Briefwechsel

von Hans Kaeslin und Frank Wedekind

Frank Wedekind schrieb am 2. Februar 1895 in Berlin folgenden Brief
an Hans Kaeslin

Berlin 2. Febr. 95.

Schumannstraße 9.


Lieber Herr KaeslinDr. phil. Hans Kaeslin, Lehrer, Übersetzer, Schriftsteller aus Aarau, den Wedekind in jungen Jahren in Lenzburg kennengelernt (sein Vater war dort Musikdirektor) und ihn in Paris wiedergetroffen hatte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 224f.]. Er erinnerte sich: „Der interessanteste Mensch, mit dem ich in Paris zu verkehren Gelegenheit hatte, war Frank Wedekind, den ich früher nur flüchtigerweise gekannt hatte. [...] zeitweise zu Mitteln gekommen, hatte er sich nach Paris gewandt, dessen Atmosphäre ihm besonders zusagte. Als ich ihn dort traf, lebte er, nachdem er seinen Mammon losgeworden war, in übeln Umständen in einem der kleinen Studentenhôtels im Quartier latin.“ [Kaeslin 1940, S. 73],

wenn Sie wüßten wie ich Sie beneide, würden Sie mir auch verzeihen, daß ich Ihnen so lange nicht geschrieben. Ich kam gewiß ohne VorurtheileFrank Wedekind dürfte dann aber in Berlin mit den Urteilen seines Bruders Donald über die Stadt konfrontiert gewesen sein; dieser hielt Berlin für „das Non plus ultra von einer unangenehmen Stadt, ungefähr mit New York auf eine Stufe zu stellen was Ungemütlichkeit des öffentlichen Lebens anbetrifft, die Menschen aber sind unvergleichlich roh und tragen sämmtlich einen unverkennbaren Stallknechtsduft mit sich herum. Der ist nun nicht eingewurzelt, sondern nur äußerlich aber er verbirgt so ungeheuer die gute Natur des Schlages, daß man es aufgiebt darnach zu suchen.“ [Donald Wedekind an Emilie Wedekind, 13.12.1894. Aa, Wedekind-Archiv A II Donald Wedekind, b Autographen] nach BerlinWedekind, der davor lange in Paris und zwischenzeitlich in London war, traf am 20.1.1895 in Berlin ein [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 169]., aber so gräulich hätte ich es mir mit dem schlechtesten Willen nicht A/a/usmalen können. Ich hungere und dürste nach Schönheit, daß ich Berlin noch nicht deflorirt brauch ich Ihnen kaum zu sagen. Ich begreife wie hier die Männer zu PäderastenHomosexuelle mit besonders auf männliche Kinder und Jugendliche gerichtetem Sexualempfinden – von „Päderastie (griech., ‚Knabenliebe‘), auf geistigem und sinnlichem Wohlgefallen beruhende Zuneigung älterer Personen männlichen Geschlechts zu Knaben und Jünglingen und der daraus entstandene innige Verkehr zwischen beiden; dann Knabenschänderei, unnatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes [...] bei Männern am eignen Geschlecht durch Mißbrauch eines jugendlichen Körpers.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 5. Aufl. Bd. 13. Leipzig und Wien 1896, S. 406] werden. Ich hatte | mich schon gefreut, meinen Freund DautendeyWedekind hatte Max Dauthendey „zum letzten Mal in London gesehen“ [Wedekind an Beate Heine, 12.3.1899]. durch den er dort „die Bekanntschaft der neuen deutschen symbolistischen Literatur“ [Wedekind an Ferdinand Hardekopf, 28.4.1901] gemacht hatte. wieder zu finden. Aber er ist vor zwei Monaten nach Kopenhagen gereist. Nachdem ich hier die ersten vierzehn Tage aus dem Alcohol nicht herauskam und nur zwei Mal die Woche schlafen ging führe ich jetzt ein zurückgezogenes Leben, ganz meiner Arbeit gewidmet, die so Gott will in den nächsten 14 Tagen fertig wirdWedekind arbeitete an dem „wahrscheinlich vorläufigen – Abschluß“ [KSA 3/II, S. 834] seiner Tragödie „Der Erdgeist“ (1895), deren endgültiger Titel noch nicht feststand.. Ich habe sie hier Hartleben, Halbe, Bierbaum vorgetragenWedekind hatte „in der Berliner Wohnung Hartlebens, um Unterstützung für eine Aufführung des ‚Erdgeist‘ zu erreichen, seine Tragödie einem engeren Kreis naturalistischer Schriftsteller vorgelesen“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 178], namentlich Otto Erich Hartleben, Max Halbe und Otto Julius Bierbaum. und fand großen Beifall, wenn auch nicht gerade mit den Partien, die mir die werthvollsten schienen. Über den Unterschied der künstlerischen | Ansprüche in Paris und Berlin könnteSchreibversehen, statt: könnte ich. nun schon ein dickes Buch schreiben. Die Welt ist sicher davor. Ich fühle mich weniger als je zum Theoretisiren aufgelegt. Die ersten zehn Tage lebte ich hier mit meinem BruderDonald Wedekinds Adresse in Berlin war Belle-Alliance-Straße 98 (2. Stock rechts) [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 3.1.1895]; er wohnte in Untermiete bei der Kaufmannswitwe H. Bölter (geb. Borrmann) [vgl. Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1895, Teil I, S. 123]. Die Wohnung seines Bruders dürfte Frank Wedekinds Anlaufstelle bei seiner Ankunft in Berlin gewesen sein. Donald zusammen. Dann bekamm er plötzlich wieder einen Anfall von Verrücktheit und reiste Hals über Kopf nach Wien. Seither bin ich mehr Herr meiner Zeit. Aber wo in aller Welt soll ich hier die Stimmung hernehmen aus der heraus ich in Paris gearbeitet. Wo man hinsieht, rechts und links, hinten und vorn, im Theater und im Café, in den Nachtspelunken und in den Philharmonie Concerten nichts als langweilige rohe geistesbarebar jeden Geistes, geistlose. | Physiognomien. In LondonWedekind reiste am 23.1.1894 von Paris ab nach London [vgl. Tb], blieb dort bis Mitte Juni und kehrte dann nach Paris zurück. war ich tiefunglücklich. Aber welch reine himmlische Welt ist London gegen Berlin. Lange werde ich es in dieser Atmosphäre von Gewöhnlichkeit und Albernheit jedenfalls nicht aushalten. Da geh ich schon lieber nach München wo das Volk wenigstens eigenartig genug ist um auch natürlich sein zu können. Wie manche Nacht habe ich schon vom Café D’Harcourtdas Café d’Harcourt (Boulevard Saint-Michel 47) im Quartier Latin in Paris (5. Arrondissement); Wedekind hat es dem Pariser Tagebuch zufolge oft besucht. geträumt. Wenn Sie RachelWedekind lernte am 5.6.1892 im Bal Bullier in Paris Rachel Decoulange, „eine Pariser Kokotte, kennen. Die Beziehung mit ihr hielt er bis zu seiner Abreise [...] nach London aufrecht. Er schildert im Tagebuch ausführlich ihre soziale Herkunft und ihren Lebenswandel; Treffpunkt für gemeinsame Unternehmungen war meist das Café d’Harcourt“ [KSA 5/III, S. 654]. Wedekind hat dann später in seiner Ballade „Pharo“ (1915) an die „Einstgeliebte“ [KSA 1/II, S. 697] gedacht [vgl. KSA 1/II, S. 1962], wie seine Notiz vom 6.11.1915 nahelegt: „Ich erzähle Friedenthal die letzte Nacht bei Rachel Decoulange und beginne zu Hause das Gedicht Pharo“ [Tb]. sehen, bitte grüßen Sie sie von mir. Sie wird nicht darüber spotten. Sie ist eine von den wenigen Frauen, die mich wirklich geliebt haben. Ich bin ihr übrigens auch noch 25 frs. schuldig. Aber sie hat dafür mein | Bild und die Erinnerung an manche schöne Stunde. Haben Sie Baron KainachFriedrich von Khaynach, Maler und Schriftsteller, mit dem Wedekind in Paris verkehrte [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 9.6.1893], der dann nach Rom ging [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 15.2.1894], zwischenzeitlich in Zürich war [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 8.8.1894] und wieder nach Paris zurückzukehren überlegte [vgl. Wedekind an Otto Erich Hartleben, 15.9.1894]. wieder gesehen? Ich habe ihm auch noch nicht geschrieben und fürchte sehr daß ihn mein Brief jetzt nicht mehr in seiner früheren Wohnung findet, da er sich im Quartier so gut gefiel. Waren Sie vielleicht mal mit ihm bei Barattedas Baratte (Rue du Montparnasse 52), eine Kneipe im Quartier de Montparnasse in Paris (14. Arrondissement), in dem es musikalische Darbietungen gab und die genannte Raimonde (siehe unten) verkehrte; Wedekind hat am 6.9.1893 in Paris notiert: „Ich gehe also zu Barat, finde meinen früheren Platz am Fenster unbesetzt und betrachte mir das Publicum. [...] Der Mandolinenspieler ist durch einen dicken Violinisten ersetzt. Der Guitarrenspieler ist gleichfalls neu. Nur der Bariton mit der großen Nase ist noch der nämliche. Von Reimonde keine Spur. Ich höre mir einige Italienische Arien an und lege mich gegen vier Uhr schlafen.“ [Tb]. Ich habe ihn dort mit Raimonde Made/und/ LuciennePariser Kokotten, die im Pariser Tagebuch erwähnt sind (oft vor allem Raimonde). So notierte Wedekind am 23.1.1894 über Gaston Feer, der ihn zu seiner Abreise von Paris nach London an den Bahnhof begleitet hat: „Auf dem Bahnhofe empfehle ich ihm Alice, Rachel, Germaine, Marie Louise, Raimonde, Madeleine, Lucienne und mein Christkindchen, er möge mich bei ihnen ersetzen.“ [Tb] bekannt gemacht. Vielleicht hat sich was daraus entwickelt.

Und wie geht es Ihnen, Herr Käslin? Ich werde Ihnen nie vergessen ein wie lieber Freund Sie mir in der letzten Zeit meines Pariser Aufenthaltes waren. Ich würde mich unendlich freuen, wenn Sie mich mit Ihrer ProductionHans Kaeslin hat Gedichte geschrieben. | auf dem Laufenden halten wollten. Versprechungen kann ich Ihnen nicht machen. Es ist mir selber noch nicht gelungen, in Berlin auch nur ein einziges Gedicht anzubringen. Die freie Bühne ist nicht mehr was sie warDie Zeitschrift „Freie Bühne“ im S. Fischer Verlag in Berlin, 1890 als „Freie Bühne für modernes Leben“ (1. und 2. Jahrgang) von Otto Brahm gegründet, ein Forum für die naturalistischen Bestrebungen des Vereins Freie Bühne in Berlin, firmierte dann als „Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit“ (3. und 4. Jahrgang) und 1894 mit Beginn des 5. Jahrgangs als „Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne)“ (ab 1904: „Die neue Rundschau“); sie hatte nicht mehr ihre programmatische Bedeutung für die frühe Moderne. Wedekind hat in der „Freien Bühne“ nichts veröffentlicht. und in anderen Zeitschriften ohne Honorar gedruckt zu werden hat nicht viel Verlockendes.

Gehen Sie öfter zu Frau HerweghEmma Herwegh, die „Witwe des Revolutionsdichters Georg Herwegh“, die seit „1877 wieder in Paris“ lebte, wo Wedekind sie „im Februar 1893 [...] kennen gelernt“ [Vinçon 2014, S. 97] hatte, „wurde seine Vertraute.“ [Hay 1986, S. 351] Er hatte in Paris enge Kontakte mit ihr [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 25.2.1893] und stand mit ihr „im engsten Verkehr“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 8.5.1893].? Bitte schreiben Sie mir, wie es ihr geht. Ich habe von der EmpfehlungEmma Herwegh dürfte Wedekind noch in Paris für einen Besuch bei Otto Brahm, Direktor des Deutschen Theaters in Berlin, eine Empfehlung geschrieben haben [vgl. Wedekind an Otto Brahm, 17.8.1895]. die sie so freundlich war mir zu geben noch keinen Gebrauch gemacht. Aber ich habe auch Gerhard Hauptmann, Henry Mackay | und viele andere noch nicht aufgesucht, die ich sicher aufsuchen werde und die ich mir nur noch etwas aufgespart. Meinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Emma Herwegh, 20.1.1895. wird Frau Herwegh erhalten haben. Ich bin nicht ungeduldig, habe auch kein Recht dazu. Wenn Sie mir nur schreiben wollen, ob sie nicht etwa leidend ist. Ich werde ihr in wenigen Tagen sobald ich den Besuch gemacht ohnehin wieder schreiben. Wollen Sie ihr bitte meine herzlichste Empfehlung ausrichten.

Und nun leben Sie wohl, lieber Herr Käslin. Seien Sie glücklich, in Paris zu sein, wo Einen die Natur so mit Genüssen verwöhnt daß man sich nirgends anders mehr glücklich fühlt. Hoffentlich | sehen wir uns balder wieder als für den Augenblick ge vorauszusehen, vielleicht nächsten Sommer in der Schweiz.

Mit den herzlichsten Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.

Hans Kaeslin schrieb am 5. Februar 1895 in Paris folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Hans Kaeslin vom 6.8.1895 aus Lenzburg:]


Ich hoffe Sie werden es mir [...] nicht zu schwer anrechnen, daß ich Ihre freundlichen Cartendie hier erschlossene Postkarte und mindestens eine weitere nicht überlieferte Postkarte. nicht regelmäßig beantwortet [...]

Frank Wedekind schrieb am 6. August 1895 in Lenzburg folgenden Brief
an Hans Kaeslin

Lenzburg 6.8.95.


Lieber Herr Doctor,

seit zwei Tagen bin ich hier. Gestern war ich in Aarau in Geschäften und erfahre durch Zufall, daß Sie dort sind. Es war aber schon zu spät um Sie noch aufzusuchen. Ich bin hier mit der Correktur des Stückes beschäftigt, das ich in Paris schrieb und das ich jetzt glücklich, um ein sehr geringes Honorar an LangenWedekind hatte dem Verleger das Manuskript knapp vier Wochen zuvor in Leipzig übergeben [vgl. Wedekind an Albert Langen, Albert Langen Verlag, 10.7.1895]. „Der Erdgeist. Eine Tragödie“ (1895) erschien im Verlag von Albert Langen noch mit der Verlagsadresse „Paris und Leipzig. (Paris 112, Bd Malesherbes)“ [KSA 3/II, S. 858] „Ende September 1895“ [KSA 3/II, S. 835]; das Buch war bald darauf als erschienen verzeichnet [vgl. Wöchentliches Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels, Nr. 41, 10.10.1895, Sparte 17]. in Leipzig verkauft. Es würden | mich sehr freuen Sie wiederzusehen. Vielleicht kommen Sie hierher. Wenn es nicht möglich ist, würde ich nach Aarau kommen. Ich hoffe Sie werden es mir bei meinem verhetzten Lebenslauf nicht zu schwer anrechnen, daß ich Ihre freundlichen Cartennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Kaeslin an Wedekind, 5.2.1895 (und mindestens eine weitere nicht überlieferte Postkarte). nicht regelmäßig beantwortet und daß ich auch im übrigen meinen Verpflichtungen noch nicht nachgekommen. Da sich meine Situation noch um nichts geändert hat bitte ich Sie noch etwas Geduld mit mir zu haben, d.h. wenn das Sie selber nicht in Verlegenheit bringt. Es ist | mir damals schon schwer genug auf die Seele gefallen, Ihnen thatsächlich VerlegenheitenHans Kaeslin hat Wedekind vermutlich Geld geliehen, das noch nicht zurückgezahlt war, wodurch er selbst einen finanziellen Engpass hatte. bereitet zu haben. Meine ganze Hoffnung ist jetzt das Stück das in wenigen Wochen erscheinen wird. Ich verhehle mir nicht wie schwach die Hoffnung ist. Für den Winter bereite ich mir hier RecitationsvorträgeWedekind trat im Herbst 1895 in Zürich und wohl auch andernorts unter dem Pseudonym Cornelius Mine-Haha als Ibsen-Rezitator auf [vgl. Wedekind an Ferdinand Hardekopf, 28.4.1901]. vor. Habe ich indessen nur einen geringen Erfolg, so wird Langen dann auch meine übrigen Sachen drucken, und dann ist mein Name wenigstens gerettet. Ich bedaure sehr Sie nicht mit meiner Schwester bekannt machen zu können. Ich habe sie nur einen | halben Tagwohl am 24.7.1895 [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 2.8.1895]. in ZürichWedekind war, bevor er am 4.8.1895 nach Lenzburg ging, etwa drei Wochen in Zürich gewesen. gesehen. Hierin Lenzburg. Erika Wedekind trat am 7.7.1895 als Solistin in der vom Musikverein Lenzburg veranstalteten Aufführung von Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ in Lenzburg auf [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 116, Nr. 175, 26.6.1895, 1. Abendblatt, S. (4)], wie angekündigt war: „Fräulein Erica Wedekind, k. Hofopernsängerin in Dresden, hat für die am Sonntag [...] in Lenzburg stattfindende Aufführung der Schöpfung von Haydn ihre hervorragende Mitwirkung zugesagt.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 116, Nr. 172, 23.6.1895, Morgenblatt, S. (3)] Ihr Auftritt wurde begeistert rezensiert [vgl. Die Aufführung der Haydn’schen Schöpfung in Lenzburg mit Frl. Erica Wedekind. In: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 116, Nr. 188, 9.7.1895, 2. Abendblatt, S. (1)]. Sie blieb danach offenbar gut drei Wochen in Lenzburg, reiste aber ab, bevor ihr Bruder am 4.8.1895 in Lenzburg eintraf. habe ich sie nicht mehr getroffen.

Bitte schreiben Sie mir, wo und wann wir uns treffen können. Wenn Sie hierherkommen würde sich jedenfalls auch meine Mutter sehr freuen, Sie kennen zu lernen. Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich Ihr ErgebenerSchreibversehen, statt: ergebener.
Frank Wedekind.

Frank Wedekind schrieb am 12. Juni 1899 in Leipzig
an Hans Kaeslin

1. Hinweis und Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 576 (1966), Nr. 315:]


WEDEKIND, Frank [...] (Leipzig Juni 1899). […]

Aus der seiner Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung vorangehenden Untersuchungshaft, an „Lieber FreundHans Kaeslin, der sich erinnerte: „Als ich nach drei Jahren nochmals nach Paris kam, war Wedekind wieder da: er hatte wegen eines Spottgedichts auf Wilhelm II. eines Abends von der Münchner Bühne weg, wo er beschäftigt war, [...] in die Schweiz flüchten müssen, um der Verhaftung zu entgehen. Er war gewarnt worden. Er sagte, es sei eine grosse Dummheit von ihm gewesen, sich dem auszusetzen in einem Zeitpunkte, da er sich durchzuringen im Begriffe stand. So beschloss er denn auch, sich den deutschen Behörden zu stellen. Ich verbrachte die Nacht bevor er abreiste, mit ihm; wir wanderten durch Gassen und Anlagen und landeten gegen vier Uhr im Café ‚au chien qui fume‘ bei den Markthallen [...]. Abends begleitete ich ihn zur Bahn: die mir hinterlassene Adresse war die einer ‚Gefangenenanstalt‘ bei Dresden.“ [Kaeslin 1940, S. 74] Gemeint war das Gefängnis in Leipzig (die Gefangenanstalt).“.

„... Der Entzug der FreiheitWedekind hatte seine Untersuchungshaft in Leipzig am 2.6.1899 angetreten, nachdem er sich der Polizei gestellt hat, wie die Presse meldete: „Leipzig, 2. Juni. Der s.Z. in die ‚Simplicissimus‘-Affäre verwickelte, wegen Majestätsbeleidigung verfolgte und flüchtig gewordene Franklin Wedekind hat sich heute Abend, direct aus Paris kommend, der hiesigen Polizeibehörde freiwillig gestellt.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 277, 3.6.1899, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4365] ist mir leichter zu ertragen, als ich vorausgesetzt ... Grüßen Sie bitte Frau HerweghEmma Herwegh war mit Hans Kaeslin bekannt [vgl. Emma Herwegh an Wedekind, 28.5.1899], den sie in Paris über Wedekind kennengelernt hatte, wie Hans Kaeslin sich an 1894 (sich im Jahr irrend) erinnerte: „Von Wedekind wurde ich im Jahr 95 bei Frau Emma Herwegh, der hochbetagten Gattin des revolutionären Dichters aus den vierziger Jahren des Jahrhunderts, eingeführt.“ [Kaeslin 1940, S. 75] [...] aufs allerherzlichste von mir. Ich werde ihr gerne schreiben, aber ... ich habe nichts zu schreiben. Wenn ich zurückdenke an den Morgen au chien qui fumeWedekind erinnert sich an das Lokal Au chien qui fume (es hatte, seinen Namen illustrierend, einen Hund mit Tabakspfeife auf dem Schild) in Paris (Rue du Pont-Neuf 33), das er in seiner letzten Nacht in Paris mit Hans Kaeslin besucht hatte (siehe oben); frühere Besuche dort sind im Pariser Tagebuch notiert am 8.5.1892 („supiren gegen Morgen im Café du chien qui fume bei den Hallen“), am 9.5.1892 („im Chien qui fume bis 2 Uhr morgens“), am 20.6.1892 („soupire au Chien qui fume und gehe gegen vier nach Hause“) am 8.7.1892 („au Chien qui fume“), am 10.9.1893 („wir wollten noch au chien qui fume gehen [...]. Wir gehen also im ersten Sonnenblick des Tages [...] au chien qui fume, wo ich [...] eine Portion Austern und eine Flasche kräftigen Wein bestelle. Wir sitzen am Fenster im ersten Stock und haben das dichte Marktgewühl der Hallen vor Augen“), Eindrücke, die Wedekind in der Erzählung „Bei den Hallen“ (1897) verarbeitete, mit Erwähnung des Lokals: „[...] wir wollten noch au Chien qui fume gehen. [...] So pilgern wir im ersten Sonnenblick des Tages [...] au Chien qui fume, klettern die Wendeltreppe zum Salon hinauf, setzen uns ans Fenster und haben das dichte Marktgewühl der Hallen unter unsern Augen.“ [KSA 5/I, S. 252], welch ein Contrast. Indessen meine Zelle hier ist alles andere als unfreundlich ... Wenn Sie Frida sehenFrida Strindberg hielt sich in Paris auf [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 22.5.1899]., dann sagen Sie ihr nicht, daß Sie Nachricht haben, sonst wird sie eifersüchtig auf Sie und ich muß es ausbaden ... die Freiheit ist doch das Schönste und ich sage heute nicht wie vor einem Jahr in meiner Stellung am Münchner SchauspielhausWedekind war vor seiner Flucht am 30.10.1898 aus München infolge der drohenden Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) als Dramaturg und Sekretär [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443] sowie als Schauspieler [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898] tätig gewesen ‒ offiziell seit dem 2.9.1898 (Beginn der neuen Spielzeit), nach dem am 22.8.1898 mit Georg Stollberg geschlossenen Vertrag [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.8.1898]. Die Münchner Presse meldete zur Eröffnung des Hauses am 7.9.1898 unter neuer Leitung, der neue Direktor Georg Stollberg habe „als Dramaturgen den Schriftsteller Frank Wedekind gewonnen.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 101, Nr. 243, 3.9.1898, S. 6: Pourvu que ça doure!(frz.) Wenn’s nur so bleibt! – Zum geflügelten Wort gewordener Ausspruch von Napoleon Bonapartes Mutter Letizia Bonaparte angesichts der Siege ihres Sohnes, eigentlich: „Pourvu que cela doure!“ [Hippolyte Larrey: Madame Mère. Bd. 2. Paris 1892, S. 2]; auch Napoleon selbst zugeschrieben: „Ich wünsche dem Herrn Abgeordneten Glück zu der Geschicklichkeit, aber ich möchte ihm als Warnung zurufen, was der französische Dachdecker im Fallen sagte: Ça va bien, pourvu que ça doure. (Heiterkeit.)“ [Fürst Bismarcks Reden. Bd. 5. Leipzig 1895, S. 264]


[2. Referat im Gedächtnisprotokoll (EFFW):]


Brief Wedekinds an Hans Käslin. Leipzig (Untersuchungshaft, Leipzig), o.D. [Juni 1899]. [...]

‒ Wedekind berichtet von einem BesuchCarl Heine hat Wedekind Anfang Juni 1899 in der Untersuchungshaft in Leipzig besucht [vgl. Wedekind an Richard Weinhöppel, 27.7.1899]. Carl Heines in Leipzig; Heine habe Aussichten auf die Direktion des Burgtheaters;

‒ er berichtet, daß die Untersuchungshaft auf das Strafmaß angerechnetWedekind wurde am 3.8.1899 von der Strafkammer des Königlichen Landgerichts in Leipzig wegen Majestätsbeleidigung in den „Simplicissimus“-Gedichten „Im heiligen Land“ (1898) und „Meerfahrt“ (1898) zu einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten verurteilt; davon abgezogen wurde ein Monat Untersuchungshaft; er wurde dann zu Festungshaft begnadigt, die er am 21.9.1899 auf der Festung Königstein antrat und am 3.2.1900 entlassen wurde [vgl. KSA 1/II, S. 1710]. werden wird;

‒ er bittet, das „Buch“ an Carl Heine zu schickenHans Kaeslin in Paris schickte das von Wedekind dort zurückgelassene Manuskript „Ein gefallener Teufel“ (die Urfassung des „Marquis von Keith“, in der ersten Konzeption unter dem Titel „Ein Genußmensch“) an Carl Heine nach Hamburg [vgl. KSA 4, S. 413], wo dieser es erst nach seiner Rückkehr aus Berlin am 23.6.1899 vorfand [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.6.1899].; als Titel nennt er den (oder die) „Genussmenschen“;

‒ er erinnert an den letzten Abend in Paris in „le chien qui fume“;

‒ er bittet, Grüße an Emma Herwegh auszurichten;

‒ er erwähnt, Frida Strindberg müsse sich noch in Paris aufhalten.

[...] Wedekind [...] erwähnt, er fühle sich trotz der Mauern, die ihn umgeben, innerlich frei [...]

Frank Wedekind schrieb am 16. Juni 1913 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Hans Kaeslin

[Hinweis in Hans Kaeslins Brief an Wedekind vom 3.7.1913 aus Aarau:]


Vor etwa drei Wochen hat mir Ihr Münchner Verleger auf Ihre Veranlassung hin die ersten vier Bände der im Erscheinen begriffenen Gesammt-Ausgabe Ihrer Werke zugesandt, ein Geschenk, des durch die von Ihrer Hand eingetragenen Widmung für mich einen besonderen Wert erhält.

Hans Kaeslin schrieb am 3. Juli 1913 - 4. August 1913 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

Aarau, den 3ten Juli 1913.
und den 4ten August.


Sehr geehrter Freund!

Vor etwa drei Wochen hat mir Ihr Münchner Verleger auf Ihre Veranlassung hin die ersten vier BändeDie dann neunbändige Ausgabe „Frank Wedekind. Gesammelte Werke“ erschien seit dem Vorjahr im Georg Müller Verlag (München und Leipzig). Band 1 (1912) enthält die Gedichtsammlung „Die vier Jahreszeiten“, das Versdrama „Der Stein der Weisen“, die Erzählsammlung „Feuerwerk“ und das Romanfragment „Mine-Haha“, Band 2 (1912) die Dramen „Die junge Welt“, „Frühlings Erwachen“ und „Fritz Schwigerling (Der Liebestrank)“, Band 3 (1913) „Erdgeist“, „Die Büchse der Pandora“ und „Der Kammersänger“, Band 4 (1913) „Der Marquis von Keith“, „König Nicolo oder So ist das Leben“ und „Karl Hetmann, der Zwergriese (Hidalla)“. der im Erscheinen begriffenen Gesammt-Ausgabe Ihrer Werke zugesandt, ein Geschenk, des durch die von Ihrer Hand eingetragenen Widmungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Hans Kaeslin, 16.6.1913. für mich einen besonderen Wert erhält. Ich hielt es nicht für angebracht, mich auf der Stelle an den Schreibtisch zu setzen und Ihnen mit den üblichen paar Zeilen zu danken. Die schmucken Bände reizten mich vielmehr dazu, bevor ich mich bedankte, wieder einmal die Zeugnisse Ihres Denkens und Schaffens genau zu durchgehen, Ihre Gedichte und Dramen, soweit sie hier vereinigt sind, nochmals zu lesen. Das habe ich nun getan, mit un|erkaltendem Interesse, und nun möchte ich ‒ ja nicht etwa eine Kritik schreiben, aber Ihnen doch einige Gedanken mitteilen, die mir bei der Lektüre aufgestiegen sind.

Wenn ich recht urteile, so liegt Ihre Bedeutung mit in erster Linie darin, daß Sie mit einem Witz, der auch vor dem Cynismus nicht zurückschreckt, wieder einmal die Dessousvon (frz.) dessous (= darunter): Unterwäsche. des Lebens aufgedeckt haben, das Mycelium(lat.) Pilz.Mühlbergschen AngedenkensAnspielung auf Friedrich Christoph Mühlberg, von 1866 bis 1911 Lehrer für Naturgeschichte an der Kantonsschule Aarau, ein Lehrer Wedekinds. Bei der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft war vor Jahrzehnten diskutiert worden, dass „die Vegetations-Verhältnisse für den Pilz günstiger werden, wenn einmal die Gonidien mit Mycelium umsponnen seien“ ‒ mit einem Diskussionsbeitrag von „Herr Prof. Mühlberg“ [Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft. Jahresbericht 1867. Aarau (1868), S. 90]; er war Präsident der Aargauischen Naturforschenden Gesellschaft und hat in deren Versammlungsjahr 1867/68 in Aarau einen thematisch einschlägigen Vortrag gehalten: „Herr Professor Mühlberg: Der Cholera-Pilz“ [ebd., S. 243]. ‒ auf dem der Pilz wächst, bloßgelegt und insbesondere auch wieder gezeigt zu haben, was in einem und demselben Menschen an Trieben und Leidenschaften und Gedanken und moralischen ‒ das Wort im weitesten Sinn genommen ‒ Vorstellungen und Werten nebeneinander leben kann, ohne daß das Gefüge der Persönlichkeit gesprengt würde. Es ist auffallend, wie Sie in allen Lebensäußerungen doch immer Wedekind | bleiben. Diese Einzigartigkeit Ihres Wesens stellt sich überall in unverkennbarer Weise dar; sie liegt zu Tage ebensowohl im Marquis v. Keith, wo der Dialog meines Erachtens noch nicht zu voller Lebenswahrheit gediehen ist, wie in der Büchse der Pandora, aus der das Leben, ich möchte sagen das „geschundene“ Leben sozusagen herausschreit. Dabei glauben Sie nicht, daß ich über dieser Lebenswahrheit die eminente künstlerische Arbeit übersehe: z.B. Schluß des Erdgeists, wie SchönDr. Schön, männliche Hauptfigur im „Erdgeist“ und „Chefredakteur“ [KSA 3/I, S. 402], Lulus letzter Gatte, der in der Szene IV/8 stirbt [vgl. KSA 3/I, S. 476]. in’s Nebenzimmer gebracht wird und die Geschwitz heraustrittdie Malerin Gräfin Geschwitz, Figur im „Erdgeist“ [vgl. KSA 3/I, S. 402] und in „Die Büchse der Pandora“ [vgl. KSA 3/I, S. 478]; in der letzten Szene IV/8 des „Erdgeist“ heißt es: „GESCHWITZ (tritt heraus). SCHÖN (sich bei ihrem Anblick steif emporrichtend) Der Teufel – (Schlägt rücklings auf den Teppich.)“ [KSA 3/I, S. 476]. ‒ das ist zu einer grauenerregenden Größe gesteigert. Sie haben im Marquis v. Keith, in TrautenauGraf Trautenau, der eigentliche Name von Ernst Scholz, zweite männliche Hauptfigur im „Marquis von Keith“ [vgl. KSA 4, S. 150]., der Lulu, der Geschwitz, Professor Düringtragische Figur in „Der Kammersänger“ [vgl. KSA 4, S. 12]., dem KammersängerTitelfigur in „Der Kammersänger“ ist Gerardo, „k.k. Kammersänger“ [KSA 4, S. 12]. Typen geschaffen, die sich nicht vergessen; man mag in Zukunft wieder Ähnliches auf die Beine stellen, die Priorität der Erfindung, d.h. der ersten scharfen Beobachtung gewisser Phänomene und | ihrer Typisierung muß Ihre bleiben. Mit Verwunderung habe ich aus Ihrer VorredeWedekind hat im „Vorwort“ zu seinem Einakter „Der Kammersänger“ bemerkt, dieser sei in Inszenierungen als „Hanswurstiade“ und „Posse“ [KSA 4, S. 10] interpretiert worden. zum Kammersänger ersehen, daß man auf der Bühne diese Szenenreihe, die ich immer als in ihrer Grundanlage durchaus ernst empfunden habe, bisweilen in’s Possenhafte verzerrt hat. Für mich ist der Kammersänger ein Symbol für das Verhältnis überhaupt, in das der Künstler ‒ ob er schaffe oder reproduziere ‒ zum Leben tritt.

Also man mißversteht Sie gelegentlich? Ich wundre mich nicht darüber. Es liegt in früheren Werken zweifellos daran, daß noch nicht alle Gedanken die möglichst prägnante Form erhalten haben, durchweg aber und das ist die Hauptsache, verzichten Sie auf den Raisonneur(frz.) denkende, auch rechthaberische Person, Besserwisser. ‒ nein, nicht durchweg, Alwa Schönder Sohn des Dr. Schön im „Erdgeist“ [vgl. KSA 3/I, S. 402], der auch in „Die Büchse der Pandora“ [vgl. KSA 3/I, S. 478] präsent ist. redet bisweilen so; aber mindestens damit irrt eine Person sozusagen als Bädekerals ein Reiseführer wie der Baedeker, benannt nach den von Karl Baedeker begründeten berühmten Reisehandbüchern. durch das Stück: | s/S/ie lassen jede Person, ohne Rücksicht auf den Hörer, dem in der Eile mal was entgeht, genau so reden, wie er seiner Art nach reden würde; ich sollte nicht sagen: Sie lassen ihn so reden, vielmehr: Sie lassen ihn das sagen, was er sagen würde, denn die Menschen reden mit wenigen Ausnahmen „wedekindisch“, woran natürlich durchaus nichts zu tadeln ist.

Warum Sie auf so viel Widerstand gestoßen sind? Falsch ist es jedenfalls, ein Stück wie den Erdgeist unsittlich zu nennen. Sie sind ja unerbittlich im Abwägen der Folgen, die eine gewisse Gestaltung des Intellekts und Gefühlslebens haben muß. Aber, ganz abgesehen davon, daß die Meisten am Rand eines tiefen | Abgrundes schwindlig werden und lieber überhaupt nicht hinsehen, so ist natürlich die Anschauung vom Wesen des Menschen an sich, die sich in Ihren Werken kundgiebt, einigermaßen Furcht erregend. Die Kant-Schillersche AnschauungHinweis auf Immanuel Kant und Friedrich Schiller; hier: idealistische Weltanschauung., in der wir aufgewachsen sind, zeigt den Menschen fähig, über gewisse Naturtriebe Herr zu werden, „alle Hunde an die Kette gelegtbildlich: Triebe domestiziert.“. Bei Ihnen wird Laokoonantike mythologische Figur, in der Kulturgeschichte berühmt durch die Laokoon-Gruppe, die Laokoon und seine zwei Söhne mit zwei ungeheuren Schlangen ringend zeigt, die ihn im Mythos zur Strafe für seine Warnung der Trojaner vor dem hölzernen Pferd erwürgen. wirklich nie mehr frei. Diese Art, die Menschen zu sehen oder Ihre Art, immer wieder Menschen dieser Sorte darzustellen, muß Vielen als gefährlich erscheinen, ist es auch wohl insofern, als sie die Kraft zum Widerstand nicht stählt. Die Verwirrung, in die NietscheSchreibversehen, statt: Nietzsche (Anspielung auf die starke Rezeption Friedrich Nietzsches). manche Gemüter gestürzt hat, dadurch daß er gerade das Geistige, was Menschen in | der Regel zusammen bindet, die bisherigen Moralansichten als Ausflüchte sträflicher Schwäche bezeichnet, diese Verwirrung wird natürlich durch Ihre Stücke verstärkt. Mit alledem sich auseinanderzusetzen, das Berechtigte aufnehmen und doch auf einigermaßen tragfähigem Boden stehen zu bleiben, das ist nicht Jedermanns Sache.

Wie dem nun auch sei, sicher ist, daß Ihre Originalität ‒ Sie erscheinen mir als einer der Wenigen, die wirklich sui generis(lat.) eigener Art. sind ‒ Ihnen eine besondre Stellung im Geistesleben unsrer Zeit sichert. Mag sein, daß nur Weniges ‒ ich denke in erster Linie an den Kammersänger ‒ sich dauernd in das Repertoire derjenigen Bühnen einfügen werde, die mit dem großen, naiven Publikum rechnen: mit | Ihrer Persönlichkeit wird sich auseinandersetzen müssen, wer immer die Grenzlinien des Menschlichen abzuschreiten wünscht u. unsere Zeit verstehen will.

Die Lulu-AufführungenDie fünfaktige Tragödie „Lulu“ wurde unter der Regie von Alfred Reucker mit Johanna Terwin in der Titelrolle am Pfauentheater in Zürich (Premiere: 11.6.1913) inszeniert [vgl. KSA 3/II, S. 1293f.]. in Zürich ‒ ich konnte leider nicht hinfahren ‒ scheinen starken Eindruck gemacht zu haben. Gestern war ein früherer Schülernicht identifiziert., ein intelligenter Mensch, bei mir, der mit großem Feuer von einer dieser Aufführungen sprach u. sich seitdem mit Ihren Werken lebhaft beschäftigt.

Ich wünsche Ihnen gute Tage und sage Ihnen nochmals verbindlichen Dank. Der Ihre
Dr Hans Kaeslin.