Zu meiner großen Freude hörte ich von Donald, daß Ihr, Du und Mati, Euch in Lenzburg wieder vorzüglich eingelebtEmilie Wedekind und Emilie (Mati) Wedekind waren im Juli 1902 aus Dresden bzw. Pettighofen zurück nach Lenzburg gezogen. habt und Euch sehr wohl fühlt. Vielleicht veranlassen mich meine Geschäfte diesen Sommer nach der Schweiz zu kommen; dann würde ich jedenfalls das Vergnügen haben, Euch zu sehen. Augenblicklich kann ich meinesSchreibversehen, statt: kann ich mich meines. Befindens nicht gerade rühmen, daher | auch die schlechte Schrift – Ich habe nämlich vor vier Wochen das Bein gebrochenWedekind musste „wochenlang das Bett hüten“ [Kutscher 2, S. 112], nachdem er sich am 10.4.1903 „das Bein gebrochen“ [Wedekind an Korfiz Holm, 12.4.1903] hatte, „den rechten Unterschenkel“ [Wedekind an Wolfgang Geiger, 12.4.1903]. Die Presse berichtete: „Frank Wedekind glitt in München auf der Straße aus und erlitt einen Beinbruch.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 8, Nr. 176, 16.4.1903, Abend-Ausgabe, S. (1)] und liege immer noch zu Bett. Heute hoffte ich zum ersten Mal aufstehen zu können; die Schmerzen sind aber noch zu stark, so daß ich wohl noch einige Tage liegen müssen werd werde. Donald war acht Tage hier.Donald Wedekind besuchte seinen Bruder ab dem 14.4.1904 in München [vgl. Wedekind an Max Halbe, 22.4.1903]. Ich fand ihn sehr zu seinem Vortheil verändert, in körperlicher Haltung sowohl wie auch innerlich. Ich sehe jetzt aber leider erst mit wie wenig Verständnis und praktischem Sinn für die Welt er ausgerüstet ist, so daß ich wohl glaube, daß er noch | einige Jahre wird kämpfen und suchen müssen, bis es ihm gelingt eine geordnete Position zu finden. Mit Freuden hörte ich, welch einen generösen Vorschlagnicht ermittelt. Du ihm vor einem Jahr in Dresden machtest, als er anfing, seinen Roman zu schreiben und es freute mich um so mehr daß er immerhin stolz genug war, nicht darauf einzugehen. Seinen Roman habe ich gelesenDonald Wedekinds Roman „Ultra montes“ war Ende Februar vom Verlag Hermann Costenoble (Inhaber: Richard Schröder), Berlin, angezeigt worden [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 70, Nr. 43, 21.2.1903, S. 1483]. Donald Wedekind hatte seinen Bruder darauf hingewiesen, aber keine seiner Freiexemplare verschickt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 28.1.1903 und 20.3.1903]. und kann mir wohl vorstellen, daß ihm das Erscheinen des Buches dazu hift/ilft/, einige kräftige Schritte vorwärts zu kommen. Ich habe mein möglichstes gethan, um ihn auf seinem immerhin nicht leichten | Weg zu ermuthigen.

Von mir selber habe ich nicht viel Neues zu berichten. Anfangs dieses Jahres spielte ich am Stuttgarter HoftheaterWedekind trat am 6. und 8.3.1903 in der Titelrolle seines Einakters „Der Kammersänger“ am Königlichen Wilhelma-Theater (Intendant: Joachim Gans zu Putlitz) in Cannstatt auf, eine Spielstätte, die zum Hoftheater Stuttgart gehörte. Gegeben wurden außerdem die Einakter „Der Eindringling“ vom Maurice Maeterlinck und „Der Dieb“ von Octave Mirbeau. den Kammersänger, der vor einigen Tagen in Dresdenam 26.4.1903 im Königlichen Hoftheater in Neustadt (zusammen mit dem Einakter „Salome“ von Oscar Wilde), ein Gastspiel des Ensembles des Berliner Kleinen Theaters im Rahmen einer Matinee-Veranstaltung für die Dresdner Literarische Gesellschaft. Paul Alexander Wolff, der Feuilletonredakteur der „Dresdner Nachrichten“, lobte zwar die Aufführung: „Gespielt wurden die beiden Stücke sehr annehmbar, der ‚Kammersänger‘ sogar recht gut.“ Er beklagte jedoch die fehlende Bühnenwirksamkeit von Wildes und Wedekinds Stücken und den jeweils gewählten Schluss. „Diesen brutalen Schluss nahm ein Teil des Publikums gestern mittag mit so unverhohlenem Mißfallen auf, daß neben starkem Zischen sogar Pfiffe hörbar wurden.“ Wolff berichtete ferner von „der Ablehnung der Wedekindschen Szenen“ durch das Publikum, „nur schüchtern wagte sich der Beifall für die Darstellung hervor.“ [Dresdner Nachrichten, Nr. 116, 27.4.1903, S. (2)] Ähnliches konstatierte auch Adolf Stern im „Dresdner Journal“: „Noch geringeren Beifall als ‚Salome‘ […] fanden die vortrefflich gespielten satirischen Szenen ‚Der Kammersänger‘ von Frank Wedekind“, namentlich der Schluss „fiel den Zuschauern auf die Nerven und weckte zischende und pfeifende Opposition.“ [Dresdner Journal, Nr. 95, 27.4.1903 S. (1)] ausgepfiffen wurde. Der ganze Hof war im Theater und ich hatte mich nicht über Mangel an BeifallDie Presse schrieb über die Cannstatter Aufführung: „Wedekind spielte diesen Kammersänger selbst sehr gewandt“, bemängelte jedoch den „plumpen brutalen Knalleffekt“ des Schlusses, womit „Frank Wedekind sich sein ganzes satyrisches Kabinetstückchen verdorben“ hätte. „Die Vorstellung, der auch der König und die Königin beiwohnten war sehr gut besucht.“ [Cannstatter Zeitung, Jg. 63, Nr. 56, 9.3.1903, Erstes Blatt, S. 2]. An anderer Stelle hieß es: „Besonderes Interesse bei der Aufführung erweckte, daß der Dichter die Rolle des Kammersängers selbst darstellte, womit er sicher der Wirkung des Stückes erheblichen Abbruch getan hat. Allen Respekt vor dem Dichter Wedekind, ein Schauspieler für seine Rolle ist er nicht. Scheinbar unsicher im Text, eintönig in der Sprache, steif in der Haltung und in den Bewegungen und ohne jeden mimischen Ausdruck erschwerte er den Mitwirkenden ihr Spiel.“ [Schwäbische Tagwacht, Jg. 23, Nr. 56, 9.3.1903, Erstes Blatt, S. 3] zu beklagen.

Meine herzlichsten Wünsche für Dein Wohlergehen, liebe Mama, begleiten diesen Brief. Grüße Mati bestens von mir und sei selber aufs herzlichste gegrüßt von Deinem getreuen Sohn
Frank


München 6. Mai 1903.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Schweiz (Ct. Aargau).

Frank Wedekind schrieb am 14. September 1903 in München folgende Bildpostkarte
an Emilie Wedekind

Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg Aargau
Schweiz |


PARTIE aus MÜNCHEN.
Müller’sches Volksbad.


Glücklich angekommenWedekind hielt sich vom 14.7.1903 bis Anfang September in Lenzburg auf und war spätestens am 12.9.1903 zurück in München [vgl. Tb Halbe].. Herzliche Grüße an Dich und Mati
Frank.

Frank Wedekind schrieb am 17. September 1903 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama!

Bei ziemlich schönem Wetter bin ich glücklich hier angekommenWedekind hatte den Sommer in Lenzburg verbracht („Wedekind reist morgen ab.“ [Tb Halbe 13.7.1903]) und war seit Mitte September zurück in München. und traf noch am selben Abendvermutlich am 12.9.1903: „Wedekind taucht im ‚Hofth. R.‘ auf, lustige Sitzung in der Bar.“ [Tb Halbe]. mit allen Münchner Genossen zusammen. Seitdem ist aber der Himmel wieder grau und das Wetter ist kalt, aber hier hat man wenigsten große öffentliche Lokale in denen man sitzen kann ohne Bekannte zu treffen. Ich versuche übrigens auch, möglichst viel zu Hause zu sein, aber behaglich ist es bei der Stimmung mitten im Sommer auch zu Hause nicht. So geht es mit der ArbeitWedekind arbeitete seit Ende Mai an seinem neuen Stück „Hidalla oder Sein und Haben“ [vgl. KSA 6, S. 368f.]. | zwar einigermaßen, aber doch nicht viel besser als es bei dieser Temperatur im Steinbrüchli im Gartenhause ging. Man muß eben abwarten. Gestern Abend traf ich meinen Freund Dreßler, der eben aus den Bergen zurückkam und schon von verschiedenen Seiten von seinem Mißerfolg in DresdenAnton Dreßler war am 28.8.1903 in der Rolle des Rocco in Beethovens „Fidelio“ zu Gast am Königlichen Opernhaus in Dresden. Die Kritiken fielen durchweg negativ aus: „Hr. Dreßler ließ zunächst erkennen, daß er kein Fremdling auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, ist. Aber damit und mit der Erwähnung der erfreulichen Mitgift einer deutlichen Aussprache wäre auch das erschöpft, was zu seinen Gunsten zu sagen ist. Die klanglich monotonen Stimmittel erwiesen sich kaum als ausreichend für unser Opernhaus und wie der gesangliche Vortrag der Präzision entbehrte, so war dies in gleicher Weise bei der Darstellung der Fall, die den Rocco als eine recht farblose Biedermannsgestalt hinzustellen sich bemühte.“ [Dresdner Journal, Nr. 200. 29.8.1903, S. (1)] „Aus dem bestimmt erhofften Erfolge“ von Anton Dreßlers Gastspiel, „wurde kaum mehr, als ein mittelmäßiges Bestehen der Rolle, eine Leistung, die mehr Schatten- als Lichtseiten aufwies. Das wenig günstige Ergebnis verschuldete der Gast zunächst durch auffällige Unsicherheit, die ihm ohne tatkräftige Unterstützung des Dirigenten und des Souffleurs noch größere Verlegenheiten bereitet hätte, als sie im ersten Finale in Erscheinung traten. Herr Dreßler ‚schwamm‘ hier, fest an den Souffleurkasten geklammert, mehr, als es, selbst bei ungenügend bemessenen Proben, auf einer ersten Bühne zulässig erscheint.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 47, Nr. 240, 30.8.1903, S. (1)] gehört hatte. Er ist aber völlig unschuldig daran.

Ich habe den Leuten hier schon viel von Lenzburg vorgeschwärmt und denke an die schönen Tage allerdings auch mit großem Vergnügen zurück. Mati steht jetzt wohl wieder morgens um sechs Uhr auf und giebt ihre SchuleEmilie (Mati) Wedekind hatte im September 1902 für einige Wochen an der Gemeindeschule Hendschiken, fünf Kilometer von Lenzburg entfernt, unterrichtet [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 2.9.1902. AfM Zürich, PN 169.5:107]. Vermutlich wiederholte sich dies 1903.? | Mittags hat sie dann natürlich wieder viel zu erzählen. Wenn ich irgend ein geeignetes Buch finde werde ich es ihr zuschicken. Dir steht übrigens noch der 2. Theil „Bismarkder zweite Band von Otto von Bismarcks Autobiographie „Gedanken und Erinnerungen“, die 1898 nach dessen Tod erschienen war und zum ein Bestseller avancierte. zur Verfügung, d. h. sobald ich die Kiste bekommen habe in der er nämlich drinliegt. Würdest Du also so gut sein, ein Wort mit dem Fuhrmann Müller zu sprechen. Die Kiste wegen des einen Buches in Lenzburg noch einmal zu öffnen hat keinen Zweck. Aber sobald ich sie erhalten habe schicke ich dir das Buch zu.

Hier hat indessen wieder die Neidhammelei mit den Premièren begonnen. Sobald einer einen Erfolg hat | fällt alles über ihn her. Ich hoffe diesen Winter durch meine Arbeit etwas davon ferngehalten zu werden. Gestern war als erstes „Der KönigBjørnsterne Bjørnsons Drama „Der König“ hatte am 16.9.1903 am Münchner Schauspielhaus (Direktion und Regie: Georg Stollberg) Premiere. Die Reaktionen des Publikums fielen zwiespältig aus: „Ein Teil des Publikums klatschte begeistert, ein anderer zischte energisch, somit hat das Werk Erfolg gehabt.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 106, Nr. 258, 17.9.1903, Abendblatt, S. (1)] Die deutsche Ausgabe des inzwischen 26 Jahre alten Stücks war erstmals 1896 bei Albert Langen erschienen, 1903 folgte die zweite Auflage. “ von Biörnson, ich weiß aber noch nicht mit welchem Ergebnis, da ich selber nicht drin war.

Und nun habe noch einmal herzlichsten Dank für Deine liebe Gastfreundschaft. Ich glaube daß mir die Lenzburger Zeit in jeder Beziehung sehr gut gethan hat. Grüße Mati und auch ÄnnchenAnne Wedekind, die 13jährige Tochter von Frank Wedekinds Bruder William, der nach Südafrika ausgewandert war, lebte seit Ende 1902 in Lenzburg und ging dort zur Schule [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 27.4.1903. AfM Zürich, PN 169.5:118]. von mir. Mit den besten Wünschen für Dein Wohlergehn grüßt Dich herzlichst
Dein treuer Sohn
Frank.


17. September 1903.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct. Aargau
Schweiz

Emilie Wedekind schrieb am 22. September 1903 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Mein lieber Frank!

Deine Kartevgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 14.9.1903. sowie Dein lieber Brief sind in meinem Besitz u. ich danke Dir, daß Du uns so schnell von Deiner glücklichen HeimkehrWedekind hatte den Sommer in Lenzburg verbracht („Wedekind reist morgen ab.“ [Tb Halbe 13.7.1903]) und war Mitte September nach München zurückgekehrt. benachrichtigt hast. Hoffentlich ist Dein CatahrrSchreibversehen, statt: Katarrh (Schleimhautentzündung, Erkältung). auch ganz verschwunden! Mati sagt zwar, ich dürfe Dich garnicht darüber befragen, aber, magst Du mich nun auslachen – ich habe mir wirklich rechte Sorgen darüber gemacht und bitte Dich dringend lieber Frank, Dich ja in Acht zu nehmen wenn der Husten noch nicht ganz verschwunden sein sollte. | Mati triumphirt übrigens,/!/ Sie bekommt nun ihre 50 Frs salairsalaire (frz.): Lohn. Emilie (Mati) Wedekind hatte im September 1902 [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 2.9.1902. AfM Zürich, PN 169.5:107] und vermutlich erneut 1903 für einige Wochen an der Gemeindeschule Hendschiken, fünf Kilometer von Lenzburg entfernt, unterrichtet. von der Schulpflege doch noch ausbezahlt und der Präsident der Schulpflege, IrmigerPräsident der Schulpflege war der Oberrichter und Bankdirektor Heinrich Irmiger [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 215]., war d’rauf und d’ran einen Rüffel zu erhalten weil er ganz eigenmächtig gehandelt hat und ohne seinen Collegen irgend eine Mittheilung zu machen die „EwigeAnspielung unklar. ihre Stellvertreterin bezahlen ließ.

Deine KisteWedekind hatte vor seiner Abreise aus Lenzburg seine Sachen in einer Kiste verpackt, die er sich hinterherschicken ließ [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 17.9.1903]. ist letzte Woche schon abgeschickt worden und ist vielleicht bereits bei Dir angekommen. Ich danke Dir für Dein frdl. Anerbieten, mir den zweiten Theil von Bismarks Erinnerungen herzuschicken. Wenn es Dir nicht zuviele Mühe macht und Du das Buch ziemlich lange entbehren kannst, so | bin ich froh, es auch noch zu lesen, denn das Alles interessirt mich sehr. Ich werde Dir auch den ersten Band zuschicken, sobald ich ihn ausgelesen H/h/abe, was nicht mehr lange dauern wird. Du hast auch noch einige Taschentücher u. 1 Kragen hier; werde dann Alles miteinander schicken.

Letzten Sonntagam 19.9.1903. machten Mati, Ännchen u. ich beim herrlichsten Wetter einen Ausflug nach FluelenFlüelen liegt am südlichen Ende des Urnersees, einem Arm des Vierwaldstättersees. u. Altdorf. Ich war ganz benommen von all der großartigen Schönheit dieser himmlischen Gegend. Ich werde niemals wieder etwas so Schönes zu sehen bekommen. Biörnson’s „König“ scheint in LeipzigDie Première von Bjørnsterne Bjørnsons Drama „Der König“ fand im Neuen Theater des Stadttheaters Leipzig (Direktion: Max Staegemann) am 17.9.1903 statt (Regie: Bruno Geidner) [vgl. Leipziger Abendblatt und Anzeiger, Jg. 97, Nr. 473, 17.9.1903, Morgen-Ausgabe, S. 6447] Die Presse schrieb: „Ob Björnson, wenn er am 17. September der Erstaufführung seines ‚Königs‘ in Leipzig beigewohnt hätte, auch noch an eine Art Achtungserfolg geglaubt haben würde, ich weiß es nicht. Das aber weiß ich, daß der greise, in diesem Falle leider sehr greise Dichter […] sich in einem starken Irrtume befunden haben würde, wenn er den an diesem Abend gespendeten Beifall auf Rechnung seines Stückes gesetzt hätte. Letzterem galt vielmehr, wenn ich mich nicht ganz irre, lediglich das wiederholte starke Zischen nach den einzelnen Aktschlüssen und das Gekicher, ja das Gelächter gerade in den ernstesten Szenen. Kein Wunder, denn die Grenzen des Tragischen und des Lächerlichen streifen einander vielleicht in wenigen Stücken derart, wie in Björnsons ‚König‘, vielmehr sie sind so vollständig vermischt, daß es der ganzen Kunst des Herrn Volkner, des Darstellers der Titelrolle, bedurfte, um das wieder und wieder dem Ertrinken nahe Geisteskind des wunderlichen Verfassers noch leidlich bis zum Schluß des Stückes über Wasser zu halten. Oft wird Herr Volkner zu diesem Akte der Selbstverleugnung freilich nicht Gelegenheit haben. Denn diese Tragikomödie, die sich Björnson diesmal – ohne böse Absicht – geleistet, trägt den Todeskeim von Anfang an so unverkennbar in sich, daß jedes nähere kritische Eingehen auf diesen dramatischen Unglücksfall vom Uebel ist.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 47, Nr. 260, 19.9.1903, S. (4)] tüchtig ausgepfiffen worden zu sein. Die KritickSchreibversehen, statt: Kritik. las sich jammervoll. |

Was weißt Du von Donald? Hier haben sie in der Stadtbibliothek seinUltra montesDonald Wedekinds Roman „Ultra montes“ war im Frühjahr im Verlag Hermann Costenoble (Inhaber: Richard Schröder) in Berlin erschienen [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 70, Nr. 43, 21.2.1903, S. 1483] und in der „Neuen Zürcher Zeitung“ ausführlich besprochen worden [vgl. Jg. 124, Nr. 107, 18.4.1903, Morgenblatt, S. (1)]. Dabei wurde Lenzburg als Schauplatz des Romans identifiziert. Am 27.4.1903 schrieb Mati an ihren Bruder Armin: „Wir haben Ultra Montes gelesen […]. Es wird uns hier besonders unangenehm dadurch, daß er als Rahmen für seine großstädtisch wurmstichigen Verhältnisse Lenzburg und die doch im Grund genommenen recht gutmütigen Lenzburger genommen hat. Jedoch stimmt das mit seinem Ausspruch, den er bei seinem Hiersein that: ‚Wirst schon sehen in meinem Roman, ich werde Dir das Terrain hier schon untergraben.‘“ [AfM Zürich, PN 169.5:119] angeschafft. Mati findet das großartig. Uebrigens hatten wir auch noch den Besuch von Frau HamburgerEmilie (Mati) Wedekind war seit Juli 1899 für drei Jahre Hauslehrerin bei der Unternehmerfamilie Emil und Josefine Hamburger in Pettighofen gewesen und hat deren Kinder Lilli, Meta, Emma, Cara und Lia betreut [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 29.12.1900; AfM Zürich, PN 169.5.97]. , die wirklich eine famose kleine Frau ist. Sie hätte Dir gewiß auch gefallen. Auch Frau Wucherernicht näher identifiziert. war da. Sie bedauerte aufrichtig, Dich nicht mehr vorzufinden. Dann zeigten wir uns gegenseitig, daß wir in den Begebenheiten die man aus den Tagesblättern erfahren kann, auf dem Laufenden seien, und tranken zusammen Cafe, constatierten, daß ich von der Malerei sehr wenig verstehe, indem ich lange Jahre hindurch einen Öhldruck für ein echtes Oehlgemälde gehalten hätte. – | Frau Wucherer schien dadurch sehr betrübt zu sein. Wahrscheinlich fiel ihre Hoffnung, bei mir eines ihrer Werke anzubringen, unter 0 Grad. Alles in Allem kam ich wieder zu der Einsicht, daß ich für Leute aus der Gesellschaft wenig übrig habe und sich mein IntresseSchreibversehen, statt: Interesse. immer mehr nur noch auf meine Kinder beschränke. Die Leute mit denen ich per Zufall zusammen komme bedauern sämmtlich, daß Du Deinen VortragÜber Wedekinds Vorhaben, in Lenzburg einen Vortrag zu halten, ist nichts bekannt. nicht gehalten hast. Sogar er junge Metzger Dietschi u. seine Schwesternicht näher identifiziert. In Lenzburg gab es zahlreiche Metzger mit diesem Namen. Die von Carl und Wilhelm Dietschi „betriebene, bestrenommierte, sehr günstig gelegene Metzgerei, Wursterei und Speisewirtschaft in Lenzburg“ [Der Bund, Jg. 51, Nr. 67, 9.3.1900, 2. Blatt, S. (4)] wurde Ende 1899 geschlossen und stand im März 1900 zum Verkauf. thaten das letzthin in der Metzg als ich Abends unser Fleisch dort holte. Sie hätten sich so sehr darauf gefreut Dich zu hören. Nun, aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Und nun, gute Nacht mein lieber Frank. Laß es Dir gut gehen und behalte lieb Deine alte
Mama.


[um 90 Grad gedreht am linken Rand:]


Mati grüßt herzlich. –

Frank Wedekind schrieb am 14. November 1903 in München folgendes Telegramm
an Emilie Wedekind

Telegramm No. 29.

von München 19/17/

[…]

Wedekind
Lenzburg Ct. Aargau
Schweiz.


Gefahr vorüberWedekind hatte sich bei einem Gastspiel in Nürnberg (31.10.1903 bis 5.11.1903) eine Lungenentzündung zugezogen und lag seit seiner Rückkehr nach München im Bett. Die Presse berichtete: „Aus München wird uns geschrieben: Frank Wedekind liegt seit drei Tagen an Lungenentzündung nicht unbedenklich krank darnieder.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 573, 11.11.1903, Abend-Ausgabe, S. (2)] Vermutlich hatte sich daraufhin die Mutter bei Wedekind gemeldet und sich nach seinem Zustand erkundigt. Wenig später meldete die Presse: „Frank Wedekind, der, wie wir berichteten, an einer schweren Lungenentzündung erkrankt war, befindet sich wieder auf dem Wege der Besserung.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 585, 17.11.1903, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Befinden täglich besser herzliche Grüsse an Dich und Mati

Frank.

[…]

Emilie Wedekind schrieb am 1. Dezember 1903 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 3.12.1903 aus München:]


Deine freundlichen theilnehmenden Zeilen beeile ich mich zu beantworten.

Frank Wedekind schrieb am 3. Dezember 1903 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Den 3. Dec. 1903.


Liebe Mama!

Deine freundlichen theilnehmenden Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 1.12.1903. beeile ich mich zu beantworten. Seit etwa acht Tagen gehe ich wieder an die frische Luft, gestern Abendam 2.12.1903. war ich in/so/gar in einem Conzertvermutlich der Liederabend von Anton Dreßler, mit dem Wedekind befreundet war, im Bayerischen Hof mit August Schmid-Lindner am Klavier und Liedern von Ansorge und Streicher [vgl. Allgemeine Zeitung, Jg. 106, Nr. 335, 3.12.1903, Abendblatt, S. (1)]. und darauf folgender Gesellschaft. Ich habe im ganzen nur zehn Tage zu Bett gelegenwegen einer Lungenentzündung (s. u.). Über den Krankheitsverlauf gibt Max Halbe in seinem Tagebuch Auskunft: „Erhalte gleich nach dem Aufstehen Brf. von Wedekind, daß er mich noch einmal sehen will, bin sehr bestürzt, finde ihn in sehr schlechtem Zustand. Bildet sich ein, er [...] müsse heute sterben. [...] Arzt kommt u. diagnostiziert Lungenentzündung“ [Tb Halbe 8.11.1903] Am 12.11.1903 notierte Max Halbe bereits: „Wedekind auf dem Wege der Besserung“, am 17.11.1903: „Wedek. fieberfrei, aber schlechter Laune“, und am 19.11.1903: „besuche […] Wedek., der aufgestanden“ [Tb Halbe]., das Fieber war nicht stark, ebensowenig die Schmerzen. Ich hatte zu Anfang nicht weniger als drei Ärzteeiner davon dürfte Wedekinds Hausarzt Johannes Hauschildt gewesen sein (s. u.), die beiden anderen sind nicht ermittelt.; meine HaushälterinIm Tagebuch nennt Wedekind später eine nicht näher identifizierte Therese [vgl. erstmals Tb 15.4.1904], die möglicherweise früher schon die Nachfolge von Hildegarde Zellner angetreten hatte, die Wedekinds Haushalt wegen des gemeinsamen Kindes im Sommer 1903 verließ., eine Österreicherin aus Linz, bewährte sich als Pflegerin sehr gut und des Nachts war eine katholische Diakonissinnicht näher identifiziert. bei mir. |

Zugezogen habe ich mir die Lungenentzündung bei einem sechstägigen GastspielDie Premiere des „Marquis von Keith“ am Intimen Theater (Direktion: Emil Meßthaler) in Nürnberg war am 31.10.1903, die letzte Vorstellung am 5.11.1903. Wedekind spielte die Titelrolle. als Marquis von Keith in Nürnberg. Trotz hochgeradigen Fiebers konnte ich das Gastspiel nicht gut unterbrechen. Nach der letzten Vorstellung fuhr ich nach München zurück und mußte mich sofort zu Bett legen. Unter der Controlle meines ArztesWedekinds Hausarzt war Dr. med. Johannes Hauschildt, praktischer Arzt in München (Schackstraße 6) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1903, Teil I, S. 241]. habe ich meine Arbeiten jetzt allmählig wieder aufgenommen, fühle mich aber noch sehr schwach, bin auch bedeutend magerer geworden, was aber nicht lange vorhalten zu wollen scheint. Ich soll essen, essen, essen. Das war aber nie meine | starke Seite. Deshalb profitire ich möglichst davon, daß gerade Austernzeit ist.

Von Donald habe ich seit mehreren Wochen keine Nachricht gehabt, bin aber ziemlich sicher, daß es ihm nicht schlecht geht. Soviel ich weiß hat er in der Nähe von Berlin eine eigene WohnungDonald Wedekind hatte in Friedenau bei Berlin eine Wohnung (Friedrich-Wilhelmplatz 6) genommen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 15.8.1903], wie der letzte überlieferte Brief von ihm vor dem vorliegenden Brief belegt.. Einen gesicherten Verdienst wird er wohl noch immer nicht haben, sonst wüßte ich es wohl, aber schlecht geht es ihm wie gesagt jedenfalls nicht.

Es freut mich sehr, daß Ihr Euch auch jetzt im Winter so überaus wohl fühlt in Lenzburg. Ich habe schon viel daran ge|dacht, nächsten Sommer wiederWedekind hatte den vergangenen Sommer vom 14.7.1903 bis Mitte September bei seiner Mutter und seiner Schwester Mati in Lenzburg verbracht. hinzukommen, möchte dann aber, wenn möglich, eine kleine Wohnung haben, die auf dem Annoncenwege w/i/m Wochenblatt vielleicht zu entdecken wäre. Wenn es Zeit dazu ist werde ich Mati die betreffende Annonce zuschicken. Grüße Mati bitte aufs herzlichste. Mieze werde ich diesen Winter vielleicht in DresdenWedekind reiste am 24.12.1903 nach Dresden und blieb dort mindestens bis zum 7.1.1904. sehen. Und SeiSchreibversehen, statt: Und sei. selber herzlichst gegrüßt, für deine liebevolle Theilnahme bedankt und empfange die besten Wünsche für Dein Wohlergehen von Deinem treuen Sohn
Frank


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg (Ct. Aargau)
Schweiz.

Frank Wedekind schrieb am 7. Januar 1904 in Dresden folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct. Aargau

Schweiz

Frank Wedekind schrieb am 6. Mai 1904 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama!

Mit großer Freude übersende ich Dir meine herzlichsten Glückwünsche zu Deinem heutigen GeburtstagAm 8.5.1904 hatte Emilie Wedekind ihren 64. Geburtstag.. Wie schön muß es jetzt in Deinem Garten in Lenzburg sein! Vermutlich hast Du für diesen Tag auch einige Deiner sch hübschen klugen Enkelkinder bei Dir, die Dir den Tag feiern | helfen. Und nun wird ja auch wol in einigen Wochen Mati wieder bei Dir sein, mit Der DuSchreibversehen, statt: mit der Du. allem Anschein nach doch sehr glücklich zusammenlebst. Mati zeigte mir heute einen Brief von DirDer Brief von Emilie Wedekind an ihre Tochter Emilie (Mati) ist nicht überliefert., aus dem ich zu meiner Freude sah, wie sehr Du sie liebst und wie ungern Du sie entbehrst. Daß sich Mati noch einmal verheiraten wirdEmilie (Mati) Wedekind heiratet am 9.7.1910 in Paris den französischen Wein- und Champagnerhändler Eugène Perré, den sie von früheren Aufenthalten (1889/90) auf Schloss Lenzburg kannte., halte ich für nicht sehr wahrscheinlich. Deshalb würde ich mich auch nicht zu sehr um | ihr Lebensglück grämen, denn thatsächlich ist sie ja glücklich, glücklicher vielleicht als mancher andere von uns. Warum soll ihr das also nicht vergönnt bleiben! Ihren Münchner AufenthaltEmilie (Mati) Wedekind war seit dem 29.3.1904 zu Besuch bei ihrem Bruder Frank in München („Mati kommt nach München.“ [Tb]) und blieb bis zum 9.5.1904 (mit kurzer Unterbrechung durch eine Reise nach Lenzburg vom 2. bis 4.4.1904). Sie reiste dann weiter nach Pettighofen („Mati reist ab nach Pettighofen.“ [Tb]), wo sie von 1899 bis 1902 bei der Unternehmerfamilie Hamburger als Hauslehrerin tätig gewesen war. hat sie sehr praktisch ausgenützt. Sie hat eine Menge Kunst gesehen und gehörtAm 8.4.1904 notierte Wedekind: „Abend mit Mati in Salome und Kammersänger.“ [Tb] Ob ihn seine Schwester außer bei diesem Theaterabend im Münchner Schauspielhaus mit den beiden Einaktern von Oscar Wilde und Frank Wedekind auch bei den anderen, im Tagebuch vermerkten Theater- und Konzertbesuchen begleitete, ist ungewiss; Armin Wedekinds (undatierter) Brief an Emilie (Mati) Wedekind legt nahe, dass sie am Ankunftstag mit ihm die „Aufführung der Büchse der Pandora in München“ [Tb 29.3.1904] besuchte, das Gastspiel des Nürnberger Intimen Theaters am Münchner Schauspielhaus: „Wenn ich hören musst dass Du in München der Aufführung eines seiner Stücke beiwohnst, das nach der Aussage hiesiger Litteraturkenner das Schweinischste ist, was man auf der Bühne sehen kann.“ [AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 160.5:102]. Frank Wedekind besuchte während des Aufenthalts seiner Schwester außerdem am 26.4.1904: „Dreßler Conzert“ [Tb], ein „Konzert zum Besten der deutschen Truppen in Südwestafrika […] im Bayerischen Hof“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 191, 28.4.1904, S. (1)] seines Freundes Anton Dreßler (Gesang) mit Augst Schmid-Lindner (Klavier) und Liedern von Wolf, Schillings und Thuille; und am 29.4.1904 das Stück „Evchen Humbrecht oder Ihr Mütter merkts Euch!“ von Heinrich Leopold Wagner am Münchner Volkstheater („‘Evchen Humbrecht‘“ [Tb]). und eine Anzahl Menschen kennen gelernt, die Alle freundlich zu ihr waren ohne im geringsten Nach nachsichtig gegen ihre Schwächen zu sein. Auf jeden Fall wird | wird sieSchreibversehen (Wortwiederholung beim Seitenwechsel), statt: wird sie. Dir allerhand ganz interessante gesellschaftliche Schilderungen geben können, vorausgesetzt, daß sie in Pettighofen nicht alles wieder vergißt, was ich schon für möglich halte.

Mit mir selber geht es langsam vorwärts. In einigen Tagen erscheint das Buch„Hidalla oder Sein und Haben“, Schauspiel in fünf Akten, erschien Ende Mai 1904 im Verlag Dr. J. Marchlewski & Co in München [vgl. KSA 6, S. 386]. Wedekind versandte am 31.5.1904 seinem Tagebuch zufolge Freiexemplare („Exemplare von Hidalla verschickt“), angezeigt war das Buch allerdings erst einige Tage später [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 71, Nr. 132, 10.6.1904, S. 5042]. Als Entstehungszeit des Stücks notierte Wedekind später Juli 1903 bis März 1904 [vgl. Nb 54, Blatt 60v]., das ich letzten Sommer in Lenzburg begonnen habe. Vielleicht wird das Stück am Münchner Hoftheater gespieltWedekinds Schauspiel „Hidalla oder Sein und Haben“ wurde am 18.2.1905 am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) unter der Regie von Georg Stollberg mit Wedekind in der Rolle des Karl Hetmann uraufgeführt.. In Berlin ist es bereits | zur Aufführung am Lessingtheater angenommenDie Uraufführung von „Hidalla“ war zunächst am Lessingtheater in Berlin unter der Leitung von Otto Brahm geplant gewesen, war aber nach Wedekinds Protest gegen die Besetzung der Hauptrolle [vgl. Wedekind an Otto Brahm, 11.1.1905] kurzfristig abgesagt worden [vgl. Otto Brahm an Wedekind, 16.1.1905].. In Berlin kommt nächsten Winter auch mein Marquis von Keith wieder an die ReiheDer „Marquis von Keith“ wurde am Berliner Kleinen Theater erst am 13.12.1905 aufgeführt, mit Wedekind als Gast in der Titelrolle., was mir sehr erquicklich ist, da mir das Stück von allem, was ich geschrieben habe am meisten am Herzen liegt. Wirthschaftlich bin ich diesen Winter nicht sehr vorwärts gekommen, da mir durch meine KrankheitWedekind hatte sich Anfang November 1903 eine Lungenentzündung zugezogen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 14.11.1903 und 3.12.1903]. immerhin zwei Monate verloren gingen. Aber das kümmert mich nicht sehr, da die Aussichten um so bessere sind. |

Diesen Sommer werde ich voraussichtlich wieder nach LenzburgWedekind war vorigen Sommer vom 14.7.1903 bis Mitte September in Lenzburg gewesen. kommen. Mieze singt hier in München mitten im Sommer. Ich würde ihr Gastspielnicht belegt. Vermutlich sollte Erika Wedekind bei den Münchner Mozartfestspielen auftreten, die vom 1. bis 11.8.1904 am Königlichen Residenztheater und am Königlichen Hof- und Nationaltheater stattfanden und zahlreiche auswärtige Gäste präsentierten (aus Dresden: Minnie Nast; aus Berlin: Emilie Herzog) [vgl. Neue Zeitschrift für Musik, Jg. 71, Bd. 100, Nr. 29, 13.7.1904, S. 537f.], unter denen sie sich jedoch nicht befand. Wedekind besuchte Vorstellungen der „Zauberflöte“ [vgl. Tb 5.8.1904] und von „Cosi fan tutte“ [vgl. Tb 10.8.1904]. nicht gerne versäumen. Vielleicht kommen wir dann zusammen nach Lenzburg oder reisen zusammen hierher zurück. Das Zerwürfnisvgl. dazu Erika Wedekind an Frank Wedekind, 30.3.1904. Die Auseinandersetzung zwischen den Schwestern war offenbar der Anlass für Matis unangekündigte Abreise nach München. zwischen Mieze und Mati habe ich nach Kräften zu schlichten gesucht und das ist mir wol auch gelungen. Mati hat hier in | München übrigens auch viell/l/es gehört, was sie ihre eigene Lebensstellung etwas ernster betrachten lehrt.

Und nun leb wohl, liebe Mama; was es sonst noch neues giebt, werde ich Dir alles am liebsten erzählen. Ich weiß, ich bin ein schwacher Briefschreiber, aber ich bin es der ganzen Welt gegenüber, sonst gingen meine Geschäfte auch viel rascher vonstatten.

Noch einmal meine herzlichsten Glückwünsche und meine | besten Wünsche für Dein gesundheitliches Wohlergehen. Von Donald wirst Du ja wol auch etwas hören. Es scheint ihm in Berlin ganz gut zu gehenDonald Wedekind äußerte sich zuletzt zuversichtlich über seine Karriere als Schriftsteller, bat seinen Bruder aber erneut um Geld [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 11.4.1904].. Jedenfalls ist er auch über das Schlimmste hinaus. Wenn Du Armin oder Emma siehst, dann grüße sie.

Mit den herzlichsten Grüßen auf baldiges Wiedersehn
Dein getreuer Sohn
Frank.

München, den 6. Mai 1904.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Streinbrüchli
Schweiz

Frank Wedekind schrieb am 4. Juni 1904 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama,

ich kann mit dem besten Willen nicht einsehen was du Schreckliches an Matis PlanEmilie (Mati) Wedekind hatte nach ihrer Rückkehr von München und Pettighofen beschlossen, Schauspielerin zu werden, was in der Familie auf wenig Begeisterung stieß. Armin Wedekind vermutete dahinter Frank Wedekinds Einfluss und schrieb seiner Schwester: „Sollte mich das nicht im Innersten kränken, wenn ich sehe wie Du Dich in die Gesellschaft dieses Menschen begiebst der schon Donald zu Grunde gerichtet hat und der mit Donald zusammen den Ruhm geniesst, den Gipfel der Schweinelitteratur im deutschen Sprachgebiet zu repräsentiren. Wenn ich hören musst dass Du in München der Aufführung eines seiner Stücke beiwohnst, das nach der Aussage hiesiger Litteraturkenner das Schweinischste ist, was man auf der Bühne sehen kann. Es ist mir unbegreiflich wie Du dabei sein konntest, dass Du nicht davon gelaufen bist! Und nun soll ich ruhig zusehen, dass Du eine Laufbahn betrittst, die mehr als irgend eine andere geeignet ist Dich in den gleichen Sumpf zu ziehen.“ [AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 160.5:102 (undatiert)] Darauf versicherte ihm Mati: „Mama hat wirklich ihr möglichstes getan, um mich von meinem Plane abzubringen. Du mußt ihr wirklich keine Vorwürfe über mein Tun und Lassen machen. […] und Franks Einfluß überschätzest Du wirklich auch. Er hat mit meinem Entschluß zur Bühne zu gehen nicht das geringste zu schaffen. Im Gegenteil sagte er mir, wenn ich je daran rührte, daß ich zu alt dazu sei.“ [AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 160.5:103 (undatiert)] oder Entschluß findest. Ich bin fest überzeugt daß du ihn vor zehn oder zwanzig Jahren sehr vernünftig gefunden hättest. Daß es dir jetzt schwer fällt, dich hineinzufinden wäre schließlich be|greiflich, wenn Du nicht selber Schauspielerin gewesen wärest und zwei Kinder beim TheaterWedekind meint sich selbst und seine Schwester Erika, die am Hoftheater Dresden als Sängerin engagiert war. hättest, die sich sehr wol dabei befinden. Was kann Mati denn Schlimmes passieren. Kommt sie vorwärts, dann soll es mich ungeheuer freuen. Ich fürchte nur sehr, daß sie zu faul ist. Ich halte den Plan sogar für viel besser als wenn sie nach Dresden ginge und noch einmal mit Studieren begänneArmin Wedekind hatte seiner Schwester geraten, wenigstens „1 – 2 Jahre vorbereitendes Studium“ [AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 160.5:102] zu absolvieren, ein Plan, den Mati zunächst auch verfolgte, wie sie ihm am 12.8.1904 schrieb: „So werde ich denn voraussichtlich Mitte September nach Dresden verreisen um meine Studien dort aufzunehmen.“ [AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 169.05:113] – vor Ort dann jedoch fallen ließ.. | Oder nimmst du an dem Rang des Badener SommertheatersMati absolvierte verschiedene Auftritte im Sommertheater des Stadt- und Casinotheaters in Baden [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 22.7.1904] unter der Direktion von Heinrich Hagin, zugleich Direktor des Stadttheaters in Würzburg und der Sommertheater in Baden-Baden und Karlsruhe [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 266] und dessen Regisseur und Stellvertreter Max Engelhardt aus Würzburg [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind (undatiert), AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 160.5:103]. Anstoß? Ich selbst werde im Juli am Sommertheater in Tölz gastierenmit dem Einakter „Der Kammersänger“ am 15.7.1904: „Mittags 2 Uhr mit Frau Gerhäuser Langheinrich und Frau Rosenthal nach Tölz gefahren. Probe. Kammersängervorstellung. Eingenommen M. 50.“ [Tb] Die Spielzeit des Kurtheaters Bad Tölz (Direktion: Kurdirektor Freiherr von Wening) dauerte vom 5.6.1904 bis zum 11.9.1904, unter den Gästen waren Frank Wedekind und Ottilie Gerhäuser verzeichnet [vgl. Neuer Theater-Alamanch 1905, S. 580]. und zwar mit Ottilie Gerhäuser zusammen über deren künstlerische Qualitäten Dir Mati berichten kannEmilie (Mati) Wedekind besuchte am 8.4.1904 eine Aufführung von Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ am Münchner Schauspielhaus [vgl. Tb] mit der dort engagierten Schauspielerin Ottilie Gerhäuser [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 441] in der Rolle der Frau Marowa [vgl. General Anzeiger der Münchner Neuesten Nachrichten, Nr. 165, 8.4.1904, S. (1)].. Das Sommertheater in Baden steht aber ohne zweifel auf einer höheren Stufe als das in Bad Tölz. Was bleibt also nun noch zu fürchten übrig! | Daß Mati ein Kind kriegt? Das wäre weiß Gott nicht das Schlimmste für sie, denn dann hörte sie vielleicht endlich mal auf eins zu sein.

Seid also Beide herzlichst gegrüßt und sag Mati daß ich mich sehr darüber freuen werde wenn Sie esSchreibversehen, statt: wenn sie es. zu etwas bringt, sei es nun dies oder jenes.

Mit den besten Grüßen
Dein getreuer Sohn
Frank.


4 VI 04.

Emilie Wedekind schrieb am 1. April 1905 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 7.5.1905 aus München:]


Entzückend finde ich übrigens die Karte vom Steinbrüchli in seiner ganzen üppigen Blüthenpracht.

Frank Wedekind schrieb am 7. Mai 1905 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama!

Zu Deinem heutigen GeburtstagEmilie Wedekind hatte am 8.5.1905 ihren 65. Geburtstag. bitte ich Dich meine allerherzlichsten Glückwünsche entgegenzunehmen. So sehr ich bedaure, an diesem Tage nicht in Lenzburg zu sein, wie ich ursprünglich gehofft hatte, so tröstet mich doch das | Bewußtsein, daß es Dir an Gratulanten jedenfalls nicht fehlen wird.

Was nun mich betrifft, liebe Mama, so habe ich ein ziemlich kurzweiliges Jahr hinter mir. Letzten Sommer gastierte ich hier in München an zwei Theaternam Intimen Theater und am Münchner Schauspielhaus. Wedekind trat im Juni und Juli 1904 beim Kabarett der Sieben Tantenmörder im Intimen Theater (Kaimsaal) mehrfach mit Gastspielen auf, zuerst vom 6.6.1904 bis 14.6.1904: „Heute Montag beginnt im Intimen Theater ein mehrtägiges Gastspiel Frank Wedekinds. Zur Aufführung gelangt u. a.: ‚Rabbi Esra‘, Dialog von Frank Wedekind, welcher die Titelrolle selbst spielen wird; ‚Im Frühling‘, ein Schäferspiel von Frank Wedekind, Musik von A. Bela Laszky“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 260, 7.6.1904, Vorabendblatt, S. 4]. Dann erneut ab dem 25.6.1904: „Mit dem Morgigen (25. Juni) beginnt ein achttägiges Gastspiel Frank Wedekinds (mit seinen Balladen und in seinem Dialog ‚Rabbi Esra‘ in der Titelrolle).“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 291, 24.6.1904, Morgen-Blatt, S. 4] Und obgleich die Presse meldete: „Das Gastspiel Wedekinds endigt mit dem 2. Juli.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 304, 2.7.1904, Vorabendblatt, S. 3] wurde er in der ersten Juliwoche weiterhin als Gast in der Titelrolle des „Rabbi Esra“ angekündigt und war bis zum 6.7.1904 bei den Sieben Tantenmördern zu sehen [vgl. Tb]. Danach trat Wedekind vom 25.7.1904 bis zum 9.8.1904 in der Titelrolle seines Einakters „Der Kammersänger“ am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) auf [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 342, 24.7.1904, S. 3], anschließend wurde die Rolle von Hans Schwartze gespielt. und außerdem in so und so viel BädernWedekind trat in seinem Einakter „Der Kammersänger“ in den Kurtheatern von Bad Tölz (15.7.1904) und Bad Reichenhall (1./3.9.1904) auf.. Der Winter begann mit einem großen Durchfall am Variété in BeslauSchreibversehen, statt: Breslau. Wedekinds Gastspiel als Bänkelsänger in Liebichs Etablissement (Direktion: Hugo Wandelt), einem bekannten Varieté-Theater in Breslau (Gartenstraße 53/55), begann am 1.11.1904. Er notierte im Tagebuch: „Durchgefallen.“ Das ursprünglich für einen Monat geplante Gastspiel endete vorzeitig am 6.11.1904, an dem Wedekind nochmals notierte: „Durchgefallen.“ Die Presse schrieb: „Aus Breslau wird gemeldet: Frank Wedekind hat mit seinem Versuch, sich dem Varieté zuzuwenden, Fiasko gemacht. Sein Auftreten in Liebichs Etablissement begegnete so entschiedener Opposition, daß er seinen Vertrag nach sechs Tagen lösen mußte und Breslau bereits verlassen hat.“ [Neue Freie Presse, Nr. 14444, 9.11.1904, Abendblatt, S. 1]. Im Dezember spielte ich mit der berühmten Schauspielerin | Gertrud Eysoldt in StraßburgDer Verein zur Pflege moderner dramatischer Literatur veranstaltete am 19.12.1904 am Stadttheater Straßburg einen Abend mit Wedekinds „Der Kammersänger“ und Hugo von Hofmannsthals „Elektra“ [vgl. Hamburger Fremdenblatt, Jg. 76, Nr. 301, 23.12.1904, 4. Beilage, S. (2)]. Wedekind, der die Titelrolle in seinem Stück spielte, war am 16.12.1903 angereist und traf am 18.12.1904 Gertrud Eysoldt vom Neuen und Kleinen Theater in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 292], die die Titelrolle in Hofmannsthals Stück spielte: „Probe. Gertrud Eysoldt kommt an. [...] Hole mit Korge Gertrud ab. Thee bei Jerschke Abends Germania.“ [Tb 18.12.1904]. Tags darauf notierte er: „Strassburg. Kammersänger Eingenommen M. 200 Probe. Gang durch die Alte Stadt. Im kleinen Frankreich. Mühlstaden. Hole Gertrud von der Probe ab und diniere mit ihr. Abendspaziergang durchs Metzgerthor über die Wälle aufs freie Feld. Vorstellung“ [Tb 19.12.1904]. nachdem ich vorher schon am „Neuen Theaterbei den beiden Vorstellungen von „Erdgeist“ (Regie: Richard Vallentin) in Berlin am 23. und 25.9.1904 mit Gertrud Eysoldt als Lulu. Wedekind sprach den „Prolog zum Erdgeist“. Er notierte am 23.9.1904: „Probe. Abends Prolog gesprochen.“ [Tb]; tags darauf: „Ich diniere mit Gertrud Eisoldt im Kaiserkeller, fahre mit ihr durch den Thiergarten.“ [Tb 24.9.1904] Und am 25.9.1904: „Stehe um 2 Uhr auf gehe spazieren diniere mit Gertrud Eysold im Kaiserkeller. Abends Prolog. Eingenommen M. 150.“ Gertrud Eysoldts Darstellung der Lulu in der Inszenierung des Stücks am 17.12.1902 am Kleinen Theater in Berlin (Regie: Richard Vallentin) hatte maßgeblich zum Erfolg der Tragödie beigetragen (vgl. Seehaus 1973, S. 381). in Berlin mit ihr aufgetreten war. Dann kam hier in München HidallaDie Uraufführung von „Hidalla oder Sein und Haben“ (1904) im Münchner Schauspielhaus (Regie: Georg Stollberg) mit Wedekind in der Rolle des Karl Hetmann fand am 18.2.1905 statt. zu der Du und Mati mir die schöne Gratulation geschicktvgl. Emilie Wedekind und Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 23.2.1905. Die sehr erfolgreiche Uraufführung von Wedekinds Schauspiel hatte ein entsprechendes Presseecho [vgl. KSA 6, S. 536, 544-548], das die Gratulation von Mutter und Schwester veranlasst haben dürfte., für die ich herzlich danke. Entzückend finde ich übrigens die Karte vom Steinbrüchlinicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emile Wedekind an Frank Wedekind, 1.4.1905. in seiner ganzen üppigen Blüthenpracht. Ich habe diese lieben Karten in meinem Arbeitszimmer täglich vor Augen und denke an Euch, sooftSchreibversehen, statt: so oft. ich einen Blick darauf werfe. | Mit Hidalla habe ich dann auch in meiner getreuen Reichsstadt Nürnberg gastiertWedekind reiste am 23.3.1905 nach Nürnberg („Fahre nach Nürnberg. Probe.“ [Tb]), wo „Hidalla“ am 25.3.1905 Premiere am Intimen Theater (Regie: Emil Meßthaler) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 516] hatte und bis zum 30.3.1905 fünfmal mit Wedekind als Karl Hetmann aufgeführt wurde. Am nächsten Tag kehrte er nach München zurück: „Rückfahrt nach München“ [Tb 31.3.1905]. „Frank Wedekinds Schauspiel ‚Hidalla‘ mit Wedekind als Hetman wurde im Intimen Theater zu Nürnberg mit stürmischem Beifall aufgenommen.“ [Saale-Zeitung, Jg. 39, Nr. 146, 27.3.1905, 3. Beiblatt, S. (1)] Das Stück erlebte „einen durchschlagenden Erfolg. Dem Autor-Darsteller galten zahlreiche Hervorrufe.“ [Hamburger Fremdenblatt, Jg. 77, Nr. 74, 28.3.1905, 4. Beilage, S. (1)], wo mir das Publicum auch diesen WinterIm Jahr zuvor hatte am 1.2.1904 am Intimen Theater (Direktion: Emil Meßthaler) in Nürnberg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 453] die Uraufführung von „Die Büchse der Pandora“ unter der Regie von Egbert Soltau in einer Subskriptionsvorstellung stattgefunden. Die Presse berichtete von „lebhaftem Beifall […] Der Schlußakt fand starken Widerspruch; es wurde sogar gepfiffen. Doch zum Schluß überwog bedeutend der Beifall.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 54, 3.2.1904, Morgenblatt, S. 2] wieder sehr gewogen war. Dagegen haben die Stuttgarter meine Hidalla entschieden übel genommenWedekinds Gastspiel in „Hidalla“ hatte am 16.4.1905 am Residenztheater in Stuttgart (Direktion: Hans Zillich und Oskar Fuchs) Premiere und umfasste drei Aufführungen. Die Presse bezeichnete das Stück „als ein verfehltes Schauspiel. […] Hidalla ist ein peinliches Stück. Peinlich durch den Stoff, durch Unklarheit und durch Mangel an dramatischem Leben. […] Das Können entsprach freilich nicht immer dem Wollen. Die Hauptrolle spielte der Dichter selbst, der sich offenbar mit außerordentlichem Fleiß voller Hingabe in seine Aufgabe vertieft hat. Er bietet als der moderne Quasimodo ein interessantes, aufs subtilste ausgearbeitetes Charaktergemälde. […] Das Publikum nahm die Novität mit Beifall, Kopfschütteln und Widerspruch auf. Am Schlusse mischte sich in den Applaus starkes Zischen und aus den hinteren Reihen des Parketts ließ sich eine Stimme vernehmen: ‚Unsinn!‘“ [Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg, Jg. 62, Nr. 90, 17.4.1905, S. 2], während ich ihnen als Schauspieler dies mal besser gefiel. Trotzdem waren die Tage, die ich vor vier Wochen in Stuttgart zubrachte die herrlichstenWedekind traf am 13.4.1905 in Stuttgart ein und lernte dort Berthe Marie Denk kennen, mit der er seinen Aufenthalt verbringt. Im Tagebuch notierte er am 13.4.1905: „Packe meine Koffer. […] Fahre nach Stuttgart. Eine Dame lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Zimmer No 58.“ Tags darauf: „Finde im Hotel einen Brief von Berthe Marie Denk. Zimmer 58.“ Am 15.4.1905 heißt es: „Stehe um 8 Uhr auf und beantworte den Brief von Marie Denk. Probe. Ich treff sie im Theater. Wir diniren im Hotel. Sie ist zum Cafe geladen. Sie empfängt mich in Gesellschaftstoilette in ihrem Zimmer.“ Am Tag der „Hidalla“-Aufführung notierte Wedekind: „Gehe mit Anna Denk durch die Anlagen. Der König kommt. Wir diniren im Hotel. Ich lege mich schlafen. Sie weckt mich um 6 Uhr. […] Ich bleibe die Nacht bei ihr.“ [Tb 16.4.1905] Am 17.4.1905: „Um 11 Uhr kommt Marie Denk. Wir fahren auf die Solitude“; am 18.4.1905: „Um 10 Uhr kommt Marie Denk zu mir. Automobilfahrt über Ludwigsburg nach Mon Repos. Diner im Hotel Marquart. Nachmittag auf ihrem Zimmer. Café.“ Und schließlich am 19.4.1905. „Um 10 Uhr kommt Marie Denk und fordert mich zur Automobilfahrt auf. Ich lehne ab. Sie ist bis Sonnenaufgang gefahren. War in der Nähe von Ulm. Ich packe meinen Koffer. 4.40 nach München zurück. Marie Denk fährt mit. Wir zanken uns. Ich lasse sie alleine.“ [Tb] die ich seit langer Zeit erlebt habe. Es mag das auch damit zusammenhängen daß mir so viele Plätze wie | der Neunersche GartenFriedrich Neuner, Hofgärtner und Mitbegründer des Mineralbads Berg in Stuttgart, hatte für Kronprinz Karl den Park der Villa Berg sowie die Parkanlage seines Mineralbads angelegt., das Leuzesche Badvon Ludwig Leuze 1851 erworbene und 1854 neu eröffnete Mineralbadeanstalt am Neckarufer in Stuttgart, die nach seinem Tod von seinem Sohn und später seinem Enkel weiterbetrieben wurde., der Garten am Wilhelmatheaterdie Wilhelma, Stuttgarter Sehenswürdigkeit: „Von der Rückseite des Schlosses führen Promenadenwege durch die Anlagen hinab zur Wilhelma, einem malerischen Gebäudekomplex im maurischen Stil, inmitten schöner Gartenanlagen, 1842-51 von Zanth für König Wilhelm I. erbaut […] Auf den untern Terrassen innerhalb der Kolonnaden herrliche Blumengärten mit Springbrunnen und Tiergruppen in Marmor und Bronze von Güldenstein. Darin auch das […] Theater und ein Restaurant.“ [Karl Baedeker: Süddeutschland. Handbuch für Reisende. 29. Aufl. Leipzig 1906, S. 129] noch aus meinem dritten oder vierten JahrEmilie Wedekind war im Juni 1867 mit ihren beiden Söhnen William und Franklin zur Kur nach Stuttgart gefahren und logierte im Stadtteil Berg in Friedrich Neuners Badeanstalt. Sie berichtete ihrem Mann am 12.6.1867, am Tag nach ihrer Ankunft, in einem Brief: „[Mü, Nachlass Frank Wedekind, Konvolut Burkhardt, Nidderau] A: „Besonders die Kinder scheinen hier sehr zu profitiren, denn Baby hat noch nicht ein einzig mal das Bett naßgemacht, und Willy ist immer ganz ausgelassen […] Übrigens ist das Bad sehr schön u reinlich und wir brauchen nur die Treppe hinunter zu gehen, so sind wir im Bade-Hause. Dieses Frühjar hat Hr. Neuner ein römisch-irisches Bad erbauen lassen, welches sich sehr gut rentirt“ [Mü, Nachlass Frank Wedekind, Konvolut Burkhardt, Nidderau] Und am 24.6.1867 berichtete sie ihm über ihren Besuch in der Wilhelma: „Es war mir als sei ich in einen Zaubergarten versetzt, und ich müßte nur schauen und sehen u. bewundern. Überall Rosen, Rosengänge, Lauben, Heken, Hütten, Piramiden, goldene Kioske mit weißen u. rothen Rosen übersponnen, Stakete, Dächer, Fensterrahmen alles vergoldet, kurzum es muß etwas ähnliches sein wie s. Z die Alhambra.“ [Mü, Nachlass Frank Wedekind, Konvolut Burkhardt, Nidderau]. Am 2.7.1867 kam Friedrich Wilhelm Wedekind mit seinem Sohn Armin nach Berg nach. Die Familie reiste Mitte Juli über Schaffhausen nach Bendlikon und kehrte von dort vom 9. bis 30.8.1867 zu einem weiteren Kuraufenthalt nach Stuttgart zurück [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 223]. in Erinnerung sind. Auf der SolitudeHöhenrücken 12 Kilometer nordwestlich von Stuttgart, auf dem sich Schloss Solitude (1769; von frz. ‚solitude‘ = Einsamkeit) befindet; beliebtes Ausflugsziel seit dem 19. Jahrhundert. haben wirWedekind und Berthe Marie Denk am 17.4.1905 (s. o.). zu Mittag gegessen und fuhren am nächsten Ta/M/ittagam 18.4.1905 (s. o.). mit dem Automobil über Ludwigsburg nach MonreposSchlossbau (1804; von frz. ‚mon repos‘ = meine Ruhe) fünf Kilometer nördlich von Ludwigsburg, seit Ende des 19. Jahrhunderts beliebtes Ausflugsziel. im herrlichsten Sonnenschein immer bergauf, bergab am Fuß des hohen AsbergsErhebung vier Kilometer nordwestlich von Ludwigsburg, auf deren Gipfelplateau (356 m) sich die Festung Hohenasberg befindet, in der Wedekinds Großvater Jakob Friedrich Kammerer 1833 in Untersuchungshaft saß. vorbei. Ich glaube sogar beinah, daß ich mich verlobt habemit Berthe Marie Denk, die Wedekind in Stuttgart kennengelernt hatte (s. o.); vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 8.5.1905.; ich weiß | es aber noch nicht ganz bestimmt und bitte daher, mir vorderhand noch nicht zu gratulieren. Jedenfalls war das Hotel MarquartWedekind logierte in Stuttgart im Hotel Marquardt (Schloßstraße 4 und 6) [vgl. Adreß- und Geschäfts-Handbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Stuttgart für das Jahr 1905, Teil I, S. 300]. in eine Art von Zauberschloß verwandelt.

Am Ostermontagam 24.4.1905. Wedekind notierte im Tagebuch: „Ankunft in Berlin. Logiere Habsburger Hof. Gehe in den Zoologischen Garten. Abends Konzert in der Philharmonie mit Gabriele Reuter Max Möller, Hans von Kahlenberg und Lotte Klein. Mit Donald Max Möller und Frau Schmidt-Bürklin aus Zürich soupiert. Eingenommen. M. 300.“ si/a/ng in/c/h in einer Soiree in der PhilharmonieWedekind trat mit den Schriftstellerinnen Gabriele Reuter und Helene von Monbart (Pseudonym: Hans von Kahlenberg), dem Schriftsteller Max Möller und der Schauspielerin Lotte Klein in dem zur Berliner Philharmonie gehörenden Beethovensaal bei einem Lese- und Rezitationsabend auf. Die Presse berichtete: „Moderne Poeten. Etwas ganz Besonderes mußte es sein, womit man die festmüde, dinergesättigte Stimmung des Berliner Publikums am Ostermontag Abend aus dem behaglichen Ausruhen zu einem Soiréebesuch aufpeitschen wollte […] So füllte man denn ein Programm mit klingenden Namen und bot im Beethoven-Saal ein literarisches Feinschmeckergericht. […] Der Held des Abends aber war und blieb Frank Wedekind. Nicht der ganz unbestrittene. Wenn er mit dem spöttischen Mephistogesicht und dem Faunslächeln, das in so seltsamem Gegensatz zu der ehernen Stirn und den kalten stolzen Augen steht, seine freien, frechen Dichtungen und seine Zötchen vortrug, so mischte sich am Schlusse wie mitten drinnen gelegentliches Zischen in den rasenden Beifall. Aber der Beifall überwog, und nicht nur lebenslustige Männer, auch eine Anzahl junger, schöner Frauen und Mädchen klatschten wie wütend zu dem Liebesunterricht des ‚Rabbi Esra‘, dem Zötchen von Brigitte B., der geschlachteten Tante und der ‚Majestätsbeleidigung‘, die er zur Laute vortrug. […] Zum Schluß ließ sich Wedekind noch zu zwei Zugaben bewegen: ‚Die Heilsarmee‘ verlangte man stürmisch. ‚Erst‘, sagte er, ‚kommt das ‚Lied vom blinden Knaben‘!‘ und dann trug er dies Lied vor, das eine echte Dichtung ist und zeigt, daß Wedekind auch anderes bieten könnte, wenn man anderes von ihm verlangte.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 34, Nr. 209, Nr. 209, 25.4.1905, Abend-Ausgabe, S. (2)] in Berlin, war daraufhin mit Donald zum Su/o/uper geladen und freute mich darüber, ihn ziemlich vergnügt und zufrieden zu sehen. Vermutlich treffe ich ihn auch nächsten Freitagam 12.5.1905. Wedekind notierte im Tagebuch: „Abends mit Hauptmann Welti und Donald im Spatenbräu. Dann bis 4 Uhr mit Donald bei Wittwe Helmer.“ Wedekind war wegen einer Gerichtsverhandlung nach Berlin gereist, eine Anklage gegen ihn und seinen Verleger Bruno Cassirer aufgrund §184 (‚Verbreitung unzüchtiger Schriften‘) in der Buchausgabe „Die Büchse der Pandora. Tragödie in drei Aufzügen“ (1903), die zu einem Freispruch führte [vgl. KSA 3/II, S. 1153-1161]. wieder in Berlin. Sonst habe ich in letzter Zeit | an Bekannten nur Professor Käslin aus Aarau getroffen, mit dem ich hier in München einen höchst amüsanten Abendam 9.4.1905; Wedekind notierte: „Totentanz gearbeitet im Hofbräu. Nachher Torggelstube. […] Dr. Käslin aus Aarau.“ [Tb] Wedekind kannte Hans Kaeslin, Lehrer für Deutsch und Französisch (seit 1901 an der Kantonsschule Aarau), noch aus Lenzburg (sein Vater war dort Musikdirektor) und hatte ihn 1894 und 1899 in Paris wiedergetroffen. verlebte und der sich Dir bestens empfehlen läßt. Das heißt Walter Laué läßt sich dir auch bestens empfehlen. Es war ein herrlicher Abend vor zwei Monaten, als ich in Cöln bei ihm zu Gast war und seine Frau ist ein so hübse/c/hes und liebes Geschöpf daß ich ihn aufrichtig darum beneidete.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Ich wünsche daß Du | diesen Tag in/m/ besten Wohlbefinden und in glänzendster Feststimmung verbringst. Grüße bitte Herrn und Frau Gustav Henkell, wenn Du sie siehst.

Grüße mir mein liebes Mati von Herzen und sei Du selber, liebe Mama aufs aller herzlichste i/g/egrüßt von deinem dich liebenden getreuen Sohn
Frank

München, den 7 Mai 1905.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct. Aargau Schweiz

Emilie Wedekind schrieb am 9. Mai 1905 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 30.7.1905 aus München:]


Du würdest mir einen großen Gefallen thun liebe Mamma | wenn Du mir den Brief von Willy schicken wolltest von dem Du mir im Mai schriebstHinweis auf das hier erschlossene Korrespondenzstück..

Emilie Wedekind, Donald (Doda) Wedekind und Emilie (Mati) Wedekind schrieben am 24. Juli 1905 in Lenzburg folgende Bildpostkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.


Auf dieser Seite sind Mitteilungen für die Schweiz, Frankreich und England zulässig.


Herrn
Frank Wedekind
München.
Franz Josefstrasse 42 II. |


Lieber Frank,

herzliche Glückwünsche zum GeburtstagFrank Wedekinds 41. Geburtstag am 24.7.1905.!

Mama


Für die Authenticität von Mamas Unterschrift bürgt

Donald

Grüße Alle und richte aus, daß ich den Zug nichSchreibversehen, statt: nicht. erwischt habe.


Z. Z. in Ernteferien hier, sonst in Besenbüren an der SchuleEmilie (Mati) Wedekind vertrat in Besenbüren eine vakante Lehrerinnenstelle [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 30.7.1905].. Ich wohne dort sehr angenehm bei der Mutter deines FreundesEmilie (Mati) Wedekind wohnte in Besenbüren bei Maria Katharina Sophie Huber (geb. Pfenninger), der Mutter des aus Besenbüren stammenden Hermann Huber, der wie Wedekind das Gymnasium in Aarau besucht hatte und inzwischen als freisinniger Politiker im schweizerischen Freiamt tätig war. Regierungsrath Huber.

Mati

Emilie Wedekind schrieb am 25. Juli 1905 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 30.7.1905 aus München:]


Tausend tausend Dank für das schöne Bild […]. Ich brauchte solang um zu antworten, da ich in den letzten Tagen eine Influenza hatte […] Und nun sei noch einmal herzlich bedankt liebe Mama, für das schöne Bild und den lieben Brief […]

Frank Wedekind schrieb am 30. Juli 1905 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Geliebte Mama!

Tausend tausend Dank für das schöne Bildnicht überliefert; das selbstgemalte Bild (ein Geburtstaggeschenk zum 24.7.1905) lag einem ebenfalls verschollenen Brief Emilie Wedekinds bei (s. u.). Artur Kutscher zufolge ließ Emilie Wedekind zum „Geburtstag 05 […] durch eine befreundete Malerin das kleine Häuslein malen, in dem er seine Hidalla verfaßte“ [Kutscher 3, S. 232], als er im Sommer 1903 in Lenzburg war., bis jetzt eine der schönsten Erinnerungen, die ich der Hidalla zu danken habe. Ich brauchte solang um zu antworten, da ich in den letzten Tagen eine InfluenzaIm Tagebuch notierte Wedekind seit dem 25.7.1905 bis zum 30.7.1905 täglich „Influenza“, er trat jedoch weiterhin im Künstlerkabarett Intimes Theater (Direktion: Mary Irber) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 506f.) im Kaimsaal auf. hatte, daß ich die Hand nicht vor den Augen sah. Wer hat denn das Bild gemalt? Ich werde es sofort einramenSchreibversehen, statt: einrahmen. lassen und | am schönsten Platz unter meinen Kriegstrophäen aufhängen. Ich habe mich sehr darüber gefreute, daß Ihr Euch in Lenzburg so schön zusammen getroffen habt. Es muß DortSchreibversehen, statt: dort. jetzt herrlich sein. Hier scherrschtSchreibversehen, statt: herrscht. eine Hitze daß man den ganzen Tag im Wasser liegen möchte. Leider geht das bei Influenza nicht. Ich werde wol den ganzen Sommer hierbleibenWedekind verließ München am Abend des 5.9.1905, um über Dresden nach Berlin zu reisen, wo er bis zum 25.6.1906 blieb. Zuvor unternahm er lediglich eine kurze Reise nach Franzensbad und Eger (s. u.)., denn ich muß mir für den Winter noch einige Rollen einpauken lassenWedekind nahm spätestens seit April 1904 regelmäßig Schauspielunterricht bei dem Hofschauspieler Fritz Basil, wie zahlreiche Einträge im Tagebuch belegen, insbesondere auch zur Vorbereitung auf die Rolle des Karl Hetmann in „Hidalla“, für deren Erfolg er Fritz Basil sogar Geschenke macht: „Ich schenke Basil einen goldenen Becher für Hidalla.“ [Tb 26.6.1905] Im August notierte Wedekind mehrfach: „Schwiegerling gelernt.“ [Tb 9., 10., 11. und 13.8.1905] sowie „Rollen gelernt.“ [Tb 14., 15. und 16.8.1905] . Im Monat Juni habe ich zweimal prachtvolle | TageWedekind war vom 27.5.1905 bis 30.5.1905 und vom 14.6.1905 bis 16.6.1905 in Wien gewesen und verbrachte seine Zeit dort vor allem mit Karl Kraus und Berthe Marie Denk [vgl. Tb]. in Wien verlebt gelegentlich der Aufführungen der Büchse der PandoraWedekind war vom 27.5.1905 bis 30.5.1905 und vom 14.6.1905 bis 16.6.1905 in Wien gewesen und verbrachte seine Zeit dort vor allem mit Karl Kraus und Berthe Marie Denk [vgl. Tb]. , mit allen Herrlichkeiten die Wien zu bieten hat. Im Oktober spiele ich Hidalla in Berlin am Kleinen Theater.

Donald wird Dir wol von sich das Wichtigste selber erzähltDonald Wedekind war nach seinem Besuch bei Frank Wedekind in München vom 13. bis 21.7.1905 nach Lenzburg weitergereist: „Donald reist in die Schweiz.“ [Tb 21.7.1905] haben. Er scheint hier ganz gute Geschäfte gemacht zu haben. Vor zwei Tagen traf ich Abends mit einem Herrn HollFritz Holl, Schauspieler am Stadt- und Casinotheater Baden (Direktion: Heinrich Hagin) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 266], war 1904 mit Emilie (Mati) Wedekind zusammen aufgetreten. zusammen, der mit Mati | am Sommertheater in Baden engagiert war und mir von ihrem Spiel erzählte, das sehr gut gewesen sei. Du mußt ihn gleichfalls kennen, da er bei Euch in Lenzburg war. Wir schrieben dann zusammen mit dem Hofschauspieler KainzJosef Kainz, Hofschauspieler am Wiener Burgtheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 574]; die Presse notierte: „Hier angekommen und in den nachfolgenden Hotels abgestiegen sind: […] Hofschauspieler Kainz, Wien (Continental).“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 58, Nr. 339, 22.7.1905, Morgenblatt, S. 3] eine Karte an Matinicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 28.7.1905. die derweil hoffentlich angekommen.

Wenn Mati übrigens meinen alten Freund Hermann Huber sieht, dann würde | es mich sehr freuen wenn sie ihm meine Grüße ausrichtenEmilie (Mati) Wedekind vertrat im Sommer 1905 „vorübergehend eine vakante Lehrerstelle im 20 km von Lenzburg entfernten Dorf Besenbüren“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 220], dem Heimatort Hermann Hubers [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 30.7.1905]. wollte.

Vor kurzem habe ich wieder ein neues Stück„Totentanz“; Wedekind hatte mit dem Entwurf des Stücks am 28.3.1905 begonnen und die Arbeit daran am 20.6.1905 mit der Absendung einer Reinschrift an Karl Kraus beendet [vgl. KSA 6, S. 613]. Der Erstdruck erfolgte in der „Fackel“ [Jg. 7, 4.7.1905, Nr. 183/184, S. 1-33], die Buchfassung erschien (datiert auf 1906) im Oktober 1905 bei Albert Langen [vgl. KSA 6, S. 623]. vollendet, einen Einakter. Wenn er gedruckt ist, dann werde ich ihn dir zuschicken. Ich fürchte nur, daß ihn außer mirWedekind begann nach der Publikation mit dem Auswendiglernen des Stücks: „Casti Piani gelernt.“ [Tb 10.7.1905] Kurz darauf notierte er: „Casti Piani fertig gelernt.“ [Tb 18.7.1905] In der Uraufführung am Intimen Theater in Nürnberg (Regie: Emil Meßthaler) am 2.5.1906 spielte Wedekind die Hauptrolle. kein Schauspieler auf dieser Welt jemals spielen wird.

Nächste Woche gehe ich | nach IschlTatsächlich reiste Wedekind vom 4.8.1905 bis zum 7.8.1905 nach Eger und Franzensbad, um sich mit Berthe Marie Denk zu treffen [vgl. Tb]. Ein Vortrag Wedekinds ist in dieser Zeit nicht belegt., dem elegantesten österreichischen Badeort um einen literarischen Vortrag zu halten. Später gastiere ich dann wahrscheinlich wieder in Reichenhall und Marienbad Gastspiele Wedekinds in den beiden Orten ließen sich für 1905 nicht belegen (zu Bad Reichenhall vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 17.8.1905). Im Jahr zuvor war Wedekind in seinem Einakter „Der Kammersänger“ am Kurtheater von Bad Reichenhall (1./3.9.1904) zu Gast gewesen. Die Presse kündigte seit August eine gemeinsame „Gastspieltournee durch Deutschland und eventuell auch Österreich“ [Die Zeit, Jg. 4, Nr. 1103, 11.8.1905, Morgenblatt, S. 4] mit Hedwig Lange an, „erste Kraft des Frankfurter Schauspielhauses“ [ebd.], deren Namen Wedekind am Tag des vorliegenden Briefes im Tagebuch notierte. Sie „wird die weibliche Hauptrolle des neuen Wedekindschen Stückes, dessen Titel noch nicht feststeht, in Berlin kreieren, während Wedekind selbst die männliche Hauptrolle seines neuen Stückes übernimmt. Wedekind-Lange beabsichtigen außer der Aufführung des neuen Stückes auch noch mustergültige Vorstellungen des ‚Erdgeist‘ und der ‚Büchse der Pandora‘ in den verschiedenen Städten ihres Auftretens.“ [Ebd.] Die Tournee fand nicht statt.wie schon im vorigen Sommer. Bei schönem Wetter sind solche Reisen höchst amüsant da man immer eine Reihe angenehmer Bekanntschaften dabei macht. | Nach Lenzburg zu kommen ist mein sehnlichster Wunsch aber ob sich die Zeit findet? Sobald ich einmal zu einem Gastspiel oder Vortrag in der Schweiz aufgefordert würde wäre ja die Sache sehr einfach. Aber die Schweizer scheinen nicht viel Zutrauen zu meinen Künsten zu haben. Du würdest mir einen großen Gefallen thun liebe Mamma | wenn Du mir den Brief von WillyDer Brief von William Wedekind an seine Mutter ist nicht überliefert. schicken wolltest von dem Du mir im Mai schriebstHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 9.5.1905.. Du erhälst ihn sofort wieder zurück.

Und nun sei noch einmal herzlich bedankt liebe Mama, für das schöne Bild und den lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 25.7.1905. und grüße bitte Mati wenn SieSchreibversehen, statt: wenn sie. noch bei Dir ist.

Mit den herzlichsten Wünschen und besten Grüßen
Dein treuer BruderSchreibversehen, statt: Sohn.
Frank


30.7.5.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind.
Lenzburg
Schweiz Ct. Aargau

Emilie Wedekind schrieb am 11. August 1905 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 13.8.1905 aus München:]


Mit bestem Dank schicke ich Dir hiemit Willys Brief zurückHinweis auf das hier erschlossene Begleitschreiben zu dem Brief, um dessen Übersendung Wedekind in seinem letzten Brief gebeten hatte [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 30.7.1905], den er also erhalten hat und nun zurücksandte..

Frank Wedekind schrieb am 13. August 1905 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama!

Mit bestem Dank schicke ich Dir hiemit Willys Brief zurückEmilie Wedekind hatte offenbar Frank Wedekinds zuletzt geäußertem Wunsch nach Übersendung eines Briefs von William Wedekind [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 30.7.1905] entsprochen, den er nun zurücksandte. Zugleich Hinweis auf das nicht überlieferte Begleitschreiben zu der Sendung der Mutter; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 11.8.1905.. Außerdem einige Briefe und Carten an DonaldVermutlich hatte Donald Wedekind die Adresse seines Bruders weitergegeben, um während seines München-Aufenthalts vom 13.7. bis 21.7.1905 Post empfangen zu können. Es dürfte sich also im Karten Dritter gehandelt haben, die nach seiner Abreise eingetroffen sind., die ich Dich bitte weiterexpedierenweitersenden. Ob und wo die Karten Donald Wedekind zugestellt wurden, ist nicht ermittelt. zu | wollen falls Du seine Adresse weißt. Ich weiß sie nämlich nicht.

Hier in München ist es jetzt sehr still, dagegen beginnen überall schon die Vorarbeiten für den kommenden Winter Diese Woche spiele ich hier wier/d/er Hidallaweitersenden. Ob und wo die Karten Donald Wedekind zugestellt wurden, ist nicht ermittelt.. Vor acht TagenWedekind traf sich am 4.8.1905 mit Berthe Marie Denk in Eger und fuhr mit ihr nach Franzensbad; dort besuchte er sie von Eger aus auch an den beiden folgenden Tagen. Am 7.8.1905 kehrte er nach München zurück [vgl. Tb]. war ich in Franzensbad bei einer Freundin zu Besuch; | kommende Woche werden Direktor MeßthalerEmil Meßthaler war Eigentümer des Intimen Theaters in Nürnberg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 498]. und ich im Bad Reichenhall im Marquis von Keith gastierenEin Gastspiel in Bad Reichenhall im „Marquis von Keith“ gemeinsam mit Emil Meßthaler ließ sich nicht belegen, Meßthaler ist aber als Gast des Königlichen Kurtheaters (Direktion: Otto Milrad) verzeichnet [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 518]. Aufgrund anderer Veranstaltungen am Kurtheater kommt für ein Gastspiel nur der Zeitraum vom 20.8. bis 23.8.1905 in Frage. An diesen Tagen finden sich keine Einträge in Wedekinds Tagebuch. Zuvor notierte er: „Hole Meßthaler an der Bahn ab. Gehe mit ihm zu Wagner wegen Gastspiel. Packe meinen Koffer“ [Tb 17.8.1905]. . So vergeht die Zeit. Im übrigen habe ich den Sommer dazu benutzt um mich wieder im Reiten zu übenNachdem Wedekind Ende Juni mehrmals mit Berthe Marie Denk Reiten war („Wir bestellen ein Pferd in der Reitschule.“ [Tb 28.6.1905] „Bertha Maria zieht ihr Reitkleid an. Wir gehen in die Reitschule.“ [Tb 29.6.1905]) notierte er Anfang Juli: „Abonniere auf einen Reitkurs, lasse mir Reithosen anmessen.“ [Tb 3.7.1905] „Um zehn Uhr Reitschule.“ [Tb 4.7.1905] „Ein Schuster mißt mir Reitstiefel an. | Darauf geh ich in die Reitschule.“ [Tb 5.7.1905] Bis zum 16.8.1905 dann 24 Mal der Eintrag: „Reitschule“.. Ich reite fast jeden Tag spazieren und bin dabei schon beträchtlich schlanker | geworden.

Ich hoffe, liebe Mama daß auch Du diesen herrlichen Sommer vollauf genossen hast und daß Dir der Sommeraufenthalt und die Begegnung mit Mieze recht s viel Freude gemacht haben.

Mit den herzlichsten Grüßen und besten Wünschen

Dein treuer Sohn
Frank


13.8.5.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg Ct. Aargau
Schweiz.

Frank Wedekind schrieb am 24. Februar 1906 in Berlin folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Berlin, Schiffbauerdamm 6.III.
24. II 6.


Geliebte Mama!

ich binSchreibversehen, statt: Ich bin. so glücklich, Dir mittheilen zu können, daß ich eben im Begriff stehe, mich zu verheiratenWedekind heiratete die inzwischen 20jährige Tilly (Mathilde) Emilie Adolfine Newes am 1.5.1906 in Berlin. und zwar mit Fräulein Tilly Newes aus Graz, 19 Jahr alt, die letzten Frühling in Wienam 29.5.1905 und am 15.6.1905 im Trianon-Theater in Wien, wegen der Zensur als geschlossene Veranstaltungen organisiert von Karl Kraus. Tilly Newes spielte die Lulu, Adele Sandrock die Gräfin Geschwitz und Wedekind die Rolle des Jack [vgl. KSA 3/I, S. 548 und 3/II, S. 1205f.]. die Hauptrolle in der Büchse der Pandora und diesen WinterWedekinds Schauspiel „Hidalla oder Sein und Haben“ hatte am 23.9.1905 am Kleinen Theater (Direktion: Viktor Barnowsky) in Berlin mit Wedekind als Karl Hetmann Premiere. Die Rolle der Fanny Kettler spielte zunächst Getrud Arnold, Ende Oktober wurde sie auf Betreiben Wedekinds [vgl. Gertrud Arnold an Wedekind, 17.10.1905] durch Tilly Newes ersetzt: „Hidalla [...]. Erstes Auftreten von Tilly Newes.“ [Tb 27.10.1905] „Letztes Auftreten von Gertrud Arnold.“ [Tb 30.10.1905] hier in Berlin die Fanny in Hidalla spielte. Ich wandte michHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an das Standesamt Hannover, 18.2.1906. nun wegen der Papiere | an das Standesamt Hannover und erhalte heute die AntwortHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Standesamt Hannover an Wedekind, 23.2.1906. Die Einführung des staatlichen standesamtlichen Meldewesens erfolgte in Hannover erst ab dem 1.10.1874., ich müsse mich an das zuständige PfarramtWedekind schrieb am 1.3.1906 die Pfarrämter der Marktkirche und der Aegidienkriche in Hannover an [vgl. Wedekind an das Pfarramt der Aegidienkirche, 1.3.1906 und Wedekind an das Pfarramt der Marktkirche, 1.3.1906]. wenden. Nun erinnere ich mich, daß Du geliebte Mama einmal für Willy oder Donald einen GeburtsscheinIm Geburts- und Taufbuch der Aegidienkirche in Hannover ist Wedekind ohne Vornamen registriert: „Ort der Geburt: Hannover, Große Aegidienstraße 13. / Geschlecht des Kindes: Knabe / Voller Name des Kindes: Wedekind – / Tag und Stunde der Geburt im Jahre 1864: den vier und zwanzigsten Juli zwölf ein viertel Uhr Nachmittags. / Name, Stand und Wohnort der Eltern: Doctor medicinae Friedrich Wilhelm Wedekind aus Harste bei Göttingen, wohnhaft in San Franzisco, Californien, und dessen Ehefrau Emilie Friederike geborene Kammerer.“ [In: Kreter 1995, S. 62] in Hannover bekommen hast und bitte Dich mir mitzutheilen, so ungefähr, welches Pfarramt das gewesen sein könnte. Das genauere bekomme ich dann schon heraus. Es ist mir in diesen Tagen leider nicht möglich nach Hannover zu gehen, da ich hier | täglich Proben am Deutschen TheaterWedekind war dem Tagebuch zufolge seit dem 19.2.1906 bei den Proben zu „Erdgeist“: „Erdgeistprobe im Neuen Theater“; 22.2.1906: „Erdgeistprobe“; 23.2.1906: „Erdgeistprobe“; 24.2.1906: „Erdgeistprobe“. Die Aufführung des Stücks unter der Regie von Richard Vallentin fand am 25.2.1906 am Neuen Theater (Direktion: Max Reinhardt) statt, Wedekind sprach den „Prolog zum Erdgeist“. Am 23.2.1906 erhielt er außerdem zur Vorbereitung das Bühnenskript von Moliéres „Tartuffe“: „Im Deutschen Theater übergiebt mir Holländer die Rollen Tartuffe und Narre.“ [Tb] „Im Franziskaner studiere ich Tartuffe.“ [Tb 24.2.1906] habe. Nächsten Montagam 26.2.1906. halte ich zwar einen Vortrag in GöttingenWedekind notierte: „Ich fahre nach Göttingen. Otto Hapke holt mich ab. Vortrag im Englischen Hof. Nachher Gesellschaft im Cafe Hapke. Um ½ 2 Rückfahr[t] nach Berlin. Eingenommen M. 350.“ [Tb 26.2.1906]. Der Buchhändler Otto Hapke betrieb in Göttingen das Wiener Café Hapke (Weender Str. 57). Wedekind war von der Göttinger Literarischen Gesellschaft eingeladen worden und trug Lieder, Gedichte und Szenen aus „So ist das Leben“ und „Rabbi Esra“ vor [KSA 1/III, S. 543]., habe aber keine Zeit, mich in Hannover aufzuhalten.

Ich hoffe sehr, liebe Mama, daß Dir dieser milde Winter gesundheitlich sehr wol bekommen ist. Von Mati erhielt ich einige Kartennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 15.2.1906 und mindestens zwei weitere Postkarten aus dem Januar und Februar 1906. für die ich ihr von Herzen danke. In dem Berliner Trouble(frz.) „die Unruhe, Störung, Verwirrung“ [Friedrich Erdmann Petri: Handbuch der Fremdwörter in der deutschen Schrift- und Umgangssprache. 19 Aufl. Gera 1896, S. 898]. und der Arbeit fand ich bis jetzt nicht Gelegenheit ihr zu antworten, aber ich hoffe, daß sie mir das nicht übel nimmt. Letzten Dienstagam 20.2.1906. war | ich in FrankfurtWedekind reiste am 19.2.1906 für einen Vortrag nach Frankfurt: „Ich packe meinen Koffer Tilli begleitet mich zur Bahn, Habsburger Hof. Abfahrt nach Frankfurt.“ [Tb]. Am 21.2.1906 traf er sich dort mit Theodor Curti: „Bei Theodor Kurti zu Tisch mit Herrn Benolio.“ [Tb], besuchte dort Theodor CurtiDer aus Rapperswil stammende Theodor Curti (Körnerstraße 4) war Direktor der Frankfurter Societätsdruckerei [vgl. Adreßbuch für Frankfurt am Main 1906, Teil I, S. 53], bei der auch die „Frankfurter Zeitung“ erschien, und mit der Cousine von Wedekinds Schwägerin Emma Frey, der Frau seines Bruders Armin, verheiratet. Armin Wedekind stand in brieflichen Kontakt mit ihm und verfasste auf ihn einen Nachruf [vgl. AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 169.2:80]. und sprach viel mit ihm von Lenzburg und Zürich, von allem was uns lieb ist.

Ich hoffe sehr, liebe Mama, daß wir uns nächsten Sommer in Lenzburg oder irgend einer Sommerfrische sehen werden. Donald kennt Tilly NewesTreffen zwischen Donald Wedekind und Tilly Newes sind in Frank Wedekinds Tagebuch mehrfach belegt, erstmals für den 4.11.1905: „Donald holt mich im Theater ab. […] Wir soupieren mit Tilly.“ Am 11.11.1905: „Nachher mit Tilly Orlik Sulzberger Donald und Lanz bei Habel dann Stallmann.“ Am 5.1.1906: „Nachher mit Donald und Tilli bei Traube und in der Hütte.“ Am 18.1.1906: „Nachher mit Tilli und Donald bei Habel und in der Hütte.“ Und am 24.1.1906: „mit Tilly Iduschka Gertrud Eysold Tilla Durieux Donald Frau Weißbeck.“ und kann Euch von ihr erzählenDonald Wedekind war am 30.1.1906 von Berlin nach Baden in der Schweiz übergesiedelt [vgl. Tb], von wo aus er regelmäßig Besuche in Lenzburg unternahm [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 12.3.1906]..

Mit den herzlichsten Wünschen für Euer Wohlergehen und mit den allerherzlichsten Grüßen danke ich Dir im voraus als
Dein getreuer Sohn
Frank.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Schweiz (Ct. Aargau)

Frank Wedekind schrieb am 7. Mai 1906 in Berlin folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Berlin, Marienstraße 23.II.l.
7.V.6.


Geliebte Mama!

Was wirst Du gesternBezogen auf das Schreibdatum wäre das der 6.5.1906. Wedekind antizipiert jedoch, dass sein am späten Nachmittag des 7.5.1906 (siehe Postausgangsstempel) in Berlin abgesandter Brief, erst am 9.5.1906 in Lenzburg (siehe Posteingangsstempel) und damit einen Tag nach Emilie Wedekinds 66. Geburtstag am 8.5.1906 eintreffen würde. von mir gedacht haben, als du nochimmer keine Nachricht keinen Gruß und keinen Glückwunsch bekommen hattest. Aber ich habe die anstrengendste Zeit meines Daseins hinter mir. Innerhalb acht Tagen zwei PremierenMolières „Tartuffe“ am Deutschen Theater (Direktion: Max Reinhardt) mit Wedekind in der Titelrolle am 25.4.1906 und die Uraufführung von „Totentanz“ am Intimen Theater in Nürnberg (Eigentümer: Emil Meßthaler) mit Wedekind als Casti Piani am 2.5.1906. und dazwischen eine VerheiratungTilly Newes und Frank Wedekind heirateten am 1.5.1906 in Berlin auf dem Standesamt 12A (XIIa) für Friedrich-Wilhelmstadt und Moabit, Amtslokal: NW 52, Alt-Moabit 120 [vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Teil II, S. 95], wie das Heiratsregister im Landesarchiv Berlin [http://landesarchiv-berlin.de] belegt (bei Wedekind und Newes Familien-Buch-Nr. 275).. Ich habe auch nie in meinem Leben | soviel zu schreiben gehabt, was absolut geschrieben werden mußte wie gerade in diesen Tagene. Dazu kommt, daß wir noch gar nicht eingerichtetÜber den Umzug in die gemeinsame Wohnung in der Marienstraße 23 (2. Stock, links) findet sich im Tagebuch lediglich am 6.5.1906 die Notiz Wedekinds: „Wir schlafen bis zwölf. Diner bei Steinert. Ich hole meine Sachen bei Frau Nolte“. Am 8.5.1906 notierte Wedekind: „Teppich, Clubsessel, Spiegel e.ct. gekauft. Wir essen zum ersten Mal zu Hause zu Abend.“ sind. Erst unser Schlafzimmer ist so wie es ungefähr sein soll, alles übrige Wüstenei. Vorgestern abendam 5.5.1906. Wedekind notierte: „Rückfahrt nach Berlin. Diner im Zug. Abends im Burggrafenhof“ [Tb]. kamen wir von Nürnberg zurück, gestern Sonntagam 6.5.1906. waren keine Geschäfte auf und heute um 9 Uhr früh wurde meine liebe Tilly auf die Probezu Oscar Wildes „Ein idealer Gatte“ am Kleinen Theater (Direktion: Viktor Barnowsky), wo Tilly Wedekind engagiert war. Am 9.5.1906 notierte Wedekind im Tagebuch: „Tilly hat Probe von Ideale Gatte. […] Tilly ist stark erkältet.“ Und tags darauf: „Schreibe an Barnowsky daß Tilly nicht zur Probe kommen kann.“ Die Premiere am 16.5.1906 fand ohne sie statt: „Wegen plötzlicher Erkrankung der Frau Tilly Niemann-Wedekind hat Fräulein Else Böttcher in der heute im Kleinen Theater stattfindenden Erstaufführung von ‚Ein idealer Gatte‘ die Rolle der Mabel Chiltern übernommen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 246, 16.5.1906, Morgen-Ausgabe, S. (3)] gerufen die jetzt noch nicht zu Ende ist. Auch die Zeit vor unserer Verheiratung hatten wir fürchterlich viel zu thun. So vollzog sich denn auch unsere Hochzeit im allerengsten | KreisWedekinds Tagebuch zufolge traf zunächst der mit ihm befreundete Opernsänger Emil Gerhäuser als Trauzeuge um 10 Uhr vormittags ein, dann Dagobert Engländer aus Wien, Inspector der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft und Bruder von Tilly Newes Mutter. Der zweite Trauzeuge war Julius Greve, Regierungs- und Baurat im Polizeipräsidium Berlin, wohnhaft in Charlottenburg (Rankestraße 31/32) [vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Teil I, S. 664]. „Herrn und Frau Regierungsrat Greve (Berlin) hatte Tilly Newes 1904 während eines Sommeraufenthalts in Seiß (Tirol) kennen gelernt. Als Tilly nach Berlin kam, wurde sie von Greves gastfreundlich aufgenommen“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 48]. Nach der Trauung und einem Besuch im Zoologischen Garten kamen weitere Hochzeitsgäste im Savoy-Hotel (Friedrichstraße 103) hinzu – die Schauspielerinnen Ida Orloff und Adele Sandrock sowie Curt von Glasenapp, der Leiter der Abteilung für Theaterzensur im Berliner Polizeipräsidium, was die Presse zu der Spekulation veranlasste, dass „Geheimrat v. Glasenapp, der Polizeigewaltige Berlins über alle guten und schlechten Theater, […] durch diese symbolische Handlung wahrscheinlich dartun wollte, daß Wedekind nicht, wie von seinen Feinden behauptet wird, ein polizeiwidriger Dichter ist.“ [Der Allerweltskerl Wedekind. In: Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 219, 1.5.1906, Abend-Ausgabe, S. (3)] Später reiste das junge Ehepaar dann mit dem Nachtzug ab zu dem Gastspiel nach Nürnberg. („Um 10 kommt Gerhäuser. Onkel Dagobert. Trauung. Greve. Zoologischer Garten. Diner im Savoyhotel. Glasenapp. Iduschka Adele. Fahrt nach Nürnberg“ [Tb 1.5.1906])., Adele Sandrock, Ida Orloff, Kammersänger Gerhäuser und zwei Regierungsräte, dann noch ein Onkel aus Wien waren unsere einzigen Gäste. Am gleichen Abend um 8 Uhr fuhren wir nach Nürnberg und spielten dort am folgenden Abend die Uraufführung von Totentanzam Intimen Theater in Nürnberg unter der Regie von Emil Meßthaler am 2.5.1906. Frank Wedekind spielte den Casti Piani, Tilly Wedekind die Lissiska. Wedekind notierte: „4 Uhr Ankunft in Nürnberg. 10 Uhr Probe. Nachmittags geschlafen. […] Uraufführung von Totentanz“ [Tb 2.5.1906]. Die Presse schrieb: „Ueber die Darstellung bleibt zu sagen, daß Herr Wedekind die Rolle des Casti Piani sehr gut sprach, so lange er sich darauf beschränken konnte, die Theorieen, die er seinem Helden in den Mund legt, im Konversationstone wiederzugeben. Die Fülle geistreichen, witzigen und ironischen Details kam hierdurch vortrefflich zur Geltung. Die Rolle der Lisiska gab Frau Tilly Wedekind mit großer Feinheit in Sprache und Bewegung. […] Die Regie (Herr Meßthaler) hat Vorzügliches geleistet, das Milieu war von einer Echtheit, die auf genaueste Studien schließen läßt, die Illusion vollkommen; die Bühne war wirklich zum Freudenhause geworden.“ [General-Anzeiger für Nürnberg, Jg. 16, Nr. 103, 3.5.1906] nachdem wir den ganzen Tag im Theater geprobt hatten. Von meinem Durchfall als TartuffeMolières Komödie „Tartuffe“ (1664) mit Wedekind in der Titelrolle hatte am 25.4.1906 Premiere am Deutschen Theater (Regie: Max Reinhardt). Die Presse bemängelte einhellig Wedekinds Spiel: „Die Vorstellung begann vielversprechend. […] Die Wirkung war aber verdorben, als im dritten Akte Tartuffe selbst auftrat. Man hatte nämlich den seltsamen Einfall gehabt, den Tartuffe von Frank Wedekind spielen zu lassen, der sich als gänzlich unfähig zur Darstellung dieser Figur erwies. Zum erstenmal wohl seit Molière war es hier einem Darsteller gelungen, aus der Rolle des Tartuffe den Humor zu beseitigen.“ [Neue Freie Presse, Nr. 14970, 27.4.1906, Morgenblatt, S. 12] „Ueber Wedekind den Dichter mag man dieser oder jener Meinung sein, über Wedekind, den Schauspieler, kann es nur eine Ansicht geben: grauenvoll. […] Der Wedekind’sche ‚Tartüffe‘ ist eine schauspielerische Lächerlichkeit, von der sich jeder halbwegs ästhetisch Empfindende mit unverhohlenem Abscheu wendet.“ [Der Humorist, Jg. 26, Nr. 14, 10.5.1906, S. 5] wirst Du gehört haben. Das hindert aber nicht, daß ich ihn weiterspieleAuf die Premiere folgten weitere Aufführungen des „Tartuffe“ mit Wedekind am 27. und 29.4.1906 sowie 7. und 10.5.1906 [vgl. Tb].. Heute Abend spiele ich ihn hier schon wieder im Deutschen Theater. Und nun, liebe Mama, nimm meine herzlichsten Glückwünsche zu heurigem Tag entgegen. | Ich bedaure nur daß wir den Tag nicht mit Dir feiern können. Du wirst ihn in ungetrübter Freude mit Deinen KindernAls Geburtstagsgäste sind Emilie (Mati) und Armin Wedekind wahrscheinlich, ob Donald Wedekind oder Erika Wedekind mit Tochter anreisten, ist ungewiss. und lieben GroßkindernIn Frage kommen die Tochter von William Wedekind und Anna Kammerer, Anna Wedekind, die seit 1902 in Lenzburg lebte und die Kinder von Armin und Emma Wedekind, Armin Wilhelm Gottlieb, Lili, Eva und Charlotte aus Zürich. verlebt haben, und so wird es hoffentlich noch recht, recht lange bleiben. Wenn es uns irgendwie möglich ist kommen wir natürlich im SommerTilly und Frank Wedekind reisten am 30.7.1906 über Lindau nach Lenzburg und hielten sich vom 31.7. bis zum 11.8.1906 bei der Mutter auf [vgl. Tb]. in die Schweiz. Ich werde voraussichtlich in den nächsten Wochen eine größere TourneeAm 23.4.1906 hatte Wedekind notiert: „Gespräch mit Holländer über Tournee“ [Tb], möglicherweise erwog er mit dem Dramaturgen des Deutschen Theaters eine Tournee mit der „Büchse der Pandora“ im Anschluss an die geplante Aufführung in Berlin, die jedoch nicht zustande kam. Statt auf einer Tournee war Wedekind seit dem 26.6.1906 am Münchner Schauspielhaus für einen Zyklus seiner Stücke zu Gast: „Hidalla“ (am 2., 3., 4., 16., 20., 24. und 28.7.1906), „Der Kammersänger“ und „Rabbi Esra“ (am 5., 6., 8., 12. und 13.7.1906), „Erdgeist“ (am 14., 15., 18., 21. und 27.7.1906). Tilly Wedekind, die noch Ensemblemitglied am Kleinen Theater (Direktion: Victor Barnowsky) war, konnte ihn begleiten und spielte am 14.7.1906 erstmals die Lulu [vgl. Tb]. antreten./,/ das heißt wenn Tilly mich begleiten kann Ich spiele hier jetzt an zwei Theaternam Deutschen Theater (Direktion: Max Reinhardt) und am Kleinen Theater (Direktion: Victor Barnowsky) in Berlin. unter zwei verschiedenen Directionen. Nächsten Samstagam 12.5.1906 mit dem Ensemble des Kleinen Theaters zu einem Gastspiel in Hannover, mit Frank Wedekind als Karl Hetmann und Tilly Wedekind als Fanny Kettler. Wedekind notierte: „Ich hole Tilly von der Probe ab. Wir fahren nach Hannover. Lehrte – Hannover + steigen Hotel Kasten ab, fahren durch die Eilenriede. […] Hidalla […] im Deutschen Theater. Nachher mit Tilly im Rheinischen Hof.“ [Tb] | gastieren wir mit dem Kleinen Theater an dem Tilly engagiert ist in Hannover mit Hidalla. Ob ich da irgend einen VerwandtenZu Wedekinds Hannoveraner Verwandschaft zählte sein Cousin Eduard Wedekind. zu Gesicht bekomme, nimmt mich sehr wunder. Diesen Winter lernte ich hier in einer Gesellschaft die Frau Generalkonsul W.Sophie von Wedekind (geb. Danzier), seit 30.8.1878 verheiratet mit Generalkonsul a. D. Paul Wedekind (Lutherstraße 38/39) [vgl. Berliner Adreßbuch 1907, Teil I, S. 2583]. kennen mit ihrer Tochter, die jetzt ebenEnde April wurde die Verlobung zwischen Jula Wedekind und Wolfram von Knorr bekanntgegeben: „Viel Interesse erweckte dieser Tage die Verlobung des Oberleutnants zur See Wolfram v. Knorr mit dem Fräulein Jula Wedekind. Herr v. Knorr, der noch nicht das 26. Lebensjahr überschritten hat, ist der einzige Sohn des verdienten früheren Befehlshabers der deutschen Marine, des Admirals Eduard v. Knorr […]. Die junge Braut, Fräulein Wedekind ist die Tochter des Generalkonsuls a. D. Paul Wedekind, dessen schönes Heim in der Lutherstraße eine der gastlichsten Stätten des vornehmen Berlin ist.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 216, 30.4.1906, Morgen-Ausgabe, S. (2)] Die Heirat fand am 7.8.1906 in Charlottenburg statt. den Sohn des Marineministers geheiratet hat. Die Mutter erzählte mir daß Ihr Euch in Flims kennen gelernt hättet. Ihr Mann ist jedenfalls derjenige, dem Papa in PalermoWedekinds Vater Friedrich Wilhelm Wedekind, Arzt und Geburtshelfer, war von Dezember 1845 bis März 1846 in Palermo [vgl. Parker 2020, S. 27]. Paul Wedekind wurde dort am 26.12.1845 geboren und später k. u. k. Generalkonsul in dieser Stadt. | auf die Welt geholfen hat. Im ganzen habe ich hier in Berlin nicht viel Gesellschaft mitgemacht. Ich war zu beschäftigt und die Ereignisse gingen zu lebhaft vor sich, als daß ich viel Zeit für Geschäfte übrig gehabt hätte. Außer Gerhäuser ist mein intimster Bekannter hier Dr. RathenauWalther Rathenau war in Berlin als „Dr. phil., Geschäftsinhaber d. Berl. Handels-Gesellsch. […] Viktoriastr. 3 II“ [Berliner Adreßbuch 1906, Teil I, S. 1765], einer 1856 gegründeten Bank zur Industriefinanzierung, verzeichnet. Wedekind hatte ihn am 22.9.1904 über Maximilian Harden kennengelernt: „Abends mit M Harden bei Dr. Ratenau diniert.“ [Tb], der Director einer der größten Berliner Banken. Zum Arbeiten komme ich dabei natürlich fast gar nicht. Mein letztes WerkWedekind schloss seine Arbeit an dem Einakter „Totentanz“ mit der Anfertigung einer Reinschrift am 20.6.1905 ab und schickte das Manuskript an Karl Kraus nach Wien zur Publikation in der „Fackel“, im Oktober erschien die Buchfassung bei Albert Langen (auf 1906 datiert) [vgl. KSA 6, S. 613]. Den Plan, das Stück am Wiener Bürgertheater als geschlossene Aufführung auf die Bühne zu bringen, vereitelte die Zensur am 9.8.1906 [vgl. Karl Kraus an Wedekind, 12.9.1906]. war Totentanz, das wir nun wahrscheinlich zunächst mit Adele Sandrock und meiner Tilly in Wien | aufführen werden. Wir haben vor einigen Wochenam 13.3.1906. Bei dem Gastspiel des Deutschen Theaters am Residenztheater in Dresden trug Wedekind den „Prolog zum Erdgeist“ vor [vgl. Dresdner Nachrichten, Jg. 50, Nr. 68, 11.3.1906, S. (4)]. Wedekind notierte: „Fahrt nach Dresden | Hotel Bellevue. | Erdgeist | Nachher mit den Schauspielern und Walther Oschwald bei Kneist.“ [Tb] Die Aufführung war ein Erfolg: „Die Erstaufführung von Frank Wedekinds ‚Erdgeist‘ im Dresdener Residenztheater durch das Ensemble des Deutschen Theaters unter Reinhardts Leistung gestaltete sich, wie unser Korrespondent depeschiert, zu einem sensationellen Theaterereignis. Wedekind, Gertrud Eysoldt, Steinrück, Winterstein, Waßmann, Pagay wurden unzähligemal gerufen. Der Beifallssturm am Schlusse übertönte vereinzeltes Zischen und Pfeifen. Das Haus war überfüllt.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 133, 14.3.1906, Morgen-Ausgabe, S. (3)] noch einmal mit Erdgeist in Dresden gastiert; an dem Tage war Mieze aber gerade auf eine Tournee gereist, nachdem sie zwei Tage vorheram 11.3.1906. Erika Wedekind war am Neuen Königlichen Operntheater in Berlin in Gioachino Rossinis „Der Barbier von Sevilla“ als Rosina zu Gast. Wedekind notierte: „Mieze singt Rosine im Barbier v. Sevilla, ich stelle ihr Tilly vor“ [Tb]. hier in Berlin mit größtem Erfolg im Barbier gesungen hatte, worauf meine Tilly und ich S/s/ie auf den Bahnhof begleiteten.

Und was macht denn das süße Mati. Ich glaube, sie wird sich ganz gut mit meiner Tilly verstehn., wenn sie sich kennen lernen.

Und nun leb wol/h/l geliebte Mama; Meine Tilly schreibt | Dir heute auch noch. Sie ist eben von der Probes. o. zurückgekommen. Nocheinmal meine allerherzlichsten Glückwünsche. Donald hat mir einige Male geschriebenAus der Zeit seit dem letzten überlieferten Brief Frank Wedekinds an seine Mutter [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 24.2.1906] sind fünf Briefe Donald Wedekinds an seinen Bruder überliefert; zuletzt hatte er wiederholt um Geld gebeten und war krank gewesen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind 10.4.1906 und 18.4.1906]., aber jetzt wo uns noch die nötigsten Möbeln fehlen, ist es mir nicht leicht ihm was zu schicken. Sobald meine Verhältnisse consolidiert sind stehe ich ihm wieder im Verhältniß zu meinen Kräften zur Verfügung.

Grüße bitte alles aufs herzlichste, Geliebte Mama, und sei herzlichst gegrüßt von
Deinem getreuen Sohn
Frank


[Kuvert:]


Frau Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct.Aargau Schweiz.

Frank Wedekind und Tilly Wedekind schrieben am 13. Mai 1906 in Kirchrode folgende Bildpostkarte
an Emilie Wedekind

Postkarte


Adresse


Frau Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct. Aargau (Schweiz)


Tiergarten-Restaurant
Fernspr.1238
und Ratsweinkeller Hannover
Fernspr. 1590
Inhaber: J. Schwarze.


Mitteilungen:
(nur i.inn. deutschen Verkehr zulässig):


Liebe Mama!

Die herzlichsten Grüße aus dem Tiergarten„Den bei dem Dorf Kirchrode, heute Stadtteil von Hannover, gelegenen Tiergarten, ein Wildgehege mit großem Baumbestand, ließ König Georg III. Ende des 18. Jahrhunderts als Wildpark für Hannovers Bürger öffnen. 1903 kam er in städtischen Besitz und ist bis heute ein beliebtes Ausflugs- und Erholungsziel.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 234] bei HannoverFrank Wedekind notierte am 12.5.1906 im Tagebuch seine und Tilly Wedekinds Anreise nach Hannover, wo sie im Hotel Royal Christian Kasten (Ernst-August-Platz 8) untergebracht waren und abends im Deutschen Theater (Reuterplatz 10), Direktion: Hubert Reusch, ein „Hidalla“-Gastspiel hatten („Wir fahren nach Hannover. Lehrte ‒ Hannover + steigen Hotel Kasten ab, fahren durch die Eilenriede. [...] Hidalla [...] im Deutschen Theater. Nachher mit Tilly im Rheinischen Hof“), am 13.5.1906 nach Stadtspaziergang und Mittagessen in ihrem Hotel ihren Ausflug nach Kirchrode in den Tiergarten mit anschließender Rückfahrt um 18 Uhr nach Berlin („Spaziergang durch die Stadt. Diner im Kastens Hotel. Fahrt in den Thiergarten. Sechs Uhr Rückfahrt nach Berlin“). senden Dir und Mati
Tilly und Frank. |


Tiergarten.

Frank Wedekind und Tilly Wedekind schrieben am 29. Juli 1906 in München folgende Bildpostkarte
an Emilie Wedekind

Postkarte.


An Frau Emilie Wedekind
in Lenzburg
Ct. Aargau
Schweiz. |


American-Bar Hôtel 4 Jahreszeiten Mün..


Liebe Mama, wir kommen voraussichtlich Dienstag Abendden 31.7.1906. Wedekind notierte: „6 Uhr Ankunft in Lenzburg. Mati und Eva holen uns ab.“ [Tb] da wir eine Nacht in LindauWedekind notierte am 30.7.1906 im Tagebuch: „Abfahrt von München. Um 5 Uhr in Lindau. Spazierfahrt auf dem Inn“. Und am 31.7.1906: „Bad im Bodensee. Fahrt über den Bodensee. 6 Uhr Ankunft in Lenzburg.“ bleiben.

Herzlichste Grüße an Mati und Dich
Tilly u. Frank

Emilie Wedekind und Emilie (Mati) Wedekind schrieben am 12. Dezember 1906 in Lenzburg folgendes Telegramm
an Frank Wedekind

herrn frank wedekind
kurfuerstenstrasse 125 berlin w. =


Telegraphie des Deutschen Reichs.
Berlin, Haupt-Telegraphenamt


Telegramm v lenzburg […]


herzlicher gluekwunschSchreibversehen, statt: glueckwunsch. & willkommeSchreibversehen, statt: willkommen. dem toechterchenFrank und Tilly Wedekinds Tochter Anna Pamela wurde am 12.12.1906 geboren. Wedekind notierte: „Um 6 Uhr weckt mich Tilly durch ihr geschrei, bald darauf kommt Dr. Bresin um 8 Uhr ist Anna Pamela geboren […] A. Pamela wiegt mit Kleidern 3640 gr.“ [Tb] von : grossmutter und tante mati +

Frank Wedekind schrieb am 16. Dezember 1906 in Berlin folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama!

Dir und Mati danke ich bestens für Euren freundlichen Glückwunschzur Geburt von Anna Pamela Wedekind am 12.12.1906. Mutter und Schwester hatten telegraphiert [vgl. Emile Wedekind und Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 12.12.1906].. Tilly befindet sich unberufen sehr wohl. Sie hat die EntbindungDie Presse berichtete irrtümlich: „Frank Wedekind als Vater. Wie wir vernehmen, ist der Dichter von ‚Erdgeist‘ und ‚Frühlings Erwachen‘ glücklicher Vater geworden. Nach einjähriger Ehe hat ihm seine Gattin, Frau Niemann-Newes einen strammen Weihnachtsjungen beschert. Hoffen wir, daß dieses neueste Wede-‚Kind‘ die Talente seines Vaters geerbt hat.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 635, 14.12.1906, Abend-Ausgabe, S. (3)] leicht überstanden. Die Hebamme und ein SpezialistDr. med. Georg Bresin, praktischer Arzt und Geburtshelfer. Wedekind notierte am 12.12.1906 im Tagebuch: „Um 6 Uhr weckt mich Tilly durch ihr geschrei, bald darauf kommt Dr. Bresin um 8 Uhr ist Anna Pamela geboren, dann kommt Flatau.“ , die zugegen waren hatten nichts zu thun. Gleich darauf kam noch unser HausarztDr. med. Theodor Simon Flatau, Hals-, Ohren- und Nasenarzt, außerdem Dozent für Stimmphysiologie an der Berliner Hochschule für Musik. Seit einem Jahr war er Wedekinds Hausarzt (behandelt hat er Tilly), im Tagebuch erstmals namentlich genannt am 23.12.1905.. Um sechs Uhr Morgens hatte die Sache angefangen und um 8 Uhr war die Kleine geboren. Die Hebammenicht identifiziert; Wedekind notierte am 11.12.1906 im Tagebuch: „Um 9 Uhr Abend kommt die Hebamme. […] Ich bleibe zu Hause.“ besorgte darauf eine Schwesternicht identifiziert. Im Tagebuch notierte Wedekind am 12.12.1906: „Um Mittag tritt die Schwester an.“, die Tilly und das Kind seitdem pflegt. Besuche zu empfangen hat ihr der Arzt untersagt.

Tilly hat ihrer Tochter die Namen Anna Pamela gegeben. Das Stillen verursachte ihr gestern und vorgestern einige Schmerzen, die aber schon abzunehmen scheinen. Ich selber habe jeden Abend | zu spielenWedekind trat in dem relevanten Zeitraum am 11.12.1906 sowie am 13., 14., 15. und 16.12.1906 in „Frühlings Erwachen“ an den Kammerspielen auf [vgl. Tb]. , sonst hätte ich Euch vorher schon geschrieben. Heute am Sonntag habe ich sogar zwei Mal aufzutreten. Um 3 Uhr ist eine ErdgeistvorstellungDie „Erdgeist“-Vorstellung der Neuen Freien Volksbühne in Berlin am 16.12.1906 fand als geschlossene Veranstaltung ohne Ankündigung in der Presse am Deutschen Theater statt. Wedekind sprach als Tierbändiger den „Prolog zum Erdgeist“ (s. u.). für die Freie VolksbühneDer 1890 gegründete Theaterverein Neue Freie Volksbühne in Berlin, seit 1902 unter dem Vorsitz von Josef Ettlinger, machte modernes Theater dem Publikum preiswert zugänglich und veranstaltete als Freie Bühne die Vereinsvorstellungen an Sonn- und Feiertagnachmittagen an wechselnden Spielstätten (darunter das Deutsche Theater und das Neue Theater) mit den Ensembles dieser Bühnen, darunter (in den öffentlichen Theaterprogrammen nicht aufgeführt) im Spieljahr 1906/07 eine „Erdgeist“-Vorstellung [vgl. Neuer Theater-Almanach 1908, S. 182]., die unter der LeitungDie stellvertretenden Vorsitzenden der Neuen Freien Volksbühne (Vorsitz: Josef Ettlinger) waren in der aktuellen Spielzeit Karl Henckell und Bruno Wille [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 211]. von Karl Henckell und Bruno Wille steht und am Abend trete ich in Frühlings Erwachenum 20 Uhr an den Kammerspielen des Deutschen Theaters [vgl. Berliner Tageblatt, Jg. 25, Nr. 638, 16.12.1906, Sonntags-Ausgabe, 6. Beiblatt, S. (1)]. Wedekind spielte den vermummten Herrn. Die Uraufführung von „Frühlings Erwachen“ (Regie: Max Reinhardt) hatte dort am 20.11.1906 stattgefunden, die Inszenierung wurde zu einem großen Theatererfolg. auf. Ich weiß daß Du das Stück nicht liebst und behellige Dich deshalb auch nicht mit Berichten darüber.

Bis jetzt ist der Winter für Tilly und mich sehr ruhig verlaufen und auch das Erscheinen unserer Tochter hat die Behaglichkeit vorläufig nicht gestört. Alle vierzehn Tage kam man nach den jeweiligen PremierenWedekind verzeichnete im Tagebuch Premierenbesuche am 17.10.1906 („Abends Premiere Liebeskönig. Nachher mit dem Deutschen Theater und Leo Greiner bei Hupka. Dann mit Tilly bei Stallmann.“), am 8.11.1906: („Eröffnung der Kammerspiele mit Gespenster. Nachher mit der ganzen Gesellschaft und Rathenau bei Hupka.“), am 20.11.1906 („Premiere von Frühlings Erwachen. […] Nachher bei Hupka, dann mit Tilly und Gemma im Café Austria.“), am 22.11.1906 („Pressevorstellung von Fr Erw. Nachher Souper bei Borchart. […] Nachher mit Tilly und Gerhäuser im Café Austria.“) und am 7.12.1906 („Pressevorstellung von Mensch und Übermensch. Nachher bei Borchart“). zu einem Diner zusammen, das ist alles was wir an gesellschaftlichem Leben mitgemacht haben. | Im Monat Februar sollen Tilly und ich in GöttingenZu einem Gastspiel in Göttingen kam es nicht. und in LeipzigWedekind fuhr am 11.2.1907 alleine zu einem Gastspiel des Deutschen Theaters nach Leipzig („Tilly begleitet mich auf den Bahnhof Fahrt nach Leipzig. Logiere Hotel Hauffe […] Frl. Erw.“) und am 12.2.1907 weiter nach Dresden („Abfahrt nach Dresden. […] Logiere in Webers Hotel. Fahre zu Mieze. Frlgs Erw. Nachher bei Mieze zu Abend gegessen. Bis 4 im Stadtkaffee.“) [Tb]. spielen; ich bin sehr darauf gespannt ob und wie sich das machen läßt.

Ich hoffe liebe Mama, daß Dir und Mati der Winter in Lenzburg ebenso behaglich ist, wie er bis jetzt hier in Berlin war. Gefroren hat es bis jetzt überhaupt noch nicht. Seit zwei Tagen liegt er/de/r erste Schnee. In Lenzburg wird es wohl schon etwas kälter gewesen sein. Wie stellt sich denn Mati jetzt zu den Lenzburger Festivitäten, Cäcilienfest Mit Musikaufführungen begleitetes Fest zu Ehren der Heiligen Cäcilie, das in der Schweiz am 15. November bzw. am jeweils darauffolgenden Sonntag gefeiert wird. Es fiel in diesem Jahr auf den 18.11.1906. u. s..w? Es würde mich sehr in|teressieren zu hören was in Lenzbug/r/g Theater gespielt wird. Heute Nachmittag wird wol viel von Lenzburg die RedeDer Anlass ist unklar. sein. Vielleicht schreibt mir Mati einmal etwas ausführliches.

Tilly läßt Dich, liebe Mama und Dich liebes Mati herzlich grüßen. Augenblicklich schläft sie und ich werde jetzt durch den Thiergarten zum Deutschen Theater gehen um dort als Löwenbändiger aufzutreten. Ich sende euch beiden die herzlichsten Grüße auf baldiges frohes Wiedersehn in Lenzburg.

Euer getreuer
Frank


16.12.6.

Frank Wedekind schrieb am 5. Januar 1907 in Berlin folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama!

Meine Geschäfte sind jetzt soweit erledigt, daß ich besser über meine Zeit verfügen kann und deswegen schlage ich Dir vor, doch am Montagden 7.1.1907. Emilie Wedekind kam für einen Tag aus Dresden zu Besuch: „Ich fahre zum Bahnhof um meine Mutter abzuholen.“ [Tb 7.1.1907] „Meine Mutter reist um 6 Uhr nach Dresden zurück.“ [Tb 8.1.1907] hierherzukommen, dann könntest Du doch wenn es Deine Zeit durchaus nicht | länger erlaubt wenigstens bis Mittwoch bleiben. Es sind auch schon zwei Briefenicht überliefert. an dich angekommen, d. h. eine Carte von der Emma Wedekind in Göttingen und ein Brief aus Lenzburg. Mati, die sie hierherschickt scheint also doch wol vorauszusetzen daß Du schon hier bei uns | bist. Also faß Dir ein Herz und komm. Du brauchst nur mehr zu telegraphieren. Tilly befindet sich unberufen wohl und läßt Euch Alle herzlichst grüßen. Ebenso bitte ich meine Grüße auszurichten. Ich freue mich sehr auf Dieses Wieder|sehen, aber die Tour in einem Tage abzumachen, daß/s/ wäre doch wol etwas viel Anstrengung und wenig Vergnügen.

Also mit herzlichsten Grüßen
Dein treuer Sohn
Frank.


5.1.7.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Dresden A.
Elisenstrasse 3die Adresse von Erika Wedekind, „Kgl. sächs. u. Großherzogl. hess. Kammersängerin“ [Adreßbuch für Dresden und seine Vororte 1907, Teil I, S. 953] in Dresden. B

Emilie Wedekind schrieb am 7. Februar 1907 in Dresden folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 9.2.1907 aus Berlin:]


Liebe Mama, besten Dank für Deine freundliche EinladungHinweis auf das hier erschlossene Korrespondenzstück..

Frank Wedekind und Tilly Wedekind schrieben am 9. Februar 1907 in Berlin folgende Postkarte
an Emilie Wedekind

Postkarte


An Frau Dr. Emilie Wedekind
in Dresden A.
Wohnung Elisenstrasse 3 B.
(Straße und Hausnummer) |


Liebe Mama, besten Dank für Deine freundliche EinladungHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 7.2.1907. Emilie Wedekind war den Winter über zu Besuch bei ihrer Tochter Erika Wedekind (Elisenstraße 3) in Dresden und hat Frank Wedekind anlässlich seines Gastspiels in Dresden (s. u.) offenbar dorthin eingeladen.. Ich komme Dienstagden 12.2.1907. Wedekind fuhr am 11.2.1907 zu einem Gastspiel des Deutschen Theaters nach Leipzig und von dort am 12.2.1907 zu einem weiteren Auftritt nach Dresden, wo er nach der Vorstellung zum Abendessen zu seiner Schwester Erika fuhr: „Abfahrt nach Dresden. […] Logiere in Webers Hotel. Fahre zu Mieze. Frlgs Erw. Nachher bei Mieze zu Abend gegessen. Bis 4 im Stadtkaffee.“ [Tb] jedenfalls gleich zu Euch hinaus, ob zum Mittagessen, weiß ich noch nicht. Aber ich werde mich sehr freuen, am Abend mit Euch zusammen zu sein. Tilly kann leider noch nicht mitkommen, da sie noch in Anspruch genommenvon der zwei Monate alten Tochter Pamela. Zu ihrer Entlastung nimmt Tilly Wedekind kurz darauf ein Kindermädchen: „Tilly nimmt eine Amme.“ [Tb 15.2.1907] wird.

Herzlichste Grüße an Dich, Mieze, Walther und Eva
von
Tilly und Frank.

Frank Wedekind schrieb am 9. September 1907 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama,

ich habe mit KostümenWedekind suchte kurz nach seiner Ankunft in München, am 22.7.1907, dem Tagebuch zufolge den „Schneidermeister“ und „Theaterkostümeur“ Johann Nepomuk Mück (Hackenstraße 3) [Adreßbuch für München 1907, Teil I, S. 359], auf („Besuch bei Schneider Mück), bei dem er in den folgenden 7 Wochen Kostüme für sich und Tilly u. a. für „König Nicolo oder So ist das Leben“, „Der Liebestrank“ und „Die Zensur“ anfertigen ließ, wie zahlreiche Einträge im Tagebuch belegen. Auch Anfang September gibt es zu Mück wiederholt Einträge, so am 6.9.1907 („Anprobe bei Mück.“), am 9.9.1907 („Tilly probiert bei Mück zwei Kostüme an.“), am 11.9.1907 („Anprobe bei Mück“) und am 14.9.1907 („Mück schickt das Ballet kostüm.“) und VerlagsgeschäftenWedekind besuchte seinen Verleger Albert Langen dem Tagebuch zufolge bereits kurz nach seiner Ankunft in München am 22.7.1907 („Besuch bei […] Langen.“), von dem er während seines Aufenthalts in München zweimal Tantiemen-Zahlungen erhielt [vgl. Tb 17.8.1907 und 18.9.1907]. In München überarbeitete Wedekind seine Stücke „Der Liebestrank“ [vgl. Tb 27., 28. und 29.7.1907] und „Die junge Welt“ [vgl. Tb 1., 7. und 8.8.1907] für ihre jeweils zweite Auflage bei Langen (beide 1907) [vgl. KSA 2, S. 646 und 1004]. Außerdem stellte er in München das umgearbeitete Manuskript zu dem Stück „Musik“ fertig: „Letzte Korrektur Musik“ [Tb 12.9.1907], das bei Langen im Herbst als Buch erschien (vordatiert auf 1908) [vgl. KSA 6, S. 715, 719, 724]. hier noch 14 TageWedekind reiste am 3.10.1907 zurück nach Berlin: „Abends um 6 Uhr Souper mit Langheinrich und Martens in der Torggelstube. Sie begleiten mich zur Bahn. Fahre nach Berlin.“ [Tb] zu thun. Tilly wollte Ende der Woche nach Berlin fahren. Da nun aber das Wetter beständig | zu sein scheint würde sie gerne die 14 Tage in LenzburgTilly Wedekind fuhr am 11.9.1907 nach Lenzburg: „Tilly packt. […] Tilly fährt Abends 11 Uhr 15 mit Anna Pamela und der Amme nach Lenzburg.“ [Tb] Sie blieb dort bis zum 30.9.1907: „Tilly reist von Lenzburg nach Berlin.“ [Tb] verbringen. Das übrige steht in Tillys BriefDer Brief Tilly Wedekinds an Emilie Wedekind ist nicht überliefert.. Würdest du die Güte haben uns, wenn Tilly dir nicht ungelegen käme morgen gleich zu telegraphierenDa Tilly Wedekind ihre Reise nach Lenzburg antrat, hat Emilie Wedekind das nicht überlieferte Telegramm offenbar geschickt; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.9.1907.. | Ich sende Dir und Mati die herzlichsten Grüße. Auf baldiges Wiedersehn, vielleicht im Winter in Berlin oder Dresden.

Dein getreuer Sohn
Frank.


Amalienstraße 86Wedekind, der am 19.7.1907 in München eintraf, logierte zunächst im Hotel, mietete sich am 26.7.1907 dann aber eine Wohnung: „Umzug aus Hotel Leinfelder nach Amalienstraße 86 II.“ [Tb] Am 30.7.1907 traf Tilly Wedekind mit der Tochter Pamela und dem Kindermädchen in München ein.
München.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct. Aargau Schweiz.

Emilie Wedekind schrieb am 10. September 1907 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Tilly Wedekind , Frank Wedekind

[1. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 9.9.1907 aus München:]


Würdest du die Güte haben uns, wenn Tilly dir nicht ungelegen käme morgen gleich zu telegraphieren.


[2. Hinweis in Wedekinds Tagebucheintrag vom 11.9.1907 in München:]


Tilly fährt […] nach Lenzburg.

Emilie Wedekind schrieb am 11. Dezember 1907 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Tilly Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 19.12.1907 aus Berlin:]


In meiner großen Freude lese ich aus deinem Brief […] Und bei alledem hast Du noch Zeit gefunden an Anna Pamela zu denken. […] Anna Pamela wird sicher großes Vergnügen an dem Brüderchen haben.

Frank Wedekind schrieb am 19. Dezember 1907 in Berlin folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama!

ich habe mir erlaubt, Dir einige Radierungen von KlingerAm 11.12.1907 notierte Wedekind im Tagebuch: „Klinger: Eine Liebe, gekauft.“ Dabei handelte es sich um die Mappe „Eine Liebe. Folge von zehn Blättern. Erfunden und radiert von Max Klinger“, von Klinger als Opus X bezeichnet und erstmals 1887 erschienen. Die Mappe enthält die Blätter: Widmung (An Arnold Böcklin), Begegnung, Am Thor, Kuss, Nacht, Intermezzo, Neue Träume, Erwachen, Schande, Tod. Die an Emilie Wedekind wohl parallel zum vorliegenden Brief verschickten Radierungen sind nicht überliefert. zu schicken und bitte Dich, ein Zeichen darin zu erblicken, daß meine Tilly und ich Dir aufs herzlichste für die Liebe, die Du ihr entgegengebracht hast, dankbar sind. Dir und dem lieben | Mati wünsche ich recht vergnügte Feiertage. Voraussichtlich werdet Ihr ja wieder lieben Besuch haben. In meiner großen Freude lese ich aus deinem Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 11.12.1907. Emilie Wedekind hatte offenbar zu Pamela Wedekinds erstem Geburtstag (12.12.1907) geschrieben und ein Spielzeug geschickt. Möglicherweise war der Brief an Tilly Wedekind adressiert oder koadressiert. wie sehr gut Ihr Euch diesen WinterEin Besuch Tilly Wedekinds in Lenzburg im Winter 1906/07 oder Ende 1907 ist nicht belegt. Emilie Wedekind war vom 7. und 8.1.1907 zu Besuch in Berlin [vgl. Tb]. Tilly Wedekind besuchte sie im September 1907 in Lenzburg: „Tilly fährt Abends 11 Uhr 15 mit Anna Pamela und der Amme nach Lenzburg“ [Tb 11.9.1907] und blieb dort bis Ende des Monats: „Tilly reist von Lenzburg nach Berlin.“ [Tb 30.9.1907]. in Lenzburg schon unterhalten habt. Und bei alledem hast Du noch Zeit gefunden an Anna Pamela zu denken. | Ich danke Dir herzlich, liebe Mama. Anna Pamela wird sicher großes Vergnügen an dem Brüderchenvermutlich ein Spielzeugpüppchen. haben.

Wir haben diesen Winter noch nicht viel gespielt. Mein MarquisDie Premiere des „Marquis von Keith“ an den Berliner Kammerspielen (Direktion: Max Reinhardt) war am 9.11.1907. Wedekind spielte den Konsul Kasimir. ist wieder einmal durchgefallenDie Kritik urteilte über das Stück: „Als Dichtung ist es eisig kalt, als Handwerk schlecht gemacht, als Theaterstück schleppend […] In den Kammerspielen gibt man dem Stück im Prinzip das richtige Tempo. Man nimmt es mit Recht als Groteske; nur so ist es einigermaßen für die Bühne zu retten. Die schweren Dialoge werden elektrisiert, und die tödliche Monotonie, die in früheren Aufführungen von dem Dichter als dem Darsteller der Titelrolle ausging, hat nun einer starken Beschleunigung Platz gemacht. Herr Wedekind selbst, der nun den Konsul Kasimir spielt, kann mit seiner steifen Grandezza an diesem Gesamtwindruck nichts ändern.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 30, Nr. 573, 10.11.1907, Sonntags-Ausgabe, S. (3)] Über das Spiel von Tilly und Frank Wedekind hieß es an anderer Stelle: „Frau Tilly Wedekind, die an der Seite ihres Gatten auftrat, gab als Hermann Kasimir ein recht brauchbares Bildnis jugendlicher Unreife. […] Frank Wedekind führte uns den Konsul Kasimir vor und bewies, wie er dies als Schauspieler immer tut, daß die darstellerischen Fähigkeiten auch eines begabten Dichters jenseits der Grenze des Erlaubten liegen können – er war ein Stock, als er kam, ein Stock, wann er saß, ein Stock, wann er ging –.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 101, Nr. 312, 10.11.1907, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Und über die Publikumsreaktionen wurde berichtet: „Aus Berlin meldet man: Die Aufführung des ‚Marquis von Keith‘ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters ließ das Publikum in einem Zustand befremdeten Erstaunens zurück.“ [Dresdner Journal, Nr. 263, 11.11.1907, 1. Beilage, S. (1)], aber das schadet ihm nichts. Er hält es aus. Die Hauptaufgabe kommt für uns erst im Monat Februar, wo Tilly und ich voraussichtlich in Leipzig auftretenEin Gastspiel der Wedekinds in Leipzig fand 1908 nicht statt. werden. |

Ich hoffe sehr, liebe Mama, nächsten SommerEin Besuch in der Schweiz fand im Sommer 1908 nicht statt. selber auch wieder in die Schweiz zu kommen; anderfalls sind wir uns dann j/a/ber jedenfalls doch von München ausAm 2.10.1907 hatte sich Wedekind in München an das Maklerbüro „Lion & Cie. Wohnungsnachweisbureau und Immobilienvermittlung Kommanditgeschäft (Pers. haft. Gesellschafter Siegr. Lion) Briennerstraße 8“ [Adreßbuch für München 1907, Teil I, S. 312] gewandt [vgl. Tb], vermutlich mit dem Auftrag eine Wohnung zu suchen. Im April 1908 notierte er in München: „Wohnung gemietet Prinzregentenstraße 50.“ [Tb 18.4.1908] Der Umzug mit der Familie aus Berlin in die Wohnung im 3. Stock fand erst Anfang Oktober statt [vgl. Tb]. um zwölf Stunden näher, und ich glaube auch, daß es Dich ganz außerordentlich interessiren würde, München kennen zu lernen. Mati müßte zum Karneval kommen!

Nun lebt wohl auf recht baldiges Wiedersehn! Recht fröhliche Feiertage und die schönsten Grüße von TilleSchreibversehen, statt: Tilly. und eurem
Frank

19.12.7.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg.
Ct. Aargau Schweiz

Emilie Wedekind schrieb am 23. Dezember 1907 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Tilly Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 16.1.1908 aus Berlin:]


Ich danke Dir herzlich für die lieben Bilder, die Du uns zu Weihnachten geschickt hastHinweis auf das hier erschlossene Korrespondenzstück – das Begleitschreiben zu den als Weihnachtsgabe übersandten Bildern..

Frank Wedekind schrieb am 16. Januar 1908 in Nürnberg folgende Bildpostkarte
an Emilie Wedekind

POSTKARTE.
WELTPOSTVEREIN.
CARTE-POSTALE.
UNION POSTALE UNIVERSELLE.


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Aargau Schweiz


Liebe Mama, seit acht TagenWedekind war dem Tagebuch zufolge am 9.1.1908 zur Uraufführung von „Musik“ am Intimen Theater (Direktion: Emil Meßthaler) nach Nürnberg gefahren („Nach Tisch begleitet mich Tilly zur Bahn. Fahrt nach Nürnberg. Wohne Grand Hotel.“), wo er am 11., 12., 15. und 16.1.1908 in der Rolle des Franz Lindekuh auftrat. In der Nacht vom 16. auf den 17.1.1908 fuhr er zurück nach Berlin („Fahre 12 Uhr 55. nach Berlin.“). spiele ich wieder in dieser schönen Stadt, leider ohne Tilly. Im AprilZu Aufführungen von Stücken Wedekinds im April in Nürnberg kam es nicht. Stattdessen absolvierte er gemeinsam mit Tilly einen Zyklus mit den Stücken „Frühlings Erwachen“, „Rabbi Esra“, „Der Kammersänger“ und „Erdgeist“ in Graz (23.4. bis 25.4.1908) [vgl. Tb]. spielen wir wieder zusammen hier. Ich danke Dir herzlich für die lieben Bilder, die Du uns zu Weihnachten geschickt hastHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zu der Sendung mit den Bildern; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.12.1906. Die übersandten Bilder sind nicht überliefert.. An Dich und Mati die herzlichsten Grüße Ich freue mich sehr auf ein Wiedersehn im SommerZu einem Treffen Frank Wedekinds mit seiner Mutter im Sommer 1908 kam es nicht.

Dein Frank |


NÜRNBERG

LUGINSLAND.

Frank Wedekind, Tilly Wedekind, Tilly Wedekind, Tilly Wedekind, Tilly Wedekind, Tilly Wedekind, Tilly Wedekind und Tilly Wedekind schrieben am 13. April 1908 in Berlin folgende Postkarte
an Emilie Wedekind

Postkarte


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg.
Schweiz Ct. Aargau |


Liebe Mama, Tilly ist das Herz sehr schwer weil sie Dir so lange nicht geschrieben hat. Sie hatte aber sehr viel zu thun da wir eben im Begriff sind, nach München überzusiedelnAm 2.10.1907 hatte sich Wedekind in München an das Maklerbüro „Lion & Cie. Wohnungsnachweisbureau und Immobilienvermittlung Kommanditgeschäft (Pers. haft. Gesellschafter Siegr. Lion) Briennerstraße 8“ [Adreßbuch für München 1907, Teil I, S. 312] gewandt [vgl. Tb], vermutlich mit dem Auftrag eine Wohnung zu suchen. Ein halbes Jahr später, bei seinem nächsten München-Aufenthalt, notierte er: „Wohnung gemietet Prinzregentenstraße 50.“ [Tb 18.4.1908] Der Umzug erfolgte dann erst im Oktober: „Besichtigung der Wohnung […] Mit Anna Pamela in der Wohnung“ [Tb 1.10.1908], „Ausladen. […] Nach Tisch wird ausgeladen.“ [Tb 2.10.1908] „Wir stellen in sämtlichen Zimmern die Möbeln auf.“ [Tb 3.10.1908]. Dir und Mati sende ich die herzlichsten Grüße
Frank.


Liebste Mama, hoffentlich bist Du mir nicht zu böse, ich werde versuchen, den Fehler wieder gut zu machen. Aus Deiner Stickerei hat Anna Pamela ein reizendes Kleidchen bekommen. Hoffentlich sehen wir uns im SommerZu einem Treffen Tilly Wedekinds mit ihrer Schwiegermutter im Sommer 1908 kam es nicht.. Herzlichste Grüße Dir u. Mati.
Deine Tilly

Frank Wedekind und Tilly Wedekind schrieben am 27. August 1908 in Berlin folgende Bildpostkarte
an Emilie Wedekind

Postkarte

Frau Dr. Emilie Wedekind
im Steinbrüchli
Lenzburg Ct. Aargau
Schweiz


Liebe Mama, wir haben eben in Breslau Marquis von Keith executiertDie Gastspielpremiere des „Marquis von Keith“ in der Sommerspielzeit 1908 (Direktion: Erich Zigel) am Breslauer Schauspielhaus [vgl. Neuer Theater-Almanach 1909, S. 333] fand am 23.8.1908 statt. Wedekind notierte: „Premiere Durchfall.“ [Tb] Es folgten Vorstellungen am 25. und 26.8.1908. und senden Dir und Mati die herzlichsten Grüße.

Auf baldiges Wiedersehn in Lenzburg oder München!
Eure Tilly
Frank |


Sandkirche mit Universitäts-Bibliothek.

Breslau.

Emilie Wedekind schrieb am 9. Oktober 1908 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Postkarte an Emilie Wedekind vom 13.10.1908 aus München:]


In aller Eile danke ich Dir bestens für die Sendung des GeldesHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zu der Sendung – das hier erschlossene Korrespondenzstück.. Es kam erst gestern an, weil man meine. Adresse hier nicht kannte.

Frank Wedekind schrieb am 13. Oktober 1908 in München folgende Postkarte
an Emilie Wedekind

Postkarte


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Schweiz im Steinbrüchli |


Liebe Mama!

In aller Eile danke ich Dir bestens für die Sendung des GeldesHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zu der Sendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 9.10.1908.. Es kam erst gesternam 12.10.1908. an, weil man meine. Adresse hier nicht kannte. Unsere Nummer ist 50. (nicht 30 wie auf der Anweisung stand) Von Mati erhielten wir gestern eine Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie (Mati) Wedekind an Frank und Tilly Wedekind, 11.10.1908. aus Cannstadt. Tilly steht mitten im EinrichtenDer Umzug war am 2.10.1908: „Nach Tisch wird ausgeladen.“ [Tb] In den folgenden Wochen richteten sich die Wedekinds ein, wie das Tagebuch dokumentiert: „Wir stellen in sämtlichen Zimmern die Möbeln auf.“ (3.10.) „Das Eßzimmer ist gesäubert Bibliothek aufgestellt.“ (5.10.) „Tilly ab 8 Uhr in der Wohnung Bestelle zwei Schränke. Mein Zimmer ist gesäubert.“ (6.10.) „Die Teppiche werden gebracht. Tillys Zimmer ist gesäubert.“ (7.10.) „Mein Schlafzimmer ist gesäubert. Nach Tisch brauche ich zwei Stunden um einen Korb mit Gardinen auf dem Zollamt in Empfang zu nehmen. […] Letztes Abendessen in der Pension.“ (8.10.) „Packe meine Koffer und fahre in die Wohnung Gegen Abend holt Tilly Anna Pamela.“ (9.10.) „Tapezierer hängt die Vorhänge und Bilder auf.“ (14.10.) e. ct und ist sehr angestrengt. Mit den besten Wünschen für Dein Wohlergehen und herzlichsten Grüßen von Tilly und mir
Dein getreuer Sohn

Frank.

Emilie Wedekind schrieb am 4. März 1909 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Tilly Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 6.3.1909 aus München:]


Tilly holte die SendungHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zu der Sendung – das hier erschlossene Korrespondenzstück. vom Zollamt ab und ich beeile mich Dir mitzuteilen, daß ich mich Deiner, Armins und Matis Entschluß anschließe […]

Frank Wedekind schrieb am 6. März 1909 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

M/L/iebe Mama!

Tilly holte die SendungHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zu der Sendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekinds an Frank und Tilly Wedekind, 4.3.1909. vom Zollamtdas Hauptzollamt München I (Bayerstraße 28) „mit Zollabfertigungsstelle für Poststücke Augustinerstock Ettstraße […] Zollabfertigungsstelle Bayerstr. für Lokal- und Unterwegspoststücke.“ [Adressbuch für München und Umgebung 1909, Teil III, S. 110] ab und ich beeile mich Dir mitzuteilen, daß ich mich DeinerSchreibversehen, statt: Deinem., Armins und Matis Entschluß anschließe, darin bestehend, daß wir die Erbschaftvermutlich Erbschaftsangelegenheiten in der Folge von Donald Wedekinds Freitod am 5.6.1908 [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 240]. nicht antreten, uns aber aus dem Verzeichnis diejenigen Gläubiger aussuchen, die wir befriedigen.

Das InventarDie Emilie Wedekinds Schreiben (s. o.) beigelegte Inventarliste, vermutlich zum Nachlass Donald Wedekinds, ist nicht überliefert. werde ich morgen an Mieze weiterschicken. |

Was wir diesen Winter erlebt haben wirst Du von Tilly erfahrenDie Korrespondenz zwischen Tilly Wedekind und Emilie Wedekind ist nicht überliefert. haben. Aus unserer Schweizer TourneeGeplant war u. a. ein Gastspiel in Bern [vgl. Stadttheater Bern an Wedekind, 5.2.1909]. Am 6.2.1909 notierte Wedekind im Tagebuch: „Bern hat abgesagt.“ Ende Mai kam aber ein Wedekind-Zyklus am Pfauentheater in Zürich (Direktion: Alfred Reucker) zustande mit „So ist das Leben“ (19.5. und 25.5.), „Frühlings Erwachen“ (27.5.) und „Erdgeist“ (21.5.), eine Vorstellung, die auch Wedekinds Mutter besuchte: „Meine Mutter ist da“ [Tb]. ist nichts geworden, da die Leute im letzten Augenblick wieder Angst vor mir bekamen. Dagegen haben wir sonst alle Hände voll zu thun. Wenn Mati nach Dresden gehtAm 15.4.1909 feierte Erika Wedekind in Dresden ihren Abschied von der Bühne, eine Veranstaltung zu der sowohl Frank und Tilly als auch Emilie (Mati) Wedekind anreisten [vgl. Tb]. Ein Besuch der Schwester in München auf ihrer Rückreise fand nicht statt. dann besucht sie uns vielleicht auf der Rückreise. Es ist dann um vieles schöner in München als jetzt. Sie wird ihre alten BekanntenEmilie (Mati) Wedekind hatte sich vom 29.3. bis 9.5.1904 in München aufgehalten und dort auch ihren Bruder besucht. wiederfinden und dazu Max Halbe mit dem ich jetzt wieder | in gutem Einvernehmen lebe. Im Lauf des Sommers kommst Du liebe Mama vielleicht auch auf einige Zeit zu unsEin Besuch Emilie Wedekinds in München ist nicht belegt.. München ist jetzt im Sommer die belebteste Stadt Deutschlands, das geistige Zentrum.

Ich bin sehr froh daß wir wieder hier sindWedekind war mit seiner Familie im Oktober 1908 von Berlin nach München übergesiedelt. . Tilly und ich studieren sehr fleißig und hören nebenbei sehr viel Musik, hauptsächlich BethovenSchreibversehen, statt: Beethoven. Am 5.1.1909 besuchte Wedekind das „Weingartnerkonzert“ [Tb], das 5. Konzert des Münchener Tonkünstler-Orchesters unter Leitung von Felix Weingartner im Königlichen Odeon (Beginn: 19.30 Uhr), bei dem u. a. Beethovens Ouvertüre zu „Egmont“ gespielt wurde [vgl. Münchner Neuesten Nachrichten, Jg. 62, Nr. 4, 4.1.1909, General-Anzeiger, S. 2] und am 5.3.1909 hörte er das „Weingartnerkonzert“ mit der „Symphonia Eroica“ [Tb], Beethovens 3. Symphonie, mit dem Münchener Tonkünstler-Orchester unter Leitung von Hofoperndirektor Felix Weingartner im Königlichen Odeon (Beginn: 19.30 Uhr) [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 62, Nr. 107, 5.3.1909, General-Anzeiger, S. 2].. Für einige Wochen bin ich jetzt wieder mit einer Arbeitder Einakter „Der Stein der Weisen.“ Am 21.2.1909 notierte Wedekind im Tagebuch: „Mir fällt ein Scenenstoff ein“ und am 24.2.1909: „Mir fällt der Plan zu Stein der Weisen ein.“ Anschließend beginnt er mit der Arbeit an dem Stück: „An Stein der Weisen gearbeitet.“ (26.2.) „An Stein der Weisen gearbeitet“ (27.2.). „Stein der Weisen gearbeitet.“ (28.2.) „St. d. Weisen gearbeitet. 2. Scene fertig“ (1.3.). „Im Hofbräuhaus und Torggelstube und Orlando gearbeitet“ (3.3.). „Im Hofbrauhauskeller Stein d. W. gearbeitet.“ (4.3.) „Stein der Weisen gearbeitet.“ (5.3.) „Schreibe dritte Scene fertig. Beginne die 4.“ (6.3.) Sechs Wochen später ist das Stück fertig: „Im Pschorr und Torggelstube schreibe ich den Stein der Weisen fertig.“ [Tb 20.4.1909] festgelegt, die Tilly und ich sobald sie fertig ist aufführen werden. Die KostümeZur Figur der Geistererscheinung Lamia in „Der Stein der Weisen“ heißt es in den Regieanweisungen: „ein junges Mädchen, in kurzem Kleid, das die Arme frei läßt, und großem Federhut“ [KSA 6, S. 256] Zu ihrer Rolle gehört das Laufen auf einer Kugel: „LAMIA (wirft den Globus um, steigt darauf und wandelt auf der Himmelskugel durchs Gemach)“ [KSA 6, S. 261] Am 26.4.1909 notierte Wedekind im Tagebuch: „Tilly geht zum ersten Mal im Kostüm auf der Kugel.“ Später trainiert Tilly Wedekind „Spakat“ (11., 13., 14. und 20.3.1910) und Wedekind arbeitete einen „Spakattanz“ (30.3.1910) aus; am 11.3.1910 notierte er: „Abends Probe von Lamiascene im Balletkostüm.“ hat Tilly | schon dazu. Ich schreibe das Stück eigentlich auf Ihre Kostüme.

Nun leb wohl, liebe Mama. Laß es Dir recht gut gehen. Ich hoffe, daß wir uns recht bald wiedersehen.

Mit den herzlichsten Grüßen von Tilly und mir
Dein treuer Sohn
Frank.


München 6.3.9.

Emilie Wedekind schrieb am 26. März 1910 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Tilly Wedekind

[Hinweis in Tilly und Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 13.3. und 7.4.1910 aus München:]


Für die herzige Osterkarte noch vielen Dank […]

Frank Wedekind schrieb am 6. Mai 1910 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Meine liebe Mutter!

Mit großer Freude nehme ich den heutigen TagGemeint ist der 8.5.1910, der 70. Geburtstag der Mutter, den Wedekind als Ankunftstag seines Briefes annahm. wahr, um Dir offen und herzlich für alles/n/ Reichthum zu danken, den Du mir in dieses Leben mitgegeben hast. Es sind ja erst fünf Jahre her„Wedekind datiert seinen Aufstieg zum anerkannten Theaterschriftsteller mit der überaus erfolgreichen Uraufführung seines Schauspiels ‚Hidalla‘ am 18.2.1905 unter der Regie Georg Stollbergs am Münchner Schauspielhaus“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 244]., daß ich mich dieser Gaben wirklich freuen kann. Umsomehr möchte ich jetzt, daß Du an dieser Freude theilnehmen kannst. Daß ich augenblicklich einen KampfWedekinds auch öffentlich ausgetragene Auseinandersetzungen mit seinem Verleger Bruno Cassirer, die schließlich zur Übernahme seiner Werke in den Verlag Georg Müller führte. | auszufechten habe, darf n/D/ich in keiner Weise erschrecken. Unberufen sind das keine Sorgen mehr sondern Machtfragen, die über kurz oder lang gelöst werden mußten wenn ich Ordnung in den Geschäften haben will.

Von ganzem Herzen, liebe Mama, beglückwünsche ich Dich zum heutigen Tag. Zu alle dem V/v/ielen Schönen, das ich Dir selber zu danken habe, kommt nun auch noch Deine Herzlichkeit und Liebe, die Du meiner Tilly entgegenbringst. Ich erscheine nun heute an Deinem Ehrentag fast mir | leeren Händen. Als Symbol sende ich Dir mein letztes Buchder Einakter „Der Stein der Weisen“, das nach der Erstpublikation in der Zeitschrift „Jugend“ im Juli 1909 bei Paul Cassirer Ende November 1909 als Buch erschienen war [vgl. KSA 6, S. 903, 916]., das Du ja wahrscheinlich schon kennst und muß Dich nun nur wieder bitten, Dich durch das VorwortWedekind setzte in seinem Vorwort [vgl. KSA 6, S. 938] zu „Der Stein der Weisen“ seine Auseinandersetzung mit dem „Berliner Tageblatt“ fort, die er anlässlich einer Rezension seines Stücks „Musik“ durch den Feuilletonredakteur Fritz Engel mit einem offenen Brief begonnen hatte [vgl. Wedekind an Berliner Tageblatt, 2.11.1908] und nahm nun die Einlassungen der Zeitung auf seine damalige Replik zum Anlass einer erneuten Kritik an deren Rezensionspraxis. In späteren Auflagen von „Der Stein der Weisen“ wurde dieses Vorwort nicht erneut abgedruckt. nicht etwa erschrecken zu lassen. Ich stehe mit dem Berliner Tageblatt heute im glänzendsten Einvernehmen. In meiner jetzigen Fehde war es schon mein treuer Bundesgenossedurch den Abdruck eines offenen Briefes Wedekinds [vgl. Wedekind an Verlagsbuchhändler, 23.3.1910] im Zusammenhang mit dem Streit mit seinem Verleger Bruno Cassirer um den Verkauf der Verlagsrechte seiner Werke an potentielle Interessenten. Der Brief erschien unter der Überschrift „Ein Wedekind-Dokument“ [in: Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 157, 29.3.1910, Abend-Ausgabe, S. (3)]..

Im Lauf dieses Sommers werde ich nacheinander vier neue BücherIn Wedekinds neuem Verlag Georg Müller erschienen im Juni1910 die drei Einakter „In allen Sätteln gerecht“, „Mit allen Hunden gehetzt“ und „In allen Wassern gewaschen“ [vgl. KSA 7/II, S. 690] sowie die Aphorismensammlung „Schauspielkunst. Ein Glossarium“ [vgl. KSA 5/III, S. 730]. herausgeben, die alle vier schon geschriebenDem Tagebuch zufolge übergab Wedekind seinem Verleger die fertigen Manuskripte am 20.4.1910 („Bringe Iawg zu Georg Müller.), am 20.5.1910 („Besuch bei Müller. Ich bringe ihm Mahg.“) und am 10.6.1910 („Bringe letzte Korrektur Schauspielkunst zu Müller.“). Das dritte Stück beendete er am 24.6.1910: („Letzte Korrektur von Iasg.“). sind und die Dir Tilly gleich nach ihrem Erscheinen schicken wird. Ich hatte in den | letzten Wochen sehr viel Schreibereien notwendig zu erledigen. Sonst würde mich der heutige Tag nicht so unvorbereitet treffen.

Herzinnig würde es mich freuen etwas über MatiEmilie (Mati) Wedekind hatte geplant, ihre Verlobung mit dem Jugendfreund Eugène Perré am Geburtstag ihrer Mutter in Lenzburg zu feiern, wie sie in einem Brief an ihren Bruder Armin vom 5.4.1910 ankündigte: „Verlobungsanzeigen werden keine geschickt aber zu Mamas Geburtstag wird nun alles versammelt sein.“ [AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 169.05:168] zu hören.

Und nun, liebe Mutter, auf baldiges Wiedersehen, hoffentlich im SommerTilly, Frank und Pamela Wedekind verbrachten den Sommer vom 6.8.1910 bis zum 2.9.1910 in Lenzburg [vgl. Tb]. . Freue Dich heute recht herzlich mit all denen die um Dich sind. Grüße Armin und seine Lieben von mir.

Mit herzlichsten Grüßen und innigen Wünschen zu Deinem siebzigsten Geburtstag

Dein DankbarerSchreibversehen, statt: dankbarer. Sohn
Frank


München 6. Mai 1910.

Emilie Wedekind schrieb am 14. Juni 1910 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Tilly Wedekind , Tilly Wedekind , Tilly Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Frank und Tilly Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 16.6.1910 aus München:]


Empfang meinen herzlichen Dank für Deinen ausführlichen lieben Brief, über den Tilly und ich uns ungemein gefreut haben. […]

Meine liebe Mama, auch ich freute mich sehr über Deinen lieben, ausführlichen Brief […]

Frank Wedekind und Tilly Wedekind schrieben am 16. Juni 1910 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Meine liebe Mama!

Empfang meinen herzlichen Dank für Deinen ausführlichen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank und Tilly Wedekind, 14.6.1910., über den Tilly und ich uns ungemein gefreut haben. Sowohl die Schilderung deines Geburtsfestesam 8.5.1910. sowie die ausführlichen Nachrichten über | Matis VerlobungEmilie (Mati) Wedekind hatte Anfang April ihrer Familie die Verlobung mit Eugène Perré, einem früheren Pensionsgast (1890/91) auf Schloss Lenzburg und inzwischen Nachfolger seines Vaters als Champagnerhändler in Neuilly-sur-Seine mitgeteilt und plante, die Verlobung am Geburtstag der Mutter in Lenzburg zu feiern (siehe die vorangegangene Korrespondenz). waren uns gleich interessant. Ich erhielt derweil einen sehr lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Eugène Perré an Wedekind, 13.6.1910. von Eugène Perré in dem er uns zu seiner HochzeitDie Trauung von Emilie (Mati) Wedekind und Eugène Perré fand am 9.7.1910 in Neuilly-sur-Seine bei Paris statt. einlädt. Ich habe ihm sofort gedankt und geschriebennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Eugène Perré, 15.6.1910. daß es uns zu unserem lebhaften Bedauern nicht möglich sein dürfte, da wir gerade Anfang Juli in München spielenFrank und Tilly Wedekind spielten den kompletten Juli über einen Gastspielzyklus mit Stücken Wedekinds am Schauspielhaus München. sollen. Ich | schickte den Brief an Eugènes Hotel in London und hoffe, daß er ihn erhalten hat. Am ersten Juni haben sich derweil meine geschäftlichen Confliktemit seinem Verleger Bruno Cassirer anlässlich des Verkaufs der Verlagsrechte an Wedekinds Werken. Mit deren Übernahme für 15.000 Mark durch den Verlag Georg Müller Anfang Juni war für Wedekind „das Geschäftliche erledigt“ [Wedekind an Maximilian Harden, 11.6.1910]. gelöst und zwar mit Hülfe von Maximilian HardenWedekind hatte vermutlich bereits am 3. und 4.4.1910 Maximilian Harden bei Besuchen von dem Konflikt berichtet [vgl. Tb] und sich dann später mit der Bitte um Unterstützung brieflich an ihn gewandt [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 23.4.1910], der sich daraufhin um Vermittlung bemühte (siehe die Korrespondenz zwischen Wedekind und Maximilian Harden). und Max LiebermannMaximilian Harden hatte Wedekind vorgeschlagen, Max Liebermann ebenfalls um Unterstützung in dem Konflikt mit Bruno Cassirer zu bitten [vgl. Maximilian Harden an Wedekind, 28.4.1910]. Wedekind wandte sich daraufhin brieflich an Liebermann, wie ein fragmentarisch überlieferter Briefentwurf belegt [vgl. Wedekind an Max Liebermann, 1.5.1910]. Wedekind hatte den Maler, der mit beiden Verlegern, Bruno und Paul Cassirer, befreundet und durch seine Veröffentlichungen geschäftlich verbunden war, dem Tagebuch zufolge am 4.4.1910 bei Paul Cassirer getroffen („bei Cassirer, wo ich Liebermann, Tuaillon und Slevogt treffe“) und ihn vermutlich bereits über den bestehenden Konflikt unterrichtet.. Besonders Harden bin ich in dieser Angelegenheit zu großem Dank verpflichtet. Ich habe das auch in einer kleinen SchriftIm ersten Abschnitt seiner Schrift „Schauspielkunst. Ein Glossarium“ gestand Wedekind unter der Überschrift „Maximilian Harden“ diesem zu, unter den Zeitgenossen „am meisten Herzenswärme, am meisten Leidenschaftlichkeit“ in „der ernsten Erörterung einer Kulturfrage“ [KSA 5/II, S. 363] zu besitzen und schloss mit den Worten: „Ihrer regsten Anteilnahme waren alle, die seit Jahren in Deutschland auf eigenen Wegen gingen, sicher. Um Sie zu werben, haben wir keinen Grund. Umsomehr erscheint es mir an der Zeit, Ihnen einmal zu danken.“ [KSA 5/II, S. 364] Wedekinds „Glossarium“ erschien am 18.6.1906 im Verlag Georg Müller: „Schauspielkunst […] im Handel.“ [Tb] ausgesprochen, die dieser Tage erscheinen wird. Sobald ich Exem|plare davon habe, werde ich Dir eines zuschicken. Tilly und ich haben diesen Frühling sehr viel studiert. Jetzt lernt sie meine LiederDem Tagebuch zufolge studierte Tilly Wedekind am 11., 14. und 16.6.1910 das Lied „Brigitte B.“ („Studiere mit Tilly Brigitte B.“; „Tilly übt Brigitte.“) sowie am 17.6.1910 „Mein Lieschen“ („Tilly übt Mein Lieschen“). An den folgenden Tagen übte sie sich im Singen, so am 18.und 19.6.1910 („Tilly nach Tisch Abends gesungen.“), am 20.6.1910 („Tilly gesungen.“) und am 21.6.1910 („Tilly singt nach Tisch.“). und BaladenSchreibversehen, statt: Balladen. singen für einen Vortragsabendam 21.11.1910 für die Freie Literarische Gesellschaft Frankfurt am Main. Wedekind notierte in Frankfurt: „Ich treffe Roda Roda beim Frühstück Besichtigung des Saales. Diner im Hotel Nachmittags Probe im Saal. Vortrag. Tilly singt zum ersten Mal vor 1300 Personen.“ Die Presse schrieb: „Ganz bedenklich aber wurde die Sache, als die freundliche Herdflamme einer unscheinbaren Hauskunst als Cabaret-Stern leuchten wollte, als Frau Wedekind es unternahm, Chansons vorzutragen, Lieder aus den ‚Vier Jahreszeiten‘ ihres Gatten, bei denen er mit der Laute sorglich attestierte. Nur die Liebenswürdigkeit der Hörerschaft, die die sympathische Erscheinung der (als Schauspielerin nicht unbegabten) Dame den Mißerfolg nicht merken lassen wollte, half über diese Peinlichkeit hinweg…“ [Frankfurter Zeitung, Jg. 35, Nr. 323, 22.11.1910, 3. Morgenblatt, S. (1)]. Anfang Juni hatte Wedekind seinen Veranstaltungsagenten wegen des Vortrags aufgesucht: „Besuch bei Gutmann wegen Vortrag Roda.“ [Tb 7.6.1910]., den wir im Herbst mit Roda-Roda zusammen in Frankfurt haben. Da wir in den letzten Monaten nicht spielten haben wir mit Annapamela viele Ausflüge gemacht meist in das herrliche IsarthalIm Tagebuch dokumentiert sind Ausflüge nach Thalkirchen (24.4.1910), Menterschwaige (1.5.1910), Grosshesslohe (1., 5. und 31.5.1910 sowie 5.6.1910) sowie zur Konradshöhe bei Baierbrunn und nach Höllriegelskreuth (12.6.1910).. | Gesternam 15.6.1910. Wedekind notierte im Tagebuch: „Ausflug nach Bernried mit Tilly Anapamela, Frau Jenny Hypolit. Besuch bei Albu. Spaziergang im Park von Bernried.“ waren wir bei strömendem Regen auf dem Starnbergersee.

Ich freue mich sehr, liebe Mama, daß es Dir gut geht und Du vergnügt bist Grüße Mati vielmals von mir. Ich hoffe, daß wir uns im AugustTilly, Frank und Pamela Wedekind verbrachten den August vom 6.8.1910 bis zum 2.9.1910 in Lenzburg [vgl. Tb]. wiedersehen. Mit den herzlichsten Grüßen und besten Wünschen für Dich, liebe Mama, und Mati
Dein treuer Sohn
Frank.


München 16.6.10.


Meine liebe Mama, auch ich freute mich sehr über Deinen lieben, ausführlichen Brief, über die interessanten und amüsanten Schilderungen. Ich bedauerte es sehr, bei der Geburtstagsfeier nicht dabei gewesen zu sein. Dass Mati sobald heiratet, freut mich sehr, und wenn wir auch bei der Hochzeit nicht dabei sein können, (nächste WocheDie erste Probe für den Wedekind-Zyklus am Schauspielhaus München im Juli fand am 21.6.1910 statt: „Probe von S. ist d. Leben.“ [Tb] beginnen unsre Proben, da ist’s mit der Freiheit zu Ende) so hoffe ich doch sehr, dass wir sie recht bald in Paris besuchenEugène Perré wohnte in Neuilly-sur-Seine, einem Vorort von Paris. Zu dem gemeinsamen Besuch kam es nicht. Wedekind reiste im Juli 1914 alleine nach Paris., und dann einige, | schöne Tage miteinander verleben. Ich bekomme Anfang Juli, vielleicht auch früher, wenn’s möglich ist, Besuch von meiner jüngern Schwester MarthaMartha Newes war dem Tagebuch zufolge vom 25.6.1910 („Tilly und Anapamela holen Martha vom Bahnhof ab“) bis zum 6.8.1910 („Martha fährt nach Insbruck“) zu Besuch in München.. Sie soll während der Zeit unsers GastspielSchreibversehen, statt: Gastspiels. Anna Pamela behüten, mit ihr spazieren gehen etz., denn ganz nur den MädchenDie wechselnden Kindermädchen der Wedekinds sind nicht identifiziert. überlassen will ich sie nicht. Und im August giebt es dann ein frohes Wiedersehn in Lenzburg! Mieze hat mir kürzlich sehr lieb u. ausführlich geschriebenDer Brief Erika Wedekinds an Tilly Wedekind ist nicht überliefert.. Wenn sich ihre Pläne nicht ändern, | dann werden wir voraussichtlich zu gleicher Zeit in LenzburgErika Wedekind traf mit ihrer Tochter Eva Oschwald am 7.8.1910 während Frank und Tilly Wedekinds Lenzburg-Aufenthalt im Steinbrüchli ein: „Wir holen Mieze am Bahnhof ab.“ [Tb] Sie blieben bis zum 20.8.1910: „Mieze und Eva verreisen in aller Frühe.“ [Tb] sein, worüber ich mich sehr freue! Anna Pamela wird glücklich sein, an Eva eine Spielgefährtin zu haben! Hoffentlich ist es für Dich nicht unbequem, soviel Menschen auf einmal im Hause zu haben. Ihr werdet jetzt wohl noch viel Arbeit mit der Ausstattung haben! Grüß’ mir bitte mein liebes Mati recht herzlich. Wenn Du wieder Zeit hast, ich freue mich unendlich über jede Nachricht von Dir.

Herzlichst umarmt u. küsst Dich
Deine Tilly u. Annapamela


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct. Aargau Schweiz.

Frank Wedekind schrieb am 25. September 1910 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind , Emilie Wedekind

[Hinweis und Zitat in Wedekinds Brief an Georg Brandes vom 12.10.1910 aus Berlin:]


[...] Ihrem herrlichen Schreiben an die Fürstin Kropotkin, das ich meiner Mutter in die Schweiz geschickt hatte.

Emilie Wedekind schrieb am 28. September 1910 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis und Zitat in Wedekinds Brief an Georg Brandes vom 12.10.1910 aus Berlin:]


[...] Schreiben an die Fürstin Kropotkin [...]. Meine Mutter war begeistert davon. Sie schrieb mir: „Wer so schreiben könnte.“

Frank Wedekind schrieb am 6. August 1911 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind

[Hinweis in Emilie Wedekinds Brief an Frank und Tilly Wedekind vom 10.8.1911 aus Lenzburg:]


[…] wie ich mich über die Nachricht freute, daß Ihr mir eine liebe Enkelin geschenkt habt. Besonders froh war ich, meine liebe Tilly, durch die Depesche zu erfahren, daß es Dir und der Kleinen gut geht […]

Emilie Wedekind schrieb am 10. August 1911 in Lenzburg folgenden Brief
an Tilly Wedekind , Frank Wedekind

Lenzburg, 10 August 1911


Meine liebe Tilly und mein lieber Frank!

Heute ist der erste Tag, – seit Wochen, – daß ich ohne meine lieben GästeEmilie (Mati) Wedekind und ihr Mann Eugène Perré unternahmen mit ihrer Köchin einen Tagesausflug an den 50 Kilometer entfernten Vierwaldstättersee (s. u.). bin. Sie kommen zwar heuteabendSchreibversehen, statt: heute abend. wieder, sodaß mir nicht viel Zeit vergönnt ist, um Euch endlich ausführlich zu schreiben, wie ich mich über die Nachricht freute, daß Ihr mir eine liebe EnkelinFrank und Tilly Wedekinds Tochter Kadidja wurde am 6.8.1911 geboren: „Fannykadidja geboren.“ [Tb] geschenkt habt. Besonders froh war ich, meine liebe Tilly, durch die Depeschenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.8.1911. zu erfahren, daß es Dir und der Kleinen gut geht, und daß Ihr Euch zusammen freut über Euer liebes Töchterchen. Möge es wachsen u. gedeihen zu seinem eigenen und seiner Eltern Glück. – Ich habe nun seit dem 14. Juli immerfort meine lieben Kinder | bei mir. Erst kamen Mieze u Evchen. Gleich, am ersten Sonntag darauf kamen die Zürcher. Armin sen mit Emma von Zürich, Armin jun. von Genf, – d/b/epakt mit seinem 30 Kilo schweren Tornister und in der Uniform eines CorporalsArmin Wilhelm Gottlieb Wedekind leistete offenbar seinen Wehrdienst, zu dem er in der Schweiz mit dem Beginn des Jahres verpflichtet war, in dem er zwanzig wurde (1910) und diente inzwischen im Rang eines Unteroffiziers.. Er ist ein strammer und sehr ernster Mensch geworden, schwärmt für sein Clavierspiel in dem er ganz o/O/rdentliches leistet und behauptet, großes IntresseSchreibversehen, statt: Interesse. für seinen künftigen Beruf zu haben. Bis jetzt hat er es zum cand. med.(lat.) candidatus medicinae = Medizinstudent. Armin Wilhelm Gottlieb Wedekind absolvierte sein „Medizinstudium in Zürich, Genf, Zürich und München, Promotion mit einer Arbeit über ‚Kasuistik der Psychischen Infektionen‘ (Leipzig 1917). Das Doktordiplom wurde ihm am 7.8.1917 von der Universität Zürich ausgestellt.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 247f.] gebracht. Hoffentlich vollzieht sich der Rest seines Studiums ebenso geregelt, wie es bis jetzt gewesen ist und wird er recht bald für seinen Vater, der sich jetzt weidlich plagen muß –, eine tüchtige Stütze u. Hülfe. – Wir verbrachten diesen ersten Sonntag in großer Fröhlichkeit und ohne jede Trübung. Es war so nett, daß man sich entschloß, | 14 Tage späteram 28.7.1911., bei der Ankunft Walthers nochmals bei’nander zu sein. Auch dieser Tag war schön. Wir hatten allerlei Geschäftliches miteinander zu besprechen, herbeigeführt durch die Bauten und ihre Kosten, die, wie es ja immer geht, die Voranschläge um eine tüchtige Summe überschritten. Trotzdem aber blieb die Stimmung gut und man trennte sich mit dem Gefühl, an Anhänglichkeit und Zusammengehörigkeit reicher geworden zu sein. Seit dem 27. Juli war auch Armins Jüngste, die Lotta bei mir und wird bleiben bis nächste Woche. Und gleich nach Mieze’s, Walthers u. Evchens Abreise in’s Engadin kamen Eugène und Mati. Sie bleiben bis zum 18. August. Da sie ihre Köchinnicht identifiziert. mitbrachten, | fällt nicht so viele Arbeit mir zu. Ich bin auch darüber sehr froh, denn seit 6 Wochen leide ich an einem schlimmen Bein, das viel Pflege mit Massieren, Verbinden etc. beansprucht und mich recht in meiner gewohnten Thätigkeit behindert. Heute früh 5 Uhr fuhren nun die PariserEmilie (Mati) Wedekind und Eugène Perré lebten in Neuilly-sur-Seine bei Paris. mit ihrer Köchin an den VierwaldstätterseeDer in vier Kantonen gelegene Vierwaldstätter See, an dem sich mit dem Rütli und der Tellsplatte Schauplätze der Wilhelm Tell-Sage befinden, war ein beliebtes Ausflugsziel., und so kommt es, daß ich Zeit finde, Euch meine Lieben zu schreiben.

Vorgesternam 8.8.1910. war aber wieder eine große Festlichkeit bei uns. Der alte Justizrath Wedekind, unser FamiliensyndikusEin Syndikus ist „der von einer Korporation (Stadtgemeinde, Stiftung, Verein, Aktiengesellschaft) zur Besorgung ihrer Rechtsgeschäfte aufgestellte Bevollmächtigte“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 19. Leipzig, Wien 1909, S. 243]. Erich Wedekind aus Danzig war als Syndikus der Familie Wedekind der Nachfolger von Frank Wedekinds Onkel, dem Landgerichtsrat Theodor Wedekind. kam auf seiner Rückreise von St. Moritz mit sämmtlichen ZürchernArmin Wedekind und Familie. hierher. Wir hatten ein wundervolles Mittagessen mit Rheinsalmim Rhein gefangener Lachs. MeajonnaiseSchreibversehen, statt: Mayonnaise. und Roastbef/e/f etc und nach dem Cafe gingen wir aufs Schloß. | Der neue Schloßherr„1911 erwarb James W. Ellsworth […], amerik. Großindustrieller und Kunstsammler, das Schloss für 550.000 Franken von seinem vorherigen Besitzer August E. Jessup“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 248]. –, weniger rüppelhaft als der alte –, zeigte uns mit viel Liebenswürdigkeit alle Räume, sodaß unser Gast ganz entzückt von der Schönheit der Natur und der Größe des Schloßes, den denkbar besten Eindruck empfing. Auch unser Steinbrüchli überstieg seine Erwartungen. Die beiden Mädchen Armins, Eva u. Lotta sangen und spielten ihre schönsten Weisen, nicht minder Armin jun. So verging der Tag, der sicherlich Allen eine schöne Erinnerung bleiben wird.

Wir haben seit vielen Wochen eine unerhörte Hitze und Trockenheit. Ueberall verdorren die Obstbäume. Unser Garten schaut gelb u. verbrannt aus, sodaß ich immer | an San FranziskoEmilie Kammerer lebte vom 31.12.1858 bis zu ihrem Umzug mit Friedrich Wilhelm Wedekind nach Oakland im Oktober 1862 als Sängerin in San Francisco [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 291f.]. errinnertSchreibversehen, statt: erinnert. werde, wie es mit seinen abgedörrten Culturen im Sommer aussieht. Es gibt keinen Salat, kein grünes Gemüse, ganz wenig u nur schlechtes Obst. Dafür aber ist die Frucht, – Weizen u. Roggen u. die Kartoffeln, besonders aber auch der Wein gut gediehen, sodaß man hofft, wenigstens damit eine kleine Entschädigung zu erhalten. Mati u. Eugène sind recht froh, ihrem Brutofen in Neuilly entronnen zu sein. Sie genießen, – trotz der Hitze –, unsere frischere Schweizerluft mit großem Behagen. Mati sieht schon ganz verparisert aus in ihrem engen weiß u. blauen Costum, den feinen weißen Schuhen u. weißem, großen Hut, der ihr sehr gut steht. | Ihr Mann hält viel darauf, daß sie sich schikSchreibversehen, statt: schick. und fein anzieht und auch mit der Frisur hat sie sich sehr zum Vortheil verändert. Seit ihrem Hiersein wird wieder französisch gegessen, – viele viele

Teller und immer nur ein Gericht nach dem andern.

Habt Ihr Mieze auch eine Anzeige von der Geburt Eures Töchterchens geschiktSchreibversehen, statt: geschickt.? Und wie soll denn die junge Dame heißen?

Ich hoffe, liebe Tilly daß Dich diese Zeilen verhältnißgemäß wohl antreffen, – ebenso Deine beiden Töchterchen u. Frank. Allen Euch Lieben sende ich meine herzlichsten Grüße, indem ich wie immer verbleibe
Eure getreue Mama
u. Großmama!


P. S. Deinen lieben Eltern meine besten Empfehlungen. Auch sie werden sich freuen?! – |

Schreibt mir bitte, recht bald wieder, wie es geht!!

Emilie Wedekind schrieb am 17. Juni 1912 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Tilly Wedekind vom 18.6.1912 aus Berlin:]


Hier eine Karte von meiner Mutter.

Emilie Wedekind schrieb am 17. Juni 1912 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Tilly Wedekind vom 19.6.1912 aus Berlin:]


Inliegend zwei Briefe [...] von Mama.

Emilie Wedekind schrieb am 18. Juni 1912 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Tilly Wedekind vom 19.6.1912 aus Berlin:]


Inliegend [...] eine Karte von Mama.

Frank Wedekind schrieb am 22. September 1912 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Liebe Mama!

Vor drei Tagen kam Woldemar WedekindFrank Wedekinds Cousin, Kaufmann in Hamburg, Sohn seines Onkels Erich Wedekind aus Hannover und dessen dritter Frau Marie Dufaye. hierher. Am selben TageDem Tagebuch zufolge am 20.9.1912: „Barnowsky telegraphiert Gastspiel ab“. erhielt ich ein Telegrammnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Victor Barnowsky an Wedekind, 20.9.1912. in/au/s Wien, das ein zehntägiges GastspielWedekind hatte sich dem Tagebuch zufolge am 10.8.1912 („Barnowsky kommt wir verabreden Wiener Gastspiel“) und 14.8.1912 („T. St. mit Barnowsky“) in München mit Victor Barnowsky, Direktor des Kleinen Theaters in Berlin, getroffen und ein Gastspiel in Wien verabredet. in Frage stellte. Ich hatte Besprechungen mit meinem RechtsanwaltIm Tagebuch ist nur für den folgenden Tag ein Treffen Wedekinds mit seinem Rechtsanwalt Wilhelm Rosenthal (Leopoldstraße 34, Kanzlei: Sonnenstraße 3) [vgl. Adreßbuch für München und Umgebung 1913, Teil I, S. 540] verzeichnet: „Nachmittags bei Rosenthal wegen Wiener Gastspiel“ [Tb, 23.9.1912]., war zwei Tage in Athem gehalten und kam darüber nicht dazu, dem Vetter auf seinen zweimaligen Besuch hin, eine Antwort zukommen zu lassen. Hätte er sich die Mühe genommen, mich vorher von seinem Eintreffen zu benachrichtigen, e/d/ann wäre es mir ein Vergnügen gewesen, | ihn kennen zu lernen. So platzten zwei Überraschungen aufeinander, von denen die eine mich vollkommen in Anspruch nahm. Woldemar Wedekind ist abgereist ohne mir seine Adresse zu hinterlassen. Das muß ich ertragen mit der Zuversicht, daß wir uns ja später einmal kennen lernenDas erste Treffen mit Woldemar Wedekind ist für den 28.6.1916 in Berlin belegt: „Mit Woldemar Wedekind im Elite Hotel“ [Tb] können. Er hätte ja vielleicht auch früher Gelegenheit genug dazu gehabt. Ich möchte nur nicht, daß Du etwa glaubst ich hätte Deine EmpfehlungWann Emilie Wedekind diese Empfehlung ausgesprochen hat, ist nicht belegt, möglicherweise in einem der nicht überlieferten Korrespondenzstücke aus dem Juni 1912. nicht respektiert. Du bist mir in diesem SommerTilly Wedekind und die Kinder waren vom 20.6.1912 bis 15.7.1912 in Lenzburg bei Emilie Wedekind [vgl. Tb] zu Besuch, ohne Frank Wedekind. eine so liebevolle Mutter gewesen, daß ich mich so tief in Deiner Schuld fühle wie | vor dreißig Jahren. Tilly liebt Dich und blickt an Dir empor. Das tun aber noch sehr viele Andere, von denen Du vielleicht nichts weißt. Allgemein hat man eine schöne verehrungswürdige Vorstellung von Dir, die überdies Deinem Wesen, Deiner Art und Persönlichkeit vollkommen entspricht./,/ und zu der ich, ich muß es gestehen, eigentlich niemandem verholfen habe.

Ich bitte Dich also, liebe Mama, falls Du Woldemar W. schreibst, mich bei ihm zu entschuldigen. Den Kleinen geht es sehr gut, ebenso Tilly mit der ich jetzt Franziska einstudiereWedekind begann mit dem Erlernen seines letzten Stücks „Franziska“ Ende Juli. Der erste Eintrag dazu im Tagebuch findet sich am 20.7.1912: „Franziska studiert.“ Es folgen ähnliche Einträge am 21., 22. („Mit Tilly Franziska studiert“) und 31.7.1912 sowie am 4., 10., 11., 15., 17.,18.,19., 22., 27. und 28.8.1912. Im September heißt es ebenfalls mehrfach: „Mit Tilly Franziska studiert“ (3. und 4.9.1912), „Tilly überhört mich Franziska-Rolle“ (19.9.1912) oder „Mit Tilly Franziska geübt“ (23., 25. und 26.9.1912). . Im Oktober soll die AufführungDie Uraufführung von Wedekinds 1911 entstandenem Schauspiel „Franziska. Ein modernes Mysterium“ verzögerte sich und fand unter der Regie von Eugen Robert erst am 30.11.1912 als geschlossene Veranstaltung in den Münchener Kammerspielen statt, die erste öffentliche Vorstellung folgte am 3.12.1912. Frank und Tilly Wedekind spielten die Hauptrollen. Im Vorfeld der Uraufführung war es zu einer von Wedekind öffentlich geführten Auseinandersetzung zwischen ihm und Robert wegen zensurbedingter Streichungen gekommen [vgl. Wedekind an Münchner Neueste Nachrichten, 8.8.1912], die Wedekind bewogen hatten, den Rückzug seines Stücks anzukündigen. Am 4.10.1912 notierte er im Tagebuch: „Besuch bei Rosenthal, erfahre daß Robert auf Franziska besteht.“ Und am 10.10.1912: „Franziska wird fallen gelassen.“ sein. Mit Annapamela spreche ich täglich von der | Großmutter in Lenzburg. Wer hätte sich im Jahr 1874Wedekinds Vater Friedrich Wilhelm Wedekind hatte das Haus Steinbrüchli am Fuße des Lenzburger Schlossberges laut Kaufvertrag [vgl. AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 169.1:316] im Jahr 1875, nicht 1874, erworben. Es diente Emilie Wedekind nach dem Verkauf des Schlosses seit 1893 als Wohnhaus. träumen lassen, daß daß/s/ Steinbrüchli einer ganzen Generation von jungen Menschen zur schönsten Heimat werden würde. Diesen Segen DankenSchreibversehen, statt: danken. wir nur Dir, liebe Mama.

Tilly ist zu Bett gegangen und die Kinder schlafen. Trotzdem senden sie Dir alle ihre herzlichsten Grüße. Ich A/m/it ihnen.

Dein treuer dankbarer Sohn
Frank.


22.9.12.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg.
Ct. Aargau Schweiz.

Frank Wedekind und Tilly Wedekind schrieben am 6. Mai 1913 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Meine liebe Mama!

Zu Deinem heutigen GeburtstagEmilie Wedekind feierte am 8.5.1913 ihren 73. Geburtstag. Wedekind antizipierte den Ankunftstag seines in der Nacht vom 6. auf den 7.5.1913 (siehe Poststempel) verschickten Briefes. sende ich Dir die herzlichsten Glückwünsche. Möge es Dir vergönnt sein, noch recht recht viele Geburtstage in Freude und Gesundheit zu verleben. Mit Freude höre ich aus Deinen lieben Briefen an TillyDie Korrespondenz zwischen Emilie und Tilly Wedekind ist nicht überliefert. daß Du den Winter ohne Mißbehagen b/v/erbracht hast. Hoffentlich ist das Unwohlsein, von DemSchreibversehen, statt: von dem. Du zuletzt schreibst nun auch gehoben. Für Deine liebe freundliche Einladung danke ich Dir von ganzem Herzen. | Ich hoffe bestimmt Dich im Laufe dieses SommersWedekind besuchte seine Mutter vom 12. bis 16.7.1913 in Lenzburg [vgl. Tb]. auf einige Tage wiederzusehen. Wenn Du Tilly und die Kleinen für längere Zeit aufnehmen wolltest, bin ich Dir aufs tiefste DankbarSchreibversehen, statt: dankbar. dafür. Der letzte Winter war schauspielerisch sehr anstrengend und ließ mir wenig Zeit für literarische Arbeit. Deshalb hoffe ich im Sommer auf einige Wochen nach ItalienWedekind hielt sich vom 19.6.1913 bis 11.7.1913 in Rom auf und arbeitete dort an seinem dramatischen Gedicht „Simson“ [vgl. Tb]. zu kommen. Ich würde mich sehr freuen auch mit ArminEin Treffen im Sommer kam nicht zustande [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 22.8.1913]. Dem Tagebuch zufolge traf Wedekind seinen Bruder Armin erst wieder im Oktober 1914 in Zürich. diesen Sommer zusammenzutreffen. Vielleicht läßt es sich arrangieren, daß wir eine kleine Tour zusammen machen.

Über die nächsten WochSchreibversehen, statt: Wochen (oder: Woche). sind wir noch völlig im Unklaren. Es schweben Verhandlungen mit Berlin und Wienüber eine Aufführung von Wedekinds Stück „Franzsika“. Am Deutschen Volkstheater in Wien fand vom 6. bis 12.6.1913 ein Gastspiel der Münchner Kammerspiele mit Frank und Tilly Wedekind mit drei Aufführungen statt. In Berlin traten sie mit Mitgliedern der Berliner Kammerspiele unter der Regie von Frank Wedekind vom 5. bis 29.9.1913 in 25 Vorstellungen auf. können sich aber noch zerschlagen. Wenn | wir in diesem Frühling noch einmal v/f/ortgehen, dann darf Dir Tilly vielleicht derweil die Kinder bringenFür das Wiener Gastspiel brachte Tilly Wedekinds Schwester Martha Newes die Kinder nach Lenzburg: „Martha bringt die Kinder nach Lenzburg Fahr nach Wien.“ [Tb 3.6.1913] Nach Beendigung des Gastspiels fuhr Tilly Wedekind dann für einen Monat nach Lenzburg (s. u.).. Beide Angelegenheiten, Berlin und Wien müssen sich in den nächsten acht Tagen entscheiden.

Heute am 8. Main hast Du wohl wieder Das Haus voll Gäste. Annapamela erzählte mir, s/w/ie schön es an Deinem letztz/j/ährigen GeburtstagIm Vorjahr hatte Tilly Wedekind die beiden Töchter am 29.4.1912 nach Lenzburg gebracht und war am 2.5.1912 von Lenzburg zu einem Gastspiel nach Stuttgart gefahren, wo Frank Wedekind sich schon aufhielt. Nach verschiedenen Gastspielverpflichtungen fuhr sie am 20.6.1912 wieder nach Lenzburg und kehrte am 15.7.1912 schließlich mit den Kindern wieder nach München zurück [vgl. Tb]. war. Zu Mittag trinken wir auf Deine Gesundheit und wünschen Dir von ganzem Herzen alles Gute und Liebe.

Mit den besten Wünschen und schönsten Grüßen auch an Deine lieben Gäste
Dein Dankbarer Sohn
Frank.


6.5.13.


Meine liebe, gute Mama,

auch ich wünsche Dir von ganzem Herzen zu Deinem 73. Geburtstag das Beste! Gebe Gott, dass Du diesen Tag noch viele Jahre bei so guter Gesundheit feiern kannst, und wir noch recht oft die liebe Großmutter in Lenzburg besuchen können!

Voriges Jahr hattest Du ja schon um die Zeit die Kinder bei Dir. Über unsere nächsten Pläne habe ich Dir ja in meinem letzten BriefDie Korrespondenz zwischen Tilly und Emilie Wedekind ist nicht überliefert. geschrieben, u. sind sie bis jetzt nicht klarer geworden. Also hoffentlich auf Wiedersehen im HerbstTilly Wedekind reiste bereits am 14.6.1913 nach Lenzburg und fuhr am 16.7.1913 mit ihrem Mann zurück nach München [vgl. Tb].! Ich wünsche Euch zum 8. V. recht schönes Wetter im Steinbrüchli. Hoch liebeSchreibversehen, statt: lebe. unsre liebe Großmama!

Tausend Küsse von den Kindern!

In treuer Liebe umarmt Dich, Deine Tilly


[Kuvert:]

I. H.
Frau Dr. Emilie Wedekind
im Steinbrüchli
Lenzburg
Schweiz.
Ct. Aargau

Emilie Wedekind schrieb am 31. Mai 1913 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 2.6.1913 aus München:]


Mit herzlichstem Dank für Deine liebe Einladung […]

Frank Wedekind schrieb am 2. Juni 1913 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München 2. Juni 1913.


Liebe Mama!

Mit herzlichstem Dank für Deine liebe EinladungHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.5.1913. sende ich Dir hier inliegend M. 200 zur Bestreitung der Unkostenwahrscheinlich für den Aufenthalt von Pamela und Kadidja Wedekind in Lenzburg, während Frank und Tilly Wedekind ihr Gastspiel in Wien wahrnahmen (s. u.). Die Kinder wurden von Tilly Wedekinds Schwester Martha Newes zu ihrer Großmutter gebracht: „Martha bringt die Kinder nach Lenzburg Fahr nach Wien.“ [Tb 3.6.1913] Nach Beendigung des Gastspiels fuhr Tilly Wedekind am 14.6.1913 für einen Monat nach Lenzburg [vgl. Tb].. Ich hoffe nach dem Wiener GastspielFrank und Tilly Wedekind traten am Deutschen Volkstheater in Wien vom 6. bis 12.6.1913 in „Franzsika“ in drei Aufführungen auf – ein Gastspiel der Münchner Kammerspiele. auf einige Tage in Lenzburg sein zu können und freue mich sehr darauf, Dich wiederzusehnWedekind besuchte seine Mutter vom 12. bis 16.7.1913 in Lenzburg und reiste mit seiner Familie anschließend zurück nach München [vgl. Tb].

Mit den besten Wünschen von Tilly und mir Dein DankbarerSchreibversehen, statt: dankbarer. Sohn
Frank.

Emilie Wedekind schrieb am 23. Juli 1913 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 28.8.1913 aus München:]


[…] möchte ich Dir vorher noch für Deinen lieben herzlichen Geburtstagsbrief danken.

Frank Wedekind schrieb am 28. August 1913 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

Meine liebe Mama!

Eben im Begriff, nach Berlin zu fahrenWedekind fuhr am 28.8.1913 mit dem Nachtzug nach Berlin, Tilly Wedekind kam am 3.9.1913 nach [vgl. Tb]. um dort mit Tilly Franziskazu spielenIn Berlin traten Frank und Tilly Wedekind mit Mitgliedern der Berliner Kammerspiele unter der Regie von Frank Wedekind vom 5. bis 29.9.1913 in 25 Vorstellungen von „Franziska“ auf., möchte ich Dir vorher noch für Deinen lieben herzlichen Geburtstagsbriefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.19 danken. Du hast recht, liebe Mama, augenblicklich habe ich viel Grund zur Freude aber das Sich-freuen will | so gut gelernt sein, wie alles andere und es ist leider wahr daß ich oft sehr undankbar bin. Für Deine lieben, schönen großen Wünsche, liebe Mama, nimm meinen herzlichsten Dank.

Augenblicklich sind Tillys Eltern und MarthaEduard und Mathilde Newes sowie Tillys Schwester Martha waren dem Tagebuch zufolge spätestens seit dem 26.8.1913 zu Besuch in München: „Tillys Eltern und Martha zu Tisch.“ hier, die mit ihrem Bruder auf 10 Tage nach Paris reisen will bevor sie nach Bern ins EngagementMartha Newes trat ein Engagement als Schauspielerin am Stadttheater Bern an [vgl. Neuer Theater-Almanach 1914, S. 335]. fährt. Und am Montagden 1.9.1913. wollen | also Armin und Lilly kommenArmin Wedekind hatte angekündigt, mit seiner Tochter Lilli auf der Durchreise zur Schwester Erika Wedekind nach Dresden in München Station zu machen – in der Zeit vom 31.8.1913 bis 3.9.1913 [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 22.8.1913]. Der Besuch fand aber offenbar nicht statt [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 1.9.1913].. Es wäre mir eine ganz außerordentliche Freude gewesen mit Armin wieder in München zu sein wie vor 29 JahrenArmin und Frank Wedekind verbrachten von November 1884 bis April 1885 ein gemeinsames Studiensemester in München.. Tilly wird dann noch hier sein.

Deine lieben Wünsche, liebe Mama, erwidre ich aufs allerherzlichste und danke Dir innig für alles was Du für die Kinder und für Tilly gethan hast. AllezusammenSchreibversehen, statt: Alle zusammen. haben Dich so lieb | wie man jemand lieb haben kann. Den Kindern ist Lenzburg ihre halbe Welt. Wir reden täglich von Dir und dem SteinbrüchliKadidja und Pamela Wedekind verbrachten (auch ohne ihre Eltern) regelmäßig Zeit bei ihrer Großmutter in deren Wohnhaus in Lenzburg, so zuletzt vom 3.6.1913 bis 16.7.1913..

Laß es Dir also recht gut und wohl gehn und genieße das schöne Wetter. Auf baldiges Wiedersehn mit herzlichsten Grüßen von uns allen
Dein DankbarerSchreibversehen, statt: dankbarer. Sohn
Frank.


28.8.13.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
im Steinbrüchli
Lenzburg
Ct. Aargau Schweiz

Frank Wedekind schrieb am 6. Mai 1914 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

6. Mai 1914.


Meine liebe Mama!

Zu Deinem übermorgigen GeburtstageAm 8.5.1914 wurde Emilie Wedekind 74 Jahre alt. senden Tilly und ich Dir die allerherzlichsten Glückwünsche. Ich bin eben im BegriffWedekind notierte am 6.5.1914: „Abfahrt von München. Lustige Reisegesellschaft Wien Tegethoff“ [Tb]. Tilly Wedekind folgte am 9.5.1914 nach. auf einige Tage nach Wienzu den Proben und zur Premiere (11.5.1914) von „Simson“ am Wiener Johann Strauß-Theater. Wedekind führte Regie und spielte den Fürsten Og von Basan, Tilly Wedekind die Delila. Am 15.5.1914 reisten beide zurück nach München: „Abfahrt von Wien. Ankunft in München. Alles wohl. Martha ist noch da“ [Tb]. zu fahren, deshalb schreibe ich heute schon. Alles liebe Gute und schöneSchreibversehen, statt: Alles Liebe, Gute und Schöne. wünsche ich Dir von | ganzem Herzen. Das schönsteSchreibversehen, statt: Das Schönste. hast Du ja in dem großem Glück, das Du für uns alle bist, in der Liebe Deiner Kinder, der HeranwachsenenSchreibversehen, statt: Heranwachsenden. und der Kleinen Eine große Freude wird es mir sein, wenn wir uns diesen Sommer wiedersehenZu einem Wiedersehen Wedekinds mit seiner Mutter kam es erst im Oktober: „Fahrt nach Lenzburg. Mati erwartet mich am Bahnhof. Abend mit Mama und Mati.“ [Tb 6.10.1914] Wedekind blieb bis zum 11.10.1914. können, hoffentlich etwas länger als das letzte JahrWedekind hatte seine Mutter vom 12. bis 16.7.1913 in Lenzburg besucht. Tilly beginnt große schauspielerische Erfolge zu erndten. Als Delila hat sie in Berlin sehr gefallenTilly Wedekind spielte die Delila in Wedekinds „Simson“ anlässlich eines Gastspiels (mit Wedekind als Fürst Og von Basan) am Lessing-Theater in Berlin (Direktion: Victor Barnowsky) am 26. und 30.3.1914. Die Presse schätzte die Delila-Rolle von Tilly Wedekind mehrheitlich als Fehlbesetzung ein, da „deren liebliche Lustspielbegabung sich in die Teufeleien der Dirne Delila verstellen muß. Man merkt ihr an, wie sie sich gewaltsam auf den Kothurn hinaufschraubt, und es ist nicht immer kurzweilig, Zeuge dieser krampfhaften Bemühungen zu sein. Man glaubt ihr wohl den Einfluß der Schönheit, aber ganz und gar nicht die Virtuosität der Schamlosigkeit, auf die Wedekinds Delila in erster Linie eingestellt ist.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 147, 28.3.1914, Morgen-Ausgabe, S. 8] Noch deutlicher urteilte Fritz Engel: „Frau Wedekind gibt die Delila, und wenn man, wie immer, so auch jetzt bei dieser Darstellerin merkt, wie sie mit kleinen Mitteln um Großes ringt, wie sie eifert, sich widmet, sich auf die Fußspitzen reckt und in einer Sache aufgeht, die von vornherein verloren ist, so bezeugen wir diesem Opfermut allen Respekt, finden diese Frau sogar sehr reizend anzusehen, bitten aber zugleich, sich zu schonen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 43, Nr. 157, 27.3.1914, Morgen-Ausgabe, S. (2)] Positiver urteilte der „Vorwärts“: „Frau Tilli Wedekind, die man bisher nur aus kleinen Rollen in ihres Mannes Dramen kannte, gab diesmal Ueberraschendes. Im ersten Akte wurde der Eindruck durch das nicht genügend kräftige Organ beengt. Im zweiten aber und im dritten wuchs sie für mein Empfinden mit des Dichters Intentionen ganz und gar zusammen. Das kindlich Eigensinnige, die Sinnlichkeit, die Lüsternheit der Sensation, Hochmut, Laune, verschlagene Raubtiertücke, das schillerte in wechselnd bunten Lichtern durcheinander. Die schlanke, schmiegsame Gestalt, der weiche, von keinem Anhauch eines ernsteren Gedankens oder tieferen Gefühls getrübte Reiz des Antlitzes fügten sich dem Bilde in wunderbarer Weise ein. Man glaubte ihr die Macht, das Glück, den garusamen Zerstörungstrieb, in dem sie sich ergötzt.“ [Vorwärts, Jg. 31, Nr. 86, 28.3.1914, 1. Beilage, S. (1)]. | nachdem die Rolle vorher von Tilla DurieuxTilla Durieux spielte die Delila in der Uraufführung von „Simson“ am Berliner Lessing-Theater am 24.1.1914. Wedekind war nicht anwesend. Er war zwar am 11.1.1914 nach Berlin gefahren [vgl. Tb], um die Regie zu führen, dann aber am 21.1.1914 nach Kompetenzstreitigkeiten mit dem Theaterdirektor Victor Barnowsky wieder abgereist, da er kurzfristig die Rolle des Königs Og von Basan übernehmen sollte [vgl. Wedekind an Victor Barnowsky, 20.1.1914] – ein „Theaterskandal“ [KSA 7/II, S. 1331]. Während der Proben notierte er am 15.1.1914: „Die Durieux wird ungebärdig“. gespielt worden war. Vor vierzehn Tagen spielten wir wieder am Hoftheater in StuttgartAm 15.4.1914 reisten Tilly und Frank Wedekind nach Stuttgart für ein Gastspiel von „Der Erdgeist“ (18.4.), „Marquis von Keith“ (19.4.) und den Einaktern „Zensur“ und „Der Kammersänger“ (21.4.) am Königlichen Hoftheater., Tilly zum zweitenTilly Wedekinds erster Auftritt am Stuttgarter Hoftheater war am 6.5.1912 in „Der Erdgeist“ und am 9.5.1912 im „Marquis von Keith“., ich zum dritten MalFrank Wedekind war, neben den aktuellen und den genannten Aufführungen im Mai 1912, an dem zum Königlichen Hoftheater Stuttgart gehörigen Königlichen Wilhelma-Theater in Cannstatt am 6. und 8.3.1903 in zwei Vorstellungen von „Der Kammersänger“ in der Titelrolle zu sehen gewesen. Wedekinds Auftritt in „Hidalla“ in Stuttgart am 16.4.1905 fand hingegen am Residenztheater statt.. Der König hörte sich zum zweiten MalDemnach besuchte Wilhelm II. von Württemberg die Vorstellungen des „Marquis von Keith“ am 19.4.1914 und die von „Der Kammersänger“ am 21.4.1914. Zum ersten Mal hatte er an seinem Theater eine Vorstellung des „Marquis von Keith“ am 11.5.1912 besucht: „Der König wohnt der Vorstellung bis zum Schluß bei“ [Tb]. Folgt man Wedekind, hat der König auch eine der Aufführungen von „Der Kammersänger“ im März 1903 in Cannstatt (s. o.) besucht. den Kammersänger und den ganzen Marquis von Keith an. Nächsten Samstagam 9.5.1914. Die Premiere fand erst am 11.5.1914 statt (s. o.). sollen wir in Wien Simson spielen und dann wieder bei Reinhardt in Berlin einen ganzen ZyklusDer Wedekind-Zyklus an den Kammerspielen des Deutschen Theaters (Direktion: Max Reinhardt) begann mit der Erstaufführung von Wedekinds Neubearbeitung von „Franziska“ am 31.5.1914 („Franziska Uraufführung“ [Tb]) und dauerte bis zum 14.6.1914. Gegeben wurde der „Marquis von Keith“, „Der Kammersänger“, „Der Erdgeist“, „Oaha“, „Hidalla“ und „Der Stein der Weisen“.. Sehr hat es mich | gefreut, daß Du den Winter nicht allein zugebracht hast. Der junge Herr Doctorwahrscheinlich Armin Wilhelm Gottlieb Wedekind, der wie sein Vater Armin Wedekind, Medizin studierte und 1917 promovierte. war ja alles/r/ Voraussicht nach kein lästiger Hausgenosse. Ich denke mir, daß Du recht viel aus Deinen reichen Erfahrungen erzählt haben wirst. Nun leb wohl, liebe Mama. Laß es Dir recht recht gut gehen. Mit den herzlichsten Glückwünschen von Tilly den Kindern und mir Dein alter treuer
Sohn Frank


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct. Aargau Schweiz

Emilie Wedekind schrieb am 8. Mai 1914 in Lenzburg
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis und Zitat in Kutscher 3, S. 232:]


[...] sie [...] schrieb im Mai 14: „Du lieber Frank hattest am schwersten zu kämpfen, vielmehr du kämpfst immer noch schwer genug. Doch gerade du hast der Welt den Beweis erbracht, daß ein willensstarker Mensch sein Ziel auch dann erreicht, wenn er gegen Überlieferungen und festgelegte Grundsätze ankämpfend, all die konventionellen Hilfsmittel verschmähend, nur ganz allein auf die Kraft seines innersten Dranges gestützt, alle Zeit sich selbst getreu bleibt. Du hast dich und deine Sache tapfer durchgesetzt. Darüber bin ich glücklich und schreibe dir dieses heute (ihr Geburtstag), damit du dir sagen kannst, daß du dazu beigetragen hast, die Tage deiner alten, dich so innig liebenden Mutter zu verschönern.“

Frank Wedekind schrieb am 22. Mai 1914 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind

[Hinweis in Tilly Wedekinds Brief an Frank Wedekind vom 23.5.1914 aus München:]


Ich vergaß zu fragen, wo der Brief ist, den Du an Mama geschrieben hast? Ich kann ihn nicht finden. Vielleicht hast Du ihn mit, dann giebst Du ihn wohl direct auf.

Emilie Wedekind schrieb am 23. Juli 1914 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Armin Wedekind vom 3.8.1914 aus München:]


Ueber Mamas Befinden erhielt ich derweil auch Nachrichten von ihr selbst […]

Emilie Wedekind schrieb am 1. Januar 1915 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Emilie Wedekind vom 11.2.1915 aus München:]


Empfang den herzlichsten Dank für Deine lieben herzlichen Zeilen vom 10 Januar. Dein Brief war mir eine sehr große Freude während meiner Klinik Zeit. Kurze Zeit darauf wurde ich wieder nach Hause gebracht […] die herrliche Villa auf dem Dolder […], von der Du schreibst […] Was Du schreibst, von den zwei Zimmern […]

Frank Wedekind schrieb am 11. Februar 1915 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München, den 11. Februar 1915.


Meine liebe Mama!

Empfang den herzlichsten Dank für Deine lieben herzlichen Zeilen vom 10 Januarnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 1.1.1915. Bei Wedekinds Datierung des verschollenen Briefes handelte es sich dem Briefkontext zufolge wohl um ein Schreibversehen.. Dein Brief war mir eine sehr große Freude während meiner Klinik ZeitWedekind war vom 29.12.1914 bis zum 9.1.1915 in der Klinik von Dr. med. Friedrich Scanzoni von Lichtenfels, Spezialarzt für Chirurgie und Betreiber der Chirurgischen Privatheilanstalt (Werneckstraße 16) [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 590], wo er sich einer Blinddarmoperation unterzog: „Werde mit dem Sanitätswagen in die Klinik gebracht und operiert.“ [Tb 29.12.1914] . Kurze Zeit darauf wurde ich wieder nach Hause gebrachtAm 9.1.1915 notierte Wedekind im Tagebuch: „Mit dem Sanitätswagen nach Hause gebracht.“ und bin jetzt so weit, daß ich wieder ausgehen kann. Heute AbendWedekind notierte: „Abends mit Tilly in M. v. Keith Dann HTR mit Martens und Friedenthal“ [Tb 11.2.1915]. wollen Tilly und ich uns den Marquis von | Keith ansehen, der hier im HoftheaterFrank und Tilly Wedekind besuchten eine Aufführung des „Marquis von Keith“ (Beginn 19.30 Uhr) am Königlichen Residenztheater (Generalintendant: Clemens Freiherr von und zu Franckenstein) [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 75, 11.2.1915, Vorabendblatt, S. 3]. Vorangegangen war dem der Besuch einer Vorstellung durch Wedekind alleine am 4.2.1915: „Im Residenztheater in M. von Keith. Tilly begleitet mich hin und holt mich ab.“ [Tb] Die Premiere dieser Inszenierung unter der Regie von Albert Steinrück, der auch die Titelrolle spielte, fand am 16.1.1915 statt, wie Wedekind auch im Tagebuch vermerkte. Steinrück hatte im Vorfeld darüber mit Wedekind korrespondiert [vgl. Albert Steinrück an Wedekind, 10.1.1915]. gegeben wird. Mit großer Freude hörte ich von den angenehmen Tagen die Du in Zürich bei Deiner Nichtevermutlich eine der Töchter von Emilie Wedekinds Cousine Emilie Leemann-Kammerer (Klausstr. 11) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich, 1915, Teil I, S. 322], Emilie oder Helene Leemann, aus Zürich. Die dritte Tochter, Elisabeth Leemann, war mit Emil Spinner verheiratet (s. u.). verlebt hast. Ich erinnere mich noch sehr gut wie sie in den achtziger Jahren in ihrem großen Rembrandthut und schlankem Kleid bei uns auf dem Schloß war. Wenn sie jetzt die herrliche Villa auf dem Dolderder Westhang des Adlisbergs in Zürich-Hottingen. bewohnt, von der Du schreibst, dann haben sie und Frau Betty | SpinnerElisabeth Spinner (geb. Leemann), Ehefrau des Kaufmanns Emil Jacob Spinner (Bleicherweg 68) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich, 1915, Teil I, S. 519], eine Nichte von Emilie Wedekind [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 255]. ja ganz Zürich zwischen sich liegen.

Tilly war mir während meiner ganzen Krankheit eine liebe unermüdliche Pflegerin. Besonders seit der Operation, wo es sich jeden zweiten Tag darum handelte, einen frischen Verband anzulegenWedekinds Tagebuch zufolge nahm bis zum Schreibdatum des Briefes sein Arzt Friedrich Scanzoni am 11., 13., 15., 17., 19., 21., 23., 25., 27., 30.1.1915 sowie am 3., 5. und 9.2.1915 einen Verbandswechsel vor, am 7. und 11.2.1915 machte dies Tilly Wedekind., entfaltete sie eine Geschicklichkeit, die auch vom Arzt bewundert wurde. Ich lernte Tilly während der Krankheit von einer ganz neuen Seite kennen und lieben. Den Kindern geht es | unberufen sehr gut. Anna Pamela hat viel Freude an ihrer Schule. Sie liest schon so geläufig daß sie mir die Zeitung vorlesen kann. Abends liest mir Tilly regelmäßig aus Büchern vorTilly Wedekind las ihrem Mann seit Kriegsbeginn laut seinem Tagebuch aus folgenden Büchern vor: vom 9. bis 13.8.1914: „Bismarcks Briefe“ (1914 oder frühere Ausgabe); vom 18. bis 21.8.1914: „Napoleon I. nach den Memoiren seines Kammerdieners Constant“ (1904); vom 23.8. bis 16.9.1914: Peter Krapotkin: „Memoiren eines Revolutionärs“ (1900); vom 19. bis 23.9.1914: Vladimir Semenov: „Raßplata. Kriegstagebuch über die Blockade von Port Arthur und die Ausreise der Flotte unter Rojestwenski“ (1908); am 28. und 29.9.1914: „Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin“ (1900); am 30.9. und 3.10.1914: Joseph Vilbort: „Das Werk des Herrn v. Bismarck. 1863-1866. Sadowa und der siebentägige Krieg.“ (1870); am 20. und 22.10.1914: Moritz Busch: „Tagebuchblätter 2. Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich 1870-1871 bis zur Rückkehr nach Berlin Wilhelmstraße 76. Denkwürdigkeiten aus den Jahren 1871 bis 1880. Varzin, Schönhausen, Friedrichsruh“ (1902); vom 23.10 bis 9.11.1914: Heinrich von Sybel: „Die Gründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“ (1901); am 30.10.1914 eine nicht näher identifizierte Publikation von Paul von Hoensbroech, möglicherweise „14 Jahre Jesuit“ (1909) [vgl. Wedekind an Paul von Hoensbroech, 21.10.1910]; am 6.11.1914: Ferdinand Lasalle: „Meine Vertheidigungs-Rede wider die Anklage der Verleitung zum Cassetten-Diebstahl gehalten am 11. August 1848 vor dem Königlichen Assissenhofe zu Cöln und den Geschwornen“ (1848); am 7.11.1914: „Kaiser Friedrichs Tagebücher über die Kriege 1866 und 1870-1871 sowie über seine Reisen nach dem Morgenlande und nach Spanien“ (1902); vom 10. bis 30.11.1914 sowie am 21. und 24.1.1915: Heinrich Friedjung: „Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859-1866“ (1897/98); vom 11. bis 17.1.1915: Friedrich Hebbel: „Tagebücher“ (1913 oder frühere Ausgabe); am 19. und 20.1.1915 ein nicht näher identifiziertes Werk von oder zu „Velasquez“; vom 25.1. bis 10.2.1915: Georg Brandes: „William Shakespeare“ (1896)., die ich zu meiner ArbeitWedekind notierte am 21.9.1914: „Plane ein Bismarkdrama“ [Tb]. Die Mehrzahl der von Tilly Wedekind vorgelesenen Bücher (s. o.) stammte aus diesem Kontext, sie dienten Wedekind als Quellen [vgl. KSA 8, S. 697-711] zu seinem historischen Schauspiel „Bismarck“ (1916). Erstmals dokumentiert ist sein Interesse an dem Bismarckstoff durch die Notate: „Tilly liest mir ‚Emser Depesche‘ vor“ [Tb 4.8.1914] und „Tilly liest Bismarks Brief an seine Frau 1870. bei Sedan“ [Tb 6.8.1914]. brauche, oft sehr trockene langweilige Stoffe, die ich schwerlich allein so rasch bewältigen würde. Mati scheint ja aus Frankreich nicht zurückgekommen zu sein. Was Du schreibst, von den zwei Zimmern | die sie mit ihrem Manne bewohnt, klingt nicht sehr tröstlich. Ich hoffe, daß Du in ihrer Abwesenheit wohl jemand aus Zürich bei dir haben wirst. Der Übergang von der Villa auf dem Dolder ins Steinbrüchli war sicher nicht leicht aber allmählich gehen wir ja schon dem Frühling entgegen. Hier in München haben wir herrliche Sonnentage, an denen mir das Spazierengehen eine große Erquickung ist. |

Im Herbst war Armin auf seiner Durchreiseam 12.11.1914 notierte Wedekind: „Am Abend kommen Armin sen. und Eva von Zürich.“ Armin Wedekind war mit seiner Tochter auf dem Weg zu seiner Schwester Erika in Dresden. nach Dresden mit Eva bei uns. Zwei sehr schöne Tage haben wir mit ihnen verlebt Armin ist von einem beneidensf/w/ert fröhlichen Naturell, so daß ich begreife, daß seine Patienten gesund werden, wenn sie ihn nur sehen.

Ich hoffe, liebe Mama, daß auch Du Dich recht wohl und munter fühlst. An Unterhaltung | und Anregung kann es Dir in Lenzburg sicher weniger fehlen als irgendwo anders. Das dachte ich mir bei meinem letstenSchreibversehen, statt: letzten. Aufenthalt bei DirWedekind war vom 6. bis 11. und vom 13. bis 19.10.1914 zu Besuch bei seiner Mutter in Lenzburg [vgl. Tb]., für den ich Dir herzlich dankbar bin und an den ich viel zurückdenke. Auch die Kinder sprechen viel von Lenzburg und von der lieben Großmutter.

Alle besonnenen Leute sehnen hier das Ende des Krieges herbei | natürlich nur unter Bedingungen, die unseren Erfolgen gerecht werden. Heute Freitag Abend ist ein Vortrag HardensFrank und Tilly Wedekind besuchten den Vortrag am Freitag, den 12.2.1915: „Harden Vortrag mit Tilly Hotel Continental mit Fr. Pringsheim Bruck|manns. Mit Harden bis 3½ Uhr bei Bruckmanns“ [Tb]. Die Presse berichtete unter der Überschrift: „Kriegsvortrag von Maximilian Harden“: „Freitag abend hielt im großen Saal der Tonhalle Maximilian Harden vor einem zahlreichen Publikum einen Kriegsvortrag mit etwa folgendem Gedankengang: Wir haben es nicht nötig, uns jetzt vor irgend ein Tribunal zu stellen und mit Rechtstüfteleien uns abzugeben, wo eine Welt von ungefähr 700 Millionen über unser Volk von 68 Millionen hergefallen ist. / Aus welchem maßlosen, tollen Haß aber ist dies geschehen? Weil des Deutschen Reiches Leistungen seit seinem 44jährigen Bestehen stärker und wirksamer sind als die einer anderen Nation, deshalb steht eine Welt wider uns in Waffen, eine Welt, die sich völlig über die Kräfte des Deutschen Reiches getäuscht hat, geblendet von den Irrlichtern des Hasses. […] Sechs Monate schon währt der Krieg, und kein Ermatten ist bei uns eingetreten. Das ist viel, so viel, daß es schwer ist, dies heute in seiner ganzen Weihe zu empfinden. […] Nur das eine Vertrauen muß herrschen, daß dieses Reich, das solche Menschen hat, nicht vernichtet werden kann. […] Harden schloss mit dem Appell: Wir müssen so leben und handeln, daß wir den Müttern, die das Schwerste erleiden, ins Auge sehen können, und wir müssen schwören, daß der Ertrag dieses Krieges wirklich so sein wird, daß jede Mutter, die ihren liebsten Sohn hingegeben, es als Trost empfinden muß.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 81, 14.2.1915, Vorabendblatt, S. 4], den Tilly und ich besuchen wollen. Ich bin sehr gespannt ob er etwas neues zu sagen weiß.

Nun lebe wohl, liebe Mama, und laß es Dir recht gut gehen. Tilly, die Kinder und ich senden Dir die herzlichsten Wünsche

und Grüße.

In Liebe und Dankbarkeit
Dein treuer Sohn
Frank.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg (Aargau)
Schweiz |

Absender: Frank Wedekind
München, Prinzregentenstraße 50.

Frank Wedekind schrieb am 2. November 1915 in München folgenden Brief
an Emilie Wedekind

München den 2. November
1915


Liebe Mama!

Nachdem wir uns in München wieder eingewohntmöglicherweise fehlendes Trema, dann: eingewöhnt. haben, muß ich Dir endlich für die schönen TageFrank und Tilly Wedekind besuchten mit ihren Kindern vom 30.8. bis 30.9.1915 die Mutter in Lenzburg [vgl. Tb]. danken, die wir bei Dir verlebt haben. Das erste was es hier gab war ein Bankett zu Ehren Max Halbesam Vortag von Max Halbes 50. Geburtstag. Wedekind notierte am 3.10.1915: „Halbe-Banquet im Restaurant Schleich.“ [Tb] Die Presse berichtete: „Im Rokokosaal des Weinhauses Schleich versammelte sich Sonntag mittag eine erlesene Schar von Freunden und Verehrern Max Halbes, um den 50. Geburtstag des Dichters zu feiern. Die Vertreter des Münchner Schrifttums hatten sich fast vollständig zu diesem Fest eingefunden und man freute sich, unter ihnen auch den nun wieder völlig genesenen Frank Wedekind zu erblicken. Sonst sah man u. a. Max Bernstein, Bruno Frank, O. Falkenberg, L. Feuchtwanger, Katharina Godwin, K. Martens, A. de Nora, W. v. Oesteren. Die Münchner Theaterdirektoren hatten es sich nicht nehmen lassen, vollzählig zu erscheinen, ja selbst ihre Dramaturgen mitzubringen. Außerdem gewahrte man in der zahlreichen Versammlung die Professoren Soxhlet und Sieger, viele Vertreter der Münchner und der auswärtigen Presse, Repräsentanten der bildenden Kunst, wie Joseph Futterer und der sämtlichen Münchner Theater.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 509, 4.10.1915, Morgenblatt, S. 3] Am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) fand zu Ehren Max Halbes ein Zyklus mit seinen Stücken statt., bei dem es mir erspart blieb eine Rede zu halten. Seitdem gehen Tilly und ich häufig ins TheaterSeit ihrer Rückkehr nach München besuchten Tilly und Frank Wedekind dem Tagebuch zufolge gemeinsam Aufführungen von „Frühlings Erwachen“ am 1.10.1915 („Mit Tilly in Frlgs Erwachen in den Kammerspielen.“), von August Strindbergs „Rausch“ am 11.10.1915 in den Kammerspielen („Mit Tilly in Rausch von Strindberg.“), von Franz Dülbergs „Karinta von Orrelanden“ am 16.10.1915 („Mit Tilly im Residenztheater Dülberg Karinta von Orrelanden.“), von Gioachino Rossinis „Der Barbier von Sevilla“ am 21.10.1915 am Königlichen Hof- und Nationaltheater („Mit Tilly in Barbier von Sevilla.“) und von August Strindbergs „Gespenster-Sonate“ am 1.11.1915 in den Kammerspielen („Mit Tilly in Gespenster-Sonate“). und sahen unter anderem einen sehr schönen Barbier v. Sevilla. | Meine WundenAufgrund von Problemen mit der Wundheilung nach Wedekinds Blinddarmoperation am 29.12.1914 unterzog er sich am 15.4.1915 einer Nachoperation. Am 21.9.1915 bekam er einen Bauchgürtel verordnet, den er am 5.10.1915 ändern lässt. [vgl. Tb]. werden immer kleiner sind aber noch nicht ganz zugeheilt. Mit dem Hoftheater in Mannheim haben wir ein Gastspielam 22. und 24.1.1916. Gegeben wurden „König Nicolo“ mit Wedekind in der Titelrolle und „Erdgeist“ mit Tilly Wedekind als Lulu und Frank Wedekind als Dr. Schön. abgeschlossen. Mein Bismarck wird eben als BuchDie Buchausgabe von Wedekinds historischem Schauspiel „Bismarck“ wurde vom Georg Müller Verlag erstmals am 13.11.1915 angekündigt [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 82, Nr. 265, 13.11.1915, S. 6899], aber erst Ende Dezember ausgeliefert [vgl. Georg Müller an Wedekind, 27.12.1915]. Von April bis Dezember erschienen einzelne „Bilder“ des Stücks in der Zeitschrift „Der Neue Merkur“ [vgl. KSA 8, S. 683-691]. gedruckt. Sobald es erscheint, werde ich Dir ein Exemplar senden. Das Wetter ist andauernd prachtvoll, wir gehen daher in der herrlichen UmgegendIn Wedekinds Tagebuch sind mehrfach Spaziergänge nach Oberföhring dokumentiert, so am 9.10. („Spaziergang im Herzogspark“), 10.10. („Prachtvoller Spaziergang nach Oberföhring.“), 17.10. („Prachtvoller Spaziergang mit Tilly und den Kindern nach Oberföhring.“) und am 1.11.1915 („Spaziergang nach Oberföhring“). Die Isarauen und das Stauwehr im Stadtteil Oberföhring waren rund vier Kilometer von Wedekinds Wohnung entfernt. möglichst viel spazieren. Tilly und den Kindern geht es unberufen sehr gut und ich habe mich auch nicht zu beklagen. Sehr würde es uns | interessieren etwas neuesSchreibversehen, statt: etwas Neues. über Mati zu hören. Die Kinder sprechen zuweilen noch Schweizerdeutsch miteinander. Mir selber war der Lenzburger Aufenthalt ein ungetrübter Genuß. Wenn Du Herrn Gustav Henkell siehst, dann grüß ihn bitte herzlich von mir. Unser geselliges Leben hier ist sehr eingeschränkt aber für das wenige ist man umso dankbarer. Tilly hat mir abends wieder einige sehr schöne Bücher vorgelesenLaut Wedekinds Tagebuch las ihm Tilly Wedekind seit der Rückkehr aus Lenzburg aus folgenden Büchern vor: vom 2. bis 6.10.1915: Hans Bartsch: „Er. Ein Buch der Andacht“ (1915), vom 6. bis 11.10.1915: „Memoiren der Königlich Preußischen Prinzessin Friederike Sophie Wilhelmine Markgräfin von Bayreuth, Schwester Friedrichs des Großen“ (1908 oder frühere Auflage); am 15. und 17.10.1915: Molière: „Don Juan“ (1682); vom 18. bis 26.10.1915: Wilhelm Cahn: Im belagerten Paris: 1870/71. Tagebuchaufzeichnungen“ (1915); vom 27. bis 31.10.1915: Arthur Schnitzler: „Komödie der Worte“ (1915; enthält die Einakter: „Stunde des Erkennens, „Große Szene“ und „Das Bacchussfest“)., darunter ein Memoirenwerk aus Paris während | der Belagerung 70/71. Wenn Du Mangel an Lectüre hast so schickt es d/D/ir Tilly. Über das was uns am meisten interessiert, läßt sich nichts schreibenGemeint sind die Kriegsereignisse. Briefe ins Ausland durften im Deutschen Reich aufgrund der kriegsbedingten Postüberwachung mit Kriegsbeginn am 28.7.1914 nur unverschlossen verschickt werden, um Kontrollen zu ermöglichen., ich freue mich nur, daß Du froh sein wirst über den Lauf der Welt. Heute AbendAm Abend des 2.11.1915 besuchte Wedekind ein Konzert von Willy Burmester: „Burmester Konzert. American Bar mit Burmester Frau und zwei Töchtern, Adolf Paul“ [Tb]. Ob er in diesem Kontext mit Aage Madelung zusammentraf, ist ungewiss. bin ich mit dem Kriegskorrespondenten Aage MadelungDer dänische Schriftsteller Aage Madelung arbeitete als Kriegsberichterstatter in Ungarn und Galizien für das „Berliner Tageblatt“. Daneben hielt er Vorträge über seine Kriegserlebnisse, in München zuletzt am 23.10.1915 im Hotel Vier Jahreszeiten [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 546, 26.10.1915, Vorabendblatt, S. 4]. Bei S. Fischer in Berlin erschienen seine Bücher „Mein Kriegstagebuch“ (1915) und „Aus Ungarn und Galizien. Kriegsberichte“ (1916). zusammen, von dem Du sicher auch in den Basler Nachrichten gelesen hast. Tilly, die Kinder und ich senden Dir die herzlichsten Grüße und besten Wünsche für Dein Wohlergehen.

In treueSchreibversehen, statt: in Treue. und Dankbarkeit
Dein alter
Frank

Frank Wedekind schrieb am 28. Dezember 1915 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Emilie Wedekind

[Hinweis in Artur Kutscher 3, S. 232:]


Als Frank ihr zu Weihnachten 15 die Bitte um ÜbersendungHinweis auf das hier erschlossene Begleitschreiben zu der Büchersendung. des BismarckWedekinds historisches Schauspiel „Bismarck“ wurde vom Georg Müller Verlag erstmals am 13.11.1915 angekündigt [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 82, Nr. 265, 13.11.1915, S.6899], aber erst Ende Dezember ausgeliefert. Wedekind hatte seiner Mutter ein Exemplar zugesagt [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 2.11.1915]. erfüllt hatte […]

Emilie Wedekind schrieb am 31. Dezember 1915 in Lenzburg
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis und Zitat in Kutscher 3, S. 232:]


Als Frank ihr zu Weihnachten 15 die Bitte um Übersendung des Bismarck erfüllte, las sie das Werk ohne Unterbrechung, „was natürlich bis in den Morgen hinein ging, und war dermaßen im Banne des großen Mannes, der von Dir wie aus Granit gehauen dasteht, daß ich zwei Tage lang nichts anderes dachte als Bismarck, mein Sohn Frank und die große Zeit des Beginnes der Einigung Deutschlands“. Das war ihr letzter Brief.