Briefwechsel

von Beate Heine und Frank Wedekind

Beate Heine schrieb am 19. März 1898 in Leipzig folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 24.3.1898 aus Hannover:]


Ich danke Ihnen herzlich für Uebersendung der Besprechung im Simplizissimus meiner Fürstin Russalka. Ihre freundlichen Worte, die Sie mir dazu geschrieben, finde ich eben in meiner Brieftasche.

Frank Wedekind schrieb am 24. März 1898 in Hannover folgenden Brief
an Beate Heine

Hannover, 24.III.1898.


Liebe verehrte FrauBeate Heine (geb. Wüerst), ehemals als Konzertsängerin tätig, seit 1890 verheiratet mit Dr. phil. Carl Heine, in dessen Ibsen-Theater, dem Theater der Literarischen Gesellschaft in Leipzig, Wedekind als Dramaturg und Schauspieler (Pseudonym: Heinrich Kammerer) engagiert war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408].,

Gott ist mein Zeugebiblische Redensart [vgl. Römer 1,9]., daß ich seit Beginn unserer TournéeDie Gastspieltournee des von Carl Heine geleiteten Ibsen-Theaters, dessen Mitglied Wedekind war (siehe oben), begann am 5.3.1898 [vgl. Ibsen-Theater. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 113, 4.3.1898, Morgen-Ausgabe, S. 1655] und führte von Leipzig aus bis zum Sommer durch folgende Städte: Braunschweig, Breslau, Halle an der Saale, Hamburg, Hannover, Leipzig, Lübeck, Lüneburg, Magdeburg, Stettin, Wien. noch an keine Seele eine Zeile geschrieben habe, aber ich halte es nicht länger aus, daß Sie denken könnten, ich sei ein frivoler oberflächlicher Mensch, der seine Gefühle nur dann bei der Hand hat, wenn sie den leichten Weg über die Zunge nehmen. Ich danke Ihnen herzlich für Uebersendung der BesprechungBeate Heine hat Wedekind mit Begleitschreiben (siehe unten) einen Zeitungsausschnitt aus dem „Simplicissimus“ geschickt, der am 19.3.1898 zu Werbezwecken (Anzeige: „Vor kurzem erschien: Die Fürstin Russalka von Frank Wedekind“ mit Umschlagabbildung) eine Besprechung aus der Berner Zeitung „Der Bund“ nachdruckte (datiert: „Bern, 4. Juli 1897“), die eine ganze Spalte umfasst und Wedekinds Sammelband „Die Fürstin Russalka“ (1897) lobt: „Zu den mannigfachen Vorzügen des Wedekindschen Talentes gehört auch der, unglaubliche Ungezogenheiten so sagen zu können, daß man sie ihm nicht übel nimmt; sie schlüpfen ihm aus dem Munde, wie die roten Mäuschen der jungen Hexe, mit der Faust in der Walpurgisnacht tanzt. Wo man merkt, daß eine Natur sich wahr und voll und ganz giebt, kann man manches verzeihen [...]. Aber ein arg übermütiges Buch ist es schon [...]. Die novellistischen Skizzen [...] dürfen sehr gelobt werden. [...] Die Gedichte nun [...] übertreffen Heinrich Heine an Zügellosigkeit, aber auch an Ehrlichkeit. [...] daß er [...] so graziöse Formen findet, das ist ein Beweis seines fein entwickelten Talentes.“ [Simplicissimus, Jg. 2, Nr. 51, S. (407)] im Simplizissimus meiner Fürstin Russalka. Ihre freundlichen Wortenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 19.3.1898., die Sie mir dazu geschrieben, finde ich eben in meiner Brieftasche. Ich bin mutterseelen allein und dazu noch in meiner eigentlichen Vaterstadt HannoverWedekind traf wohl noch am 20.3.1898 in seiner Geburtsstadt Hannover ein (am 21.3.1898 war er nachweislich dort).. Die Straßen erscheinen mir sämtlich als alte Bekannte, aber was hilft das, es fehlen die Menschen und in meinem Alter findet man sie nicht mehr, ich hätte beinah gesagt, auf der Straße, aber das ist es garnicht, was ich meine. Ich habe mich übrigens meiner Lebtag nicht leicht angeschlossen und jetzt fehlt mir auch alle Lust dazu. Ueber den Verlauf unserer Tournee werden Sie so gut unterrichtet sein, daß es mir schwer fallen würde, Ihnen eine Neuigkeit zu schreiben. In LübeckIm Rahmen des Gastspiels des Ibsen-Theaters im Wilhelm-Theater in Lübeck fanden zwei Vorstellungen statt, am 17. und 18.3.1898; aufgeführt wurde „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen. „Im Wilhelm-Theater geht seit einigen Tagen Ibsen’s ‚Volksfeind‘, wohl das kraftvollste und packendste der modernen Dramen […] in Szene. Dargestellt wird dasselbe von einem rühmlichst bekannten Ensemble unter Leitung des Herrn Dr. Carl Heine ‒ Leipzig.“ [Lübecker Volksbote, Jg. 5, Nr. 65, 18.3.1898, S. (4)] genossen wir hauptsächlich Seeluft in Ermangelung einer besseren. Ich erinnere mich noch eines Dämmerabends am Hafen bei sehr starker Brise. Zwischen Ihren Herrn Gemahl und mich war plötzlich etwas getreten, das man ein Gespenst nennen könnte. Es war sein und meine Vergangenheit, die uns abwechselnd mit großen Augen ansah. Die alten hölzernen Schiffe, die seit Menschengedenken dort im Hafen liegen, klapperten mit den Tauen und von den schiefstehenden Thürmen der Stadt her tönte das Glockenspiel so hell, als wollte es dem Gespenst, das mit flatternden Haaren, hohläugig und mit fleischlosen Gliedern zwischen uns langte, das Wort vom Munde nehmen, denn zuweilen sprach es ein solches. Noch am nämlichen Abend reiste ich abWedekind reiste am 20.3.1898 von Lübeck ab. und es wird wol auch das beste gewesen sein. Wie aber ergeht es Ihnen, verehrte Frau. An Vereinsamung werden Sie vermuthlich nicht zu leiden haben, aber es ist ja leider nicht die Quantität, die dem Umgang seinen Reiz verleiht. Was würden Sie da sagen, wenn ich mich nächstens gleichfalls verheiratete. Herr Doctor räth es mirDr. phil. Carl Heine, der als Direktor des Ibsen-Theaters mit Wedekind auf Tournee war, hat seine Ratschläge mündlich erteilt. als bestes Mittel, um meine Verhältnisse zu „saniren“. Aber was hilft aller guter Wille ohne die nöthige Gelegenheit; der Geist ist willigBibelzitat: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ [Matthäus 26,41], aber das Fleisch ist schwach; Viele sind berufenBibelzitat: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“ [Matthäus 22,14], aber wenige sind auserwählt und der Weg zur HölleSprichwort: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“ [Büchmann 1879, S. 225] ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Alles hat seine ZeitBibelzitat: „Ein jegliches hat seine Zeit“ [AT, Prediger 3,1]., sagt Salomonin der Lutherbibel das alttestamentarische Buch „Der Prediger Salomon“ (kurz: Prediger), auf das sich Wedekind beruft., aber das ist mein Verhängnis in dieser Welt, daß ich keine Zeit habe. Und wenn der Tag sechsunddreißig Stunden hätte, ich glaubt ich würde doch noch keine Zeit zu dem finden, was andere als ihr hauptsächlichstes Talent und ihre hervorragendste Begabung unbewußt mit auf die Welt bringen. Aber ich will nicht länger von mir sprechen. Ich denke zurück an den Beginn des Jahres, als ich von Dresden herüber kamWedekind war bereits gegen Ende des Vorjahres von Dresden nach Leipzig gekommen – zu einer Lesung am 26.11.1897 bei der Literarischen Gesellschaft in Leipzig [vgl. Leipziger Volkszeitung, Jg. 4, Nr. 237, 25.11.1897, S. (4)] – und hatte dort Eingang in den Kreis um Beate und Carl Heine gefunden, der ihn bald an das von ihm geleitete Theater der Literarischen Gesellschaft engagierte (siehe oben), das Ibsen-Theater, das am 25.2.1898 die Tragödie „Der Erdgeist“ uraufführte ‒ die erste Bühneninszenierung eines Wedekind-Stücks überhaupt. und alles erscheint mir wie ein Traum, thatsächlich, denn so glückliche unvorbereitete Umschläge im Geschicke des Menschen sind doch eigentlich nur aus Träumen bekannt. Dafür wünsche ich Ihnen von Herzen und aufrichtig, daß auch Ihre Träume sämmtlich in Erfüllung gehen mögen, obschon Sie sich eigentlich wenig mehr zu erträumen haben können. Sie sind nicht die Herrin ihres Geschickes, Sie sind es schwerlich jemals gewesen, aber es waltet ein guter Engel über Ihnen, den Ihnen der Himmel erhalte. Dem einen kommt es im Traum und dem anderen mißlingt es bei vollem Bewußtsein; darin liegt weiter kein Widerspruch. Am 11.am 11.4.1898, an dem Wedekind als Mitglied des Ibsen-Theaters in Hamburg eintraf ‒ das Ensemble-Gastspiel begann Hamburger Pressemitteilungen zufolge noch an diesem Tag (Ostermontag) am Carl Schultze-Theater nachmittags mit „Der Volksfeind“ und abends mit „Hedda Gabler“; am 12.4.1898 wurde „Rosmersholm“ gespielt, am 13.4.1898 „Die Frau vom Meer“, am 14.4.1898 wurde „Hedda Gabler“ wiederholt und zum Abschluss des Gastspiels wurde am 15.4.1898 Wedekinds Tragödie „Der Erdgeist“ gespielt; das Ensemble des Ibsen-Theaters trat außerdem am 17.4.1898 veranstaltet vom Verein Freie Volksbühne Hamburg-Altona nachmittags im Ernst Drucker-Theater mit „Hedda Gabler“ auf. sind wir in Hamburg. Es fließt viel Wasser den Fluß hinabsprichwörtliche Redewendung für: das wird noch lange dauern., aber die Felsen halten Jahrtausende aus und auch die Weiden senken sich nicht, obwohl ihre Blätter im Strudel treiben. Auf baldiges frohes Wiedersehen. Ihr Ihnen ganz ergebener
Frank Wedekind.

Frank Wedekind schrieb am 19. Juli 1898 in München folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


München, 19.IV.1898irrtümlich datiert (Wedekind war am 19.4.1898 mit dem Ibsen-Theater auf Gastspieltournee, nicht in München; der Briefinhalt deutet auf den Sommer), statt: 19.7.1898..


Liebe, sehr geehrte Frau Doctor,

Nachdem ich in Leipzig alles besorgtWedekind dürfte bald nach dem 3.7.1898 von Leipzig abgereist sein (siehe unten), jedenfalls nach seinem Besuch des Mitteldeutschen Bundesschießens, das vom 3. bis 10.7.1898 in Leipzig stattfand [vgl. Wedekind an Beate Heine, 14.8.1898]., trat ich Mittwochder 13.7.1898. Wedekind meldete sich den Tag darauf (14.7.1898) unter der früheren Adresse wieder in München an: Türkenstraße 69, 2. Stock [vgl. EWK/PMB Wedekind]. früh unangemeldet hier an. Mein früheres Zimmerin der Türkenstraße 69 (2. Stock). Wedekind hatte dort schon einmal gewohnt ‒ laut den An- und Abmeldedaten des polizeilichen Meldebogens vom 23.8.1896 bis 25.4.1897 [vgl. EWK/PMB Wedekind]. traf ich, wie ich es vor zwei Jahren verlassen. Mein Freund Richard hatte einen Studenten, der es bewohnte, schon vor acht Tagen hinauswerfen lassen. Mein erster Gang war zu Martens, den ich in einem Meer von Wonne schwimmend antraf. Er hat von München noch sehr wenig gesehen und gehört, beschwört aber, in keiner anderen Stadt mehr leben zu können. Abends waren wir mit Weber, ihm und Richard auf dem Kellernicht eindeutig bezeichnetes Münchner Bierlokal., auf dem ich vor zwei Jahren mit Morgenstern, Panizza, Halbe und anderen so manchen Maßkrug geleert. Vorgesternam 17.7.1898 (Sonntag). Offenbar sah Wedekind seinen und Frida Strindbergs Sohn, den inzwischen fast ein Jahr alten Friedrich Strindberg, hier das erste Mal. Den Sonntag darauf stattete Wedekind Frida Strindberg erneut einen Besuch ab [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898]. Nachmittag war ich in Tutzing bei Frau S.Frida Strindberg; wahrscheinlich steht hier in der Handschrift der abgekürzte Name: Fr. St. [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232]. und sah mir die Folgen meiner Gewissenlosigkeitsein unehelicher Sohn (siehe oben), ironisch formuliert. an. Ich hatte hier von allen Seiten schon rühmen hören, kein Mensch, der mir hier begegnete und mir nicht erzählte, daß er ihn auf dem Arm gewiegt und welch ein stattlicher Bengel es sei, aber ich muß gestehen, ich war trotzdem überrascht. Das beste war, daß wir vom ersten Moment an wie zwei alte Spießgesellen miteinander verkehrten, die sich seit zwanzig Jahren in- und auswendig kennen. Ich gebrauchte meinen robustesten Ton, fluchte französisch und englisch, ohne daß es mir gelungen wäre, ihn einzuschüchtern. Er strahlt vor Lebensfreude, ist aber ungemein ruhig und heult nie. Etwas ist sehr bedenklich, daß ihm, sobald er in Betrachtung versinkt, die Zunge zum Munde heraushängt. Seine Mutter zog ihn auf dem Divan aus und präsentirte ihn mir wie ein Juwelir, der auf dem Ladentisch seine Ware anpreist. Dabei hing ihr Auge angstvoll an meinen Lippen, ob ich nicht vielleicht doch etwas auszusetzen finden könnte. Ich fand offen gesagt nichts.

Jeden Abend, den Gott werden läßt, gehe ich ins TheaterWedekind dürfte vor allem Vorstellungen im Münchner Schauspielhaus besucht haben; am 14.7.1898 wurde dort Arthur Schnitzlers „Liebelei“ aufgeführt [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 318, 14.7.1898, General-Anzeiger, S. 1], am 15.7.1898 Gerhart Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“ [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 320, 15.7.1898, General-Anzeiger, S. 1], am 16.7.1898 Max Halbes „Jugend“ [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 322, 16.7.1898, General-Anzeiger, S. 1].. Dank der Wiederaufrichtung, die ich bei Ihnen in Leipzig erfahrenWedekind war in Leipzig als Dramaturg und Schauspieler (Pseudonym: Heinrich Kammerer) Mitglied des Ibsen-Theaters (Direktion: Carl Heine) gewesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408], das zuletzt am 1.7.1898 seinen Schwank „Fritz Schwigerling“ („Der Liebestrank“) uraufgeführt hat (Regie: Carl Heine); die zweite und letzte Vorstellung fand am 3.7.1898 statt: „Das Ibsen-Theater schließt heute seine Vorstellungen mit der einmaligen Wiederholung von Frank Wedekind’s originellem Schwanke Fritz Schwigerling.“ [Ibsen-Theater. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 331, 3.7.1898, 8. Beilage, S. (5071)], dank dem was ich bei Ihnen gelernt, habe ich meine helle Freude an Allem, ob es gut oder schlecht ist; es bleibt immer das Interesse und das Gefühl, in seinem Elemente zu sein.

München strahlt jetzt im goldensten Sonnenlicht und ich wünsche Ihnen sehr, daß es bei Ihnen ebenso sein möge, denn Sie können es doch wol noch besser brauchen als ich hier in einer Stadt, die an Cafés und Restaurants wol die reichste der Welt ist. Wie geht es Ihnen? Kommt es Ihnen nicht doch vielleicht etwas zu still vor? Ich muß gestehen, daß ich gerade jetzt am allerwenigsten Sehnsucht nach einem LandaufenthaltWo Beate Heine den Landaufenthalt bei Verwandten verbrachte, ist nicht ermittelt. hätte. Uebrigens vergesse ich dabei, daß Sie im Kreise lieber Verwandter sind, die Sie so lange nicht mehr gesehen haben; und dann ist es ja auch nur die Vorstufe zu dem Glück, das in HelgolandHelgoland war das Sommerdomizil von Carl und Beate Heine. Ihrer harrt. Ich hoffe, daß ich hier sehr viel arbeiten werde, aber ebensosehr zweifle ich noch daran, da mir der wohlthuende Zwang sowol wie die Ruhe fehlt, die ich beide Herrn Doctor verdankte. Den Erdgeist schicke ich, sobald meine Bücherkiste hier eingetroffen. Ich sage Ihnen nicht Adieu, sondern auf baldiges Wiedersehen. Ich kann mich meines Optimismus nicht erwehren. Gelingen meine PläneWedekind suchte im Münchner Theaterbetrieb Fuß zu fassen und seine Stücke auf die Bühne zu bringen. hier nicht, dann um so schlimmer.

Mit den herzlichsten Grüßen ganz der Ihrige
Frank Wedekind.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Vorgestern Nachmittag war ich in Tutzing bei Fr. St. und sah mir die Folgen meiner Gewissenlosigkeit an. Ich hatte hier von allen Seiten schon rühmen hören, kein Mensch, der mir hier begegnete und mir nicht erzählte, daß er ihn auf dem Arm gewiegt und welch ein stattlicher Bengel es sei, aber ich muß gestehen, ich war trotzdem überrascht. Das beste war, daß wir vom ersten Moment an wie zwei alte Spießgesellen miteinander verkehrten, die sich seit zwanzig Jahren in- und auswendig kennen [...] Seine Mutter zog ihn auf dem Divan aus und präsentirte ihn mir, wie ein Juwelier, der auf dem Ladentisch seine Ware anpreist. Dabei hing ihr Auge angstvoll an meinen Lippen, ob ich nicht vielleicht doch etwas auszusetzen finden könnte. Ich fand offen gesagt nichts [...]

Beate Heine schrieb am 22. Juli 1898 folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 27.7.1898 aus München:]


An meinem Geburtstag, nachdem ich Abends zwar schon Ihre prächtige Kiste ausgepackt und Ihren Brief [...] gelesen [...]

Frank Wedekind schrieb am 27. Juli 1898 in München folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


München, 27.VII.1898.


Liebe verehrte Frau Doctor,

Ich hoffte Ihnen schon eine günstige Nachricht geben zu können, sonst hätte ich Ihnen früher geschrieben. Herzlichen Dank für all das Viele Schöne, womit Sie mir meinen GeburtstagWedekinds 34. Geburtstag am 24.7.1898, zu dem Beate Heine ihm ein Geburtstagspaket mit Begleitbrief geschickt hat (siehe unten). verherrlicht. Die Kuchen schmecken exquisit. Wie mochten Sie sich aber auf dem Lande, losgerissen von aller feineren Küchencultur die Mühe machen, Kuchen zu backen. Und dann diese Unmenge Feuer mit der entzückenden schwarz und goldenen Hülse. Und das schöne Cigaretten-Etui! und der Bleistift. Alles was ich jetzt Elegantes auf meinem Schreibtisch habe, sind Gaben aus Ihrer Hand, verehrte Frau. Inmitten thront der goldene PetschaftSiegelstempel. und im Hintergrund die Kalender-Eule, die übrigens noch immer das richtige Datum zeigt, da sie sich der besonderen Fürsorge meiner jeweiligen Wirthin erfreut. GesternWedekind hat am 26.7.1898 mit Georg Stollberg, Oberregisseur und Schauspieler sowie dann neuer Direktor (siehe unten) am Münchner Schauspielhaus [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443], eine Vereinbarung für sein Engagement zunächst als Schauspieler am Münchner Schauspielhaus getroffen. habe ich mit dem Oberregisseur des Münchner Schauspielhauses abgemacht, daß er mich zu kleinen Rollen verwendet. Er nahm mein Anerbieten mit großem Vergnügen an. Betreffs Erdgeist habe ich noch keine bestimmte Aussage. Indessen herrscht an dem Theater eine solche VerwirrungEmil Drach, für die Moderne engagierter Direktor des am 17.11.1897 eröffneten Münchner Schauspielhauses, war finanziell an diesem Theaterprojekt gescheitert und musste zurücktreten. Sein Nachfolger wurde der bisherige Oberregisseur Georg Stollberg. Der Wechsel war nicht ganz einfach und vollzog sich im Sommer 1898 (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Georg Stollberg)., daß von einem Tag auf den andern alles möglich und wieder unmöglich werden kann.

Als ich das erste Mal bei Langen war, kam die Nachricht, daß der Simpl. wieder mal auf allen Bahnhöfen Preußens verbotenDer Verkauf des „Simplicissimus“ (und anderer Zeitschriften) war durch eine Verfügung des preußischen Staatsministers der öffentlichen Arbeiten und Chefs des Reichseisenbahnamtes Karl von Thielen auf preußischen Bahnhöfen seit dem 8.7.1898 verboten: „Wir bemerken dabei ausdrücklich, daß Preßerzeugnisse, insbesondere periodisch erscheinende, die durch Wort, Bild oder Geschäftsanzeigen Anstand und gute Sitte verspotten oder verletzen, die Sinnlichkeit überreizen, die die idealen Güter des Lebens herabzuwürdigen, werthvolle vaterländische Einrichtungen und deren Träger verächtlich zu machen, Neid und Haß unter den Staatsangehörigen zu erregen geeignet sind, auch wenn sie die Grenzen des Strafgesetzbuches vermeiden, von dem Verkaufe in Zukunft auszuschließen sind“ [KSA 1/II, S. 1136f.]. Wedekind zitierte in seinem Gedicht „Das Eisenbahn-Verbot“ (siehe unten) aus dieser Verfügung, die in diversen Zeitungen abgedruckt war. Das Branchenblatt meldete das Verkaufsverbot ebenfalls: „Der Verkauf der beiden Zeitschriften ‚Simplicissimus‘ und ‚Das Narrenschiff‘ ist auf sämtlichen preußischen Bahnhöfen verboten worden.“ [Verbote im Bahnhofsbuchhandel. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 170, 26.7.1898, S. 5477] sei. Er flehte mich um ein Gedichtder „Jubel-Hymnus auf den Preußischen Bahnhöfen zu singen“ [KSA 1/I, S. 486f.], der auf das Verkaufsverbot des „Simplicissimus“ in preußischen Bahnhofsbuchhandlungen reagierte (siehe oben) und am 6.8.1898 im „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 19, S. 146] mit einem redaktionellen Kommentar Albert Langens erschienen ist [vgl. KSA 1/II, S. 1743-1746]. an, wozu ich mich auch herbeiließ. Vor drei Tagen schrieb ich das zweite GedichtWedekind schrieb am 24.7.1898 das Gedicht „Das Eisenbahn-Verbot“ [KSA 1/I, S. 490-493], das ebenfalls auf das Verkaufsverbot des „Simplicissimus“ an preußischen Bahnhöfen reagierte (siehe oben) und illustriert am 13.8.1898 im „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 20, S. 154] veröffentlicht wurde [vgl. KSA 1/II, S. 1135-1140]. für ihn. Er rieb sich die Hände und sagte, es ist doch ein Glück, daß Sie wieder hier sind. Ob es nicht möglich wäre, daß ich hier bliebe. Ich sagte, ich könne Dr. Heine doch nicht so ohne weiteres im Stich lassenWedekind hatte sich eigentlich von Carl Heines Ibsen-Theater in Leipzig schon verabschiedet; er war dort bis vor wenigen Wochen als Dramaturg und Schauspieler engagiert gewesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408] und hatte mit dem Ensemble eine große Gastspieltournee unternommen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 24.3.1898].. Gestern wollte er Contract mit mir machen, aber ich lehnte ab, da ich ja im Voraus weiß, daß ich ihn nicht halten kann. Der alte Biörnsonder norwegische Schriftsteller Bjørnstjerne Bjørnson, Albert Langens Schwiegervater., der offenbar zu dem Zwecke von ihm engagirt ist, machte mir die glühendsten Complimente über meine Gedichte. Gestern las ich das Drama Johanna vom jungen BiörnsonBjørn Bjørnsons Schauspiel „Johanna“ (1898) war aus dem Norwegischen übersetzt vor wenigen Wochen im Albert Langen Verlag in München erschienen [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 133, 13.6.1898, S. 4395]., was ohne Zweifel der Schlager für die nächste SaisonWedekind sah die Münchner Premiere von Bjørn Bjørnsons „Johanna“ am 24.8.1898 im Münchner Residenztheater [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.8.1898; Wedekind an Bjørn Bjørnson, 29.8.1898]. wird: furchtbar langweilig und eintönig und furchtbar wahr und gefühlvoll. Rosmersholm ist dagegen noch das reine Cirkus-Spectakel. Zugleich sagt mir Langen, daß der junge Biörnson, der in Christiania TheaterdirectorAlbert Langens Schwager Bjørn Bjørnson war der erste Intendant des soeben gegründeten norwegischen Nationaltheaters in Christiania (heute: Oslo). ist, nächsten Winter dort den Erdgeist geben wolle. Bevor ich den jungen Biörnson selber gesprochen, habe ich nicht viel Ursache, daran zu glauben.

Langen trägt sich jetzt ganz entschieden mit Theaterplänen und ich versäume keine Gelegenheit, um ihm vom Ibsen-Theater und dessen DirectorCarl Heine war Direktor des Ibsen-Theaters in Leipzig (siehe oben). zu sprechen. Thatsache ist, daß er eine Agentur zum Vertrieb von Stücken, die bei ihm erschienen sind, mit der Johanna eröffnet hat. Außerdem hörte ich, daß Neumann Hofer bei ihm war, um ihn zum finanziellen Theilhaber am Lessingtheater zu machen. Da sich Langen aber künstlerischen Einfluß sichern wollte, zerschlugen sich die Verhandlungen. Es muß das vor dem Eintritt des jungen L’Arronge ins LessingtheaterOtto Neumann-Hofer, offiziell ab dem 1.9.1898 neuer Direktor des Berliner Lessingtheaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 254], hatte seine künftigen Mitarbeiter im Frühjahr bereits angeworben: „Als Dramaturg und Regisseur ist, wie schon bekannt, Herr Dr. Hans L’Arronge vom Berliner Theater, der Sohn von Adolf L’Arronge, gewonnen.“ [Das Lessingtheater unter der Direction Otto Neumann-Hofer. In: Berliner Tageblatt, Jg. 27, Nr. 219, 2.5.1898, Montags-Ausgabe, S. (1-2)] Unklar ist, wann die Verhandlungen zwischen ihm und Albert Langen genau stattgefunden haben. gewesen sein. Vorläufig schwärmt er von der Errichtung eines Chat noir’sLe Chat Noir war ein 1881 gegründetes Cabaret auf dem Montmartre, das zum Inbegriff der Pariser Bohème und der Kabarettkultur des Fin de Siècle wurde., also literarisches Variété, aus dem aber vermuthlich so bald nichts wird. Offenbar warten verschiedene Leute auf den Zusammenbruch des Schauspielhauses, der sich aber immer und immer wieder hinausschiebt.

An meinem Geburtstag, nachdem ich Abendsam 23.7.1898, der Vorabend von Wedekinds 34. Geburtstag am 24.7.1898. zwar schon Ihre prächtige Kiste ausgepackt und Ihren Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 22.7.1898. Es handelte sich um den Begleitbrief zu einem Geburtstagspaket. und den Ihres Herrn GemahlsHinweis auf einen ebenfalls nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 22.7.1898. gelesen, fuhr ich nach Tutzing zu meinem Bubi und nahm im Kreise meiner Familie, wenn ich mich so ausdrücken darf, am Ufer des Starnberger Sees ein stilles Mittagsmahl ein. Durch dieses mein Verhalten scheint ganz München mit meiner Existenz ausgesöhnt. Sogar die DirectorinWilhelmine Porges (siehe unten), Gattin von Heinrich Porges, der in München (Burgstraße 12) die Stellung eines königlich bayrischen Musikdirektors bekleidete [vgl. Adreßbuch von München 1899, Teil I, S. 410]. Porges, die Mutter von Ernst Rosmer, bei der sich das ganze Unheil angesponnenIm Salon von Wilhelmine (Minna) Porges (geb. Merores), Gattin des Dirigenten und Musikschriftstellers Heinrich Porges und Mutter der Schriftstellerin Elsa Bernstein (Ernst Rosmer), lernte Wedekind im Sommer 1896 Frida Strindberg (geb. Uhl) kennen, die von ihrem Mann August Strindberg getrennt lebte und bei ihren Aufenthalten in München bei der befreundeten Dame wohnte (Burgstraße 12, 3. Stock). Wedekind und Frida Strindberg gingen eine problematische Beziehung ein, aus der ein gemeinsames Kind hervorging: Friedrich Strindberg., schickte mir vor ihrer Reise in die Sommerfrische noch einen Grußnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wilhelmine Porges an Wedekind, 26.7.1898. Es dürfte sich um eine Postkarte gehandelt haben.. Dieser Gruß bedeutet meine allergnädigste Wiederaufnahme in die Münchner Gesellschaft, von der ich aber so bald keinen Gebrauch zu machen gedenke.

In Gedanken zehre ich immer noch sehr von den Erinnerungen an unsere Tournée und meine Leipziger Zeit. Es ist gar keine Frage, daß Ihr Herr Gemahl zu einem Retter an mir geworden ist, denn jeder Funke Achtung, den man mir hier entgegenbringt, bezieht sich auf die Campagnezeitlich begrenzter Arbeitsabschnitt, im Fall Wedekinds sein Engagement beim Ibsen-Theater (siehe oben)., die ich hinter mir habe.

Seien auch Sie, verehrte Frau, bestens bedankt für die Sympathien, die Sie mir bewahren. Daß wir uns sehr bald wiedersehen, scheint mir mehr als gewiß, aber nur unter der Bedingung, daß Ihr Werk sich nicht als fruchtlos erweist, daß sich Ihre Erwartungen bestätigen.

Grüßen Sie Herrn DoctorDr. phil. Carl Heine (siehe oben), Beate Heines Ehemann. herzlich von mir und seien Sie selber bestens gegrüßt von Ihrem Ihnen ganz ergebenen
Frank Wedekind.


Türkenstraße 69 II


Verzeihen Sie mir bitte den Klex auf der ersten Seite, aber ich schreibe im Café Luitpold.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Als ich das erste Mal bei Langen war kam die Nachricht daß der Simpl. wieder mal auf allen Bahnhöfen Preußens verboten sei. Er flehte mich um ein Gedicht an, wozu ich mich auch herbeiließ. Vor drei Tagen schrieb ich das zweite Gedicht für ihn. Er rieb sich die Hände und sagte, es ist doch ein Glück daß Sie wieder hier sind. Ob es nicht möglich wäre daß ich hier bliebe. Ich sagte, ich könne Dr. Heine doch nicht so ohne weiteres im Stich lassen. Gestern wollte er Contract mit mir machen, aber ich lehnte ab, da ich ja im Voraus weiß, daß ich ihn nicht halten kann. Der alte Biörnson der offenbar zu dem Zwecke von ihm engagirt ist machte mir die glühensten Complimente über meine Gedichte [...]

Beate Heine schrieb am 30. Juli 1898 in Helgoland folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 14.8.1898 aus München:]


[...] Ihrer Beschreibung nach [...]. Ich gehe nun zuerst zur Beantwortung Ihrer werthgeschätzten Fragen.

Frank Wedekind schrieb am 14. August 1898 in München folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


München, 14.VIII.1898.


Liebe, sehr verehrte Frau Doctor,

das herrliche Wetter, das wir seit mehreren Tagen hier in München genießen, läßt mich voraussetzen, daß auch Sie und Ihr lieber Herr Gemahl alle Ursache haben, mit Ihrem FerienaufenthaltCarl und Beate Heine waren auf Helgoland, der Ferienort, den Wedekind dann in seinem nächsten Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.8.1898] ausdrücklich nannte., der Ihrer Beschreibung nachHinweis auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 30.7.1898. an den Garten eines Paradieses grenzen muß, zufrieden zu sein.

Ich gehe nun zuerst zur Beantwortung Ihrer werthgeschätzten Fragen. Für die beiden CompositionsbücherBücher mit Notenzeilen zum Eintragen von Melodien. habe ich Ihnen noch gar nicht gedankt; ich mochte es nur deshalb vergessen haben, weil ich in dem Wirrwarr von verschiedenen Interessen, in dem ich mich hier befinde, noch zu keinem ernstlichen Studiren gekommen bin. Den Bleistift sowohl wie das hübsche Cigarettenetuis habe ich seit vierzehn TagenBleistift und Zigarettenetui, enthalten in dem von ihm am 23.7.1898 geöffneten Geburtstagspaket, erwähnte Wedekind bereits in seinem Dankesbrief für die Geschenke [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898]. Insofern waren es keine zwei, sondern gut drei Wochen, dass er sich an diesen Geschenken freute., d.h seit dem glücklichen Tag, der es mir gebracht, in unausgesetztem Gebrauch. Das sind Dinge, die man unmöglich verlieren kann. Das Streichholzetuis möchte ich etwas länger behalten als die beiden letzten. Es paradiert daher vor der Hand auf meinem Schreibtisch. Die Kuchen sind aufgegessen und haben vorzüglich geschmeckt.

Sie stellen wieder allerhand verfängliche Fragen à propos TutzingWedekind hatte Beate Heine von seinem Besuch am 24.7.1898 in Tutzing bei Frida Strindberg erzählt und dabei die Problematik dieser Beziehung angedeutet [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898].. Es gibt für uns beide nur das Eine, den NymbusNimbus, hier: der äußere Anschein. zu wahren. Von irgend einem Glück kann zwischen zwei Menschen, die so wenig wie möglich zusammenpassen, nicht die Rede sein. Ich galt hier aber während eines vollen Jahres als der Unmensch, der seine Geliebte im Stich gelassen, und einen derartigen Vorwurf kann ich mir jetzt am allerwenigsten machen lassen. Das einzig gute ist die Entfernung, die zwischen uns liegt, alles übrige ist traurig, so trostlos, daß es mir nicht leicht wird, es der Welt gegenüber zu bemänteln. Ich habe übrigens keine Ursache, mich über jemanden zu beklagen. Es ist damit wie mit einem Drama. Wenn ein Drama richtig gedacht ist, sei es noch so stümperhaft ausgeführt, dann läßt sich immer noch was daraus machen. Ist es aber von vornherein falsch gedacht, beruht es auf falschen Voraussetzungen, dann läßt sich nie und nirgends was daraus machen. Das ist meine Auffassung und auch die der Anderen. Mit großer Vorsicht, Umsicht, Rücksicht lenke ich mein Boot zwischen dem Felsenriff und dem Strudel hindurch. Etwas besseres kann ich augenblicklich nicht thun, da ich zuviel anderes zu thun habe.

Meine Hauptbeschäftigung ist der Simplizissimus, für den ich täglich arbeite in Witzen, Gedichten und anderem Mist. Vor der Hand ist Langen noch von ungetrübter Liebenswürdigkeit. Er stellte mich auch seinem Schwager Biörnson vor, empfahl ihm meine Stücke u.s.w. u.s.w. Wenn etwas daraus wird, um so besser. Vor einigen Tagen war ich mit Richard im GärtnertheaterDas Theater am Gärtnerplatz (Direktion: Franz Josef Brakl) wurde vom 2.5.1898 bis 10.9.1898 durch den Architekten Emanuel Seidl umgebaut [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 441].. Director Brackl empfing mich wie einen alten Bekannten, führte uns zwei Stunden lang durch die noch unvollendeten Räume und bat mich, ihm meine Stücke zu schicken. Gestern schickte ich ihmHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Büchersendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Franz Josef Brakl, 13.8.1898. Erdgeist und Fritz Schwiegerling. ‒ Drach ist derweil endgültig verkracht Emil Drach, für die Moderne engagierter Direktor des am 17.11.1897 eröffneten Münchner Schauspielhauses, konnte im Sommer 1898 die Gagen nicht mehr bezahlen, war finanziell an diesem Theaterprojekt gescheitert und trat Mitte August 1898 zurück. Sein Nachfolger wurde der bisherige Oberregisseur Georg Stollberg, der als neuer Direktor am Schauspielhaus offiziell am 7.9.1898 mit Georg Hirschfelds Schauspiel „Die Mütter“ antrat.und Stollberg ist eben im Begriff von neuem zu beginnen. Ich bilde mir ein, sehr gut mit ihm zu stehen. Zu einer Uebernahme von RollenWedekind hatte am 26.7.1898 mit Georg Stollberg eine Vereinbarung für sein Engagement zunächst als Schauspieler am Münchner Schauspielhaus getroffen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898] und wurde von ihm am 22.8.1898 „als Dramaturg und Schauspieler unter Vertrag genommen“ [Vinçon 1987, S. 53], aber auch als Sekretär [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443]. meinerseits ist es natürlich noch nicht gekommen; auch er bewirbt sich um meine Stücke. Die erste Liebhaberin unter Drach, Frl. Triesch, die sich sehr auf die Lulu gefreutWedekinds „Erdgeist“ hatte erst am 29.10.1898 am Münchner Schauspielhaus Premiere [vgl. KSA 3/II, S. 1203, 1220-1222]. Die Hauptrolle der Lulu spielte dann allerdings Milena Gnad, nicht Irene Triesch, die zum Ensemble des Münchner Schauspielhauses gehörte [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 469], aber an das Stadttheater in Frankfurt am Main wechselte [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 340]. hatte, ist mit der Rolle nach FrankfurtEine „Erdgeist“-Inszenierung am Stadttheater in Frankfurt am Main (Intendant: Emil Claar) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 340] kam nicht zustande. gereist und will am dortigen Stadttheater dafür sprechen. Wie Sie aber aus alledem ersehen, war es mir bis jetzt noch nicht möglich, irgend etwas bestimmtes zu erreichen.

Gottlob ging es mir bisher hier ganz gut. Ich habe vorderhand Langen und hoffe auf Stollberg. Langen findet meine Absichten durchaus vernünftig, nur bin ich Stollbergs noch nicht ganz sicher.

Ich fühle selber, liebe Frau Doctor, wie tötlich langweilig diese Zeilen sind. Aber wenn das Leben hier auch viel höhere Wogen aufwirft als in Leipzig, so geschieht eben doch nicht mehr, im Gegentheil. Man kneipt, liebt und lebt, das läßt sich nicht umgehen, weil das Geschäftliche, wenn zufällig mal etwas vorliegt, dabei erledigt wird. Mit Martens war ich sehr oft beisammen. Jetzt ist er verreist. Weber sah ich nur einmal, am ersten Abend. Unsere Kreise sind gänzlich verschiedene. Von meiner KopfwundeWedekind hat sich diese Wunde wohl im Zusammenhang der Veranstaltungen des Mitteldeutschen Bundesschießens zugezogen (siehe unten), also an einem der Tage vom 3. bis 10.7.1898 in Leipzig., um auch noch die letzte Ihrer liebenswürdigen Fragen zu beantworten, ist seit meinem Hiersein nichts mehr zu sehen, ihre letzte Spur erinnert mich nur noch an die herzliche Pflege, die ich als Patient bei Ihnen genossen, und an das mitteldeutsche BundesschießenDas Mitteldeutsche Bundesschießen, eine vom Mitteldeutschen Schützenbund jährlich in einer anderen Stadt ausgerichtete Großveranstaltung, fand vom 3. bis 10.7.1898 in Leipzig statt. Das Volksfest feierte in diesem Jahr ein Jubiläum (siehe den 12teiligen Bericht „Die 25jährige Jubelfeier des Mitteldeutschen Schützenbundes“ im „Leipziger Tageblatt“ vom 1. bis 11.7.1898), das mit einem Feuerwerk endete. Hauptveranstaltungsorte waren der Leipziger Schützenhof und eine Festwiese mit Bierausschank. Es fanden Wettschießen statt, an denen über 800 Schützen teilnahmen..

Grüßen Sie aufs herzlichste Ihren lieben Herrn Gemahl. Ich bin eben damit beschäftigt, Kaiser und Galiläer für die Bühne einzurichtenDie Inszenierung von Henrik Ibsens Drama „Kaiser und Galiläer“ am Münchner Schauspielhaus wurde nicht realisiert., und würde mich so gerne mit ihm darüber besprechen. Ich halte das Stück, gehörig zusammengestrichen, für ganz außerordentlich wirksam.

Mit den besten Wünschen und herzlichsten Grüßen bin ich Ihr Ihnen ganz ergebener
Frank Wedekind.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Sie stellen allerhand verfängliche Fragen à propos Tutzing. Es gibt für uns beide nur das Eine, den Nymbus zu wahren. Von irgend einem Glück kann zwischen zwei Menschen die so wenig wie möglich zusammenpassen, nicht die Rede sein. Ich galt hier aber während eines vollen Jahres als der Unmensch, der seine Geliebte im Stich gelassen, und einen derartigen Vorwurf kann ich mir jetzt am allerwenigsten machen lassen [...] Ich habe übrigens keine Ursache, mich über jemanden zu beklagen. Es ist damit wie mit einem Drama. Wenn ein Drama richtig gedacht ist, sei es noch so stümperhaft ausgeführt, dann läßt sich immer noch was daraus machen. Ist es aber von vorn herein falsch gedacht [...], dann läßt sich nie und nirgends etwas daraus machen [...]

Beate Heine schrieb am 17. August 1898 in Helgoland folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 25.8.1898 aus München:]


Herzlichsten Dank für Ihren lieben Brief [...]

Frank Wedekind schrieb am 25. August 1898 in München folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


München, 25.VIII.1898.


Sehr verehrte liebe Frau Doctor,

alea est iactaalea iacta est (lat.): Der Würfel ist gefallen. Der Ausspruch wird Julius Cäsar zugeschrieben, der sich bei Überschreiten des Rubikon entsprechend geäußert haben soll.! Seit vier Tagenseit dem 22.8.1898, an dem der Vertrag für Wedekinds Engagement am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) als Dramaturg, Schauspieler und Sekretär [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443] geschlossen worden ist (es endete unfreiwillig bereits am 30.10.1898 durch Wedekinds Flucht vor Verhaftung im Zuge der Majestätsbeleidigungsaffäre um den „Simplicissimus“). bin ich als Dramaturg und Schauspieler am Münchner Schauspielhaus engagirt mit 150 Mk. Fixum pro Monat, derselben Gage, die ich anfangs bei IhnenWedekind war in der ersten Jahreshälfte 1898 an Carl Heines Ibsen-Theater in Leipzig als Dramaturg und Schauspieler engagiert gewesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408]. hatte. Der Bestand des TheatersDer Bestand des Münchner Schauspielhauses war aus finanziellen Gründen gefährdet gewesen, was überhaupt zum Wechsel der Direktion von Emil Drach zu Georg Stollberg geführt hatte. ist bis 1. Juni 99 garantiert. Am 7. oder 15. nächsten Monats beginnen wir zu spielenDie erste Inszenierung unter Georg Stollberg als neuem Direktor am Münchner Schauspielhaus war am 7.9.1898 die Premiere von Georg Hirschfelds Schauspiel „Die Mütter“ [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 412, 7.9.1898, General-Anzeiger, S. 1]. Am 10.9.1898 (Samstag) ging „als zweite Neuaufführung die vieraktige Komödie ‚Der Biberpelz‘ von Gerhart Hauptmann in Scene.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 101, Nr. 249, 9.9.1898, S. 6] Unter den Darstellern war Wedekind angekündigt, der die genannte Rolle des Dr. Fleischer dann auch spielte. voraussichtlich mit Biberpelz, in dem ich den Dr. Fleischer abgeben werde. Man fragt mich allgemein, da ich seit meinem Hiersein vorgegeben hatte, für den nächsten Winter bei Ihnen engagirt zu sein, was Sie dazu sagen werden. Ich entgegne darauf der Wahrheit gemäß, daß Sie es mir zu allerletzt verdenken werden, wenn ich mein Können anderwärts zu erproben versuche, nachdem Sie mich unter der Gefahr, Fiasko damit zu machen, aus Nacht und Finsternis ans Tageslicht gezogen haben. Stollberg, unser Director, ist gegenwärtig in Berlin und Wien, um neue Kräfte zu engagiren. Ich habe ihm vor allen Dingen geraten, sich auf sehr guten Fuß mit dem Hoftheater zu stellen und bin ihm selber mit gutem Beispiel vorangegangen. Ich stand früher sehr schlecht mit Savits und BuchholzJocza Savits war Oberregisseur und Wilhelm Buchholz Dramaturg am Münchner Hoftheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 437]., die ich insultirtbeleidigt, beschimpft, verhöhnt. hatte, weil sie meine Junge Welt nicht aufführen wollten. Savits sprach ich vor einigen Tagen nachts um drei Uhr auf der Straße an; wir gingen Arm in Arm, machten uns gegenseitig übereinander lustig, was ihn nicht hinderte vom Erdgeist anzufangen. Ich ging gleichgültig darüber hinweg und sprach von Dr. Heine und dem Ibsentheater. Dann trennten wir uns in absoluter Ulkstimmung. Gestern abend aber war unter großer Feierlichkeit GeneralprobeEs handelte sich nicht um die Generalprobe, sondern um die Premiere von Bjørn Bjørnsons Schauspiel „Johanna“ am 24.8.1898 im Königlichen Residenztheater in München [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 388, 24.8.1898, General-Anzeiger, S. 1], die Wedekind besucht hat. von ,,Johanna“. Es gelang mir gleich zu Anfang, Savitsens wieder auf einen Moment habhaft zu werden, als plötzlich der alte Biörnsonder norwegische Schriftsteller Bjørnstjerne Bjørnson, Schwiegervater des Verlegers Albert Langen. auf mich zu kam und mir herzlich die Hand schüttelte. Das war entscheidend. Den Rest des Abends unterhielt ich mich vom Parket ausWedekind saß bei der Premiere von „Johanna“ am 24.8.1898 (siehe oben) also unten, im ebenerdigen, direkt vor der Bühne gelegenen Teil des Zuschauerraums des Residenztheaters. mit dem jungen BjörnsonBjørn Bjørnson, Sohn von Bjørnstjerne Bjørnson (siehe oben), dessen Schauspiel „Johanna“ Münchner Premierenabend hatte., der an Possarts Seite in der DirectionslogeOben in dieser Loge saßen der Intendant der Königlichen Hoftheater in München (Königliches Hof- und Nationaltheater und Königliches Residenztheater) Ernst Ritter von Possart [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 437] und Bjørn Bjørnson, dessen Stück gerade aufgeführt wurde. saß. Buchholz, der mich vor acht Tagen noch keines Blickes würdigte, bat mich um Entschuldigung, als ich ihm beim Hinausgehen auf die Hühneraugen trat.

Aber jetzt genug von mir. Herzlichsten Dank für Ihren lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 17.8.1898., der mir eine große Wohlthat war, als Beweis dafür, daß das Leben einen inneren Sinn hat und man nicht nur wie ein steuerloses Wrack von einer Klippe auf die andere geschleudert wird. Ihr Helgoländer Aufenthalt wird wol nicht mehr sehr lange dauern. Ich freue mich nun erst recht darauf, Sie im Winter wiederzusehen. Eine Gelegenheit wird sich leicht finden.

Biörnsons „Johanna“ ist nun gestern so gut wie durchgefallen. Ich glaube aber trotzdem, daß sich das Stück ein Jahr lang mit Glück halten wird, da es dem größeren Publikum entschieden näher liegt als der Kritik. Es erinnert mich in dieser Hinsicht an den Evangelimann von Kienzl„Der Evangelimann. Musikalisches Schauspiel in zwei Akten“ (1894) von Wilhelm Kienzl (Musik und Libretto), eine Oper mit rührseliger Handlung, die sehr populär war., ebenso eintönig, ebenso corrumpirt, aber sehr zeitgemäß. Es ist bis jetzt von 14 deutschen Bühnen angenommen und wird anderwärts wol auch noch etwas besser gespielt werden als hier in München. Wie steht es mit Ihrer Reise nach Straßburg? Werden Sie sie wirklich unternehmen? Gestern war ich bei Weber, der mich aufgesucht und nicht getroffen hatte. Er steuert geradeswegs darauf los, sich hier ein opulentes Heim zu gründen. Mit dem prachtvollen Wetter ist es hier jetzt vorbei, hoffentlich nicht auch bei Ihnen. In den letzten Tagen hatte ich wieder begonnen zu radelnWedekind fuhr bereits in den 1880er Jahren Fahrrad, wie etwa sein 1886 geschriebenes „Frühlingslied eines Velocipedisten“ [KSA 1/I, S. 235-237; vgl. KSA 1/II, S. 1614] belegt; er dürfte seinerzeit ein Hochrad (Velociped) gefahren sein, während inzwischen das Niederrad auf dem Markt war. und merkte zu meinem Schrecken, daß ich es vollkommen verlernt hatte, allerdings gab es damals noch nicht die nämlichen Maschinen wie heute. Da hier aber alles was Odem hat radelt, möchte ich es auch wieder aufnehmen. ‒

Grüßen Sie bitte aufs herzlichste Herrn DoctorDr. phil. Carl Heine (siehe oben), Beate Heines Ehemann. von mir. Ich werde noch auf lange lange Zeit hinaus sein Schuldner bleiben, denn was er für mich gethan ist, das erfährt man nur einmal im Leben. Mein nächster Ehrgeiz ist jetzt im Biberpelz gut zu bestehen.

Seien Sie selber, verehrte Frau, herzlichst gegrüßt von Ihrem Ihnen sehr ergebenen
Frank Wedekind.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


[…] alea est iacta! Seit vier Tagen bin ich als Dramaturg und Schauspieler am Münchner Schauspielhaus engagirt mit 150 M. Fixum pro Monat, derselben Gage, die ich anfangs bei Ihnen hatte. Der Bestand des Theaters ist bis 1. Juni 99 garantirt. Am 7. oder 15. nächsten Monats beginnen wir zu spielen, voraussichtlich mit Biberpelz, in dem ich den Dr. Fleischer abgeben werde. Man fragt mich allgemein, da ich seit meinem Hiersein vorgegeben hatte für den nächsten Winter bei Ihnen engagirt zu sein, was Sie dazu sagen werden. Ich entgegne darauf der Wahrheit gemäß, daß Sie es mir zu allerletzt verdenken werden, wenn ich mein Können anderwärts zu erproben suche, nachdem Sie mich unter der Gefahr, Fiasko damit zu machen, aus Nacht und Finsternis ans Tageslicht gezogen haben [...]

Beate Heine schrieb am 8. November 1898 in Hamburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 12.11.1898 aus Zürich:]


Ich komme erst heute dazu, Ihren lieben freundlichen Brief zu beantworten [...]. Ich hatte die letzten drei Tage so angestrengt zu arbeiten, daß mir keine Muße blieb, um etwas Erfreuliches zu denken, und das waren mir Ihre Zeilen [...]

Frank Wedekind schrieb am 12. November 1898 in Zürich folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


Zürich, 12.XI.1898.


Liebe, sehr verehrte Frau Doctor,

Ich komme erst heute dazu, Ihren lieben freundlichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 8.11.1898. zu beantworten und unter Verhältnissen, die mich zwingen, dieses unwürdige Papier zu benutzen. Ich hatte die letzten drei Tage so angestrengt zu arbeiten, daß mir keine Muße blieb, um etwas Erfreuliches zu denken, und das waren mir Ihre Zeilen im gleichen Maße, wie alles was noch in der Erinnerung an Sie, Ihren Herrn Gemahl und die bei Ihnen verlebte Zeit geblieben. Es war ein sehr harter Schlagdie Ereignisse seit Ende Oktober 1898, deren Abfolge Wedekind im vorliegenden Brief skizziert: Haftbefehl wegen Majestätsbeleidigung, Flucht in die Schweiz und damit vorläufig abruptes Ende seiner gerade begonnenen Karriere als Bühnenautor und Schauspieler., der mich in München traf. Ich fühle eigentlich das Bedürfnis, mich Herrn Doctor gegenüber zu rechtfertigen, da er doch der Begründer eines neuen LebensWedekinds durch Carl Heine Anfang 1898 (am Ibsen-Theater in Leipzig) begründete Karriere als Bühnenautor und Schauspieler; er war seitdem beruflich am Theater tätig und hatte diese Tätigkeit in München am Schauspielhaus fortsetzen können. für mich war. ‒

Die Thatsachen sind folgende: Weswegen ich die politischen LiederWedekind publizierte seit Sommer 1897 im „Simplicissimus“ (herausgegeben und verlegt von Albert Langen) jeweils unter dem Titel „Ein politisch Lied“ [KSA 1/I, S. 445, 448, 452, 457, 462, 466, 469, 480, 498] eine Reihe Gedichte [vgl. KSA 1/II, S. 2235], deren Titel wohl „in Anlehnung an ‚Faust I‘ (Auerbachs Keller; V. 2992) gewählt“ ist: „Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied“ [KSA 1/II, S. 1435]. fortsetzte, können Sie sich leicht denken, jedenfalls nicht aus Ueberzeugung. Am Dienstagam 25.10.1898, an dem die Beschlagnahmung des „Simplicissimus“-Heftes [Jg. 3, Nr. 31] mit Wedekinds Gedicht „Im heiligen Land“ [KSA 1/I, S. 499-501] (gedruckt unter dem Pseudonym Hieronymos) durch das Landgericht in Leipzig (Druckort des „Simplicissimus“, weshalb die sächsischen Justizbehörden für die Untersuchung des Straftatbestands der Majestätsbeleidigung zuständig waren) angeordnet wurde, der offizielle Auslieferungstag dieser Nummer. Noch am selben Tag wurde der Haftbefehl gegen den verantwortlichen Redakteur und Verleger Albert Langen und die beiden beteiligten Künstler, den Zeichner Thomas Theodor Heine (von ihm stammt die thematisch mit Wedekinds Gedicht korrespondierende Illustration des Titelblatts) und den noch anonymen Dichter (Frank Wedekind), wegen Majestätsbeleidigung (§ 95 des Reichstrafgesetzbuches) erlassen. In Leipzig wurde gemeldet: „Die neueste Nummer (31) der illustrierten Wochenschrift ‚Simplicissimus‘, Verlag von Albert Langen in München, ist wegen eines die Palästinareise des Kaisers behandelnden Gedichtes, betitelt ‚Im heiligen Land‘, in dem eine Majestätsbeleidigung enthalten sein soll, am 25. d.M. auf Anordnung der Staatsanwaltschaft Leipzig in Leipziger Buchhandlungen und Restaurants polizeilich beschlagnahmt worden.“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 250, 27.10.1898, S. 8022] Die „Münchner Neuesten Nachrichten“ zitierten am 27.10.1898 den Polizeibericht: „Nummer 31 des dritten Jahrganges des in Leipzig erscheinenden ‚Simplicissimus‘ wurde durch Beschluß des Untersuchungsrichters am k. Landgericht Leipzig vom 24. Oktober wegen Vergehens gegen § 95 R.-Str.-G.-B. (Majestätsbeleidigung), verübt in dem Gedichte ‚Im heiligen Lande‘, beschlagnahmt und die Beschlagnahme requisitionsgemäß auch hier vollzogen.“ [KSA 1/II, S. 1712] Der Albert Langen Verlag schaltete im Branchenblatt eine auf München, den 25.10.1898 datierte, „Simplicissimus“ überschriebene Anzeige: „No. 31 (Palästina-Nummer) wurde soeben von der Staatsanwaltschaft Leipzig aus wegen Majestätsbeleidigung in ganz Deutschland beschlagnahmt.“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 250, 27.10.1898, S. 8031] erfolgte die Confiscation nebst Verhaftsbefehl. Ganz München kannte mich als Autor des Gedichtes. In der Zeit bis SamstagGerhart Hauptmanns Komödie „Der Biberpelz“ wurde am 25.10.1898 (Dienstag) und am 28.10.1898 (Freitag) am Münchner Schauspielhaus gespielt ‒ mit Wedekind in der Rolle des Privatgelehrten Dr. Fleischer, der wegen Majestätsbeleidigung verhaftet werden soll. spielte ich noch zweimal vor gutbesetztem Haus den Dr. Fleischer ‒ ein eigenthümliches Zusammentreffen von Umständender gleichzeitige Vorwurf der Majestätsbeleidigung in der Realität (der Haftbefehl gegen Wedekind als Autor des Gedichts „Im heiligen Land“ wegen Majestätsbeleidigung) und in der Fiktion (Wedekind steht in Hauptmanns Komödie „Der Biberpelz“ in der Rolle des Privatgelehrten Dr. Fleischer auf der Bühne, der wegen Majestätsbeleidigung verhaftet werden soll).. Woran die Erdgeistaufführung scheiterteDie Erstaufführung des „Erdgeist“ in München am 29.10.1898 im Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) mit Wedekind in der Rolle des Dr. Schön – die Vorstellung dauerte von 19.30 Uhr bis 22.15 Uhr [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 501, 29.10.1898, General-Anzeiger, S. 1] und war ein Misserfolg [vgl. KSA 3/II, S. 1220f.], wie auch in Leipzig registriert wurde, wo das Stück erfolgreich uraufgeführt worden war. Ein „Fiasko erlebte in München das hier wohlbekannte Stück ‚Der Erdgeist‘ von Frank Wedekind, dessen vielfach auf der Spitze stehenden Situationen bei einer ungenügenden Darstellung ein lärmendes Fiasko machen mußten. Der Dichter ist jetzt bekanntlich nach Paris geflüchtet, nicht vor dem Münchner Publicum, sondern vor der Staatsanwaltschaft, welche eins seiner Gedichte in der Zeitschrift ‚Simplicissimus‘ wegen Majestätsbeleidigung angeklagt hat.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 588, 20.11.1898, 4. Beilage, S. 8701], kann ich als Autor vielleicht nicht richtig beurtheilen. Lulu hatte einen bösen ZungenfehlerMilena (Lena) Gnad, Schauspielerin im Ensemble des Münchner Schauspielhauses [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443], spielte in der Premiere von Wedekinds „Erdgeist“ am 29.10.1898 im Münchner Schauspielhaus (siehe oben) die Hauptrolle der Lulu., dazu kam die Bezeichnung „Tragödie“ auf der ich bestanden hatte; der dritte Akt hinkte, schleppte und fiel vollständig durch; die Kostüme waren sehr reich aber geschmacklos. Das übrige wissen Sie: Geheul, GejohlIn der Presse war zu lesen: „Man lachte, lachte aus vollem Halse und mit grausamer Schonungslosigkeit vom ersten bis zum letzten Akt.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 101, Nr. 302, 31.10.1898, S. 1]. Nach Schluß der Vorstellung ließ mir die Polizei durch einen Detectiv mittheilen, sie brauche nur noch zwei Tage, um den Autor des Gedichtes zu entdecken. In einer Gesellschaft von 30 Personen kneipten wir die Nachtnach der Münchner Premiere des „Erdgeist“ am 29.10.1898 (Samstag). durch in den fragwürdigsten Restaurants, am MorgenAufbruch von München frühmorgens am 30.10.1898 (Sonntag). brachten mich zwei Freunde zum Bahnhofe, um 11 Uhr war ich in Kufstein, um 4 Uhr in Innsbruck und am nächsten MorgenWedekind traf also am 31.10.1898 (Montag) um 8 Uhr morgens in Zürich ein. um 8 Uhr hier in Zürich, wo ich zwei Tage späterWedekind traf am 2.11.1898 (Mittwoch) in Zürich den ebenfalls geflohenen Verleger Albert Langen, der am 1.11.1898 (Dienstag) noch in St. Gallen war. Seiner Frau Dagny Björnson schrieb Albert Langen Anfang November 1898 über die Situation in Zürich: „Wedekind und ich sind natürlich beide hier signalisiert und ‚beobachtet‘. Nun, sie werden sich wohl bald davon überzeugen, daß wir keine Bomben fabrizieren.“ [Abret/Keel 1987, S. 194f.] mit Langen zusammentraf. Es war der Zusammenbruch eines ganzen großen Gebäudes, das ich mir für die Zukunft construirt, und es blieb mir die Aufgabe, die Trümmer nach Kräften zu verwerthen. Am zweiten Tage meines Hierseins begann ich ein neues StückWedekind begann am 1.11.1898 in Zürich mit der Niederschrift eines auf vier Akte angelegten Schauspiels „Ein Genußmensch“ [KSA 4, S. 47-76] (erhalten ist nur wenig mehr als der erste Aufzug), brach die Arbeit daran ab und schrieb es in neuer Konzeption dann in Paris unter dem Titel „Ein gefallener Teufel“ fort, die Urfassung des „Marquis von Keith“ [vgl. KSA 4, S. 411-413]., dessen ersten Act ich heute zu beenden hoffe. Es sind jetzt 4 Jahre her, seit ich nicht mehr in Muße arbeiten konnte, und hier arbeitet es sich famos. Langen muß für meinen Lebensunterhalt sorgen und thut es in unbeschränkter Weise; dafür habe ich alle acht Tage ein GedichtAlbert Langen berichtete seiner Frau Dagny Björnson Anfang November 1898 aus Zürich über Wedekinds Gedichtproduktion [vgl. Abret/Keel 1987, S. 193-196], deren Druck im „Simplicissimus“ aber vorerst weitgehend unterblieb. zu machen. Der Grund, weswegen ich mich der Verhaftung entzogen, ist vor allem der, daß es mir von der Polizei als selbstverständlich nahe gelegt wurde. Ich dachte mir, die müssen es ja am besten wissen. Zweitens der, daß ich keine Papiere hatte und bei der Gerichtsverhandlung eventuell noch sonstige Unannehmlichkeiten hätte haben können. Jetzt hoffe ich das Unglück dazu auszunützen, endlich einmal zu einem geordneten Nationalitätsverhältnis zu gelangen. Es ist ja nicht meine Schuld, daß ich es bis jetzt nicht gehabt habe. Aber die Herren in Leipzig werden nun schon herausklauben, welcher NationalitätWedekind war amerikanischer Staatsbürger. In den älteren Eintragungen des polizeilichen Meldebogens steht unter „Geburtsort“ irrtümlich „San Francisco“ (statt richtig: Hannover), unter „Heimat: San Francisco Vereinigte Staaten“ sowie zutreffend unter „Staatsangehörigkeit: Nord-America“ [EWK/PMB Wedekind]. ich angehöre. Der dritte Grund war der heiße sehnlichste Wunsch, endlich mal wieder in Ruhe etwas arbeiten zu können. Nun kommt noch etwas dazu. Durch die Katastrophe bin ich auf dem besten Wege, in intime Beziehungen zur intimen Politik zu treten. Aus dem Tauschprozeßder Prozess gegen den in der politischen Abteilung der Berliner Geheimpolizei leitend tätigen Kriminalkommissar Eugen von Tausch vom 24.5.1897 bis 5.6.1897 vor dem Schwurgericht des Landgerichts I in Berlin, der großes Aufsehen erregt hatte. Er endete zwar mit einem Freispruch für den Kriminalkommissar, der angeklagt war, Verbrechen im Amt sowie Meineid begangen und „gegen die jetzige Regierung in schmählichster Weise intriguirt zu haben“ [Pester Lloyd, Nr. 119, 24.5.1897, Abendblatt, Beilage, S. (2)], indem er jahrelang eigenmächtig Journalisten – darunter Ernst Normann-Schumann (siehe unten) – für die Verbreitung von Gerüchten gewonnen hatte, um gegen die Politik des Kaisers Stimmung zu machen, Eugen von Tausch selbst war aber durch den Skandalprozess diskreditiert und mit ihm der preußische Polizeiapparat mit seiner intriganten Pressepolitik. Die Affäre markiert eine Staatskrise und wurde als ein politischer Skandal wahrgenommen. erinnern Sie sich vielleicht des „berüchtigtenin der Berichterstattung über Ernst Normann-Schumann (siehe unten) das stereotyp benutzte Adjektiv; er wurde in der Presse durchgehend charakterisiert als der „berüchtigte Normann-Schumann“ [Neue Freie Presse, Nr. 11764, 24.5.1897, Abendblatt, S. 2; Arbeiter-Zeitung, Jg. 9, Nr. 143, 25.5.1897, Morgenblatt, S. 6; General-Anzeiger für Hamburg-Altona, Jg. 10, Nr. 125, 30.5.1897, S. 1; Berliner Tageblatt, Jg. 26, 275, Nr. 2.6.1897, Morgen-Ausgabe, S. (2)].Herrmann Schumannrecte: Normann-Schumann. Der Journalist und Polizeiagent Ernst Normann-Schumann konnte im Prozess gegen den Kriminalkommissar Eugen von Tausch (siehe oben) nicht vernommen werden, da er sich ins Ausland abgesetzt hatte (in die Schweiz, wie sich später herausstellte). Er stand im Ruf, ein Hochstapler zu sein, galt aber zugleich als gefährlich. „Unter den Agenten der politischen Polizei war der berüchtigte, zur Zeit des Tausch-Processes nirgends auffindbare Normann-Schumann der gefährlichste.“ [Normann-Schumann. In: Grazer Tagblatt, Jg. 7, Nr. 160, 11.6.1897, Abend-Ausgabe, S. 1] Der Enthüllungsjournalist, der vor allem in Pariser Zeitungen für das Auswärtige Amt peinliche Artikel zur deutschen Politik veröffentlicht hatte, lebte inzwischen in Luzern und wurde in Preußen steckbrieflich wegen Majestätsbeleidigung gesucht: „Einen Steckbrief gegen Normann-Schumann erläßt der Untersuchungsrichter bei dem hiesigen Landgericht I. Das amtliche Schriftstück lautet: ‚Gegen den unten beschriebenen Schriftsteller Wilhelm Friedrich Ernst Schumann, genannt Normann-Schumann, [...] welcher flüchtig ist, ist [...] die Untersuchungshaft wegen wiederholter Majestätsbeleidigung verhängt. [...] Beschreibung: Alter: 44 Jahre. Statur: schlank. Größe: 1 Meter 75 Centimeter. Haare: dunkel.‘“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 261, 25.6.1897, Morgen-Ausgabe, S. 10] Sein Image illustriert folgender Bericht über ihn aus Berlin: „Normann-Schumann, der berüchtigte jurnalistische Hochstapler, lebt jetzt herrlich und in Freuden in Luzern. Dort haben ihn Bewohner seines früheren Wohnortes Zehlendorf gesehen und gesprochen, und ihnen gegenüber hat er sich als völlig harmloser Mensch und als ein Opfer von Verdächtigungen und Verleumdungen hingestellt. Normann-Schumann macht auch in Luzern einen großen Aufwand, bewohnt mit seiner Frau seine eigene, fürstlich eingerichtete Villa und prahlt noch immer mit seiner Kenntniß von allerlei Staatsgeheimnissen, die, wenn er plaudern könnte, die Welt in Staunen setzen würden.“ [Neues Wiener Journal, Nr. 1873, 19.8.1897, S. 4]. Ich werde den Herrn in den nächsten Tagen kennen lernenmöglicherweise in Anspielung auf die eigene Situation sarkastisch gemeint; ein Treffen Wedekinds mit dem ebenfalls wegen Majestätsbeleidigung gesuchten und in die Schweiz geflohenen Ernst Normann-Schumann (siehe oben) ist nicht belegt.. Damit eröffnet sich mir eine neue Welt, auf die ich mich, so gefahrvoll sie erscheinen mag, von ganzem Herzen freue. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, verehrte Frau, daß es mir nicht einfallen kann, mich auf unsaubere Missionen einzulassen. Ich hoffe, daß Sie mir das Vertrauen entgegenbringen, ich würde sonst nicht so offen sprechen. Aber die Fäden, die hier zusammenlaufen, sind wichtiger als man in Deutschland glaubt. Deswegen bin ich auch meiner Rückkehr nach Deutschland wegen ganz außer Sorge, erfolgt sie nun durch Abbüßung der Strafe oder auf irgend einem anderen Wege. Hätte ich mich verhaften lassen, so müßte ich in Leipzig aussagen, daß ich die GedichteNeben dem inkriminierten Gedicht „Im heiligen Land“ in Nr. 31 des „Simplicissimus“ (siehe oben) handelte es sich ferner um das Gedicht „Meerfahrt“ in der nächsten Ausgabe. „Das in der Nummer 32 des ‚Simplicissimus‘ enthaltene Gedicht ‚Die Meerfahrt‘, das von dem Schriftsteller Frank Wedekind verfaßt ist, enthält in seiner Schlußstrophe eine Beleidigung des deutschen Kaisers.“ [Prozeß gegen den „Simplicissimus“. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 295, 21.12.1898, S. 9787] ganz gegen meine Ueberzeugung geschrieben habe und in gar keinem moralischen Zusammenhang mit meinem Vergehen stehe. Das mag ich nicht, es wäre mir eine sehr unangenehme Blamage und deshalb in erster Linie lasse ich die Herren mich ohne meine Mitwirkung verurtheilenDer Majestätsbeleidigungsprozess ‒ gegen den Zeichner Thomas Theodor Heine (und wegen Fahrlässigkeit gegen die Leipziger Drucker) ‒ fand am 19.12.1898 vor der 2. Strafkammer des Landgerichts Leipzig statt (Beginn 9 Uhr morgens): „Die Oeffentlichkeit war auf die gesamte Dauer der Verhandlung ausgeschlossen. Die Verhandlung nahm 3½ Stunden in Anspruch. Mittags ½1 Uhr zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück. Die Urteilsverkündung erfolgte um ¾2 Uhr nachmittags. Es sind verurteilt worden: Heine wegen Majestätsbeleidigung in zwei Fällen mit sechs Monaten Gefängnis und die beiden mitangeklagten Buchdrucker, die infolge der Flucht des Verfassers Wedekind und des Verlegers Langen nach § 21 des Preßgesetzes zur Verantwortung herangezogen wurden, zu je 300 M Geldstrafe. Die Kosten des Verfahrens haben die Angeklagten zu tragen.“ [Prozeß gegen den „Simplicissimus“. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 295, 21.12.1898, S. 9787]. Aber nun zu Ihnen. Empfangen Sie meinen herzlichen Dank für das liebe Anerbieten, was Sie mir gemacht haben. Sie sehen, verehrte Frau, ich brauche es nicht; aber wer weiß, es kann die Zeit kommen, wo ich Sie daran erinnern werde. Ich sage Ihnen meinen, herzlichen aufrichtigen Dank. Es war das einzige derartige Anerbieten, das mir auf mein Mißgeschick hin zutheil wurde.

Daß ich Herrn Doctors freundliche Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 25.10.1898. Carl Heine dürfte Wedekind von seinem neuen Wirkungskreis, dem Carl Schultze-Theater in Hamburg (siehe unten), berichtet haben. bis heute nicht beantwortet, wird er mir verzeihen. Ich erhielt sie drei Tage vor der Premiere und so sehr ich mich über die Nachrichten freute, wollte ich zuerst das Ereignis abwarten. Nun sende ich Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche zu Ihren Erfolgen und zu dem Wirkungskreisdas Carl Schultze-Theater (Direktion: José Ferenczy) in Hamburg, wo Carl Heine mit „Die Wildente“ von Henrik Ibsen am 14.10.1898 noch mit dem Ibsen-Theater eine erfolgreiche Gastspielpremiere hatte; er wurde dort wohl unmittelbar darauf als Oberregisseur und artistischer Leiter engagiert [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 367] und zog nach Hamburg (Eichenallee 11) [vgl. Beate Heine an Wedekind, 20.12.1898], wohin der vorliegende Brief adressiert gewesen sein dürfte., der Herrn Doctor hoffentlich ungehindert Gelegenheit giebt, sich auszuleben und seinem Streben entsprechend künstlerisch zu arbeiten. Meine besten Wünsche sind noch bei Ihnen. Ich habe die feste Ueberzeugung, daß Sie Erfolg haben, wiewol ich keine Zeitungen gelesen, keine Nachrichten empfangen habe; gegen ZeitungslesenDie Majestätsbeleidigungsaffäre um den „Simplicissimus“ war in der Presse stark präsent. habe ich augenblicklich eine kleine Aversion. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, liebe verehrte Frau, wenn Sie mir schreiben und unsere Beziehungen nicht erlöschen lassen wollten. An mir wird es gewiß nicht fehlen. Grüßen Sie Herrn Doctor aufs herzlichste, sagen Sie ihm meine besten Wünsche und die Versicherung meiner unwandelbaren herzlichen Freundschaft. Ihnen, verehrte Frau, herzlichen Dank für Ihre Mittheilungen, für Ihre Sympathie von Ihrem Ihnen treu ergebenen
Frank Wedekind.


P.S. Würden Sie bitte darauf achten, daß von diesen Zeilen nichts in die Oeffentlichkeit sikertrecte: sickert., da mich das bei Langen arg discreditiren könnte. Ich selber vermeide es peinlich, irgend eine Zeitungsnachricht zu dementiren, da es in meinem Interesse liegt, daß man so wenig wie möglich Positives über mich weiß.

Verwehren Sie mir daher die Bitte nicht, außer unseren Intimen niemandem etwas über mich zu sagen, wenigstens nichts Bestimmtes.

‒ Nächstens wird „Schwigerling„Fritz Schwigerling“ war der ursprüngliche Titel von Wedekinds Stück „Der Liebestrank“ [vgl. KSA 2, S. 997], das unter dem Titel „Der Liebestrank. Schwank in drei Aufzügen“ [KSA 2, S.1004] 1899 im Albert Langen Verlag erschien. Den Vertrag hierüber und für ein weiteres Stück hat Wedekind am 18.11.1898 in Zürich mit Albert Langen geschlossen (siehe unten).“ und „Gastspiel„Das Gastspiel“ war der ursprünglich vorgesehene Titel von Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ [vgl. KSA 4, S. 323], der unter dem Titel „Der Kammersänger. Drei Scenen“ [KSA 4, S. 332] erschien – im Frühjahr 1899 als Neuerscheinung im Albert Langen Verlag in München angezeigt [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 52, 4.3.1899, S. 1742]. In dem Vertrag, den Wedekind am 18.11.1898 in Zürich mit Albert Langen abschloss, heißt es zu diesem und einem weiterem Stück (siehe oben): „§ 3. Herr Langen nimmt die beiden dramatischen Werke Wedekinds ‚Ein Gastspiel‘ und ‚Der Liebestrank‘ in Verlag und ‚Ein Gastspiel‘ unter den allgemein üblichen Bedingungen (10% der Tantiemen-Eingänge) auf in seinen Bühnenvertrieb. Von dem Reingewinn erhält Herr Wedekind die Hälfte.“ [Mü, PW B 89]“ bei Langen im Verlag erscheinen.

Beste Grüße an HenzeMax Henze war Schauspieler an dem von Carl Heine geleiteten Theater der Literarischen Gesellschaft in Leipzig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 435], dem Ibsen-Theater. Er hatte bei der Leipziger Uraufführung des Schwanks „Der Liebestrank“ die Hauptrolle des Fritz Schwigerling gespielt. Er folgte Carl Heine nach Hamburg als Schauspieler an das Carl Schultze-Theater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 367]..


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Weswegen ich die politischen Liederfortsetzte, können Sie sich leicht denken, jedenfalls nicht aus Überzeugung. Am Dienstag erfolgte die Confiscation nebst Verhaftsbefehl. Ganz München kannte mich als Autor des Gedichtes ... In der Zeit bis Samstag spielte ich noch zwei Mal vor gutbesetztem Haus den Dr. Fleischer ‒ ein eigenthümliches Zusammentreffen von Umständen. Woran die Erdgeistaufführung scheiterte, kann ich als Autor vielleicht nicht richtig beurteilen.  Lulu hatte einen bösen Zungenfehler, dazu kam die Bezeichnung „Tragödie“ auf der ich bestanden hatte; der dritte Akt hinkte, schleppte und fiel vollständig durch; die Kostüme waren sehr reich aber geschmacklos. Das übrige wissen Sie: Geheul, Gejöhl. Nach Schluß der Vorstellung ließ mir die Polizei durch einen Detectiv mittheilen, sie brauche nur noch zwei Tage, um den Autor des Gedichtes zu entdecken. In einer Gesellschaft von 30 Personen kneipten wir die Nacht durch ..., am Morgen brachten mich zwei Freunde zum Bahnhofe, um 11 Uhr war ich in Kuffstein, um 4 Uhr in Innsbruck und am nächsten Morgen um 8 Uhr hier in Zürich, wo ich zwei Tage später mit Langen zusammentraf. Es war der Zusammenbruch eines ganzen großen Gebäudes, das ich mir für die Zukunft construirt und es blieb mir die Aufgabe, die Trümmer nach Kräften zu verwerthen. Am zweiten Tage meines Hierseins begann ich ein neues Stück, dessen ersten Act ich heute zu beenden hoffe. Es sind jetzt 4 Jahre her, seit ich nicht mehr in Muße arbeiten konnte, und hier arbeitet es sich famos. Langen muß für meinen Lebensunterhalt sorgen und thut es in unbeschränkter Weise; dafür habe ich alle acht Tage ein Gedicht zu machen. Der Grund weswegen ich mich der Verhaftung entzogen ist vor allem der, daß es mir von der Polizei als selbstverständlich nahe gelegt wurde. Ich dachte mir, die müssen es ja am besten wissen [...]

Beate Heine schrieb am 14. November 1898 in Hamburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 15.12.1898 aus Zürich:]


Sie fragen mich nicht, warum ich Ihren freundlichen ausführlichen Brief nicht beantwortet habe.

Beate Heine schrieb am 13. Dezember 1898 in Hamburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 15.12.1898 aus Zürich:]


Ich verstand Ihre Carte prompt als eine Art Einladung und erwog eben den Gedanken, auf Weihnachten nach Hamburg zu reisen [...]

Frank Wedekind schrieb am 15. Dezember 1898 in Zürich folgenden Brief
an Beate Heine

Zürich, 15.XII.1898.


Sehr geehrte liebe Frau Doctor,

Sie fragen mich nichtin der erwähnten Postkarte (siehe unten)., warum ich Ihren freundlichen ausführlichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 14.11.1898. nicht beantwortet habe. Erlauben Sie mir, Ihnen trotzdem darüber Auskunft zu geben. Seit vier WochenWedekind war am 30.10.1898 aus München nach Zürich geflohen, um seiner drohenden Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung (im Gedicht „Im Heiligen Land“ im „Simplicissimus“) zu entgehen, wie er ausführlich berichtet hatte [vgl. Wedekind an Beate Heine, 12.11.1898]. ist die Stimmung sehr flau und wird wol nicht eher besser werden, als bis ich in Paris ein neues dankbareres Wirkungsfeld gefunden. Ich hatte damit gerechnet, daß mein PlagegeistWedekind war nicht gut auf den Verleger des „Simplicissimus“ zu sprechen, dem er den Haftbefehl wegen Majestätsbeleidigung und seine Flucht vor der Verhaftung zu verdanken hatte (und der ebenfalls aus München nach Zürich geflohen war). Albert Langen teilte seiner Frau Dagny Björnson am 8.11.1898 aus Zürich über sein Befinden und über Wedekind mit (der unter dem Pseudonym Kaspar Hauser weiter Gedichte für den „Simplicissimus“ schrieb): „Jetzt hier untätig sitzen, die Fühlung zu verlieren, das ist schlimmer als Gefängnis! Ich habe keine Ruhe, sonst schicke ich Beiträge. Aber ich beschränke mich darauf, Caspar Hauser aufzustacheln. Er macht heute ein neues Poem [...]. W[edekind] hat gestern ein großartiges Gedicht abgeschickt.“ [Abret/Keel 1987, S. 196, 199] Langen nur wenige Tage hier bleiben würde. Nun sitzt er mir noch immer auf der Haube, nimmt mir jede künstlerische Stimmung und langweilt sich und mich. Das Harte an der Sache ist, daß ich auf ein Jahr einen Contract mit ihm geschlossenWedekind hat mit Albert Langen in Zürich am 18.11.1898 einen Vertrag geschlossen (von beiden unterschrieben), in dem es heißt: „Zwischen Herrn Albert Langen und Herrn Frank Wedekind ist folgendes vereinbart worden § 1. Herr Langen garantirt Herrn Wedekind ein monatliches Fixum von M. 300.‒ für die Dauer eines Jahres beginnend am 1. December 1898. § 2. Herr Frank Wedekind verpflichtet sich hiergegen der Redaction des Simplicissimus monatlich mindestens drei poetische Beiträge über actuelle oder sociale Politik in dem bekannten Umfang von einer halben Seite des Simplicissimus zu liefern und für kein anderes illustrirtes Witzblatt (‚Jugend‘ inbegriffen) zu arbeiten. Für jedes vierte Gedicht monatlich erhält Herr Frank Wedekind eine besondere Vergütung von M. 25.‒.“ [Mü, PW B 89] habe, der mir 400 frs monatlich sichert, wogegen ich jede Woche einige Stunden etwas zu arbeitenWedekind schrieb nach seiner Flucht aus München Ende 1898 in Zürich für den „Simplicissimus“ etwa das Lied „Der Zoologe von Berlin“ [KSA 1/III, S. 33f.; vgl. KSA 1/IV, S. 669-671] oder das Gedicht „Die neue Redaktion des Simplicissimus“ [KSA 1/I, S. 750; vgl. KSA 1/II, S. 1342], die jedoch aus Rücksicht auf das anhängige Majestätsbeleidigungsverfahren von der Redaktion nicht gedruckt wurden, außerdem, wie vertraglich mit Albert Langen am 18.11.1898 vereinbart (siehe oben), weitere Gedichte, die im „Simplicissimus“ erscheinen sollten; dort erschienen unter dem Pseudonym Kaspar Hauser am 13.12.1898 „An die öffentliche Meinung“ [KSA 1/I, S. 503f.; vgl. KSA 1/I, S. 926] sowie am 3.1.1899 „Die schöne Helena“ [KSA 1/I, S. 506f.; vgl. KSA 1/II, S. 1349]. habe. Außerdem muß er alles verlegenIn Wedekinds mit Albert Langen in Zürich am 18.11.1898 abgeschlossenen Vertrag heißt es abschließend: „§ 4. Herr Wedekind verpflichtet sich, Herrn Albert Langen jede neue künstlerische Arbeit von ihm zuerst zum Verlag und Bühnenvertrieb anzubieten.“ [Mü, PW B 89], was ich literarisch produzire. Für den Zusammenbruch meiner Schauspieler CarriereWedekind war zuerst in Leipzig in Carl Heines Ibsen-Theater als Schauspieler engagiert (außerdem als Sekretär und Regisseur), wo sein „Erdgeist“ am 25.2.1898 durch das Ibsen-Theater im Krystallpalast uraufgeführt wurde, anschließend in München ebenfalls als Schauspieler (und Dramaturg) am Münchner Schauspielhaus, wo sein „Erdgeist“ am 29.10.1898 Premiere hatte und er anschließend fliehen musste (siehe oben). Mit der Flucht in die Schweiz hatte sich Wedekinds Schauspielerkarriere vorerst erledigt., war er mir eine derartige Compensation schon schuldig. Das nächste, was bei ihm erscheintWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ wurde im Frühjahr 1899 im Albert Langen Verlag in München als erschienen gemeldet [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 52, 4.3.1899, S. 1742]., ist ein ziemlich umfangreicher Einacter „Der Kammersänger“. Ich freue mich drauf, es Ihnen schicken zu können, nicht in der Hoffnung einer Aufführung, sondern weil ich bestimmt weiß, daß es Sie interessiren wird. Aus meinen politischen Plänen ist in dieser Versumpfung nichts geworden. Es ist mir hier allmählich alle Unternehmungslust in die Brüche gegangen. Umsomehr verspreche ich mir von Paris. TotentanzTitel eines nicht identifizierten Werks; das Szenarium seines später so betitelten Stücks „Totentanz“ (1906) entwarf er erst am 28.3.1905 [vgl. KSA 6, S. 613]. Die beiden anderen genannten Werke – „Die Kaiserin von Neufundland. Große Pantomime in drei Bildern“ (1897) und „Der Erdgeist. Eine Tragödie“ 1895 – sind im Albert Langen Verlag erschienen., Kaiserin von Neufundland und Erdgeist sind die Carten, auf die ich spiele. Um nicht vor Langeweile zu sterben, beschäftige ich mich etwas mit der Uebersetzung ins Französische. Die meiste Zeit des Tages verschlafe ich. Uebrigens macht es Langen auch nicht besser. Wenn ich nur schon wieder allein und selber Herr meiner Gedanken und Direction wäre. Uebrigens wird in den nächsten Tagen auch Grétor hier erwartet, der mit einem Transport alter BilderWilly Gretor war außer Maler auch Kunsthändler; er hatte angekündigt, auf einer Rückreise von Wien über Zürich zu kommen [vgl. Willy Gretor an Wedekind, 10.11.1898]. aus Wien kommt und mit dem ich die Reise vermuthlich fortsetze. Grétor ist Champagner für meine Stimmung, während mich Langens hundschnautzigkalte unkünstlerische Zappeligkeit geradezu lahmlegt.

Und nun zu Ihnen. Ich hätte damit beginnen sollen; ich bin in der That in Gedanken auch noch sehr oft auf unserer TourneeWedekind war als Mitglied des Ensembles von Frühjahr bis Sommer 1898 mit Carl Heines Ibsen-Theater auf Gastspieltournee gewesen., die mir jetzt schon verklärt wie ein schöner Traum erscheint, an den ich zurückdenke wie an eine erste Liebe, d.h. mit der bangen Befürchtung, als erlebe man so etwas einmal und nicht wieder. Ihre NachrichtenCarl Heine war als Oberregisseur an das Carl Schultze-Theater in Hamburg (Direktion: José Ferenczy) engagiert worden [vgl. Neuer Bühnen-Almanach 1899, S. 367], worüber Beate Heine Wedekind brieflich berichtet haben dürfte. vom Carl Schulze Theater klingen nicht sehr froh; ich verstehe alles und empfinde es mit, glaube aber doch, daß Sie zu sehr in Grau malen und daß sich Herr Doctor unmöglich mehr mit den bescheidenen Verhältnissen abfinden könnte, mit denen er noch vor einem Jahr arbeiten mußte, auch wenn künstlerischer Ernst und Anhänglichkeit dort größer waren. Ich weiß auch bestimmt, daß er nicht einen Schritt mehr zurück gehn wird und bedaure nur das eine, daß ich Ihnen mit meinen schwachen Kräften bei der Behauptung der Situation nicht behülflich sein kann. Ungemein hat mich gefreut, was Sie über Ihren Plan eines Theatersvermutlich das geplante Leipziger Schauspielhaus, in dem Carl Heine seine Idee einer Schauspielschule durchführen wollte [vgl. Wie erzieht man den Schauspieler? In: Berliner Tageblatt, Jg. 27, Nr. 343, 9.7.1898, Abend-Ausgabe, S. (2)]. in Gemeinschaft mit dem Sekretär SchwarzBernhard Schwartz (auch: Schwarcz) war Bürochef und Dramaturg am Carl Schulze-Theater in Hamburg [vgl. Neuer Bühnen-Almanach 1898, S. 394], dann zusätzlich Direktionsvertreter [vgl. Neuer Bühnen-Almanach 1899, S. 367]. schreiben. Oder hieß er nicht Schwarz? Ich verwechsle ihn keineswegs mit dem Gauner in Breslaumöglicherweise – anknüpfend an den Namen Schwarz (siehe oben) den Namen Weiß assoziierend – Gustav Weiß, Sekretär und Kassierer am Stadttheater in Breslau [vgl. Neuer Bühnen-Almanach 1899, S. 283], zu dem das Lobe-Theater gehörte, wo das Ensemble des Ibsen-Theaters auf seiner Gastspieltournee (siehe oben) Station gemacht und am 26.5.1898 Wedekinds „Erdgeist“ aufgeführt hatte [vgl. KSA 3/II, S. 1219]., nur ist mir der Name nicht mehr gegenwärtig. Daß Sie sehr unter der Ueberlastung Ihres Herrn Gemahls zu leiden haben, kann ich mir wol denken, und doch glaube ich, daß auch Sie es bitter empfinden würden, wenn Sie wieder mit LeipzigCarl Heine war mit seinem Ibsen-Theater, dem Ensemble des Theaters der Literarischen Gesellschaft, in Leipzig angesiedelt, bis er vom Carl Schultze-Theater in Hamburg als Regisseur engagiert wurde. tauschen müßten. Hamburg bietet Ihnen doch jedenfalls viel mehr Gelegenheit zu freier Bewegung, wenn die Menschen auch nicht so übermäßig klug sind wie in Leipzig. Ich habe Ihnen glaube ich noch nicht mitgetheilt, daß unser Freund Kurt HezelDr. jur. Kurt Hezel in Leipzig (Gartenstraße 7) war dort als Rechtsanwalt tätig (Kanzlei: Petersstraße 41) [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1899, Teil I, S. 365] und verteidigte Wedekind 1899 im Majestätsbeleidigungsprozess [vgl. KSA 1/II, S. 1714f.]. die Aufgabe hat, mich von der MajestätsbeleidigungWegen seines Gedichts „Im Heiligen Land“ am 25.10.1898 in Nr. 31 des „Simplicissimus“ waren gegen Wedekind als Autor, gegen Albert Langen als Verleger und Redakteur und gegen Thomas Theodor Heine als Illustrator Haftbefehle wegen Majestätsbeleidigung (nach § 95 des Reichstrafgesetzbuches) erlassen worden [vgl. KSA 1/II, S. 1704-1712]. reinzuwaschen. Gelingen wird es ihm freilich nicht, aber vielleicht wird es ihm Vergnügen machen. Unsere lieben Freunde, die DioscurenDioskuren – ein enges Männerpaar, bezeichnet nach den Zwillingsbrüdern Castor und Pollux aus der griechischen Mythologie. Martens und Weber schrieben mirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Max Halbe, Kurt Martens, Edgar Steiger, Hans von Weber an Wedekind, 30.11.1898. einmal von München aus in sehr herzlicher Weise. Es scheint ihnen dort unbändig gut zu gefallen. Hätten Sie sich vor einem Jahr um diese Zeit in Leipzig gedacht, daß sich die Gesellschaft, die Sie in Ihrem HauseBei Carl und Beate Heine in Leipzig (Lampestraße 3, 2. Stock) [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1898, Teil I, S. 312], in der Wohnung hatte die Literarische Gesellschaft ihren Sitz [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 435], hatten die im vorliegenden Brief genannten Kurt Martens und Hans von Weber verkehrt (beide inzwischen in München), außerdem Kurt Hezel (siehe oben). versammelt hatten, so zerstreuen würde, wie wenn ein Wirbelwind darunter gefahren wäre. Der Vorabend vor WeihnachtenWedekind hatte demnach den 24.12.1897 ‒ Heiligabend ‒ bei Carl und Beate Heine in Leipzig (Lampestraße 3, 2. Stock) [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1898, Teil I, S. 312] verbracht., das Schmücken des Baumes, eine zerbrochene Leuchtermanchette, ein Tropfen Blut auf Ihrer Hand, dazu der erste Antrag Ihres Herrn Gemahls, mich für Tournée zu engagiren, das alles ist mir so deutlich als wäre es gestern geschehen. Aber jetzt ein ernstes Wort, liebe Frau Doctor. Ich kann mir ja wol denken, warum Sie meine Adresseaktuell: Leonhardstraße 12 (2. Stock) in Zürich. Beate Heine wollte Wedekind offenbar zu Weihnachten 1898 ein Geschenk zukommen lassen und hatte ihn zu diesem Zweck in der erwähnten Postkarte (siehe unten) um die Adresse, unter der er zu erreichen sein würde, gebeten. wissen wollen; dazu haben Sie mir zu reichlich Gelegenheit gegeben, Ihr freundliches gutes Herz kennen zu lernen. Aber nun frage ich Sie ernstlich, wozu das jetzt, wozu die Mühe. Daß ich an dem Abend sehr viel an Sie denken werde, das ist doch selbstverständlich. Und der persönliche Verkehr hat für mich gegenüber allen Lebensgütern einen so unermeßlich hohen Werth, daß Sie ihn mir durch nichts annähernd ersetzen können, als wenn Sie mir Nachrichten über sich geben wollen, über sich und Ihren lieben Herrn Gemahl. Wenn Sie das thun wollen, werde ich mich sehr reich von Ihnen beschenkt fühlen. Das Leben bringt uns früher oder später wieder zusammen und jetzt haben Sie andere Menschen um sich, für die Sie Ihre lieben schönen Hände rühren müssen. Ich verstand Ihre Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 13.12.1898. prompt als eine Art Einladung und erwog eben den Gedanken, auf Weihnachten nach HamburgBeate und Carl Heine wohnten inzwischen in Hamburg (Eichenallee 11, 2. Stock) [vgl. Beate Heine an Wedekind, 20.12.1898; vgl. Hamburger Adressbuch 1900, Teil III, S. 256; Teil IV, S. 108]. zu reisen, als mir einfiel, daß mir das jetzt versagt bleiben muß. Um Ihre Frage zu beantworten, ich dachte zwischen Weihnachten und NeujahrWedekind reiste am 22.12.1898 von Zürich nach Paris [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899]. zu reisen, um in Paris nicht in den größten Trubel hineinzugeraten. Mein erster Abend in Paris wird mich vermutlich nach Folies BergèreWedekind hatte das Pariser Cabaret Les Folies Bergère bei seinen früheren Aufenthalten in Paris vielfach besucht – so nachweislich etwa am 9.5.1892, 3.12.1892 und 6.1.1894 [vgl. Tb]. führen. So größenwahnsinnig es klingen mag gegenüber einem Platz wie Paris, ich gehe diesmal mit großen HoffgenDruckfehler, recte: Hoffnungen. hin. Gehen sie nicht in Erfüllung, dann werde ich wenigstens wieder ein Stück Leben gelebt haben. Sagen Sie Herrn Doctor bitte meine herzlichsten Grüße. Ich bin sicher, daß er den Muth nicht verlieren wird. Seine ErfolgeCarl Heine hatte sich als Direktor und Oberregisseur am Theater der Literarischen Gesellschaft in Leipzig (Spielort dort vor allem der Krystallpalast), seinem Ibsen-Theater, einen guten Ruf erworben. „Das Theater der Litterarischen Gesellschaft in Leipzig verfolgt den Zweck, ‚dramatische Kunstwerke modernen Geistes von selbständiger Bedeutung zur scenischen Darstellung‘ zu bringen.“ [Neuer Bühnen-Almanach 1898, S. 435] Er hat im Krystallpalast erstmals ein Stück Wedekinds auf die Bühne gebracht („Erdgeist“). Sehr erfolgreich war im Anschluss daran seine Tournee mit dem Ibsen-Theater, nicht zuletzt in Hamburg (das Ensemble-Gastspiel in der Stadt eröffnete am 11.4.1898 mit Henrik Ibsens „Volksfeind“ und „Hedda Gabler“). Erfolgreich war auch seine Gastspielpremiere mit „Die Wildente“ von Henrik Ibsen am 14.10.1898 am Hamburger Carl Schultze-Theater (Direktion: José Ferenczy), wo man ihn als Oberregisseur und artistischen Leiter engagierte [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 367]. im Lauf des vergangenen Jahres geben ihm auch wahrlich keinen Grund dazu. Haben Sie Dank, liebe Freundin, daß Sie meiner immer noch gedenken. Ich bin zu sehr Optimist, um nicht an ein baldiges sehr frohes Wiedersehen zu glauben. Mit der Bitte, an meine unwandelbare Ergebenheit glauben zu wollen, bin ich Ihr getreuer
Frank Wedekind.

Beate Heine schrieb am 20. Dezember 1898 in Hamburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

BH


Hamburg,
Eichenallée 11.II
d. 20.12.98.


Mein lieber, lieber Freund ‒ machen Sie bitte nicht Ihr strenges Gesicht, wenn Sie nun doch eine Weihnachtskisteein Weihnachtspaket für Wedekind, mit dem vorliegenden Begleitbrief verschickt. bekommen, aber ‒ erstens hatte ich schon, als Ihr Briefvgl. Wedekind an Beate Heine, 15.12.1898. mit dem „ernsten Wort“ kam, Alles besorgt, was ich Ihnen schicken wollte, und zweitens lassen Sie mich auch mal ein ernstes Wort reden.: Warum wollen Sie mir die große Freude nehmen, Sie zu beschenken? Es wäre mir wirklich eine unnatürliche Entbehrung, es nicht zu thun. Nach meinem Mann habe ich zwar noch viele Menschen, die ich gern habe, sehr gern, herzlich gern ‒ aber, wenn ichs recht bedenke ‒ Niemand, der mir | so lieb ist, u. mir so nahe steht, wie Sie. Als wir zusammen waren, da zwang es mich, Ihnen mein innerstes Herz zu zeigen, Dinge mit Ihnen zu besprechen, die ich noch nie besprochen hatte ‒ ich hatte ein ganz schrankenloses Vertrauen u. den Wunsch, mich vor Ihnen so zu zeigen, wie ich wirklich innerlich beschaffen bin. Das ist mir noch nie vorher begegnet ‒ u. sehn Sie, deshalb sind Sie mir so nah ‒ u. deshalb möcht ich Ihnen die Weihnachtskiste schicken, das ist doch klar?? Bitte sagen Sie, daß ich recht habe. Also nun zum Ihnhalt! Die Makronen sind selbstgebacken u. sollen Sie an voriges Jahr erinnern. Der kleine Kalender gehört in’s Portemonnaie, also bei | Ihnen in die Weste. Schlipse u. Handschuh (entschuldigen Sie die Nützlichkeit) sind für die Pariser Reise berechnet ‒ und nun kommt die pièce de résistance(frz.) Hauptgericht, großes Fleischstück; hier: die Hauptsache., die Mappe, deren Einrichtung mir viel Kopfzerbrechen gemacht hat, u. die Ihnen das Arbeiten im Café erleichtern soll. Also, auf geht sie, wenn man die/en/ kleinen Schiebspangen/Knöpfchen/ Schieber im/un/term Schloß herunterschiebt; in die schmale Tasche gehört der Bloc, der, wie ich denke, das Bequemste für Manuskripte ist. Die beschriebenen Blätter sollen in die über der ersten liegende größere Tasche. Federhalter u. Blei sind von mir mit besonderer Andacht ausgesucht, u. bitte, schreiben Sie mir, ob Ihnen der Halter bequem ist. Die Schreibunterlage endlich ist nur durch das Gummiband | gezogen, damit sie nicht rausfällt, zum Schreiben müssen Sie sie einfach rausziehen u. brauchen dann die Mappe selbst nicht auf dem Tisch zu haben, wo doch so wenig Platz ist. So ‒ nun ist’s schon alle, das ist Alles, was ich für Sie habe ‒ thun Sie mir aber bitte die Liebe, mir offen zu schreiben, ob Ihnen das Ding wirklich bequem u. praktisch scheint ‒ ich dachte immer an Ihre schwarze offene Ledertasche, die wollte ich gern durch was Hübscheres ersetzen. Nun ‒ genug, und u. zu Ihrem lieben Brief ‒ haben Sie tausend Dank dafür, ich war ganz glücklich darüber. ‒ Daß ich nicht fragte, weshalb Sie nicht antworteten, lag daran, daß ich erstens doch denke, unsere Einrichtung ist so: Sie | schreiben und ich antworte! Sehn Sie, dann habe ich nie das Gefühl, daß Sie denken,/:/ „Herrgott noch mal, jetzt muß ich endlich antworten!“ ‒ sondern Sie schreiben von Neuem wenn Sie mögen ‒ nicht wahr? Ich will Sie um die Welt nicht zum Schreiben pööksen(in Hamburger Platt) prügeln., u. deshalb fragte ich auch nicht. Würden Sie mal gar zu lange schweigen, so durchbräche ich wohl mal diese selbstgesetzte Schranke! ‒ Also, Ihre Stimmung war schlecht! Ich habe mir schon sowas gedacht, daß Langen Ihnen unerträglich werden würde ‒ ich weiß ja doch von Ihnen, wie er ist u. wie Sie zu ihm stehen. Aber ‒ Grétor!!! Ich habe ganz laut „ach“ geschrien, als ich | lasin Wedekinds Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 15.12.1898]., daß er in Z. erwartet wird. Von dem müssen Sie uns schreiben; ist er sehr herabgekommen? Also, statt des HaremsWilhelm Weigand kolportiert eine Erzählung Erich Freunds über Kindesmissbrauch im Ateliers des Malers Willy Gretor in Paris: „Als ihn Doktor Freund in einem dieser Werkräume besuchte, öffnete sich plötzlich die Tür eines Nebengelasses und eine splitternackte alte Vettel trat [...] an der Spitze einer kleinen Mädchenschar, Kinder unter vierzehn Jahren, einen Rundmarsch durch den Raum an. Der Maler erklärte, dieser Harem sei sein einziges Vergnügen, und lud seinen Besuch ein, sich zu bedienen, indem er eines der Geschöpfe zu seinem Gebrauch auswählte, was der Bedachte aber dankend ablehnte.“ [Wilhelm Weigand: Welt und Weg. Aus meinem Leben. Bonn 1940, S. 68] jetzt alte Bilder! Carl amüsirte sich herrlich darüber. Nun werden Sie gewiß wieder ganz pariserisch. Sehr, sehr leid that es uns Beiden, zu hören, daß es mit den politischen Dingen nichts wird ‒ das hätten wir Ihnen am Meisten gewünscht. Daß Sie auf FilissaFilissa heißt die Kaiserin in Wedekinds Tanzpantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897). u.s.w. bauen, ist sehr richtig u. gut. Aber Carl sowohl als ich denken, daß Sie die Karte „Erdgeist“ streichen sollen. Paris ist ja allerdings nicht Deutschland, aber ‒ Sie sollen jetzt ein neues (abendfüllendes) Drama schreiben und damit wuchern. Sie haben | den Erdgeist genügend ausprobirt, suchen Sie neue, frische Lorbeeren. Wie freue ich mich auf den Kammersänger ‒ der hängt doch nicht mit dem „Gastspiel“ zusammen„Das Gastspiel“ war der ursprünglich vorgesehene Titel von Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ [vgl. KSA 4, S. 323].? ‒ ‒ Von uns ist zunächst zu erzählen, daß wir vor 14 Tagen in Berlin waren, Carl mußte wegen wichtiger Gastspiele verhandeln ‒. u. ich freute mich, meine VerwandtenBeate Heine stammte aus Berlin. Dort lebte ihre Cousine Franka Petersen, zu der sie ein sehr gutes Verhältnis hatte. u. Freunde aufzusuchen. Denken Sie, wen treffen wir im „Fuhrmann HenschelGerhart Hauptmanns Schauspiel „Fuhrmann Henschel“ (1898) war am Deutschen Theater (Direktion: Otto Brahm) in Berlin am 5.11.1898 (Samstag) uraufgeführt worden; die Vorstellung begann um 19.30 Uhr [vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 519, 5.11.1898, Morgen-Ausgabe, S. 12], ebenso die nächsten Vorstellungen am 6. und 7.11.1898 – eine davon dürften Carl und Beate Heine besucht und die Bekannten aus Leipzig getroffen haben, falls diese zur Opernpremiere „Tristan und Isolde“ (siehe unten) nach Berlin gekommen sein sollten, die ebenfalls am 5.11.1898 stattfand.? Merian u. BrecherHans Merian, Schriftsteller, Verlagsbuchhändler und Musikkritiker, lebte nach wie vor in Leipzig (Kantstraße 25) [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1899, Teil I, S. 606], ebenso Gustav Brecher (Czermals Garten 14) [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1899, Teil I, S. 95], Korrepetitor bei der Musikdirektion am Leipziger Stadttheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 405].!!! Das war wirklich entzückend, weil so ganz unerwartet ‒ die waren zu einer Musik-PremièreRichard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ hatte am 5.11.1898 (Samstag) im Königlichen Opernhaus in Berlin von 19 Uhr bis 23.15 Uhr [vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 519, 5.11.1898, Morgen-Ausgabe, S. 12] Premiere ‒ unter der musikalischen Leitung des neuen Hofkapellmeisters Richard Strauss, der damit erstmals vor das Berliner Publikum trat. Hans Merian und Gustav Brecher (siehe oben) dürften dieser Premiere wegen von Leipzig nach Berlin gereist sein – möglich als Reiseanlass ist aber noch eine andere musikalische Premiere in diesen Tagen, das erste Konzert des Sängerbundes des Berliner Lehrervereins am 4.11.1898 in der Philharmonie. gekommen, wir aßen zusammen zu Abend und ließen uns vorklagen, daß es ohne uns in Leipzig nicht mehr schön sei. Vom Fhuhrmann Henschel haben wir | Beide den gleichen Eindruck empfangen. Es ist wie Carl sagt quälend aber nicht erschütternd ‒ u. ich meine, es ist wieder mal ein Lebensausschnitt von größter, consequentester Treue, u. es packt einen so furchtbar, daß mir beim Herausgehen z.B. die Knieen zitterten, so hin war ich ‒ aber ich habe nicht wie sonst bei Hauptmannschen Sachen das Gefühl einem durch die Kunst geläuterten Kunstwerk gegenüber zu stehen. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht erhoben, erbaut, schön ergriffen ‒ es war nur schrecklich. Uebrigens ist’s wieder mal unendlich fein beobachtet, mit solchem Humor, solcher Schärfe ‒! ‒ ‒ Carl wollte in Berlin einen ErsatzCarl Heine fand ihn doch; Therese Schrodt und Julia Schröffel waren „die zwei neu engagierten Liebhaberinnen“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 3, Nr. 594, 20.12.1898, Abend-Ausgabe, S. (2)]. für unsere kranke erste Liebhaberin, fand aber Niemand, | dagegen schnappte er dem hiesigen StadttheaterdirektorMax Bachur war zusammen mit Franz Bittong Direktor des Stadttheaters in Hamburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 362]. Bachur den „Gollinger“ vor der Nase weg, u. zwar mit Schweighofer’s Gastspiel als GollingerDas Lustspiel „Mathias Gollinger“ (1898) von Oscar Blumenthal und Max Bernstein hatte am 25.12.1898 am Carl Schultze-Theater in Hamburg Premiere (zeitgleich mit der Premiere der Berliner Inszenierung) ‒ ein Gastspiel des Charakterkomikers Felix Schweighofer, der die Titelrolle spielte.. Gott gebe, daß es einschlägt ‒ ich hab das Stück gelesen u. finde es sehr schwach ‒ nur Schweighofer kanns zwingen. Der ist gestern gekommenam 19.12.1898; der Ankunftstag Felix Schweighofers in Hamburg war in der Presse angekündigt: „Felix Schweighofer trifft am Montag in Hamburg ein.“ [Altonaer Nachrichten, Nr. 296, 18.12.1898, Morgen-Ausgabe, S. (2)] u. wir waren mit ihm erst in der KinderkomödieIm Carl Schultze-Theater fand am 19.12.1898 (Montag) keine Kindervorstellung statt; vermutlich wurden lediglich Räumlichkeiten besichtigt. und dann bei PfordteDas berühmte Feinschmecker-Restaurant des Spitzenkochs Franz Pfordte in Hamburg (Plan 10) [vgl. Hamburger Adreß-Buch für 1899, Teil III, S. 457] kultivierte französische Küche, kombiniert mit norddeutschen Regionalgerichten., u. haben uns sehr angefreundet. S. ist ein ungeheuer begabter, enorm fleißiger, sehr ernster Künstler ‒ dabei kindl.-liebenswürdig, trotz seiner 57 Jahre!! Seine Augen sehen oft wie 17jährig aus, blau, blitzend, schelmisch. ‒ Im Theater wurde bisher ZazàDie Premiere des französischen Sittenstücks „Zaza“ (1898) von Pierre Berton und Charles Simon am Carl Schultze-Theater, ein Gastspiel von Helene Odilon vom Deutschen Volkstheater in Wien, fand am 30.10.1898 statt, die letzte Vorstellung am 20.11.1898 (Helene Odilon setzte ihre Gastspielreise in München fort, wo das Stück am 22.11.1898 am Gärtnerplatztheater Premiere hatte). In Hamburg war das fünfaktige Schauspiel allabendlich ausverkauft und sehr erfolgreich. gegeben, dazwischen (FregoliDer berühmte italienische Verwandlungskünstler Leopoldo Fregoli hat sein Gastspiel am Carl Schultze-Theater in Hamburg am 3.12.1898 (Samstag) begonnen ‒ jeweils um 19.30 Uhr begannen die Vorstellungen, in denen er insbesondere Stimmen und Instrumente imitierte, darunter auch sein Programm „El Dorado“ mit 60 Stimmverwandlungen. Zuletzt war für den 12.12.1898 angekündigt, dass „am Montag die Opernparodie ‚Peccato originale‘ (Die Erbsünde) zur Aufführung kommt, in welcher Fregoli alle Personen und Stimmen einer italienischen Oper: Primadonna, Tenor, Sopran, Bariton ec. ec. bis zum Requisitenabräumer und Heroldstatisten allein darstellt, sowie auch alle Gesangspartien zur vortrefflichsten Wirkung bringt.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 3, Nr. 579, 11.12.1898, Morgen-Ausgabe, S. (3)], | der Schurke, ließ uns plötzl. angeblich wegen Krankheit im Stich) mußte die Radfahrposse„‚All Heil!‘ Posse mit Gesang und Evolutionen in 6 Bildern aus dem Radfahrerleben“ (1898) von Richard Manz mit Musik von Josef Krägel hatte am 17.12.1898 am Carl Schultze-Theater in Hamburg Premiere. Der Ausruf „All Heil!“ markiert die damalige Radfahrermode. So wurde der „Radfahrermarsch ‚All Heil‘“ bei dem großen „Gala-Radfahr-Saalfest des Radfahrerclubs Nord St. Pauli“ [Altonaer Nachrichten, Nr. 272, 21.11.1898, Abend-Ausgabe, S. (1)] gespielt. Die populäre „Sport-Posse von Richard Manz“ wurde entsprechend rezensiert als ein „ein harmloses Dilettantenstück, das sich vielleicht ganz nett eignen würde zu Aufführungen in Radfahrklubs, das aber nicht auf eine größere Bühne gehört und noch weniger geeignet ist, einen ganzen Abend zu füllen. Es sind Episoden aus dem Radfahrer-Leben, Leiden und Freuden, die das Stahlroß mit sich bringt; ein alter Herr, der aus Liebe zu einer Chansonette die alten Knochen aufs Rad trägt und dabei natürlich die lächerlichste Rolle spielt; ein Wettrennen ‒ selbstverständlich hinter der Bühne; viel Radfahrer-Durst und dergl. mehr.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 3, Nr. 591, 18.12.1898, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Stücke dieser Art ‒ zum Beispiel „All Heil! Oder die Ritter vom Rad. Posse mit Gesang“ (1891) von Hans Neu ‒ waren beliebt und ein bewährtes Genre.All Heil“ heraus. Ich kann Ihnen sagen ‒ schrecklich ‒ als wir nach Hause fuhren, hätte ich beinahe geheult. Wissen Sie, man schämt sich so. Nun, heut wird wieder ZazàBei der Wiederaufnahme des Sittenstücks „Zaza“ (siehe oben) am 20.12.1898 spielte Emmy Förster aus dem Ensemble des Carl Schultze-Theaters die Titelrolle. aufgenommen. Dabei wurde sogar geklatscht u. gelacht in der Première ‒ aber es ist eben ein zu leeres, gräßliches Stück! ‒ Wir hoffen viel von Wieckes GastspielDas Gastspiel des Schauspielers Paul Wiecke vom Dresdner Hoftheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 324] am Carl Schultze-Theater in Hamburg kam nicht zustande. ‒ da kann Carl viel Gutes rausbringen, ihm fehlt sonst der erste Liebhaber. Nach dem Gollinger studirt Carl die Erziehung zur EheOtto Erich Hartlebens Lustspiel „Die Erziehung zur Ehe“ (1893) hatte am Carl Schultze-Theater in Hamburg unter der Regie von Carl Heine am 19.2.1899 Premiere., die BefreitenOtto Erich Hartlebens Einakter-Zyklus „Die Befreiten“ (1899) hatte am Carl Schultze-Theater in Hamburg unter der Regie von Carl Heine am 29.1.1899 Premiere. u. Hedda GablerHenrik Ibsens Schauspiel „Hedda Gabler“ (1890) hatte am Carl Schultze-Theater in Hamburg unter der Regie von Carl Heine am 11.1.1899 Premiere., ‒ um doch nur mal wieder einen reinen | Geschmack auf die Zunge zu bekommen! Haben Sie Dank, daß Sie so mit uns empfinden! Ja es wäre schön gewesen, wenn Sie diese Phase mit uns durchgemacht hätten. ‒ Sie gehn nun nach dem geliebten, unvergleichlichen Paris. Carl sagte, wir wollten Sie im Juni dort besuchen ‒ das wäre schön! ‒

Dieser Brief ist nun der letzte, den Sie im alten Jahre von uns bekommen. Carl trägt mir viele Grüße u. gute Wünsche für 98/9/ an Sie auf. Ich werde an Sylvester bei der Jahreswende an Sie denken ‒ vielleicht begegnen sich | unsere Gedanken. Alles, alles reichste Glück wünsche ich Ihnen zum neuen Jahre ‒ zuerst künstlerische u. pekuniäre Erfolge ‒ u. alles was Sie sonst noch als Glück empfinden. Und nun leben Sie wohl u. Gods angels may guard you(engl.) Gottes Engel mögen Sie beschützen. ‒ sagt man in England. Reisen Sie glücklich u. gedenken Sie unser. Mit herzlichen, warmen Festgrüßen Ihre
sehr getreue
Beate Heine.


p.s. Zu meinem Aerger sehe ich eben, daß der Esel von Buchbinder die Bloks zu breit gemacht hat; es ist aber nicht mehr Zeit es ändern zu lassen, vielleicht lassen Sie sich die Blocs selbst einen Centimeter schmäler schneiden.? ‒ Die 2te Tasche fehlt auch ‒ Sie müssen sich nun schon mit einer behelfen! Zu dumm!

Frank Wedekind schrieb am 27. Dezember 1898 in Paris
an Beate Heine

[Hinweis und Zitat in Hartung & Karl: Auktion 46 (1984), Nr. 5510:]


Wedekind, Frank [...]. Paris 27.XII.1898. […]

Berichtet einer „Frau Doctorwahrscheinlich Beate Heine, die Wedekind in seinem um diese Zeit dichten Briefwechsel mit ihr stets so anredete.“ von seiner Reise nach ParisWedekind reiste am 22.12.1898 von Zürich nach Paris [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899].. „Panizza traf ich hierWedekind, der nach seiner Flucht aus München (am 30.10.1898, um der drohenden Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung zu entgehen) nach Zürich Oskar Panizza am 2.11.1898 dort getroffen hat [vgl. Oskar Panizza, Wedekind an Carl Heine, 2.11.1898], kam in Zürich oft mit ihm zusammen [vgl. Wedekind an Frida Strindberg, 4.11.1898], bis er aus Zürich ausgewiesen wurde und am 21.11.1898 nach Paris abreiste [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 29.11.1898], wo Wedekind ihn nun wiedertraf. Oskar Panizza erklärte zu seiner Ausweisung aus der Schweiz: „Dann packte ich Ende November meine Penaten und ging nach Paris.“ [Zürcher Diskußionen, Jg. 1 (1897/98), Nr. 12, S. S. 11] in einem Wust von Kisten und Möbeln, doch fühlt er sich nun wieder glücklicher als in Zürich ... Karlschek (?)als unsichere Lesart markiert; möglicherweise steht hier im handschriftlichen Brief der Name des Malers Hans Baluschek, der für seine realistische Malweise von Berliner Straßenszenen und seinen sozialkritischen Blick bekannt war. soll auch bald kommen und seine Überwindung des NaturalismusSchlagwort (nach Hermann Bahrs 1891 veröffentlichter Schrift „Die Überwindung des Naturalismus“), mit dem Wedekind hier ironisch operiert. Er charakterisierte den Naturalismus im nächsten Brief an seine Freundin dann als „unfreundliche düstere Muse“ [Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899]. an Paris probiren. In Zürich wo es gar keinen Naturalismus giebt, ist das schließlich kein großes Kunststück. Ich habe meinen Naturalismus in Zürich auch überwunden. Ich hätte mich aber noch mehr überwinden müssen, wenn ich ihn nicht hätte überwinden wollen. Hier liegen die Verhältnisse etwas anders ...“.

Frank Wedekind schrieb am 7. Januar 1899 in Paris folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


Paris, 7.I.1899.


Liebe verehrte Freundin,

heute Mittag bringt mir mein Wirthnicht identifiziert. ein PaketDen Inhalt des Pakets mit Weihnachtsgeschenken für Wedekind hat Beate Heine ihm in ihrem Begleitbrief erläutert [vgl. Beate Heine an Wedekind, 20.12.1898]. aufs Zimmer, ich weiß nicht ob ich mich mehr freute oder mehr erschrak, als ich es öffnete. Sie werden beides begreifen. Am 22.December verließ ich Zürich. Ich mußte abreisen, da ich in Zürich nicht arbeiten konnte und arbeiten mußte; so setzte mich Langen auf die Bahn und schickte mich hierher und meine Adresse schrieb ich erst nach Neujahr an meine Wirthin in ZürichWedekind wohnte in Zürich (Leonhardstraße 12, 2. Stock) im Haus von Gertrud Schwann [vgl. Wedekind an Frida Strindberg, 4.11.1898], verzeichnet als Frau E. Schwann (Leonhardstraße 12) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich für 1899, Teil I, S. 502]; seine Zimmerwirtin in Zürich war die Gattin seines alten Bekannten Mathieu Schwann [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 31.10.1898]..

Wie soll ich Ihnen nun für alles danken! Die wunderschöne Mappe. Ich habe sie genau durchstudirt, und mich bei jeder neuen Entdeckung mehr gefreut. Wenn ich sie irgendwo brauchen kann, so ist es hier in Paris. Nur fürchte ich mich, sie in Gebrauch zu nehmen, weil sie mir wirklich aufrichtig leid thut. So habe ich sie auch heute noch nicht mitgenommen (ich schreibe nämlich im Café de la Regence, wo vor 150 Jahren Casanova saßWedekind war dem Café de la Régence (seit 1854 in der Rue Saint-Honoré 161), das zu Zeiten Casanovas noch Café de la Place du Palais-Royal hieß, auch in einer seiner Lieblingslektüren begegnet, in Casanovas Memoiren (dort ist im Kapitel über seine Ankunft in Paris ein Besuch in einem Kaffeehaus im Palais Royal geschildert). Casanova verkörperte für Wedekind Hedonismus [vgl. KSA 4, S. 455]. In seinem neuen Drama (siehe unten), dem noch in Zürich begonnenen Dramenentwurf „Ein Genußmensch“, den er in Paris in neuer Konzeption als „Ein gefallener Teufel“ (Urfassung des „Marquis von Keith“) fortschreibt, gibt es ein „Casanova-Theater“ [KSA 4, S. 67]., en face de la Comédie Francaise(frz.) gegenüber der Comédie-Française.) aber den nächsten Brief schreibe ich Ihnen gewiß aus der Mappe selbst. Sie ist zu bequem eingerichtet und wird mein ganzes DramaWedekind arbeitete an „Ein gefallener Teufel“ [KSA 4, S. 77-148], der Urfassung des „Marquis von Keith“ (1901). Er hatte mit der Arbeit an dem Drama in Zürich begonnen und setzte sie in Paris fort [vgl. KSA 4, S. 411-413]. in sich herumschleppen müssen. Feder und Bleistift, ich bitte Sie, liebe Freundin, was fällt Ihnen denn ein. Alles was ich an Luxus auf dem Leibe trage, verdanke ich Ihnen.

Wollen Sie mir es glauben, daß ich augenblicklich noch die Handschuhe trage, die Sie mir letzten Winter schenkten, und nun bekomme ich schon wieder neue von Ihnen. Und dann die Kravatten! Ich bin wie Sie wissen nicht verwöhnt in dieser Beziehung, ausgenommen von Ihnen, und ich kann mich darüber auch nicht beklagen, denn ich bin selber, wie ich weiß, ein lässigervermutlich Überlieferungsfehler; Beate Heine, die in ihrem nächsten Brief an Wedekind, der handschriftlich überliefert ist, aus dem vorliegenden Brief zitiert, schreibt hier: lästiger [vgl. Beate Heine an Wedekind, 18.1.1899]. und ziemlich platonischer Freund. Das ist nicht Mangel an Herz, aber die Lebensweise. Ich habe neulich ausgerechnet, daß ich im Lauf der letzten zwei Jahre ‒ unsere TournéeWedekind war von Leipzig aus als Mitglied des Ensembles mit Carl Heines Ibsen-Theater von Frühjahr bis Sommer 1898 auf Gastspieltournee gewesen. nicht mitgerechnet, die für mich doch nur eine Vergnügungsfahrt war, wie ich sie vielleicht nie wieder mitmachen werde ‒ 19mal meinen Wohnsitz gewechselt habe, meistens gezwungener Weise, wie jetzt auch wieder. Ich möchte das nur als Entschuldigung anführen, da man durch das Bewußtsein, jeder Ruhe zu entbehren, nachlässig seinen Freunden gegenüber wird. So haben Sie dieses Neujahr nicht einmal eine Zeile von mir bekommen; das fällt mir jetzt zehnfach schwer auf die Seele. ‒ Die Makronen habe ich, verzeihen Sie mir den Vandalismus, auf einen Sitz verschlungen, da ich noch nicht gefrühstückt hatte. Ich habe aber gewiß bei jeder einzelnen nur an Sie gedacht. Den Kalender trage ich in der Westentasche.

Sie sind nun gar nicht mehr indignirt über das praktische Theatertreiben. Glauben Sie mir auch, daß man nichts dabei verliert, indem man trotz Zaza und AllheilBeate Heine hatte Wedekind von dem französischen Sittenstück „Zaza“ (von Pierre Berton und Charles Simon) und der musikalische Radfahrerposse „All Heil!“ (von Richard Manz) am Carl Schultze-Theater in Hamburg berichtet [vgl. Beate Heine an Wedekind, 20.12.1898], dem neuen Wirkungsort ihres Gatten Carl Heine, der sich als Regisseur nun mit der Inszenierung populärer Bühnenstücke konfrontiert sah. doch bleibt was man ist und doch wol als Lebensfactor wächst ohne es zu merken. Wenn Ihr Herr Gemahl jetzt Literatur auf die Bühne bringt, so hat er damit doch wol eine stärkere Wirkung als früher. Daß Leipzig mit Ihnen Alles verloren hat, ist mir dabei doch vollkommen klar und habe ich auch schon von anderer Seite gehört.

Was mich betrifft so habe ich genau genommen keinen Grund, mich bemitleiden zu lassen. Ich thue nur Langen gegenüberWedekinds Verhältnis zu seinem Verleger Albert Langen war geprägt durch die „Simplicissimus“-Affäre, wegen der er am 30.10.1898 aus München floh, um der Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung zu entgehen. gewöhnlich so. Im übrigen spiele ich ein ziemlich opportunistisch frivoles Spiel mit ihm. Ich kann mir das in Momenten der Aufrichtigkeit nicht verhehlen. Meine SachenWedekinds Gedichte für den „Simplicissimus“ (von Albert Langen verlegt und herausgegeben). muß er mir jetzt königlich bezahlen und dabei habe ich es so eingerichtet, daß ich einen Tag, d.h. einen Abend, drei Stunden pro Woche zu arbeiten habe. Die übrige Zeit gehört mir und ich könnte sie sehr gut anwenden, wenn ich in Zürich dieses verdammte Drama nicht angefangen hätte. Ich habe es noch nicht gelernt, zugleich in meinen Geschäften und mit einer größeren Arbeit thätig zu sein. Sie haben ganz recht, wenn Sie mir davon abraten, den Erdgeist zu verfolgen; aber der Erdgeist verfolgt mich und daran ist doch in erster Linie Ihr Herr Gemahl schuldCarl Heine hat am 25.2.1898 in Leipzig den „Erdgeist“ uraufgeführt, das erste Stück Wedekinds auf einer Theaterbühne überhaupt.. Ich habe auch in MünchenWedekinds Tragödie „Der Erdgeist“ hatte am 29.10.1898 im Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg), wo Wedekind als Dramaturg, Sekretär und Schauspieler angestellt war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443], Premiere. Stollberg mit keiner Sylbe zugeredet, ihn aufzuführen. Die junge Welt wäre mir viel lieber gewesen. Aber das erste, wonach man mich hier in Paris fragte, war ErdgeistDie Pariser Presse hatte über die drohende Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung im „Simplicissimus“ und Wedekinds Flucht aus München nach der Premiere des „Erdgeist“ berichtet [vgl. Le Figaro, Jg. 44, Nr. 319, 15.11.1898, S. 4], gerafft: „Pour avoir raillé dans le journal Simplicissimus le voyage en Palestine de Guillaume II, M. Frank Wadekind qui cumule les fonctions d’artiste dramatique, d’auteur et de journaliste, a failli être arrêté le soir de la première de sa piece intiluée Erdgeist, dans un théâtre de Munich. Le directeur ayant obtenu des agents qu’ils sursoiraient à l’arrestation de M. Wedekind jusqu’à la fin de la représentation, l’auteur-acteur trouva le moyen de s’enfuir et de passer à l’étranger.“ [Le Monde artiste, Jg. 38, Nr. 47, 20.11.1898, S. 750]. Wenn ich mich nicht täusche, ist die UebersetzungWer vor Jean Giraudoux (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Jean Giraudoux) begonnen hat, Wedekinds „Erdgeist“ in das Französische zu übersetzen, ist nicht ermittelt. bereits in der Mache. Ich kümmere mich nicht darum und frage nicht darnach. Aber ich werde die Leute auch nicht ausdrücklich daran hindern. Das fatale ist nur, daß das Interesse immer eine Art Skandal InteresseDie Presse in Zürich vermerkte die Majestätsbeleidigungsaffäre, zum Beispiel in folgender Notiz: „Redaktor Langen und sein Mitarbeiter Wedekind, welche im ‚Simplizissimus‘ Kaisers Palästinafahrt ausgehöhnt hatten, sind nach Zürich entflohen und wollen sich hier häuslich niederlassen.“ [Zürcherische Freitagszeitung, Nr. 45, 11.11.1898, S. (1)] Albert Langen schrieb Anfang November 1898 an seine Frau Dagny Björnson: „Ich bin ja in allen Zeitungen ‒ die Sache nimmt ja eine ungeahnte Ausdehnung.“ [Abret/Keel 1987, S. 193] ist. So war es in Zürich, wo acht Tage nach meinem Eintreffen in der Zeitung standDie Pressenotiz über eine geplante „Erdgeist“-Aufführung in Zürich ist nicht ermittelt. In der Presse war allerdings für den 6.12.1898 im Grand Hotel Bellevue ein vom Akademischen Leseverein veranstalteter 1. Literarischer Abend mit Wedekind angekündigt: „Mitglieder des Stadttheaters [...] sowie der Schriftsteller Frank Wedekind werden uns durch Gesang und Rezitationen erfreuen.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 119, Nr. 337, 5.12.1898, 2. Abendblatt, S. (1)] Der Abend fand statt., der Erdgeist solle gegeben werden am Volkstheater. Ich habe mich garnicht darum gekümmert und so unterblieb die Geschichte.

Kurz und gut, ich habe den Eindruck, ich käme hier auch mit meinen BaletenBallette, Wedekinds Tanzpantomimen, insbesondere die vom Autor explizit genannte Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ [vgl. Wedekind an Beate Heine, 15.12.1898]. jetzt ziemlich rasch vorwärts, wenn ich meine Arbeit nicht hätte. Aber ich kann es nicht lassen. Ich will es noch einmal versuchen, etwas Praktisches, Brauchbares für die Bühne zu schaffen. Gelingt es mir diesmal nicht, dann lasse ich es vielleicht für mein ganzes Leben.

Am ersten Tage kam ich hier bei einem Bekannten mit einem Impresario und Theateragenten Strakosch zusammen, dem Sohn des Impresarios der PattiDer in Paris tätige Impresario Robert Strakosch war der Sohn des am 10.10.1887 in Paris verstorbenen Maurice Strakosch (und dessen Frau, der Sängerin Amelia Patti), der als Impresario der berühmten Operndiva Adelina Patti bekannt gewesen ist (sie war seine Schwägerin). Wedekind kam am 23. oder 24.12.1898 mit Robert Strakosch zusammen.. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Ihnen den Mann irgendwie nutzbar machen könnte. Dazu gehört freilich, daß ich ihn öfter treffe und bis jetzt habe ich noch alles Gesellschaftliche vermieden. Ich habe weder die alte Herwegh noch sonst irgend jemand meiner früheren Bekannten aufgesucht. Sylvesterabend war ich bei Meier-GräfeDer Schriftsteller und Kunsthistoriker Julius Maier-Graefe, bei dem Wedekind Sylvester 1898 verbrachte, lebte seit 1895 überwiegend in Paris.. Gegen voriges JahrSylvester 1897 feierte Wedekind mit weiteren Bekannten in Leipzig bei Carl und Beate Heine. bei Ihnen war es ziemlich ledern, obschon er ein äußerst liebenswürdiger Mann ist ‒ handelt übrigens auch mit Theaterstücken.. Ich empfinde wie gesagt meine Arbeit als eine furchtbare Fessel und arbeite deshalb so rasch als möglich. So wie ich jetzt bin, bin ich gesellschaftlich und geschäftlich untauglich.

Den fascinirenden Eindruck von Paris habe ich nie so empfunden wie jetzt. Ich lebe den ganzen Tag auf der Straße. Wie herrlich wird das werden, wenn Sie hierherkommen. Ich freue mich ungemein darauf. Augenblicklich wohne ich auf dem Mont Martre, werde aber in den nächsten Wochen wieder ins Quartier Latin ziehen, da das Leben dort billiger und bequemer ist. Auch herrscht allgemein ein feinerer Ton, als in der Umgebung von Moulin Rouge. Grétor habe ich noch nicht gesehen, seine ganze Reise nach | Wien schien erlogen zu sein. Er schickte von Paris aus einige Bilder an LangenAlbert Langen plante eine Kunstauktion seiner Gemäldesammlung und schrieb in diesem Zusammenhang seiner Frau Dagny Björnson am 8.11.1898 aus Zürich über Willy Gretor: „Es ist ja auch möglich, daß ich noch eine Menge guter Bilder von Grétor bekomme [...]. Er wird froh sein, eine günstige Gelegenheit zu haben, Bilder verkaufen zu können“ [Abret/Keel 1987, S. 196-198]., scheint sich aber gegenwärtig in London aufzuhalten. Wenigstens schrieb er mirvgl. Willy Gretor an Wedekind, 10.11.1898. von dort aus. Hier traf ich verschiedene seiner Bekannten, zu denen auch Strakosch gehört, dann der Mensch, der meinen Erdgeist unter den Fingern hat. Am ersten Abend meines hiesigen Aufenthaltes war ich in Folies Bergêre, sah Eugenie FougèreWedekind sah Eugénie Fougère (genannt Foufou, was lautlich an Lulu anklingt) am 23. oder 24.12.1898 im berühmten Pariser Cabaret Les Folies Bergères. Er war beeindruckt von der extravaganten Varietékünstlerin, der er in der Szene I/4 seiner Tragödie „Der Erdgeist“ (1895) ein Denkmal gesetzt hat: „LULU Ich nahm Stunden bei Eugenie Fougère. Sie hat mich auch Kostüme kopieren lassen. SCHWARZ Wie sind denn die? LULU Grünes Spitzenröckchen bis zum Knie, ganz in Volants, dekolletirt natürlich, sehr dekolletirt und fürchterlich geschnürt. Hellgrüner Unterrock, dann immer heller. Schneeweiße Dessous mit handbreiten Spitzen“ [KSA 1/I, S. 332]. Die Stelle hat Wedekind in der letzten Fassung des „Erdgeist“ (1913) ‒ Jahre nach der spektakulären Ermordung der mondänen Künstlerin am 20.9.1903 im Badeort Aix-les-Bains ‒ noch eindeutiger auf ihre Person bezogen, indem Lulu die Äußerung zu ihrer Lehrerin mit dem Satz „Ich habe in Paris gelernt“ beginnt und nun ausdrücklich „ihre Kostüme“ [KSA 1/I, S. 417] sagt. Bereits in der Urfassung „Die Büchse der Pandora“ (1894) war sie präsent: „LULU In der letzten Zeit nahm ich Unterricht ‒ bei Eugénie Fougère ‒ die Beine thaten mir noch ein halbes Jahr nachher weh ‒ sie hat mir auch Kostüme gezeigt. ‒ ‒ ‒ Sie hatte mich gern“ [KSA 1/I, S. 164]., etwas verwildert, nahm aber keine Gelegenheit unsere Bekanntschaft zu erneuern. Sonst habe ich noch kein Theater besucht und kann Ihnen vorderhand noch nichts darüber erzählen. Sehr interessirt hat mich Ihr Urtheil über Fuhrmann Henschel. Wie lange wird diese unfreundliche düstere Museder Naturalismus. noch herrschen. Auch Mauthners UrtheilFritz Mauthner hat bei aller Wertschätzung Gerhart Hauptmanns in seiner Besprechung der Buchausgabe und der Uraufführung des „Fuhrmann Henschel“ am 5.11.1898 am Deutschen Theater in Berlin kritische Akzente gesetzt. Man könne über beides nicht sprechen, ohne „wieder einmal das Schlagwort des Naturalismus“ zu gebrauchen, auch wenn der Autor nun „ein sehr berühmter Schriftsteller“ sei. Würde man sich die Handlung in ein bürgerliches Milieu versetzt vorstellen, dann wäre das Stück „nicht mehr und nicht weniger als das übliche Ehebruchsdrama, noch dazu eines mit einer melodramatischen Einleitung und einem ebenso melodramatischen Ausgang.“ Abschließend bemerkte er, „daß der Gebrauch der angeblich echten Mundart ein falscher Realismus ist; sprächen Hauptmanns Bauern ganz echt, so würden die meisten Besucher des Deutschen Theaters sie nicht verstehen.“ [Fritz Mauthner: Fuhrmann Henschel. In: Berliner Tageblatt, Jg. 27, Nr. 567, 7.11.1898, Abend-Ausgabe, S. (1-2)] war ziemlich kühl und ließ auf Umschlag der Witterung schließen. Und dabei dieser grandiose Erfolg! Und nun leben Sie wohl, verehrte Frau. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen Ihre Güte danken soll. Auf jeden Fall danke ich Ihnen für die liebe freundliche Erinnerung, die Sie mir bewahren und die für mich etwas ist, das ich so ziemlich über alle Güter der Erde schätze. Manchmal komme ich mir doch etwas vor wie der Ewige Judein der europäischen Kulturgeschichte aus der christlichen Mythologie stammende Symbolfigur, die für ewige Wanderung durch die Zeiten steht, für jemanden, dem keine Ruhe und Sesshaftigkeit vergönnt ist. Wedekind hatte dieses Motiv in seinem am 4.10.1898 im „Simplicissimus“ unter dem Titel „Opportunistische Zweifel“ veröffentlichten Gedicht aufgenommen, dessen Auftakt lautet: „Ich, der alte Ahasver, / Habe große Eile, / Zu verscheuchen wünscht’ ich sehr / Meine Langeweile“ [KSA 1/I, S. 496].. Verzeihen Sie mir die Sentimentalität, die Sie in mir hervorrufen, aber jedenfalls ist das Gefühl daran schuld, daß ich die Freundschaft, die Sie mir bewahren, sehr hoch zu schätzen weiß. Grüßen Sie aufs herzlichste Ihren verehrten Herrn Gemahl, für den ich die aufrichtigsten Wünsche für das kommende Jahr und für alle folgenden hege. Ich habe auch die feste Ueberzeugung, daß sie in Erfüllung gehen werden. Ihnen, verehrte Freundin, schicke ich die Versicherung meiner treuesten Ergebenheit. Indem ich von ganzem Herzen ein baldiges frohes Wiedersehen herbeisehne, bin ich Ihr sehr getreuer und ergebener
Benjamin

(ich werde den Namen nächstens als Pseudonym im Simpl.Wedekinds Pseudonym Benjamin steht am 7.3.1899 unter seinem Gedicht „Des Dichters Klage“ [KSA 1/I, S. 513-515] im „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 50, S. 394]. acceptirenannehmen..)


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Den fascinirenden Eindruck von Paris habe ich nie so empfunden wie jetzt. Ich lebe den ganzen Tag auf der Straße. Wie herrlich wird das werden, wenn Sie hierherkommen. Ich freue mich ungemein darauf. Augenblicklich wohne ich auf dem Mont Martre, werde aber in den nächsten Wochen wieder ins Quartier Latin ziehen, da das Leben dort billiger und bequemer ist [...]

Am ersten Abend meines hiesigen Aufenthaltes war ich in Folies Bergère, sah Eugenie Fougère, etwas verwildert, nahm aber keine Gelegenheit unsere Bekanntschaft zu erneuern. Sonst habe ich noch kein Theater besucht und kann Ihnen vorderhand noch nichts darüber erzählen. Sehr interessirt hat mich Ihr Urtheil über Fuhrmann Henschel. Wie lange wird diese unfreundliche düstre Muse noch herrschen. Fritz Mauthners Urtheil war ziemlich kühl und ließ auf Umschlag der Witterung schließen. Und dabei dieser grandiose Erfolg!

Beate Heine schrieb am 18. Januar 1899 in Hamburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

BH


Hamburg,
Eichenallée 11.
II.


Mein lieber Freund – ich wollte gern gleich auf Ihren lieben Briefvgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899. antworten, aber jede Muße hat mir in letzter Zeit gefehlt, deshalb schreibe ich erst heut. Vielen Dank für Ihre Zeilen. So haben Sie also doch keinen Weihnachtsgruß am 24stenDas Weihnachtspaket für Wedekind mit Beate Heines Begleitbrief [vgl. Beate Heine an Wedekind, 20.12.1898] war verspätet über Zürich nach Paris zu ihm gelangt, wie er ihr schrieb [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899]. gehabt ‒ ich glaube fast, das thut mir weher, als Ihnen! Aber – das gilt nicht, liebster Freund, die Mappe wird gebraucht, u. zwar immer, denn dazu ist sie erdacht. Ich habe mich sehr über die plumpe innerliche Calliquot-AusstattungCallicot ist ein feiner Stoff, aus dem Kleidung hergestellt wurde (vor allem Hemden oder Unterwäsche ‒ oder als Futter verwendet), in den aber auch Notiz- oder Geschäftsbücher eingebunden wurden. Insofern bezieht sich die Bemerkung auf die Schreibmappe, die Beate Heine Wedekind zu Weihnachten geschenkt hat. geärgert – aber es war nicht mehr zu ändern, u. die Praktik hindert es weiter nicht, das ist mein Trost. Was reden Sie denn aber nur „Sie seienEs folgt ein Briefzitat [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899]. ein lästigerim Briefzitat (siehe oben); im nur gedruckt zugänglichen Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899]: lässiger. u. platonischer Freund“ – glauben Sie, wer Sie lieb hat, der möchte Sie nicht anders haben, als Sie gerade sind, und, wenn der Fluß des Goldes mal zu Ihnen den Weg findet, da | will ich mir mit Freude von Ihnen etwas schenken lassen – Sie geben mir genug, das ich Ihnen nicht erwiedern kann, deß sein Sie sicher! Also – Sie sitzen an Casanovas Platz café de la régence! Das Historische ist gar zu schön in Paris – das giebt Allem solch großartigen Hintergrund, denke ich. Mit Ihren Beziehungen zu Langen haben Sie recht, sie sind nicht schön – ich wollte, Sie hätten sie nicht nöthig – aber schließlich hat die Sache doch ihre Berechtigung – da Sie doch wirklich durch L. plötzlich brotlos wurden! Mit dem Erdgeist ist’s wirklich, als sollten Sie ihn nicht loswerden. Nun, gegen eine Aufführung stemmen würde ich mich schließlich auch nicht. Sie haben aber recht, daß Sie Ihre angefangene Arbeit nicht, den Geschäften zu Liebe, liegen lassen. Nur fürchte ich, wenn Sie mit solcher Hast u. tant soit peu(frz.) ein bisschen. Unlust dran arbeiten, dann wird es vielleicht nicht so, wie Sie | u. wir hoffen – versuchen Sie bitte, es gern zu thun, sich darin, als vornehmste Aufgabe, zu vertiefen – u. es nicht gar als Fessel zu empfinden – zu nächster Saison können Sie dann mit aller Ruhe die BalletsWedekinds Tanzpantomimen, darunter „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897) – in seinen Briefen an sie explizit erwähnt [vgl. Wedekind an Beate Heine, 15.12.1898] sowie allgemein als eines der Ballette [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899]. unterbringen u. entrirenbeginnen, anbahnen, einfädeln, in die Wege leiten.! – Kannten Sie Meier-Gräfe schon? Ich bin begierig, ob die alte Herweghmit den schönen DétailsBeate Heine zitiert hier wohl eine frühere mündliche Äußerung Wedekinds über Emma Herwegh; das Zitat stammt jedenfalls nicht aus Wedekinds nur gedruckt zugänglichen letzten Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899].“ noch dieselben Reize für Sie haben wird, wie damals – ich begreife, daß Sie jetzt ge keine Geselligkeit suchen – aber vielleicht wäre etwas davon nicht unzuträglich – so als kleine Ausspannung für Ihre in der Arbeit geknechteten Nerven? Und ich brenne vor Neugier, wie u. wo Sie Grétor zu Gesicht kriegen – die Daten über ihn sind wieder so ächt, daß mein Mann und ich laut gelacht haben beim Lesen. Wenn aus unserer Paris-Reise etwas werden sollte, so würde mir Grétor als Pariser Figur doch unentbehrlich scheinen, | so sehr haben Ihre Erzählungen ihn mir mit Paris verknüpft. – – Wir haben die Weihnachtstage ganz still en deux(frz.) zu zweit. verlebt, aber das war auch sehr schön. Denken Sie, Carl hatte noch am 24sten bis ½ 4 Uhr Probe – dann erst begannen seine 22stündigen Ferien. Am heiligen Abend haben wir Ihrer viel gedacht. Ich hatte vorher tüchtig raxen(schweiz.) rackern, sich abrackern, schinden. müssen, um mit Allem fertig zu werden, da ich Alles, für unser beider Familien, selbst besorgen musste, Carl hatte täglich Riesenproben zu GollingerDas Lustspiel „Mathias Gollinger“ (1898) von Oscar Blumenthal und Max Bernstein hatte am 25.12.1898 am Carl Schultze-Theater (Direktion: José Ferenczy) mit Carl Heine als artistischem Leiter und Oberregisseur [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 367] Premiere ‒ ein Gastspiel von Felix Schweighofer, der die Titelrolle spielte [vgl. Neue Hamburger Zeitung, Jg. 3, Nr. 602, 24.12.1898, Abend-Ausgabe, 1. Beilage, S. (4)]., der dann am I Feiertage mit glänzendem Erfolge in Scene ging. Leider war das Geschäft hinterher garnicht diesem Erfolge entsprechend – warum, wissen die Götter – amüsirt haben sich die Leute herrlich – gelacht in einem fort! Wissen Sie, übrigens – ohne Schweighofer, der seine ganze liebenswürdige Persönlichkeit in die Rolle hineintrug – muß das | Stück durchfallen – es ist zu jammervoll schlecht. In Schweighofer lernten wir einen durchaus feinen, reizend liebenswürdigen Menschen u. Künstler kennen – als letzterer ist er zwar Virtuos, macht zuviel, u. viel Mätzchen, aber er kann soviel, daß das schon allein eine Freude ist. Er ist furchtbar komisch, u. im nächsten Augenblick rührt er einen zu Thränen – u. seine Technik, sprachlich u. körperlich ist erstaunlich. Dabei ein Fleiß, eine Gewissenhaftigkeit! Wir hatten ihn einmal hierals Gast in der Hamburger Wohnung von Beate und Carl Heine (Eichenallee 11, 2. Stock)., u. einmal bei Pfordteim berühmten Feinschmecker-Restaurant des Spitzenkochs Franz Pfordte in Hamburg (Plan 10) [vgl. Hamburger Adreß-Buch für 1899, Teil III, S. 457], der französische Küche kultivierte, kombiniert mit norddeutschen Regionalgerichten. zu Gast, u. waren auch einmal bei ihm eingeladen – er fand uns augenscheinlich sehr nach seinem Herzen. Den Tag nach seinem letzten Auftreten gaben wir Hedda GablerPremiere von Henrik Ibsens Schauspiel „Hedda Gabler“ am Carl Schultze-Theater in Hamburg unter der Regie von Carl Heine war am 11.1.1899, wie die Presse meldete: „Neu einstudirt und von Dr. Carl Heine inscenirt wird heute ‚Hedda Gabler‘ gegeben.“ [Carl Schultze-Theater. In: Hamburger Nachrichten, Nr. 9, 11.1.1899, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. (2)].. Das war für uns eine Probe auf’s Exempel. Die Vorstellung war nämlich wirklich wundervoll, in Vielem bedeutend besser als die damalige„Hedda Gabler“ stand im Vorjahr auch auf dem Programm von Carl Heines Ibsen-Theater, bei dem Wedekind angestellt und mit ihm auf Tournee gewesen war. So wurde „Hedda Gabler“ bei dem Gastspiel des Ibsen-Theaters in Hamburg am 11.4.1898 oder in Wien am 8.6.1898 aufgeführt. – u. wenn diese Vorstellung nicht anerkannt wurde – dann lohnte es eben nicht, sich hier Mühe zu geben. | Nun aber – es wurde anerkannt; was das Wichtigste war vor Allem: in den Hamburger NachrichtenIn der Besprechung der „Hedda Gabler“-Inszenierung am Carl Schultze-Theater in den „Hamburger Nachrichten“ (gezeichnet: g-z.) heißt es: „Dr. Heine ‒ als früherer Leiter der Leipziger Ibsen-Bühne auch bei uns so renommirt wie bekannt ‒ hatte eine vollendete Darstellung des Werkes herausgebracht. [...] Es war geradezu eine Mustervorstellung.“ [Hamburger Nachrichten, Nr. 10, 12.1.1899, Abend-Ausgabe, S. (2)]; – „vollendet“ u. „tadellos“ – dies waren die Ausdrücke, in denen sich das Referat bewegte. Sie können denken, wie wir uns drüber freuten; auch das Publikum war sehr entzückt, kurz, es war wirklich mal was, das einen etwas hob. Die SchauspielerBei Carl Heines Inszenierung von Ibsens Schauspiel „Hedda Gabler“ am Carl Schultze-Theater in Hamburg spielten Emmy Förster die Titelrolle, Max Henze den Jörgen Tesman und Meta Bünger die Tante Jule, weitere Darsteller waren Therese Schrodt, Louis Nerz und Max Pütz. waren auch natürlich mit erfreut, sie hatten ehrlich geschuftet u. es war mir eine Freude, mal wieder in den Proben zu sein, u. Fühlung mit Allem zu haben. Jetzt gastirt LautenburgDas Ensemblegastspiel des Berliner Residenztheaters (Direktion: Sigmund Lautenburg) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 257] am Carl Schultze-Theater in Hamburg fand an vier Abenden mit jeweils zwei Stücken vom 14.1.1899 (Samstag) bis 17.1.1899 (Dienstag) statt. Gespielt wurde der Schwank „Mamsell Tourbillon“ von Curt Kraatz und Heinrich Stobitzer, davor das einaktige historische Lustspiel „Der Küchenjunge“ von Adolphe Aderer und Armand Ephraim (deutsch von Franz Wagenhofen). Für das Gastspiel wurde das Bühnenbild, die „dekorative [...] reiche Ausstattung des berliner Residenz-Theaters nach Hamburg dirigirt [...], so daß wir beide Neuheiten genau nach der berliner Aufführung zu sehen bekommen.“ [Altonaer Nachrichten, Nr. 12, 14.1.1899, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Das Gastspiel war ein Erfolg des Carl Schultze-Theaters. „Der tolle Schwank ‚Mamsell Tourbillon‘ [...] brachte der Direktion am Sonntag ein total ausverkauftes Haus und bei den Wiederholungen am Montag und Dienstag volle Häuser. ‒ Allgemeine Bewunderung erregt auch die Empire-Ausstattung der Scenerie von ‚Der Küchenjunge‘, sowie die Darstellung des vornehm interessanten Einakters.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 4, Nr. 31, 19.1.1899, Morgen-Ausgabe, S. (2)] mit Küchenjunge u. Mamsell Tourbillon u. Carl, der heut auf 2 Tage nach Berlin gefahren ist zur Sudermann-Première„Die drei Reiherfedern. Ein dramatisches Gedicht“ (1898) von Hermann Sudermann hatte am 21.1.1899 Premiere am Deutschen Theater (Direktion: Otto Brahm) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 251] in Berlin (Beginn der Vorstellung: 19 Uhr) [vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 33, 20.1.1899, Morgen-Ausgabe, S. (9)]. Die Vorstellung des märchenhaften Versdramas in 5 Akten war ausverkauft., studirt inzwischen die 4 Hartlebenschen EinakterCarl Heine bereitete die Inszenierung von Otto Erich Hartlebens Einakter-Zyklus „Die Befreiten“ (1899) am Carl Schultze-Theater in Hamburg vor (Premiere: 29.1.1899), aus den Stücken „Der Fremde“, „Die sittliche Forderung“, „Abschied vom Regiment“ und „Die Lore“ bestehend. Eine Besprechung (gezeichnet: P.M.) meinte zur Premiere: „Der gestrige Nachmittag, an dem mit der Einaktersammlung ‚Die Befreiten‘ Otto Erich Hartlebens begonnen wurde, hätte ein größeres Publikum verdient, als er fand.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 4, Nr. 50, 30.1.1899, Abend-Ausgabe, S. (1)]. Im Uebrigen dachten wir schon, hier an’s Thalia-Theater engagirt zu werden – in Straßburg ist nämlich Dr. KrüklFrank Xaver Krükl, am 14.9.1892 an das Stadttheater in Straßburg berufen und seitdem dort Direktor [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 504], starb am 12.1.1899 in Straßburg. Sein Nachfolger wurde Joseph Engel. plötzlich gestorben, u. | man hat Dr. GellingHans Gelling war Regisseur, artistischer Leiter und stellvertretender Direktor am Thalia-Theater in Hamburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 366]. vom Thalia-Theater berufen – aber es scheint, er bleibt hier. Carl will jetzt sehen, in Berlin anzuknüpfen. Wir enden doch schließlich dort, ob im LessingtheaterDirektor des Lessingtheaters in Berlin war Otto Neumann-Hofer [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 254]. oder anderswo, wird sich zeigen. Ach, übrigens haben ich letzthin Blumenthal kennen gelerntDas war den Pressemeldungen zufolge entweder am 31.12.1898 (Samstag) oder wahrscheinlicher am 1.1.1899 (Sonntag). „Herr Oscar Blumenthal wird am Sonnabend und Sonntag den ‚Gollinger‘-Vorstellungen beiwohnen.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 3, Nr. 603, 28.12.1898, Morgen-Ausgabe, S. (3)] „Am Neujahrstage werden die Autoren Dr. Oscar Blumenthal und Max Bernstein der Aufführung von ‚Mathias Gollinger‘ mit Felix Schweighofer als Gast beiwohnen.“ [Hamburger Nachrichten, Nr. 306, 31.12.1898, Morgen-Ausgabe, S. (4)] Bei dem Essen im Anschluss an die Vorstellung im Carl Schultze-Theater war Max Bernstein wohl nicht dabei; ob Felix Schweighofer dabei war, ist unklar. („mit die listige Schächeraugen“, wie Schweighofer sagt) – wir fuhren nach der Gollinger-Aufführung zusammen Abendbrot essen, ein Agentnicht identifiziert (ein Theateragent). war noch dabei und ich kann Ihnen sagen, in meinem Leben hab ich noch nicht so viel u. so schnell u. so eklig u. gewandt von Geschäft u. Geld u. Geld u. Geschäft reden hören! Mir ist förmlich übel geworden, u. als Blumenthal, der doch vielleicht auch sowas empfand, zu mir sagte: Gnädige Frau, Sie finden das wohl schrecklich, diese Geschäfts/e/gespräche? da sagte ich aus voller Seele: ja, fürchterlich! Uebrigens war er sehr hold | zu uns u. schrieb nachher an Carl einen sehr schmeichelhaften Brief zum VeröffentlichenDer Brief Oscar Blumenthals an Carl Heine wurde veröffentlicht: „Hamburg. 8. Januar 1899. Herrn Dr. Carl Heine, Hamburg. Werther Herr Doctor! Aufgrund Ihrer freundlichen Einladung bin ich nach Hamburg gekommen, um einer Vorstellung von ‚Mathias Gollinger‘ im Carl Schultze-Theater beizuwohnen und kann nicht scheiden, ohne Ihnen meine Freude über die angenehmen Eindrücke auszusprechen, die ich empfangen habe. Um die geniale Schöpfung von Felix Schweighofer, der die Titelrolle mit seinem ganzen sprudelnden Temperament und seiner lebensvollen Komik beseelt, haben Sie ein Ensemble gruppirt, das liebevoll und hingebend alle Intentionen der Verfasser in Anschauung und Leben zu übersetzen versucht hat, und wenn wir gemeinsam einen so schönen und vollen Erfolg errungen haben, so darf auch Ihre feinfühlige Regiekunst einen reichlichen Antheil an diesem glücklichen Ergebniß beanspruchen. Mit aufrichtiger Ergebenheit (gez.) Oscar Blumenthal.“ [Altonaer Nachrichten, Nr. 3, 4.1.1899, Morgen-Ausgabe, S. (3)]. – Gesellschaftlich leben wir ablosutSchreibversehen (oder Verballhornung), statt: absolut. still. Im Moment hat Carl ja die Abende frei und da haben wir uns vorgenommen, Theater u. Variété mal anzusehn. – Was ich stets vergessen habe zu schreiben – daß wir entzückt waren, sowohl vom Wegerich-Gedichtnach dem Wegerich benannt, einem wild wachsenden Heilkraut. Beate Heine bezieht sich auf das unter dem Pseudonym Hase (= Korfiz Holm) am 19.11.1898 im „Simplicissimus“ veröffentlichte Gedicht (überschrieben mit dem alten Spruch „Das Wegekraut sollst lassen stahn, / Hüte dich, Jung, sind Nesseln dran!“), das in Anspielung auf die Majestätsbeleidigungsaffäre von einem vom Staatsanwalt verfolgten Narren handelt, der jenes Kraut sät; die Schlussstrophe lautet: „Ist keiner, der es hege, / Denn schmucklos ist sein Kleid, / Doch wächst es an dem Wege, / dem Weg zur neuen Zeit. / Der Wind geht kalt und schneidend, / Der Blümlein Glanz verblich, / Verfolgt, gehetzt und leidend, / So blüht der Wegerich.“ [Simplicissimus, Jg. 3, Nr. 34, S. 266]. als vom simplicianischen Erlkönigdas am 3.12.1898 unter dem Pseudonym Iste (= Ludwig Thoma) veröffentliche Gedicht „Der simplicianische Erlkönig“, das von Wedekinds und Albert Langens Flucht in die Schweiz infolge der Majestätsbeleidigungsaffäre handelt und dabei Goethes „Erlkönig“ (1782) adaptiert, wie die erste Strophe durch das Zitat zum Auftakt explizit markiert („Wer reist so spät durch Nacht und Wind? / Herr Langen und Herr Wedekind. / So nachts zu reiten ist kein Genuß, Und das kommt vom Hieronymus.“ [Simplicissimus, Jg. 3, Nr. 36, S. 1898] Im Gedicht ist von Grog und Rum (siehe unten) die Rede, in der zweiten Strophe („Herrn Wedekind fröstelt’s im Dichterrock: / ‚O spende, Verleger, mir einen Grog!‘“) und in der achten Strophe („‚Ich kann jetzt nicht dichten; der Durst bringt mich um: / O Langen, nur einen Grog von Rum!‘ / ‚O daß doch die Dichter so durstig sind! / Ich hole den Grog dir, mein Wedekind!‘“) – letzterer rief uns Sie ganz zurück – wenn mein Mann über Zahnschmerzen oder Verstimmtheit klagte, in jedem Fall pflegten Sie dann zu sagen: Herr Doctorr trrinken Sie einen Grrog u. RrumGrog und Rum (mit dem Wedekind imitierenden rollenden R geschrieben) – Bezug zum „Simplicissimus“-Gedicht „Der simplicianische Erlkönig“ (siehe oben).!! – Und nun will ich für heut schließen – obwohl mir ist, als hätte ich Ihnen noch viel mitzutheilen. Schicken Sie uns mal etwas von Ihrem Drama oder erst wenn’s fertig ist? – Carl grüßt Sie von Herzen mit mir und ich bleibe immer
Ihre sehr getreue
Beate Heine.


d. 18.1.99.


Ich habe zu Weihnachten einen himmlischen weißen Morgenrock bekommen, ich würde ihn Ihnen gern vorführen, da er (mir wirklich gut steht.) u. Ihnen gefallen würde!


[Seite 1 oben, um 180 Grad gedreht:]

Wie steht’s jetzt eigentlich mit Ihrem Schnurrbart? Ist er schon wieder zu alter Schöne gediehen??

Frank Wedekind schrieb am 12. März 1899 in Paris folgenden Brief
an Beate Heine

Paris, 12.III.1899.


Hochgeehrte, liebe Frau Doctor,

ich habe eine schwere Zeit hinter mir von viel Arbeit und vielem Aerger, nicht, daß es mir gerade schlecht gegangen wäre ‒ ich hoffe, das liegt ein für allemal hinter mir ‒ aber allerhand KrakehlereienStreitigkeiten mit Albert Langen als Verleger des „Simplicissimus“, für den Wedekind nach wie vor Gedichte schrieb. mit Langen, der mir das Leben natürlich so sauer wie möglich zu machen sucht. Die Hauptsache aber war das: Ich weiß nicht, ich weiß nicht wie es mit meinem StückWedekind schrieb an „Ein gefallener Teufel“ [KSA 4, S. 77-148], der Urfassung des „Marquis von Keith“ (1901) [vgl. KSA 4, S. 411-413]. wird. Den einen Tag erscheint es mir sehr gut und den anderen Tag sehr schlecht. Immerhin bin ich über das Schlimmste hinaus. Ich beschäftige mich momentan damit, es noch einmal durchzuarbeiten und hoffe in vierzehn Tagen, drei Wochen, endgültig damit fertig zu sein. Erwarten Sie keine interessanten Erzählungen von mir; erlebt habe ich bei alledem noch garnichts, als daß ich alle acht Tage mit einigen gleichfalls sehr beschäftigten Freunden in einer stillen Kneipe zusammensitze. Grétor habe ich einmal wiedergesehen, leider war Langen dabei und der Abend wurde abschreckend stimmungslos. Wir dinirten zusammen und gingen dann in eines jener Locale, wo mein Freund Richard und ich seinerzeit glückselige Stunden verlebt haben, ‒ um uns entsetzlich zu langweilen. Aber genug davon! Wie geht es Ihnen! Denken Sie noch immer daran, nach Berlin zu gehen? Wie fühlt sich Ihr Herr Gemahl in Hamburg? Es wäre doch jammerschade, wenn er den WirkungskreisCarl Heine war artistischer Leiter und Oberregisseur am Carl Schultze-Theater (Direktion: José Ferenczy) in Hamburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 367]. aufgäbe, da es vielleicht doch nur der Anlaß dazu wäre, daß ein anderer nach ihm käme, um die Früchte seiner Anstrengungen zu ernten.

Wie geht es Ihnen, liebe Freundin? Vor mir an der Wand hängt die Erinnerung an das Mitteldeutsche BundesschießenWedekind hatte bereits in einem früheren Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 14.8.1898] an das Mitteldeutsche Bundesschießen erinnert, das vom 3. bis 10.7.1898 in Leipzig stattfand. und auf dem Schreibtisch bin ich von Erinnerungen an Sie umringt. Unser kleiner Kreis hier hat sich seit einiger Zeit durch Dauthendey vermehrt, den ich zum letzten Mal in London gesehen und der sich seitdem verheirathet hatDer Schriftsteller und Maler Max Dauthendey hatte am 6.5.1896 auf Jersey Annie Johanson geheiratet, die Tochter eines schwedischen Großkaufmanns.. Bei der Erzählung meiner Erlebnisse an der Bühne läuft ihm das Wasser im Munde zusammen. Er hat vier Jahre des abentheuerlichsten LebensMax Dauthendey, der zunächst in London, dann in Paris lebte, war zwei Jahre zuvor nach Mexiko übergesiedelt, um dort seine künstlerischen Pläne zu verwirklichen, kehrte Ende 1897 nach Europa zurück, nach Paris, reiste dann gemeinsam mit Karl Gustav Vollmoeller im Frühjahr 1898 durch Griechenland, lebte anschließend mehr oder weniger in Berlin und seit Frühjahr 1899 wieder in Paris ‒ dies alles ökonomisch keineswegs abgesichert, sondern im Gegenteil in beständiger finanzieller Misere. hinter sich und weiß augenblicklich nicht recht, was mit seiner Person anfangen. Vorderhand hat er sich aufs Zeichnen geworfen und arbeitet für Meier-GräfeDer Schriftsteller und Kunsthistoriker Julius Maier-Graefe war in Paris auch als Kunsthändler tätig.. Aber was interessirt Sie das? –

Grétor ist noch der Held von früher, nur ausgewachsen, imposante Figur trotz seines Hinkens. Er verkehrt nur noch mit englischen Herzögen und erzählt mit pathetischem Ausdruck seine letzte Begegnung mit Bismarck, obschon er in unserem Kreis annehmen konnte, daß ihm kein Mensch eine Silbe glaubt. Thatsache ist, daß er im ersten Hotel von Paris wohnte, in dem auch der Prince of WalesPrince of Wales (Titel des englischen Thronfolgers) war seinerzeit Albert Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha, dem der Titel am 8.12.1841 im Alter von vier Wochen verliehen worden ist und der erst nach 59 Jahren als Edward VII. auf den englischen Thron kam. absteigt, und in London ein großes Haus führt. Wenn ich mit dem Stück zu Ende gekommen, werde ich ihn wiedersehen, da er alle Naselang nach Paris kommt.

Mit Sicherheit rechne ich auf Ihren Besuch im Juni und freue mich sehr darauf. Sie werden mir wol mehr zu erzählen haben als ich Ihnen. Denken Sie, daß ich dick geworden bin wie FalstaffSir John Falstaff, Figur in mehreren Dramen William Shakespeares, die äußerst korpulent ist.. Man wird nicht ungestraft von heute auf Morgen zum Philosophen. Ich hoffe aber auch diesem Uebel rasch abzuhelfen, sobald ich von meinem Wahn geheilt bin.

Weber hat sich also auch verheirathetHans von Weber war verlobt ‒ er heiratete seine Geliebte Anna Jäger erst am 29.3.1899.. Und Martens ist in München aufgeführt wordennicht ermittelt. Fritz Strich schrieb: „Es kam damals kein Drama von Martens zur Aufführung.“ [GB 1, S. 358], natürlich mit Erfolg. Ich freue mich aufrichtig darüber und werde es ihm auch selber schreiben, sobald ich dazu komme, ihm zu seiner VerlobungKurt Martens hat Wedekind seine Verlobung (die Heirat fand in München am selben Tag statt wie die seines Cousins Hans von Weber) mit Mary Fischer brieflich mitgeteilt [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 5.2.1899]. zu gratuliren.

Mit gleicher Post schicke ichHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 12.3.1899. Ihnen den KammersängerWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ war einige Tage zuvor als Neuerscheinung im Albert Langen Verlag in München angezeigt [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 52, 4.3.1899, S. 1742].. Ersuchen Sie aber bitte Ihren Herrn Gemahl, die WidmungDie Erstausgabe des Einakters „Der Kammersänger. Drei Scenen von Frank Wedekind“ (1899) im Albert Langen Verlag enthält die gedruckte Widmung: „Dem Meister deutscher Bühnenkunst / Dr. Carl Heine / in treuer Freundschaft gewidmet“ [KSA 4, S. 333]. In der 2. Auflage (1900) lautet die Widmung dann gekürzt: „Dem Meister deutscher Bühnenkunst / Dr. Carl Heine / gewidmet“ [KSA 4, S. 9] ‒ sie wurde so nach den Verlagswechseln auch in die 4. Auflage (Bruno Cassirer Verlag) und im Abdruck des Einakters 1913 in den „Gesammelten Werken“ (Georg Müller Verlag) übernommen [vgl. KSA 4, S. 9; 333f.]. Carl Heine hat sich für die Erstausgabe mit der Widmung bedankt [vgl. Carl Heine an Wedekind, 16.3.1899]. nicht falsch zu verstehen. Es ist der Ausdruck aufrichtiger Dankbarkeit und es wäre ein schlechter Dienst, wenn ich ihm zumuthete, sich wieder als ErsterCarl Heine hatte am 25.2.1898 in Leipzig die Tragödie „Der Erdgeist“ uraufgeführt und damit das erste Wedekind-Stück überhaupt auf die Bühne gebracht, außerdem am 1.7.1898 ebenfalls in Leipzig Wedekinds Schwank „Fritz Schwigerling“ („Der Liebestrank“). die Finger daran zu verbrennen. Wenn das Stück gut ist, dann werden sich wol auch andere Interessenten dafür finden. Aber eine Bitte hätte ich an Sie, liebe Frau Doctor: daß Sie mir das offene fachmännische Urtheil Ihres Herrn Gemahls gelegentlich verrathen, aber ungeschminkt, damit würden Sie mir auf jeden Fall nützen, ohne daß es Consequenzen hat.

Von den abentheuerlichen Plänen, die ich im Kopf trug, als ich hierherkam, habe ich bis jetzt keinen auch nur in Angriff genommen. Ihre Zahl hat sich derweil noch um einige vermehrt und ich werde Paris wol nicht verlassen, bevor ich meinen Ideen gegenüber wenigstens meine Schuldigkeit gethan. Nachher werde ich dann wol versuchen, meinen Frieden mit dem deutschen ReichDer wegen drohender Haft aufgrund von Majestätsbeleidigung im „Simplicissimus“ vor knapp viereinhalb Monaten aus München über Zürich nach Paris geflohene Wedekind hatte vor, sich den deutschen Behörden zu stellen. zu machen. Wie die Dinge jetzt liegen, kann ich nach menschlichem Ermessen wol damit rechnen, mit einigen Monaten Festung davon zu kommen. Und muß ich dafür sorgen, daß ich mir derweil keine neuen Angriffe zu Schulden kommen lasse, und das, sehen Sie, ist es eben, was mich in unausgesetzten Widerspruch zu Langen setzt. Der Hund möchte nichts lieber, als daß ich mir die Gurgel noch vollends abschneide. Auf diese Weise hat es sich wie von selbst gemacht, daß in unserer Correspondenz nicht mehr von „Dichten“, sondern nur noch von „zum Rasiermesser greifenZitat aus einem nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Albert Langen, 12.3.1899. Albert Langen, der sich seit einigen Wochen in Paris aufhielt, wohnte dort, wie er seiner Frau Dagny Björnson mitgeteilt hat: „Hotel de Calais, rue de la Paix, coin de la rue des Capucines“ [Abret/Keel 1987, S. 308].“ die Rede ist. So zum Beispiel: „Lieber Herr LangenZitatbeginn aus einem nicht überlieferten Brief (siehe oben)., es war mir gestern Abend mit dem besten Willen unmöglich, zum Rasiermesser zu greifen...“ Schließen Sie daraus auf die Gemüthlichkeit unseres Verkehrs und meiner Stimmung.

Und nun leben Sie wohl, liebe Frau Doctor. Ich füge den Zeilen meine besten Wünsche bei und erhoffe von einem gütigen Schicksal, daß es Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl sehr sehr gut gehen möge.

Seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem Ihnen treu ergebenen
Frank Wedekind.

Beate Heine schrieb am 16. März 1899 - 17. März 1899 in Hamburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

BH


Hamburg,

d. 16.3.99.


Mein lieber, lieber Freund ‒ ich erwog schon, ob ich Ihnen eine Mahnkarte schreiben sollte, als Ihr Briefvgl. Wedekind an Beate Heine, 12.3.1899. eintraf und große Freude im Hause Heine erregte. Haben Sie Dank; auch für den KammersängerWedekind hatte die gerade erschienene Buchausgabe seines Einakters „Der Kammersänger“ (1899), die eine gedruckte Widmung für Carl Heine enthält, nach Hamburg geschickt [vgl. Wedekind an Beate Heine, 12.3.1899]., den ich eben hintereinander durchgelesen habe, und der mich sehr interessirt u. entzückt hat. Entzückt hauptsächlich dadurch, daß ich Sie darin immerfort wiederfand, meinem Mann gings ebenso ‒ er wollte Ihnen selber drüber schreibenvgl. Carl Heine an Wedekind, 16.3.1899.. Damit will ich sagen, daß ich den Dialog colossal interessant oder vielmehr bedeutend finde u. ich denke, das muß Jeder finden, auch der Sie nicht kennt. Die beste | Figur, auch die Sympathischste, ist wohl der alte ComponistProfessor Dühring, der siebzigjährige erfolglose Komponist in Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ [vgl. KSA 4, S. 22-33].. Wollen Sie, daß er, wie Ulrik BrendelUlrik Brendel, der Hauslehrer in Henrik Ibsens Drama „Rosmersholm“ (1886), findet gegen Ende des vierten und letzten Aktes seine Taschen leer., seine Taschen leer findet? Mein Mann meinte ja, ich war nicht so sicher. Ihr Brief kam an einem Tage, an dem ich furchtbar niedergedrückt war, u. war mir deshalb eine doppelte Freude − u. als ich die ersten paar Seiten Kammersänger las da hat mich das faktisch über meine Traurigkeit weggebracht − sehn Sie, soviel vermögen gute Freunde, große Menschen auch in der Ferne! Die Niedergedrücktheit ist übrigens allgemein jetzt, man weiß nicht recht, ist’s Influenza oder Frühling!? Das Wetter ist fast sommerlich, beängstigend. Mein Mann u. ich, wir sehnen uns manchmal recht ehrlich | nach Ihnen, nach Ihrer großen Art, das Leben zu betrachten − so in aller Alltagsmisère. Ob wir im Juni zu Ihnen kommen? Mir ist’s noch ziemlich unglaublich, aber wünschen thu ich’s sehr, sehr. Aber, ich will erst Alles erzählen, was wir inzwischen erlebt haben, und das ist ziemlich erfreulich. Wirklich hat Carl es fertig gebracht, dem Jahre 99 einen reellen, glänzenden Erfolg abzuringen. Ich schrieb Ihnen damalsvgl. Beate Heine an Wedekind, 18.1.1899. von der schönen Hedda-Gabler-Aufführung. Die setzte Carl für einen Sonntag Nachmittagam 22.1.1899 (Sonntag), die erste der Nachmittagsvorstellungen von Henrik Ibsens „Hedda Gabler“ (1890) nach der erfolgreichen Premiere dieses Schauspiels am Carl Schultze-Theater am 11.1.1899 (Mittwoch) und weiteren Abendvorstellungen. an, in der Idee, es würde keine Katze reingehn − aber siehe da, es war die beste Sonntag-Nachmittagskasse, die wir bisher erzielt hatten. Das gab zu denken, u. wir kündigten, schnell | gefaßt, einen Cyklus moderner DramenDie Presse hatte die Reihe am Carl Schultze-Theater angekündigt: „Der ungewöhnliche Erfolg, den die ‚Hedda Gabler‘-Vorstellung am Sonntag, Nachmittag erzielt hat, hat die Direction bewogen, an den nächsten Sonntag-Nachmittagen einen Cyclus moderner Dramen zu veranstalten. Zur Ausführung gelangen von Ibsen die ‚Gespenster‘ und ‚Die Frau vom Meere‘, von Hartleben ‚Die Befreiten‘ und ‚Die Erziehung zur Ehe‘, von Carlot Reuling ‚Das Stärkere‘, von Nansen ‚Der Hochzeitsabend‘. Die Vorstellungen beginnen um 3¼ Uhr und finden zu den üblichen Sonntag-Nachmittagspreisen statt. Als erste Vorstellung in diesem Cyclus geht Sonntag, den 28. Janr. Hartlebens interessantes Stück ‚Die Befreiung‘ in Scene.“ [Altonaer Nachrichten, Nr. 21, 25.1.1899, Morgen-Ausgabe, S. (2)] für die nächsten Sonntage an. Die sch Sache schlug nun glänzend ein. Volle Häuser, vorzügliche Kritiken, gutes, bestes Publikum, u. viel Begeisterung; bei der ersten Vorstellung: Die Befreiten v. HartlebenOtto Erich Hartlebens Einakter-Zyklus „Die Befreiten“ (1899) hatte am 29.1.1899 (Sonntag) am Carl Schultze-Theater als Nachmittagsvorstellung in Carl Heines Reihe moderner Dramen Premiere., rief man Carl so stürmisch, daß wir uns wahrhaftig nach Leipzig zurückversetzt glaubten. Seitdem haben wir noch gespielt: GespensterHenrik Ibsens Familiendrama „Gespenster“ (1881) wurde am 5.2.1899 (Sonntag) am Carl Schultze-Theater als Nachmittagsvorstellung in Carl Heines Reihe moderner Dramen gespielt., Der Stärkere v. ReulingCarlot Gottfried Reulings Drama „Der Stärkere“ (1897) wurde am 12.2.1899 (Sonntag) am Carl Schultze-Theater als Nachmittagsvorstellung in Carl Heines Reihe moderner Dramen gespielt., Die Erziehung zur Ehe (Hartleben)Otto Erich Hartlebens Komödie „Die Erziehung zur Ehe“ (1893) wurde am 19.2.1899 (Sonntag) am Carl Schultze-Theater als Nachmittagsvorstellung in Carl Heines Reihe moderner Dramen gespielt. Die Frau vom MeereHenrik Ibsens Drama „Die Frau vom Meer“ (1888) wurde am 26.2.1899 (Sonntag) am Carl Schultze-Theater als Nachmittagsvorstellung gegeben, zunächst die letzte Aufführung in Carl Heines Reihe moderner Dramen, die dann aber fortgesetzt wurde., John Gabriel BorkmannHenrik Ibsens Stück „John Gabriel Borkman“ (1898) wurde am 5.3.1899 (Sonntag) am Carl Schultze-Theater als Nachmittagsvorstellung gespielt, zugleich die erste Aufführung in der Fortsetzung von Carl Heines Reihe moderner Dramen., und Hanna Jagert v. HartlebenOtto Erich Hartlebens Stück „Hanna Jagert“ (1893) wurde am 12.3.1899 (Sonntag) am Carl Schultze-Theater als Nachmittagsvorstellung in Carl Heines Reihe moderner Dramen gespielt.nächsten Sonntagam 19.3.1899 (Sonntag) – gespielt wurde nochmals Henrik Ibsens „Gespenster“ (siehe oben); erst am 26.3.1899 (Sonntag) wurden der Einakter „Ein Hochzeitsabend“ (1896) des dänischen Autors Peter Nansen, Maurice Maeterlincks symbolistischer Einakter „L’Intruse“ (1890) in der Übersetzung „Der Ungebetene“ von Otto Erich Hartleben und dessen Zweiakter „Angele“ (1891) am Carl Schultze-Theater nacheinander an einem Nachmittag in Carl Heines Reihe moderner Dramen gespielt, womit die Reihe dieser Nachmittagsaufführungen abgeschlossen wurde. kommt, Nansen’s Hochzeitsabend, Maeterlincks L’Intruse, u. Hartlebens Angele. Wir haben mit Allem gute Erfolge gehabt, nur nicht mit Reuling, der nur einen sehr freundlichen Erfolg hatte. Es ist auch | ein sehr schwaches Stück, aber Sie wissen, Carl hatte so eine Art von Ehrenschuld damals von Leipzig her zu erfü einzulösen, als das Reulingsche Manuskript gestohlenZusammenhang nicht ermittelt (ein Vorfall um ein Manuskript von Carlot Gottfried Reuling seinerzeit in Leipzig). wurde. Was sagen Sie aber, daß Riechers-WaldemarHelene Riechers und Arthur Waldemar galten in ihrem Zusammenspiel als ideales Schauspielerpaar [vgl. Georg Scheufler: Helene Riechers und Arthur Waldemar. In: Die Redenden Künste, Jg. 2, Heft 32, 6.5.1896, S. 979-982] und waren im Ensemble des Theaters der Literarischen Gesellschaft (Ibsen-Theater) in Leipzig (inzwischen offenbar verheiratet) bei Carl Heine engagiert gewesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408]. Das Hamburger Gastspiel des Schauspielerpaars hat die Presse unter Hinweis auf die erfolgreiche und daher fortgesetzte Reihe moderner Dramen im Carl Schultze-Theater angekündigt: „Der große Beifall, den der erste Cyclus moderner Dramen gefunden hat, veranlaßt die Direction an den künftigen Sonntag-Nachmittagen einen zweiten Cyclus folgen zu lassen. Den Beginn macht Ibsen’s 4aktiges Schauspiel ‚John Gabriel Borkman‘. Helene Riechers, die sich als Ellida in der ‚Frau vom Meere‘ so vortheilhaft eingeführt hat, wird als Ella Rentheim sich in einer Charakterrolle präsentiren, während die Titelrolle von Arthur Waldemar gespielt wird, der gemeinsam mit Helene Riechers lange Zeit hindurch dem Theater des Dr. C. Heine angehörte.“ [Altonaer Nachrichten, Nr. 54, 4.3.1899, Morgen-Ausgabe, S. (2-3)] im Borkman gastirtenHelene Riechers (als Ella Rentheim) und Arthur Waldemar (in der Titelrolle) waren am 5.3.1899 in Henrik Ibsens Drama „John Gabriel Borkman“ (siehe oben) am Carl Schultze-Theater zu sehen gewesen., u. die Riechers vorherHelene Riechers war bereits am 26.2.1899 in Henrik Ibsens Drama „Die Frau vom Meer“ (siehe oben) am Carl Schultze-Theater zu sehen gewesen. in der Frau vom Meere??? Das kam nämlich so. Frau Förster, unsere EllidaDie dann von Helene Riechers übernommene Rolle der Ellida in Henrik Ibsens Drama „Die Frau vom Meer“ (siehe oben) sollte zunächst Emmy Förster spielen., erkrankte, u. wir mußten spielen, denn das Haus war fast ausverkauft, u. eine Absage hätte uns sehr geschadet. Eine Jungfrau von OrléansFriedrich Schillers Tragödie „Die Jungfrau von Orleans“ (1801) war ein Bühnenklassiker und die Titelrolle insofern im Repertoire vieler Schauspielerinnen. Das war bei modernen Dramen nicht der Fall. ist ja nun leicht zu beschaffen − wer aber hat die Ellida auf dem Repertoir? Nun, Carl ließ seinen SekretärSekretär am Carl Schultze-Theater in Hamburg und somit Sekretär des Oberregisseurs und artistischen Leiters Carl Heine war Adolf Schramm [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 367], der zuvor als Schauspieler und Bürochef am Berliner Residenztheater tätig war, danach als Geschäftsführer des Kaiser-Wilhelm-Theaters in Culm an der Weichsel. an die R.an die Schauspielerin Helene Riechers in Leipzig. telegraphiren u. sie antwortete (ächt) warum denn nicht?? Im Uebrigen war sie ganz die Alte. Persönlich standen | wir ganz kühl, aber, da die Förster krank blieb, engagirte Carl das Ehepaar Waldemar für den nächsten Sonntag zum Borkman. Also ich sage Ihnen: Carl war selig! Diese beiden Leute verstehen ihn nun mal beim Spielen auf den Wink, und er planschte glücklich in seinem gewohnten Elemente. Beide spielten sehr gut, Waldemars Borkman kennen SieWedekind hatte 1898 als Ensemblemitglied während der mehrmonatigen Tournee des Ibsen-Theaters den Schauspieler Arthur Waldemar in der Titelrolle von Henrik Ibsens Drama „John Gabriel Borkman“ erlebt. ja u. die Riechers machte der WilbrandtDie berühmte Burgtheaterschauspielerin Auguste Baudius-Wilbrandt hatte im Vorjahr ein Gastspiel an Carl Heines Theater der Literarischen Gesellschaft in Leipzig (Ibsen-Theater), dessen Ensemblemitglied Helene Riechers seinerzeit war [vgl. Neuer Bühnen-Almanach 1899, S. 408]. mit vielem Glück nach. − Ja, ob wir hierbleiben!? Sie haben wohl rechtWedekind in seinem letzten Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 12.3.1899]. zu sagen, Carl soll sich die Früchte seiner Anstrengungen nicht von anderen nehmen lassen. Aber es handelt sich darum, ob das Theater hier so schnell zu Stande kommt, daß schon nächsten Winter gespielt werden kann. Nur ob er réüssirt ist dann die zweite | Frage. Nach der letzten Zeit möchte ich’s fast glauben, denn unsere Sonntags-Vorstellungen sind wirklich Stadtgespräch. Mit Berlin kann ich mir nicht viel versprechen in Bezug auf das Kunst-Variété − erstens ist’s im besten Falle nur für 1 Jahr − u. dann ist’s mir total unsicher, ob es gelingt, gefällt − ich fürchte, kaum! Und sonst könnte Carl nur an Brahms StelleOtto Brahm war Direktor des Deutschen Theaters in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 251]. − u. die wird wohl vorläufig nicht frei. Wäre das gottverfluchte Klima nicht, wir blieben leidlich gerne hier. Verkehr haben wir kaum − nur mit 2 sehr netten älteren Fräuleins, von denen die eine Ibsen-Kurse hält − wir können sehr nett mit ihnen reden u. sie sind wieder glücklich, daß wir so ganz unhamburgisch sind, kurz, wir | freuen uns an einander. Aber, c’est tout. Wissen Sie, es giebt hier eine Art steifer, wohlanständiger, satter, ganz aussichtsloser Leute, mit denen zu sprechen uns kaum möglich ist − man weiß nicht was u. nicht wie. Sie lachen über Dinge u. Witze, über die ich nicht den Mund verziehen kann, u. man sieht ihnen an, daß sie alle am Schlagfluß sterben. Das ist so das Gros der Hamburger Kaufleute, u. das sind dieselben Leute, die Abends in’s Theater gehn, nur um zu lachen − alles andere stört ihnen die Ve/B/ehaglichkeit. − Wir leben sehr still. Hin u. wieder gehe ich mal mit meiner kleinen Nichtenicht identifiziert. in ein Concert − und unterrichteBeate Heine (geb. Wüerst) war vor ihrer Heirat mit Carl Heine nicht nur als Konzertsängerin tätig, sondern auch als ausgewiesene und geschätzte Gesangslehrerin. selbige Nichte 2 Mal wöchentlich im Gesange, das macht mir viele Freude. |


d. 17ten17.3.1898 (Freitag).. So weit kam ich gestern, heut soll aber der Brief zur Post. Ich habe heut viel von Ihnen gesprochen mit Jemand, dem ich Ihr Buch borgte u. von dem ich wünschte, daß er Sie aus Ihrem Werk etwas kennen lernte. − Ich bin heut ganz blödsinnig u. zerstreut, ich glaube, der Frühling sitzt mir im Kopf − ich habe so das Gefühl, man soll draußen sein, sich die Sonne auf den Rücken scheinen lassen, das junge Grün besehen, glücklich sein u. nichts thun, als Athem holen. Aber, dann wird dieser Brief nicht fertig − also. Ich wollte Ihnen noch über Martens schreiben − ja Sie haben recht, trostlos sind seine Verlobungsbriefe − es ist mitleiderregend u. jämmerlich, so zu heirathen. Dabei hat er seine BrautMarie Fischer, die Verlobte von Kurt Martens, war die Tochter eines Oberlandesgerichtsrates. wie ich glaube, lieber, als man nach seinen Worten denken | sollte. Daß Weber sein Verhältniß nun doch auch heirathetHans von Weber verheiratete sich am 29.3.1899 in München mit Anna Jäger (die Heirat fand am selben Tag statt wie die seines Cousins Kurt Martens)., hatte ich erwartet; nach der letzten Versöhnung war er ihr verfallen. Ob nun Frau Martens mit der Person verkehren muß?? Weber meldete uns seine bevorstehende Heirath im Tone des Scherzes, sehr génirt, er weiß ja, wie wir darüber denken. Noch etwas meldete Weber, das Sie auch interessiren wird. Harlan hat einen Roman „Die Dichterbörse“ fertigDer Schlüsselroman „Die Dichterbörse“ (1899) von Walter Harlan (der Schriftsteller und Dramaturg wird noch 1899 zum Vater des späteren Regisseurs Veit Harlan) behandelt Verhältnisse des Leipziger Kulturlebens. Der Autor war 1895 Gründungsmitglied der Literarischen Gesellschaft in Leipzig (neben Carl Heine, Kurt Martens, Hans von Weber, Franz Adam Beyerlein)., in dem er nicht nur seine Leipziger Freunde, sondern auch Carl u. mich in perfidester Weise genau beschrieben haben soll. Weber schrieb ganz aufgeregt, Merian hat einen Aushängebogen davon gesehen, u. ganz empört sich drüber ausgesprochen: „einem Manne könne er ja meinetwegen so etwas thun, aber doch nicht einer wehrlosen Frau, von der er nichts als Liebes u. Freundliches genossen habe.[“] | Mich regte die Sache zuerst auch etwas auf. Aber von einem derartigen Lumpen erwartet man doch eigentlich nichts anderes. Er hat uns schon mündlich so verleumdet, nun lügt er noch was dazu u. läßt es drucken. Ich denke, es kann uns nichts weiter schaden u. es ist das Beste so wenig als möglich davon zu reden! nicht? Da wir mal gerade bei dem Thema sind, möchte ich Ihnen noch sagen, wie anders ich jetzt, im Laufe der Jahre, die Sache von damals ansehe. Ich weiß jetzt, daß ich H. nie − hören Sie, nie geliebt habe − hypnotisirt hat er mich, bess besessen von ihm war ich nicht u. hab viel Kummer u. Qual davon gehabt − aber − Liebe − nein. Liebe ist einfach Hingabe − ohne Fragen − man ist für einander geschaffen u. lebt fortan nur für einander − alles Uebrige ist dann gleich! Pardon − ich wollte Ihnen keine Rede halten. Lachen Sie mich bitte nicht aus. | Erinnern Sie sich meines dicken Tagebuchs, das ich irgend einem Sudermann „zur Verarbeitung[“] geben sollte nach Ihrer Ansicht? Das hab ich vor 2 Monaten verbrannt − es kam mir so unwahr vor, so als wenn ich von einer fixen Idee beim Schreiben besessen gewesen wäre. Ich bin froh, daß es fort ist − sowieso ist mir die ganze Begebenheit so gänzlich aus dem Gedächtniß geschwunden, daß ich Mühe habe, daran mich zu erinnern. Vielleicht finden Sie es überflüssig, daß ich Ihnen das schreibe, mir ist es aber natürlich. Liebster Freund, wie begierig bin ich auf Ihr Drama! Begierig ist noch gar kein Wort − denn in meinen Augen ist das, was Sie jetzt, nach all Ihren Bühnen-Erfahrungen, schreiben, entscheidend für Ihr Geschick, für Ihre ganze fernere Produktion. Daß Sie einen Tag denken, es sei schlecht, u. den andern, es sei gut, | finde ich natürlich − ich habe dasselbe schon oft von produzirenden Menschen gehört. Es wird gut sein, glauben Sie es mir. Jedenfalls wünsche ich zur Vollendung 1000 Glück! Ich bin sehr erstaunt, daß Langen nun auch in Paris ist − ständig? Das würde ich Ihnen nicht wünschen. Wir haben uns göttlich amüsirt über Ihre Art mit einander zu verkehren − aber schön ist anders. Grétor besitzt nach wie vor unser, mein größtes Interesse − sagen Sie, was thut er jetzt? Carl würde sagen: wen begaunert er jetzt? Oder lebt er von seinen Monte-Christo-Rentenin Anspielung auf den Abenteuerroman „Le Comte der Monte-Christo“ (1846; „Der Graf von Monte Christo“) von Alexandre Dumas (dem Älteren) ironische Frage Carl Heines nach Wedekinds finanziellen Verhältnissen.? − So, jetzt will ich aber schließen. Ich grüße Sie in treuester Freundschaft, u. freue mich schon jetzt auf Ihr Drama u. Ihren nächsten Brief.

Stets Ihre
Beate Heine. |


p:s:
Sagen Sie, spielt „das WeibFrauen.“ garkeine Rolle in Ihrem Leben jetzt? Carl sagte, nach Ihrem Brief: ja, wenn er alle 8 Tage mit Freunden kneipt, was thut er dann in der Zwischenzeit − mit wem ist er da zusammen?? Dies ist keine auf die Brust gesetzte Pistole − nur eine natürliche Wahrnehmung u. Frage. Haben Sie, trotz der Arbeit, nicht Menschen, mit denen Sie täglich, oder öfter zusammen sind? Oder nicht zum Erzählen? Dann habe ich nicht gefragt!

1000 Grüße!

Frank Wedekind schrieb am 2. Juni 1899 in Köln folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Beate Heine , , , , ,


[Hinweis in J. A. Stargardt: Katalog 626 (1982), Nr. 281a:]


WEDEKIND, Frank [...]. Ansichtspostkarte an Beate Heine (Köln 2.VI.1899Köln dürfte am 2.6.1899 ein Zwischenaufenthalt gewesen sein auf Wedekinds Reise (er unternahm sie, um sich wegen des Vorwurfs der Majestätsbeleidigung den Behörden in Leipzig zu stellen) von Paris nach Leipzig, wo er abends am 2.6.1899 eintraf, wie die Presse meldete: „Leipzig, 2. Juni. Der s.[einer] Z.[eit] in die ‚Simplicissimus‘-Affäre verwickelte, wegen Majestätsbeleidigung verfolgte und flüchtig gewordene Franklin Wedekind hat sich heute Abend, direct aus Paris kommend, der hiesigen Polizeibehörde freiwillig gestellt.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 277, 3.6.1899, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4365]) [...]

Beate Heine schrieb am 24. Juni 1899 in Hamburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind


[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 25.6.1899 aus Leipzig:]


So viel Freude mir Ihre freundliche Carte bereitet [...]

Frank Wedekind schrieb am 25. Juni 1899 in Leipzig folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Faksimile der ersten Seite des handschriftlichen Briefs in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232, S. 131:]


Sonntagder 25.6.1899..


Hochgeehrte Freundin,

diese Zeilen schreibe ich ihnen als Geschäftsbrief. So viel Freude mir Ihre freundliche Carte bereitet und so viel Freude es mir macht, Ihnen zu schreiben ist die Correspondenz doch nicht so frei wie Sie vielleicht annehmen. Ich darf nicht viel Worte machen, um Ihnen alles sagen zu können. Ich beauftragte vor einiger Zeit meinen Freund Dr. Käslin in Paris, Ihnen den „gefallenen Teufel“ zu schicken, vorderhand ohne einen anderen Beweggrund als weil mich Ihr Urtheil sehr interessirt, denn für irgend etwas Geschäftliches ist jetzt kurz vor den Ferien nicht die Zeit. Die Schlußscenen des 4. und 5. Aufzuges sind noch sehr dünn. Ich werde sie noch vertiefen müssen. Vielleicht auch die letzte Scene des 3. Aufzugs. Es wird mich sehr freuen, Ihre Ansicht darüber zu hören. Möglich daß es auch noch anderen Partien an Intensität fehlt. Was Berlin betrifft, denke ich damit ans Deutsche Theater, sost sonst habe ich mir weiter noch nichts vorgenommen. Auf jedenfall mag Herr Doctor damit | [...]



[2. Druck:]


Leipzig, 28.VI.1899Das Datum (der 28.6.1899 wäre ein Mittwoch gewesen) ist dem Briefinhalt zufolge falsch, richtig: 25.6.1899 (Sonntag)..
(Untersuchungshaft)Der erläuternde Zusatz stammt von Fritz Strich (im handschriftlichen Brief steht er nicht, jedenfalls nicht an dieser Stelle). Der am 30.10.1898 aus München über Zürich nach Paris geflohene Wedekind hatte sich am Abend des 2.6.1898 in Leipzig den Behörden gestellt, die für die Verfolgung der Majestätsbeleidigung im „Simplicissimus“ zuständig waren. Die Presse meldete: „Leipzig, 2. Juni. Der s.Z. in die ‚Simplicissimus‘-Affäre verwickelte, wegen Majestätsbeleidigung verfolgte und flüchtig gewordene Franklin Wedekind hat sich heute Abend, direct aus Paris kommend, der hiesigen Polizeibehörde freiwillig gestellt.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 277, 3.6.1899, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4365] Seitdem saß Wedekind in Untersuchungshaft, in der „Gefangen-Anstalt Leipzig“ [Leipziger Adreß-Buch für 1899, Teil II, S. 39].


Hochgeehrte Freundin,

Diese Zeilen schreibe ich ihnen als GeschäftsbriefDie geschäftliche Angelegenheit betraf Wedekinds schriftstellerische Arbeit, die erfolgte Übersendung seines Dramenmanuskripts „Ein gefallener Teufel“ (die Urfassung des „Marquis von Keith“) von Paris nach Hamburg an Carl Heine [vgl. KSA 4, S. 413], die Hans Kaeslin übernommen hat [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.6.1899].. So viel Freude mir Ihre freundliche Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 24.6.1899. bereitet und so viel Freude es mir macht, Ihnen zu schreiben, ist die Correspondenz doch nicht so frei wie Sie vielleicht annehmen. Ich darf nicht viel Worte machen, um Ihnen alles sagen zu können. Ich beauftragte vor einiger Zeitvgl. Wedekind an Hans Kaeslin, 12.6.1899. meinen Freund Dr. Köslin in Paris, Ihnen den „gefallenen Teufel“ zu schicken, vor der Hand ohne einen anderen Beweggrund als weil mich Ihr Urtheil sehr interessirt, denn für irgend etwas Geschäftliches ist jetzt kurz vor den Ferien nicht die Zeit. Die Schlußscenen des 4. und 5. Aufzuges sind noch sehr dünn. Ich werde sie noch vertiefen müssen. Vielleicht auch die letzte Scene des 3. Aufzuges. Es wird mich sehr freuen, Ihre Ansicht darüber zu hören. Möglich, daß es auch noch anderen Partien an Intensität fehlt. Was Berlin betrifft, denke ich damit ans deutsche TheaterDirektor des Deutschen Theaters in Berlin war Otto Brahm [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 251].; sonst habe ich mir weiter noch nichts vorgenommen. Auf jedenfall mag Herr Doctor damit walten wie es ihm beliebt. Ich weiß zu gut, daß es mir nicht zum Nachtheil gereichen wird. Gesternam 24.6.1899 (Samstag), Carl Heines 38. Geburtstag. war sein Geburtstag. Wollen Sie ihm meine herzlichsten Glückwünsche übermitteln. Ich denke hier in meiner Einsamkeit auch an Ihren Geburtstag und weiß den Tag ganz genau, aber vergangenen HerbstBeate Heine hatte am 31.10.1898 (einen Tag nach Wedekinds Flucht aus München wegen der drohenden Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung) ihren 39. Geburtstag., im Strudel der Aufregungen, habe ich ihn schmählich verpaßt.

Ich habe noch den Nachgeschmack einer der herrlichen Cigarren im Munde, die mir Herr Doctor geschicktDer Begleitbrief zu dem Päckchen mit den Zigarren ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 16.6.1899. und bin in Gedanken bei Ihnen in Hamburg. Was Paris betrifft, so wird Ihnen Jedermann sagen, daß Sie in diesem Jahre nichts in Paris verloren haben. Die Stadt gleicht einem großen Bauplatz; sämmtliche Straßen sind aufgerissen, die Champs Elisées zur Hälfte abgesperrt, die Seine-Quais ungangbar und in den Theatern giebt es keine Ereignisse, weil alles auf die AusstellungDie Weltausstellung in Paris (bereits die fünfte in der Stadt) fand vom 15.4.1900 bis 12.11.1900 statt, ein Großereignis mit Millionen Besuchern. hin arbeitet. Ich weiß nicht, ob Sie nun daran denken, zur Ausstellung hinzugehen; aber das Jahr 1901, das Jahr nach der Ausstellung, wenn Paris aus der künstlerischen Ueberreizung einer sanften Erschlaffung anheimfällt und dabei über den zur Ausstellung angeschafften neuesten Comfort verfügt, stelle ich mir geradezu göttlich vor. Auch SokratesWedekind las Platon, ein Schüler des Sokrates, nämlich Platons „Symposion“ („Gastmahl“ oder „Trinkgelage“), jenes antike Dialogwerk, in dem sich die Teilnehmer eines zurückliegenden Gastmahls über den Eros unterhalten und Sokrates einer der Hauptredner ist., wie ich eben in Platons Gastmahl lese, schätzte den Katerbummel höher als die eigentliche Kneiperei, bei der er meistens kein Ohr für seine Weisheit fand.

Ich glaube annehmen zu dürfen, daß sich mein Los in der nächsten Woche entscheidenEine Entscheidung fiel erst Wochen später. Das Leipziger Reichsgericht verurteilte Wedekind am 3.8.1899 zu einer siebenmonatigen Gefängnishaft wegen Majestätsbeleidigung in den im „Simplicissimus“ pseudonym veröffentlichten Gedichten „Im heiligen Land“ und „Meerfahrt“ ‒ diese Strafe wurde dann infolge eines Begnadigungsgesuchs vom 23.8.1899 in Festungshaft umgewandelt, die Wedekind am 21.9.1899 antrat und bis zum 3.2.1900 auf der Festung Königstein verbüßte [vgl. KSA 1/I, S. 1710]. wird. Ich bin geistig zu préoccupirtrecte: präokkupiert; befangen, psychisch belastet., um das, was mir hier an äußerlichen Comfort mangelt, ernstlich zu vermissen. Außerdem habe ich auch das deutliche Gefühl, daß man alles aufwendet, um mir, soweit es die Hausordnung zuläßt, meine Situation zu erleichtern. Und dann habe ich eigentlich genau genommen, ohne im Gefängnis zu sein, schon Schlimmeres durchgemacht und deswegen auch nicht gejammert. Die einzige wesentliche Frage ist das „Wie lange“ und darüber läßt sich, so sehr ich mich auch darauf freue, Sie wieder zu sehen, heute noch nichts sagen.

Ich hörtevon Carl Heine, der Wedekind in den ersten Tagen der Untersuchungshaft in Leipzig besucht hat, wie Wedekind auch einem Freund brieflich berichtete [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 27.7.1899]. aber mit großem Vergnügen von Herrn Doctor, daß Sie in Hamburg glücklich und zufrieden sind und damit rechnen, daß das alles noch viel besser werden kann. Besuchen Sie wol noch zuweilen das hübsche Café am Alsterbassin, Café Européendas Café de l’Europe [vgl. Baedeker 1902, S. 33f.] im Hotel de l’Europe in Hamburg (Alsterdamm 39) [vgl. Hamburger Adreß-Buch für 1899, Teil III, S. 256]., je crois(frz.) glaube ich.. Die Abende, die wir dort unter den Bogenfenstern saßen, mit dem Ausblick auf das Wasser, sind mir in sehr schöner Erinnerung, ebenso der Nachmittag unter dem Brückenkopf an der Außen-Alster. Sollten sich solche Momente wiederfinden, dann werde ich sie um so höher zu schätzen wissen und mich umso mehr davor hüten, mit dem Feuer zu spielen.

Grüßen Sie bitte Herrn Doctor bestens von mir und empfangen Sie die Versicherung meiner unverbrüchlichen Ergebenheit.

Mit den herzlichsten Grüßen Ihr
Frank Wedekind.



[3. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Ich darf nicht viel Worte machen, um Ihnen alles sagen zu können [...] Ich glaube annehmen zu dürfen, daß sich mein Los in der nächsten Woche entscheiden wird. Ich bin geistig zu präoccupiert um das, was mir hier an äußerlichem Comfort mangelt, ernstlich zu vermissen. Außerdem habe ich auch das deutliche Gefühl, daß man alles aufwendet um mir, soweit es die Hausordnung zuläßt, meine Situation zu erleichtern. Und dann habe ich eigentlich genau genommen, ohne im Gefängnis zu sein, schon Schlimmeres durchgemacht und deswegen auch nicht gejammert. Die einzige wesentliche Frage ist das „Wie lange“ und darüber läßt sich [...] heute noch nichts sagen [...]

Beate Heine schrieb am 7. Juli 1899 - 15. Juli 1899 in Helgoland folgenden Brief
an Frank Wedekind

Helgoland,
Villa Quisisana,

d. 7.7.99Freitag..


Lieber Freund ‒ erst heut komme ich dazu, Ihnen für Ihren lieben „GeschäftsbriefZitat aus dem zuletzt erhaltenen und dort in Anführungszeichen gesetzt so bezeichneten Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.6.1899].“ zu danken, und Ihnen zu sagen, daß wir noch mehr als sonst Ihrer gedacht haben ‒ durch Ihr Drama. Mein Mann hat Ihnen wohl schon drüber geschriebenüber „Ein gefallener Teufel“ [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.6.1899]., aber da Sie so liebenswürdig sind, meine Laien-Meinung auch hören zu wollen, so muß ich sagen, daß mir Ihr Werk, vor Allem, einen großen Eindruck gemacht hat. Das Geld interessirt von a-Z. Uebrigens thut erder Marquis von Keith, die Hauptfigur in „Ein gefallener Teufel“ (die Urfassung des „Marquis von Keith“) [vgl. KSA 4, S. 149, 411-413]. Aussprüche, die ich in Hinterindien für ächte | Wedekinds erkennen würde. Von der Mache verstehe ich mäßig viel, aber ich habe das Gefühl, daß (gegen den Erdgeist) hier ein fester Faden durchgeht, der die Handlung hält, u. der dort fehlte. Mit den Schlußscenen des 4ten u. auch 3ten Akts bin ich Ihrer Meinung, daß sie recht dünn sind ‒ nicht aber die des 5ten. Sehr schön u. vom Schauspieler noch schöner zu gestalten finde ich die letzte Scene zwischen Keith u. der WerdenfelsSilvia, verwitwete Gräfin Werdenfels, die Geliebte des Marquis von Keith in „Ein gefallener Teufel“ (in „Marquis von Keith“ heißt sie dann Anna).. Sagen Sie mir nur eines, was empfindet Keith für ThereseTherese Griesinger, in „Ein gefallener Teufel“ (und „Marquis von Keith“) die Lebensgefährtin des Marquis von Keith.? Meiner Meinung überhaupt nichts, außer, was die Haushälterin angeht!? Denn, soweit er dazu | Zeit hat, liebt er die Werdenfels; ‒ nicht? Sie ihn aber nicht. ‒ Ob das Stück für das Deutsche Theater paßt, ist die Frage ‒ aber wohin sonst! ‒ Nun, zu uns, die wir seit DinstagSchreibversehen, statt: Dienstag (der 4.7.1899). Hamburg den Rücken gewendetBeate und Carl Heine reisten am 4.7.1899 von Hamburg ab nach Helgoland, wohin es eine regelmäßige Dampfschifffahrtsverbindung gab. haben. Carl war durch die kurze, kleine Vor-ReiseCarl Heine hatte eine Reise nach Berlin unternommen, von der er am 23.6.1899 nach Hamburg zurückkehrte. schon etwas erholt, u. hier sind wir Beide wieder beglückt von aller Schönheit, die uns außerdem so lieb vertraut ist. Das Wetter ist ganz leidlich, zwar bedeckt, aber doch so, daß man sowohl die Düne, als auch das Oberland durchaus genießen kann.


Sonnabend, d. 15.7.99. Sie wissen, | wie gern ich an Sie schreibe, aber ich konnte neulichdie acht Tage seit dem 7.7.1899, an dem der Brief begonnen wurde. nicht die nöthige Energie aufbringen, diesen Brief zu vollenden. Ich bin überhaupt jetzt eine so sehr schlechte Correspondentinfast Alles kommt mir so klein u. gleichgültig vor − aber − ich will Sie mit meinem Seelenkater − der mir aber viel mehr wie eine Seelenerhebung vorkommt − nicht anöden. Heut kamen Ihre lieben Zeilen an Carlnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 13.7.1899., und die zogen mich direkt an den Schreibtisch. Ich begreife so sehr, wie gräßlich schwer Ihnen die Zeit der Ungewißheit wird − mir ist auch jede Art des Wartens verhaßt − und | nun gar, wenn es sich um so Wichtiges handelt. Ich hab sehr lachen müssen, aus Ihrer Feder eine (übrigens vorzügliche) sächsische Redensart zu hören − das ist ein zu amüsanter Kontrast. − Wollen Sie hören, wie wir hier leben? Sehr einförmig − in regelmäßigem Müßiggang − aber ich versichere Sie, das beschäftigt uns so, daß wir keine Viertelstunde Zeit erübrigen. Carl jagt morgens von ½ 7-½ 10 − dann frühstücken wir, ich mein erstes, Carl sein 2tes Frühstück. Danach begebe ich mich in die Hände eines Masseurs, der mir die Schäden eines Treppensturzes wegknetet, den ich so um Pfingsten erlitt, u. der wirklich scheußlich war. | Im wahren Sinne des Wortes „zerschlagen“ kehre ich von dieser Prozedur zurück u. um ½ 11 fahren wir zur Düne. Dort wird gebadet, (sogar mein kaltes Wasser hassender Gatte thut es) u. dann wandert man an die außersteSchreibversehen, statt: äußerste. Spitze der Dünenzunge u. legt oder setzt sich dort hin. Das Schönste ist, wenn die Fluth steigt u. man immerfort − so alle 10 Minuten, eilig retirirensich zurückziehen. muß − das geht oft nicht ohne Naßwerden ab − aber das ist hübsch u. lustig − es thut einem auch nichts. Im Uebrigen beschäftigen sich dort auf der Düne die ältesten, würdigsten Männer mit den kindlichsten | Dingen − als da ist: Butterbrot werfen„ein Spiel der Kinder in Niedersachsen und Preußen, da sie Scherben oder platte Steine nach einem spitzigen Winkel auf die Oberfläche des Wassers werfen, so daß sie einige Mahl nach einander davon abspringen“ [Adelung, Sp. 1283]., mit Steinen nach einem selbsterrichteten Ziel schießen − Sand u. Steinwälle gegen die steigende Fluth bauen u.s.w. Man ist so herrlich stumpfsinnig hier, daß einem das gerade recht ist − man sehnt sich nicht im Entferntesten nach „Geist“ oder Kunst oder/und/ Litteratur − nein, man fault sich so durch den Tag. Um ½ 2 sind wir wieder zum Essen hier, dann ruhen wir gründlich − Carl schläft meist, wie eine Ratte u. um 4 Uhr zieht man sich ein Bischen anständiger an u. trinkt auf der Veranda des Conversationshausesdas neue, 1891 erbaute und im „Unterland“ gelegene „Konversationshaus, mit Gesellschafts-, Musik- und Lesesälen“ [K. Baedeker: Nordost-Deutschland (von der Elbe und der Westgrenze Sachsens an) nebst Dänemark. Handbuch für Reisende. 25. Aufl. Leipzig 1896, S. 51]., bei | den Klängen der Kurmusik Kaffee. Dann segelt Carl u. ich bemühe mich, Briefe zu schreiben, wie jetzt − aber oft mit ohne Erfolg. Alsdann ersteigen wir in 182 Stufen das Oberlanddas Plateau der Insel Helgoland, vom Unterland durch eine Treppe erreichbar. − gehen − oder vielmehr, wandeln dort auf dem weichen Wiesengrund, füttern einige besonders niedliche Lieblingsschafe, u. freuen uns immer wieder der wirklich bezaubernden Naturschönheit der rothen Buchten u. des Meers u. der ganzen Scenerie. Abendbrot essen wir wieder unten u. spielen dann meist eine Partie Schach; wobei ich mich rasend ärgere − ich spiele noch ziemlich schlecht | − u. finde Carls Züge immer so hämisch, wie eine persönliche Beleidigung. Bis jetzt wars noch nicht sehr voll − ein Reiz mehr für uns − aber jetzt fängt das Theater anDie Spielzeit des Landschaftlich subventionierten Theaters (Direktion: Gustav Kammsetzer) auf Helgoland als stark besuchtes Seebad begann am 17.7.1899 und dauerte bis zum 18.9.1899 [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 389]. u. die eleganten Badeleute u. die Stammgäste kommen zum Vorschein. Wir sprachen mit unserem Fischer, den Kellnerinnen − und seit einigen Tagen auch mit BrahmDr. phil. Otto Brahm, Direktor des Deutschen Theaters in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 254], hat sich bereits im Vorjahr auf Helgoland aufgehalten; er hat dort am 8.7.1898 die Schauspielerin Grete Nansen geheiratet.. Er ist ja erstaunlich häßlich − aber ich mag ihn gern, u. er ist immer besonders nett zu mir, wir kennen uns von den ZwanglosenOtto Brahm war am 22.1.1884 Gründungsmitglied der Zwanglosen Gesellschaft, eine „gesellige Wochenkneipgesellschaft“ [Wülfing/Bruns/Parr 1998, S. 500] in Berlin, die sich freitags zwanglos in unterschiedlichen Lokalen versammelte. Mitglieder waren Buchhändler, Sänger, Musiker, Musikhistoriker, Schriftsteller, Philologen, Architekten und andere akademisch gebildete Berufsgruppen. Mitglied war auch Franz Wüerst [vgl. Wülfing/Bruns/Parr 1998, S. 502], der Bruder Beate Heines., noch aus meiner Mädchenzeit. Uebrigens weiß ich seit heut, warum er immer | so mißmuthig u. vergrätzt aussieht − er hat ein chronisches Magenleiden! Er thut mir immer ein Bischen leid, ich glaube, es hat ihn selten einer wirklich gern! Und Sie wissen, daß ich das als Haupt-Erforderniß im Leben betrachte. So, u. nun zum Schlusse. Vielleicht schreibt Carl noch ein Wort dazuDer vorliegende Brief enthält keinen Zusatz Carl Heines.. Die Bücher bekommen sie sofortWedekind hat Bücherwünsche geäußert, vermutlich in seinem letzten Brief, der (bis auf die erste Seite) nur gedruckt zugänglich ist und sie in dieser Fassung nicht enthält [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.6.1899]. Seinem nächsten Brief zufolge hat er um Tolstojs Roman „Anna Karenina“ und um Reden Bismarcks gebeten, Bücher, die ihm da schon, erhalten von Beate Heines Hamburger Buchhändler, seit „mehr als drei Wochen“ [Wedekind an Beate Heine, 31.7.1899] vorlagen.. Uebrigens fand ich es sehr rührend von Ihnen, daß Sie sich des hübschen NachmittagsWedekind erinnerte in seinem letzten Brief an diesen gemeinsamen Nachmittag in Hamburg [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.6.1899]. in Hamburg unter dem Brückenkopf erinnerten, das freute mich − ja, ja − das Nicht-Verwöhnen ist ein gutes Prinzip − aber es kann nicht Jeder durchführen − ich, wie Sie wissen, am Allerwenigsten! Womit ich bin in herzlichster Freundschaft
Ihre
Beate Heine.

Beate Heine und Carl Heine schrieben am 21. Juli 1899 in Helgoland folgenden Brief
an Frank Wedekind

Helgoland
d. 21.7.99.


Mein lieber Freund Frank ‒ mit doppelt herzlichen Wünschen komme ich diesmal „gratulirenBeate Heine gratulierte Wedekind zu seinem 35. Geburtstag am 24.7.1899; ihr Brief ist ein Begleitbrief zu einem Geburtstagspäckchen.“! Und ich will mich kurz fassen, und Ihnen nur „Glück“ wünschen ‒ ein solches Glück, wie Sie es gern haben wollen ‒ denn es sieht ja doch für Jeden anders aus! Ich habe mir den Kopf zerbrochen, | was ich Ihnen schicken sollte ‒ denn etwas geschenkt kriegen müssen Sie doch ‒ und da bin ich auf die beiliegende Schreibunterlage gekommen, die Sie, wie ich mir denke, gut brauchen können. Zu allem Andern sagte mein Mann immer: nein, das geht nicht ‒ u. so begnüge ich mich! ‒ Von uns wissen Sie ja alles Wissenswerthe. Wir hatten furchtbare Hitze, | aber jetzt ist ein herrlicher Nordost aufgekommen, der einen wieder auffrischt. Wir baden übrigens mit Genuß, es ist ein göttliches Vergnügen, u. wir sind stolz, daß mein Mann es verträgt ‒ Sie kennen seine Gefühle für kaltes Wasser! Mit Brahm u. VacanoDr. phil. Otto Brahm aus Berlin (Luisenplatz 2) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1900, Teil I, S. 161], Direktor des Deutschen Theaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 254], war mit dem Schriftsteller Stefan Vacano, der in Wilmersdorf bei Berlin (Emserstraße 25) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1900, Teil I, S. 1631] wohnte, befreundet; beide verbrachten ihren Urlaub auf Helgoland. sprachen wir letzthin über Sie u. den Erdgeist u. Br. sagte, SchlentherOtto Brahm und der Theaterkritiker Paul Schlenther, beide 1889 Mitbegründer der Freien Bühne in Berlin [vgl. Schanze 1978, S. 275], waren befreundet. Wedekind hatte seine Tragödie „Erdgeist“ (1895) seinerzeit erfolglos Otto Brahm (der sich reserviert gezeigt hat) für eine Aufführung am Deutschen Theater angeboten [vgl. Wedekind an Otto Brahm, 3.5.1895] sowie ebenfalls erfolglos bei Paul Schlenther angefragt, ob „Erdgeist“ nicht von der Freien Bühne aufgeführt werden könne und ihm ein mit Widmung versehenes Exemplar der Erstausgabe der Tragödie beigelegt [vgl. Wedekind an Paul Schlenther, 13.4.1896]. dafürSchreibversehen, statt: habe dafür. etwas übrig gehabt. ‒ Ich will Carl noch etwas Platz lassen, | u. schließe deshalb, mit nochmaligen Glückwünschen u. herzlichen Grüßen!

Fr/In/ aufrichtiger Freundschaft
Ihre
Beate Heine.


Mein lieber Herr Wedekind.

Lassen Sie sich herzlichst zu Ihrem Geburtstage begrüßen; wohin meine Wünsche grade dieses Mal zielen, brauche ich nicht auszuführen. Ihre Bemerkungennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 13.7.1899. Wedekind dürfte sich zu den Eindrücken geäußert haben, die Carl Heine ihm über „Ein gefallener Teufel“ (die Urfassung des „Marquis von Keith“) mitgeteilt hatte [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.6.1899]. über das, was Sie von Ihrem neuen Drama erwarten, stimme ich zu. Ich selbst bin noch ohne jede Orientierung, was ich diesen Winter unternehme. Die gewünschten BücherWedekind hatte Bücherwünsche geäußert [vgl. Beate Heine an Wedekind, 7. und 15.7.1899] und sich etwas verspätet für die erhaltenen Bände bedankt [vgl. Wedekind an Beate Heine, 31.7.1899]. trafen hoffentlich bereits ein?!

Mit besten Wünschen u. Grüßen
Ihr
Carl Heine

Frank Wedekind schrieb am 31. Juli 1899 in Leipzig folgenden Brief
an Beate Heine

Leipzig, 31.VII.1899.
(Untersuchungshaft)


Hochverehrte Freundin und großgütigste Gönnerin!

noch während ich hier abgeschlossen von der Welt sitze und nachdem Sie mich erst reich beschenkt hatten, hat es Ihnen noch gefallen, mich zu meinem Geburtstag zu bescheeren. Diese Zeilen schreibe ich auf der prächtigen Schreibunterlage, die Sie mir von Helgoland aus mit Ihren lieben ZeilenBegleitbrief zu einem Geburtstagspäckchen [vgl. Beate Heine an Wedekind, 21.7.1899]. geschickt. Ich bedaure nur, Ihnen nun nicht eine Menge angenehmer Neuigkeiten mittheilen zu können. Andrerseits habe ich das Bedürfnis, Ihnen vor der Verhandlung noch für die Freundlichkeit, die Sie mir während dieser Zeit erwiesen, meinen Dank auszusprechen. Mit großem Vergnügen habe ich gelesen, was Sie mir über Ihr Leben in Helgoland schreiben, und freue mich, daß Sie nach einem arbeitsvollen Jahr eine so erfrischende Sommerzeit verbringen. Ihre Begegnung mit Otto Brahm hat mich sehr interessirt. Wie schwer er aufthaut ist allbekannt und ich glaube, Sie können sich schon etwas darauf einbilden, daß Sie ihn überhaupt zum Reden gebracht haben. ‒ Seit mehr als drei Wochen zehre ich nun schon von der LectüreWedekind hatte Bücherwünsche geäußert, die sogleich [vgl. Beate Heine an Wedekind, 15.7.1899] erfüllt worden sind [vgl. Carl Heine an Wedekind, 21.7.1899]., die Sie mir geschickt haben und seit dieser Zeit datirt überhaupt eine Art von Umschwung zum besseren in meiner Stimmung. Ich hatte nur wirklich nicht so viel erwartet. Ich hatte Anna Karenina auf nur einen Band und die Bismarkreden auf 3 oder 4 Bände geschätzt. Statt dessen sind es im Ganzen 11 BändeDie beiden Ausgaben lassen sich nicht eindeutig identifizieren – in Frage kommt für Leo Tolstojs Roman „Anna Karenina“ (1877) eine autorisierte dreibändige Ausgabe (Berlin 1897); für die Reden Otto von Bismarcks kommen eine ganze Reihe an Ausgaben in Frage, die alle zahlreiche Bände umfassen, etwa „Die politischen Reden des Fürsten Bismarck“ (Stuttgart 1892-1905, 14 Bände), „Fürst Bismarck als Redner“ (Berlin 1885-1891, 16 Bände) oder „Fürst Bismarcks Reden“ (Leipzig 1895-1899, 13 Bände)., die mir Ihr Buchhändlernicht identifiziert. geschickt hat. Und nun zu allem noch die schöne Schreibmappe. Nächsten Donnerstag, 3. August, ist die Verhandlung. Ich hoffe Ihnen nachher Nachricht geben zu können; das wird von dem UrtheilDie Strafkammer des Königlichen Landgerichts in Leipzig verurteilte Wedekind am 3.8.1899 wegen Majestätsbeleidigung in den Gedichten „Im heiligen Land“ [Simplicissimus, Jg. 3, Nr. 31, S. 245] und „Meerfahrt“ [Simplicissimus, Jg. 3, Nr. 32, S. 2] zu einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten [vgl. KSA 1/II, S. 1710], ein Monat Untersuchungshaft wurde davon abgezogen. Die Anklage führte der Oberstaatsanwalt Oberjustizrat Friedrich Hermann Esaias Häntzschel, die Verteidigung der Rechtsanwalt Dr. Kurt Hezel, das Urteil wurde von dem Vorsitzenden, dem Landgerichtsrat Eduard Alfred Adam verkündet. „Zu der Verurtheilung des Schriftstellers Wedekind wegen der Gedichte im ‚Simplicissimus‘ [...] bringt das ‚Leipz. Tgbl.‘ noch das Folgende: [...] Nach Feststellung der Personalien, aus denen nur hervorgehoben sei, daß Wedekind in Hannover wegen Verletzung der Wehrpflicht zu 300 M. Geldstrafe verurtheilt worden ist, ohne daß aber die Strafe bis jetzt zur Vollstreckung gelangte, wurde auf Antrag des Herrn Oberstaatsanwalt die Oeffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit für die ganze Dauer der Sitzung ausgeschlossen. [...] Zu seinen Gunsten wurde seine bisherige Unbescholtenheit angenommen, zu Ungunsten Wedekind’s, daß die Beleidigungen, welche er geradezu geschäftsmäßig betrieben habe, sehr schwere seien und bei der Höhe der Auflage des Simplicissimus eine weite Verbreitung gefunden hätten.“ [Hamburger Nachrichten, Nr. 182, 5.8.1899, Morgen-Ausgabe, S. (4)] abhängen. Im übrigen geht es mir gut; ich habe eine bei weitem luftigere ZelleWedekind bezog diese Zelle am 24.7.1899 [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 27.7.1899]. erhalten und die Erlaubnis, für mich zu arbeiten. Aus dem Arbeiten ist freilich noch nicht viel geworden; ich bin durch das bevorstehende zu absorbirt.

Grüßen Sie Ihren Herrn Gemahl aufs herzlichste und sprechen Sie ihm bitte meinen besten Dank aus. Ich will schon deshalb froh sein, wenn diese häßliche Geschichte beendet ist, weil ich dann endlich wieder ein positives Wort schreiben kann und nicht mehr jeden Vorschlag und jeden Vorsatz mit einem „Wenn“ verklausuliren muß.

Ich kann nicht gerade behaupten, daß sich während dieser acht WochenWedekind hatte sich am 2.6.1899 abends den Justizbehörden in Leipzig gestellt und war seitdem inhaftiert. viele Menschen nach mir umgesehen hätten. Sie und mein Freund Richard, dann kommt lange niemand mehr, sehr lange.

Ich wünsche Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl noch recht viele frohe Tage in Helgoland, schönes Wetter und das beste Wohlergehen.

Mit den herzlichsten Grüßen Ihr Ihnen treu ergebener
Frank Wedekind.

Frank Wedekind schrieb am 1. August 1899 in Leipzig folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Carl Heine , Beate Heine

[Hinweis in Carl Heines Brief an Wedekind vom 26.8.1899 aus Helgoland:]


Ihren Brief [...] vom 1 August hatten wir noch nicht beantwortet [...]

Beate Heine schrieb am 14. September 1899 in Hamburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Hamburg,
Eichenallée 11.
II.

Mein lieber Freund ‒ so lange habe ich sie wohl noch nie warten lassen mit meiner Antwort ‒ aber ich versichere Sie, ich hätte gerne schon eher geschrieben. Es liegt aber eine recht unruhige Zeit hinter mir ‒ hinter uns. Also, nachträglich schönen Dank für Ihre lieben Zeilenvgl. Wedekind an Beate Heine, 31.7.1899. ‒ ich freute mich so, daß Sie die Schreibunterlage haben brauchen können! Damals warteten wir mit Ihnen auf die Entscheidung Ihrer AngelegenheitWedekind hatte zunächst auf seine Gerichtsverhandlung gewartet und dann auf die Revision des Urteils nach seinem Gnadenersuch. Nachdem er am 3.8.1899 wegen Majestätsbeleidigung zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt worden war, wurde diese Strafe am 23.8.1899 in Festungshaft umgewandelt, die er am 21.9.1899 antrat [vgl. KSA 1/II, S. 1710, 1714-1717]., u. haben uns dann des | Resultates sehr gefreut. Wir sind begierig, wo Sie nun hinkommenWedekind verbüßte die noch abzusitzende Haft ab dem 21.9.1899 (siehe oben) auf der Festung Königstein in der Nähe von Dresden.! ‒ Nun will ich Ihnen von uns erzählen. Die letzte Helgolander Zeit war schon ganz von dem bevorstehenden Abschied beeinflußt ‒ nach der langen, herrlichen Zeit kein Wunder ‒ in circa 8 Wochen kann man sich fest einrichten, wenn man ein Stück Erde so liebt, wie wir unsere schöne, merkwürdige, rothe Zauberinsel. Die letzte Zeit war das Wetter nicht mehr so beständig, und, merkwürdig, nach den paar Sturmtagen war’s plötzlich Herbst geworden ‒ ein kühler Ton in der Luft ‒ u. Alles durchsichtiger ‒ der Sommer war mit dem Sturm fortgegangen. | Aber es war nicht weniger schön ‒ nur anders. Zuletzt hatten wir unsere kleine Nichte FridaFrieda Scharfe, eine Tochter von Beate Heines Schwägerin Blanka Scharfe (geb. Heine). noch 1 ½ Tage dort ‒ das war nett, ihr alles Schöne zu zeigen, gewissermaßen als Wirth. Wir wollten eigentlich direkt über Bremen zu meinen Geschwistern fahren ‒ aber es erhob sich ein derartiger Südost, daß ich todtsicher seekrank geworden wäre auf der 4stündigen Fahrt ‒ u. so fuhren wir feige hierher und am folgenden Tage nach WilhelmshavenBeate Heines Bruder Franz Wüerst lebte dort. Er war Bauingenieur und beaufsichtigte im Dienst des Reichsmarineamts in leitender Funktion den Hafenbau in Wilhelmshaven.. Dort erlebten wir anderthalb sehr hübsche harmonische Tage, mit behaglichem Gespräch u. viel Musik ‒ nach Aller Ausspruch muß ich sehr gut gesungen haben, u. ich war stolz über ein Lob meines Mannes, das die Bescheidenheit mir verbietet, | zu wiederholen, u. darüber, daß mein großer, weißhaariger Bruder lange Thränen weinte ‒ sowas macht doch wirklich Freude! ‒ Hier verlebten wir ein paar ruhige Tage u. dann fuhr Carl mal wieder nach Berlin ‒ leider ohne irgend welchen Erfolg. Die AussichtenCarl Heines berufliche Perspektiven, über die er Wedekind geschrieben hat [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.8.1899]., von denen Sie wissen, entscheiden sich erst Oktober, u. ich fürchte, für diesen Winter wird’s nichts mehr werden ‒ das dachten wir uns ja aber halb u. halb; ich verhehle Ihnen nicht, daß ich sehr traurig darüber bin, denn ich sorge mich, wie Carl es aushalten wird ‒ er ist doch nun mal geschaffen für diese „praktische“ Thätigkeit ‒ für den Schreibtisch ist er (Gottlob, hätt ich beinah gesagt) verdorben. Zwar | hat er in den ersten Tagen unseres Hierseins 2 längst versprochen gewesene Artikel geschrieben und jetzt arbeitet er seinen seligen MyliusCarl Heine schrieb eine literarhistorische Abhandlung über den Wissenschaftsjournalisten, Naturforscher und Schriftsteller Christlob Mylius; seine Studie „Ein Journalistenleben des 18. Jahrhunderts“ erschien erst Jahre später in drei Teilen in der „Belletristisch-Litterarischen Beilage der Hamburger Nachrichten“ (Teil I am 6.3.1904, Teil II am 13.3.1904, Teil III am 20.3.1904). um ‒ aber Sie verstehen, das ist doch Alles nur Nothbehelf. Uebrigens geht er Ende September noch mal nach Dresden, da er dort einige Fäden geknüpft hat, die sich vielleicht nicht so ganz nutzlos erweisen, u. die er nicht wieder aus der Hand geben möchte. Was mich betrifft, so wünsche ich am Meisten, daß die Berliner Sache sich realisirte ‒ Publikum u. Stellung wäre so sehr viel mehr nach unserm Geschmack, als hier in Hamburg. Uebrigens sitzen wir in einer gekündigten Wohnung ‒ | auch nicht sehr behaglich, da wir doch eventuell wohnen bleiben möchten! ‒ ‒ Wissen Sie, Ungewißheit ist doch das Allerscheußlichste ‒ das haben Sie ja letzthin auch durchgekostet ‒ u. darunter leiden wir augenblicklich eben sehr. ‒ Sehr netten LogirbesuchBesuch, bei dem die Gäste in der eigenen Wohnung untergebracht sind (und nicht in einem Hotel zum Beispiel). hatten wir jetzt ‒ 3 Tage lang ‒ ein Schulfreund meines Mannes ‒ ach ‒ Sie kennen die Leute ja, Dr. Oberdiek nebst FrauDr. med. Karl Oberdieck, praktischer Arzt in Hannover (Marienstraße 11) [vgl. Adreßbuch Stadt- und Geschäfts-Handbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover 1900, Teil I, S. 943], und dessen aus Göttingen stammende Gattin Gertrud Oberdieck (geb. Bock), mit der er seit knapp drei Jahren verheiratet war [vgl. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Jg. 36, Nr. 558, 27.11.1896, Abend-Ausgabe, S. 3]. aus Hannover!? Wir haben oft von Ihnen gesprochen. Das Netteste bei diesem Besuch war, die beiden Freunde sich in Schul-Erinnerungenan das Gymnasium in Rinteln, wo Carl Heine im Herbst 1883 das Abitur ablegte, während der aus Hannover stammende Karl Oberdieck um diese Zeit dort noch Primaner war [vgl. Jahresbericht über das Königliche Gymnasium zu Rinteln. Rinteln 1884, S. 22f.]. vertiefen zu sehn; diese Reminiscenzen bilden das hauptsächlichste Band zwischen den Beiden. Wir Frauen kennen nun auch schon | jeden Lehrer mit seinen Eigenthümlichkeiten, u. freuten uns mit. Ich sage Ihnen, die Seligkeit, wenn einer wieder was rausgefunden hatte, das der Andre vergessen ‒ Die Beiden lachten wie die Bengels ‒ wissen Sie, so aus dem Magen, ganz anders als sonst ‒ zu nett war das! Im Uebrigen lasen u. musicirten wir, gingen in den Zoologischen Garten, einmal ins Theater, u. machten die Cäsesche Rundfahrt„H. Käse’s Rundfahrt“ war für Stadt- und Hafenrundfahrten in Hamburg einschlägig. „Abfahrt 10 Uhr Morg. vom Alsterpavillon [...]. An die Wagenfahrt um die Alster schließt sich die Dampferrundfahrt durch die Häfen. Gegen 1 Uhr ¼st. Halt in St. Pauli Fährhaus [...], dann mit Wagen durch Altona und St. Pauli zum Alsterpavillon zurück. Dauer c. 4 St.“ [Baedeker 1902,S. 36] Veranstalter war das Reisebüro und Zigarrengeschäft H. Käse am Alsterdamm 39. mit. Wissen Sie nicht noch? Erst per mailcoach (engl.) Postkutsche.durch die Stadt u. dann durch den Hafen ‒ Sie saßen damals noch so gräßlich unbequem! ‒ Oberdieks sind nette, unspießbürgerliche Leute, mit Humor, u. Interesse | an der Kunst ‒ also nette Gäste. Aber, etwas strengte mich furchtbar an,/:/ gleich nach dem ersten Frühstück „frohe Unterhaltung“, und eigentlich dann den ganzen Tag ‒ nach 8wöchentlichem Schweigen in Helgoland konnte ich das schlecht aushalten! ‒ Von mir speziell kann ich Ihnen wenig sagen ‒ vielleicht sehen wir uns im Frühjahr ‒ dann sehen Sie selbst, ob Sie tyrannischer Shannon-Registratornach der englischen Firma Shannon Registrator Co. benannte, in Deutschland von der Firma August Zeiss & Co. in Berlin unter diesem Namen vertriebene und seit den 1880er Jahren gebräuchliche Sortiereinrichtung zum Ordnen und Aufbewahren von Korrespondenz (auch: Systemmöbel mit Schubladen und Regaleinlagen). So heißt es 1893 in einem Bericht über innovative Büroeinrichtung: „Sehr reichhaltig ist die Sammlung von Registrirungs-Apparaten für Briefe und Documente. Einer dieser Apparate, die Shannon-Binding-Case, der bekannte Shannon-Registrator, hat auch in Deutschland Glück gemacht.“ Hervorgehoben wurde „Geist der Specialisirung“ dieses Systems und erklärt: „Der Shannon-Registrator erhielt auch die höchste Auszeichnung auf der Weltausstellung in Chicago“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 579, 10.12.1893, Morgen-Ausgabe, S. 11]. mich noch in dasselbe Schubfach einkasteln wie sonst ‒ ich glaube kaum. Und nun leben Sie wohl ‒ im allerbesten Sinne des Worts, so wohl als thunlich, u. lassen Sie mal wieder von sich hören ‒ Sie wissen, daß wir uns darüber freuen! Mit herzlichen Grüßen von uns Beiden
Ihre
Beate Heine.

d. 14.9.99.

Frank Wedekind schrieb am 16. September 1899 in Leipzig folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


Leipzig, 16.IX.1899.
(Gefängnis.)


Meine hochgeehrte Freundin,

so rasche Antwort hätten Sie nicht erwartet, aber erlauben Sie mir, mit der Thür ins Haus zu fallen, und um es gleich zu sagen, es würde sich um Mk. 50.‒ handeln, die ich von Ihrer Güte annehmen würde, da ich thatsächlich unvorhergesehen in Kalamität gekommen bin. Ich erhielt gestern drei Nachrichten auf einmal, 1. Ihre lieben freundlichen Zeilenvgl. Beate Heine an Wedekind, 14.9.1899., die mir eine große Freude waren, 2. die Benachrichtigungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Königliches Justizministerium Sachsen an Wedekind, 15.9.1899. Das Königliche Justizministerium in Dresden (große Meißnerstraße 15) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1900, Teil I, S. 279] hat den wegen Majestätsbeleidigung verurteilten Wedekind, der im Gefängnis in Leipzig seine Haft verbüßte, zu Festungshaft begnadigt und damit ein Gnadengesuch bewilligt. Die Rechtsanwälte Felix Zehme und Kurt Hezel hatten im Auftrag Wedekinds am 21.8.1899 an das Königliche Ministerium der Justiz zu Dresden den Antrag gestellt, „dem Verurteilten Wedekind die Allerhöchste Gnade dadurch zu Teil werden zu lassen, daß die erkannte Gefängnisstrafe im Gnadenweg in Festungshaft umgewandelt werde.“ [KSA 1/II, S. 1715] Wedekind trat die Haft auf der Festung Königstein bei Dresden am 21.9.1899 an., daß meine Strafe durch Gnade se. M. des Königs in Festungshaft umverwandelt ist und 3. eine lakonische Benachrichtigung von Langennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Korfiz Holm, Albert Langen Verlag an Wedekind, 14.9.1899., daß er keine Ursache mehr sehe, mir Geld zu schicken. Auf diese Nachricht hatte er mich vierzehn Tage warten lassen, und zwar gerade bis zu dem Tage, wo mein Geld hier zu Ende ist und wo ich, um die Verlegenheit auf den Gipfel zu treiben, nach der Festung Königstein überführt werden soll. Hier habe ich kein Geld mehr nöthig. Würden Sie mir meine Bitte gewähren, dann würde ich Sie ersuchen, die Summe zu schicken an: Den Festungsgefangenen F. W. Festung Königstein. Von dort aus werde ich mich, sobald ich einigermaßen eingewöhnt bin, mit der „Jugend“ in Verbindung setzen und dafür arbeiten.

Und nun zu Ihnen, die Sie mich einen Shannon RegistratorBeate Heine hat Wedekind scherzhaft als eine solche Sortiereinrichtung bezeichnet [vgl. Beate Heine an Wedekind, 14.9.1899]. nennen; wenn ich mir erlaubte, jemanden zu registriren, so waren das doch nur Leute, die Ihr Herr Gemahl Material nennt. Es freut mich aber unendlich, daß Sie im ganzen einen so angenehmen Sommer verbracht haben. An Herrn und Frau OberdiekBeate Heine hat von dem Ehepaar Dr. med. Karl Oberdieck und Gertrud Oberdieck (geb. Bock) aus Hannover berichtet [vgl. Beate Heine an Wedekind, 14.9.1899]. erinnere ich mich sehr gut aus einer Pilsner Bierstube in HannoverWedekind meint wahrscheinlich den „Pilsener Bierkeller“ [Baedeker 1899, S. 8] in der Windmühlenstraße 2b in Hannover.. Im ganzen geht durch Ihre Zeilen eine sehr stimmungsvolle Ruhe, der man Ihr Leben in Helgoland und dessen Wirkung sehr anmerkt, aber in welcher Weise wollen Sie sich sonst so sehr verändert haben? Sie sind praktischer, weitsichtiger geworden? Sie überlassen mir das zu rathen. Aber jedenfalls, da Sie mit augenfälligem Gefallen davon reden, machen Sie mich auf unser Wiedersehen sehr gespannt. Immerhin würde ich mich auch ohne das darauf gefreut haben, beinahe wie man sich freut, aus einem Kriegszug einmal wieder nach Haus zu kommen.

Eines liegt mir noch schwer auf dem Herzen, aber davon wollen Sie vielleicht gar nichts hören. Das ist mein StückWedekind war dabei, das Manuskript „Ein gefallener Teufel“, die Urfassung des „Marquis von Keith“ (1901), umzuarbeiten [vgl. KSA 4, S. 413]., das mir in seiner Form, in der Sie es gesehen, jetzt geradezu entsetzlich skelettartig und unplastisch erscheint, so zwar, daß ich mich schäme, Worte darüber zu verlieren. Dagegen habe ich jetzt die Ueberzeugung, daß es etwas geworden ist. Und Sie schrieben mirBeate hat dem Autor ihre Eindrücke von „Ein gefallener Teufel“ beschrieben [vgl. Beate Heine an Wedekind, 7.7.1899]. so liebenswürdig, es sei etwas Großes darin. Das hatte ich allerdings angestrebt, aber dabei war es geblieben. Ihr nächster Aufenthalt Dresden wird Ihnen wol was Kunstgenuß betrifft mehr als Hamburg bieten, aber schöne Cafés und Restaurants giebt es da nur sehr spärlich. Ebenso ist die Bevölkerung wol um vieles weniger interessant. Aber für einen Winteraufenthalt mag es ausreichen.

Würden Sie Herrn Doctor bitte meine besten Wünsche zum Gelingen seiner Schritte sagen. Was mich betrifft, so belebt mich die bevorstehende Veränderung und ich freue mich auf Natur und Aussicht, trotzdem der Winter vor der Thür steht. Die Freiheit, mich mit meiner Bitte an Sie zu wenden, nehme ich nur aus Ihrer mir bewiesenen großen Güte, aus einem Vertrauen, das ich nicht näher definiren kann.

Seien Sie im Voraus vielmals bedankt, auf jeden Fall, auch wenn es Ihnen gerade nicht möglich ist. Grüßen Sie Herrn Doctor und seien Sie herzlichst gegrüßt von ihrem Ihnen aufrichtig ergebenen
Frank Wedekind.


Herrn Doctor meinen besten Dank für seine freundlichen Zeilenvgl. Carl Heine an Wedekind, 26.8.1899..


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Ich erhielt gestern drei Nachrichten auf einmal, 1. Ihre lieben freundlichen Zeilen, die mir eine große Freude waren, 2. die Benachrichtigung daß meine Strafe durch Gnade se. M. des Königs in Festungshaft verwandelt ist und 3. eine lakonische Benachrichtigung von Langen, daß er keine Ursache mehr sehe, mir Geld zu schicken. Auf diese Nachricht hatte er mich vierzehn Tage warten lassen und zwar gerade bis zu dem Tage, wo mein Geld hier zu Ende ist und wo ich, um die Verlegenheit auf den Gipfel zu treiben nach der Festung Königstein überführt werden soll. Hier habe ich kein Geld mehr nötig. Würden Sie mir meine Bitte gewähren dann würde ich Sie ersuchen, die Summe zu schicken an: Den Festungsgefangenen F. W. Festung Königstein. Von dort aus werde ich mich sobald ich einigermaßen eingewöhnt bin, mit der „Jugend“ in Verbindung setzen und dafür arbeiten [...]

Beate Heine schrieb am 18. September 1899 in Hamburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Hamburg,
d. 18.9.99.


Lieber Freund ‒ Sie haben mir mit Ihren lieben Zeilenvgl. Wedekind an Beate Heine, 16.9.1899. u. mit Ihrer Bitteum 50 Mark [vgl. Wedekind an Beate Heine, 16.9.1899], die Beate Heine dem vorliegenden Brief beigelegt hat, wie aus der Antwort hervorgeht [vgl. Wedekind an Beate Heine, 22.9.1899]. eine wirkliche Freude gemacht ‒ u. ich danke Ihnen herzlich dafür. Wir freuen uns der Umwandlung Ihrer StrafeWedekinds Gefängnisstrafe war nach einem Begnadigungsgesuch am 15.9.1899 in Festungshaft umgewandelt worden [vgl. Wedekind an Beate Heine, 16.9.1899]. in Festungshaft und hoffen, bald mal guten Bericht von Ihnen zu bekommen. Von uns ist nichts zu sagen ‒ alles beim Alten. Aber Sie haben mich neulich mißverstanden ‒ Carl will auf | einige Tage nur nach Dresden, um sich dort mal zu informiren, von einer Uebersiedlung ist nicht die Rede. Aendert sich was in unseren Aussichten, so erfahren sie es natürlich. ‒ Ich habe Ihnen Räthsel aufgegeben in meinem Briefvgl. Beate Heine an Wedekind, 14.9.1899. ‒ die Veränderung in u. an mir betreffend ‒ sowas ist immer dumm ‒ entweder soll man Alles oder nichts sagen. Aber Sie haben recht ‒ es freut mich doch, im letzten Grade ‒ und wenn wir uns wiedersehen so werden Sie es schon heraus|fühlen, dessen bin ich sicher! Wenn wir uns wiedersehen ‒ lieber Gott, Pläne machen kommt mir so unsinnig vor ‒ mir ist, als würde bis dahin mindestens der Himmel einstürzen! Vederemo(ital.) wir werden sehen, mal sehen.! Bis auf Weiteres leben Sie herzlich wohl, Carl grüßt Sie mit mir auf’s Beste. Auf die Umgestaltung Ihres Stücksdie Umarbeitung von „Ein gefallener Teufel“ in „Marquis von Keith“ (1901). sind wir sehr begierig.

Stets getreu gesinnt
Ihre
Beate Heine.

Frank Wedekind schrieb am 22. September 1899 in Festung Königstein folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


Festung Königstein, 22.IX.1899.


Hochgeehrte Freundin,

ich hätte Ihnen gern meinen Dank gestern schon ausgesprochen, aber ich hatte noch keine Tinte. Gestern Morgen um vier Uhr wurde ich geweckt und von einem DetektivDie männliche Begleitperson Wedekinds ist nicht identifiziert. hierher gebrachtDie Festung Königstein, eine der größten Bergfestungen Europas, ist auf einem auf drei Seiten senkrecht aufsteigenden Sandsteinfelsen 360 Meter über dem Meeresspiegel und 246 Meter über der Elbe gebaut und liegt nordwestlich von der Stadt Königstein in der sächsischen Schweiz. Sie wurde über Jahrhunderte zu militärischen Zwecken genutzt. Im Kaiserreich waren dort insbesondere politische Gefangene wegen Majestätsbeleidigung inhaftiert., in aller Unauffälligkeit. Die eigenthümlichen Eindrücke dieser Reise zu schildern, reicht dies Papier nicht aus. Hier traf ich alles milder, versöhnlicher, als ich gefürchtet. Mein Zimmer, das mit zwei Fenstern ins Grüne sieht, ist äußerst stimmungsvoll. Ich traf den Zeichner HeineThomas Theodor Heine ‒ von ihm stammt die mit Wedekinds Gedicht „Im heiligen Land“ korrespondierende Zeichnung auf dem Titelblatt der am 25.10.1898 wegen Majestätsbeleidigung beschlagnahmten Palästina-Nummer des „Simplicissimus“ ‒ hatte sich am 2.11.1898 den sächsischen Behörden gestellt und war am 19.12.1898 in Leipzig zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden; die Strafe wurde wie bei Wedekind in Festungshaft umgewandelt und er saß seit dem 29.3.1899 wegen Majestätsbeleidigung auf der Festung Königstein [vgl. KSA 1/II, S. 1710]. In seiner „Erinnerung an Wedekind“ (am 18.3.1938 im „Prager Tagblatt“) schrieb Thomas Theodor Heine über Wedekinds Ankunft: „Eines Tages traf er auf der Festung ein. Er hatte sich in Paris seine sämtlichen Bärte abnehmen lassen, trug eine Hornbrille und sah nun ganz gut aus, wie ein besserer Schauspieler.“ [Thomas Raff (Hg.): Die Wahrheit ist oft unwahrscheinlich. Thomas Theodor Heines Briefe an Franz Schoenberner aus dem Exil. Göttingen 2004, S. 266] auch hier, der mich über das Leben orientirte. Ich habe jetzt ebensolchen Ueberfluß an Aussicht, wie ich drei MonateWedekind hatte sich am Abend des 2.6.1899 in Leipzig gestellt und war seitdem inhaftiert. daran Mangel litt. Im übrigen herrscht vollkommene Freiheit, mit einigen zeitlichen, mehr formellen Einschränkungen. Ich war sehr glücklich, Ihre freundliche Sendungdie erbetene Summe von 50 Mark, die Wedekind mit Begleitbrief (siehe unten) erhalten hat. und Ihre lieben Begleitzeilenvgl. Beate Heine an Wedekind, 18.9.1899. vorzufinden. Das schwierigste war der Weg hier herauf, eine so schöne Bergpartie, nachdem man des Gehens so gänzlich entwöhnt ist. Gestern abend kneipten wir bis um elf, während des Tages hatte ich ein volles Dutzend Cigarren geraucht, so daß ich heute noch nicht ganz über meine Kräfte verfüge. Der Wind pfeift und heult, die Thüren klappern, die Fenster klirren; vieles erinnert michWedekind erinnert sich an Schloss Lenzburg, das ähnlich hoch gelegen war wie die Festung Königstein. an meine Jugendzeit. Eine Ordonnanz sorgt für unser leibliches Wohl, dabei braucht man nicht mehr mit sich selbst zu sprechen, man zählt seine Schritte nicht mehr ab, die Menschen klopfen an, wenn sie hereinwollen, kurzum das reine Paradies. Einmal bin ich himmelhoch jauchzend und im nächsten Augenblick hundemüde davon. Seltsam war gestern früh die Wanderung durch Leipzig, wo mir jeder Schritt des Weges historischer BodenWedekind erinnert an die gemeinsame Zeit in Leipzig von Ende 1897 bis Sommer 1898, als er im Kreis von Beate und Carl Heine verkehrte, in der Literarischen Gesellschaft, für das Ibsen-Theater engagiert war und seine Stücke „Erdgeist“ und „Fritz Schwigerling“ („Der Liebestrank“) uraufgeführt wurden. war, dabei stockfinstere Nacht. Natürlich hatten wir unser eigenes Coupéabgeschlossenes Eisenbahnabteil (im Unterschied zum Großraumabteil)., rauchten aber vom ersten Augenblick an bis KönigsteinWedekinds Eisenbahnreise am 21.9.1899 mit der Sächsischen Staatsbahn von Leipzig nach Königstein ist dem Sommer-Kursbuch 1899 zufolge (Fahrpläne bis 30.9.1899) wie folgt zu rekonstruieren: Abfahrt vom Dresdner Bahnhof in Leipzig mit dem Zug Nr. 429 (der erste Zug, der fuhr) um 5.20 Uhr (Linie Leipzig – Riesa – Dresden). Ankunft am Leipziger Bahnhof in Dresden-Neustadt um 8.23 Uhr (bis hier 115,1 Streckenkilometer). Nach einem Aufenthalt (zum „Frühschoppen“ genutzt) wurde die Fahrt mit demselben Zug Nr. 429 von Dresden-Altstadt aus fortgesetzt (ab hier weitere 34,8 Streckenkilometer): Abfahrt 9.35 Uhr, Ankunft in Königstein in der Sächsischen Schweiz um 10.32 Uhr [vgl. Kursbuch für Sachsen, das übrige Mitteldeutschland, Böhmen und Schlesien. Sommer-Ausgabe 1899 (1. Mai), S. 46, 42].. In Dresden hielten wir Frühschoppen und sprachen dabei über Hinrichtungen.

Aber was soll ich denken von Himmeleinstürzen: ich zweifle, frage mich, glaube zu ahnen und habe vielleicht auch alles verstanden. Aber warum würdigen Sie mich nicht Ihres Vertrauens? Zweifeln Sie an meinem Interesse oder an meinem Verständnis? Vielleicht an beidem, weil ich in letzter Zeit gar so sehr mit mir selber beschäftigt schien.

Plötzlich bricht die Sonne durch die Wolken und spielt in den Blättern, dann ist die ganze Herrlichkeit nocheinmal so schön. Mein Zimmer ist gewölbt und gelb getüncht, die Möbeln stehen vereinzelt darin umher, sie verschwinden, es ist der reine Tanzboden. Aber Sie denken dabei an etwas anderes; wie sollte ich Ihnen da noch mehr erzählen können; ich thue es aber doch. Ich hatte mich sehr darauf gefreut, daß Sie nach Dresden kommen und mich vielleicht besuchen würden. Wahrscheinlich ist Bierbaum den Winter über in Dresden; ich dachte Sie würden dann mit ihm verkehren, er ist doch ein sehr netter Mensch und hat eine Insel gegründetDas erste Heft der ästhetisch anspruchsvoll aufgemachten illustrierten Monatsschrift „Die Insel“ ‒ herausgegeben von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder, erschienen im Verlag der Insel bei Schuster & Löffler in Berlin ‒ kam im Oktober 1899 heraus. Es enthält eine Zeichnung von Thomas Theodor Heine (wie überhaupt die illustrative Ausstattung von ihm stammt). Er dürfte Wedekind über die neue Zeitschrift informiert haben. In der „Insel“ erschien dann von April bis Juni 1900 Wedekinds Drama „Marquis von Keith“ (unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet“)., eine neue Zeitschrift, bei der nur die Mitarbeiter verdienen sollen. In München im alten Schauspielhaus scheint auch wieder etwas gegründetDie Münchner Presse meldete am 5.9.1899 die Gründung eines Theatervereins unter Federführung Max Halbes am Vorabend: „Im Saale des Restaurants ‚Zur Lacke‘ fand gestern die konstituierende Sitzung zur Gründung des ‚Vereins Münchener Volksbühne‘ statt [...]. Den Vorsitz in der Versammlung führte Schriftsteller Dr. Max Halbe; Schriftsteller Steiger sprach über die Tendenzen und Ziele des Vereins. [...] Die Aufführungen werden im Münchener Schauspielhaus stattfinden, und zwar die erste am 24. September. [...] Als Vorstandsmitglieder wurden gewählt: Dr. Halbe, E. Steiger, Musikschriftsteller Wilh. Mauke, Schriftsteller Döscher, Arbeitersekretär Timm, Sturm und Kratsch, die unter sich die Aemter verteilen werden; zu Revisoren: Rechtsanwalt Dr. Bernheim, Dr. med. Lehmann und Frau Timm. Um Mitternacht wurde die Versammlung geschlossen.“ [Münchener Volksbühne. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 102, Nr. 246, 5.9.1899, Abendblatt, S. 6f.] Die Aufgabenverteilung im Vorstand (1. Vorsitzender: Max Halbe), die Ankündigung, am 24.9.1899 Arthur Schnitzlers Stück „Das Vermächtnis“ am Münchner Schauspielhaus aufzuführen, und weitere Informationen über den Volksbühnenverein wurden einige Tage darauf publik gemacht [vgl. Münchener Volksbühne. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 102, Nr. 255, 14.9.1899, Morgenblatt, S. 6]. Die genannte Premiere fand statt. zu werden, Max Halbe u. A., voraussichtlich auch mehr zum eigenen Vergnügen als zu dem des Publikums.

Ich trage mich mit dem Gedanken, Martens zu seiner Verlobung zu gratuliren, die er mir vor einem Jahr ankündigteKurt Martens hat Wedekind von seiner Verlobung und anstehenden Heirat geschrieben [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 5.2.1899], worauf Wedekind nicht reagierte., frage mich aber, ob er nicht vielleicht schon verheirathetKurt Martens war seit dem 29.3.1899 verheiratet. ist. Es erscheint mir so, als ständen Sie in gar keinen Beziehungen mehr zu ihm und Weber. Von Merian hörte ich ein einziges Mal, und zwar von HezelDer Wedekind freundschaftlich verbundene Rechtsanwalt Dr. Kurt Hezel hat ihn am 3.8.1899 in Leipzig in der Gerichtsverhandlung wegen Majestätsbeleidigung verteidigt. während der Verhandlung in der Berathungspause, aber nicht einmal einen Gruß. Hätte ich mir vor anderthalb Jahr träumen lassen, daß sich dieser enggeschlossene KreisKurt Martens war Vorsitzender und Hans von Weber Schriftführer der 1895 gegründeten Literarischen Gesellschaft in Leipzig, deren Theater Carl Heine leitete [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 9.10.1897]; der Musiker und Schriftsteller Hans Merian gehörte ebenfalls zu diesem Kreis, wie dann auch Wedekind. so gründlich auflösen würde! daß sich alles so verändern würde!

Es wäre mir eine große Freude, wenn Ihr Herr Gemahl mich gelegentlich seines Dresdener Aufenthaltes besuchen wollte. Ich kann es ihm kaum zumuthen, da ich so wenig zu bieten habe, aber mir wäre es eine große Freude. Ich müßte freilich vorher Nachricht haben, damit ich um Erlaubnis einkommen kann, die zweifellos gewährt wird.

Nun leben Sie wohl und schreiben Sie mir bitte bald in meine Einsamkeit, wo ich Zeit habe, so reiflich über alles nachzudenken. Grüßen Sie Herrn Doctor aufs beste und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem Ihnen ganz ergebenen
Frank Wedekind.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Gestern Morgen um vier Uhr wurde ich geweckt und von einem Detektiv hierher gebracht, in aller Unauffälligkeit. Die eigentümlichen Eindrücke dieser Reise zu schildern reicht dies Papier nicht aus. Hier traf ich alles milder, versöhnlicher, als ich gefürchtet. Mein Zimmer das mit zwei Fenstern ins Grüne sieht ist äußerst stimmungsvoll. Ich traf den Zeichner Heineauch hier, der mich über das Leben orientirte. Ich habe jetzt ebensolchen Überfluß an Aussicht, wie ich drei Monate deren Mangel litt. Im übrigen herrscht vollkommene Freiheit, mit einigen zeitlichen mehr formellen Einschränkungen [...]

Beate Heine schrieb am 12. Oktober 1899 in Hamburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Hamburg,
d. 12.10.99.


Liebster Freund ‒ gestern traf Ihr Brief an meinen Mannnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 10.10.1898. ein, und versetzte mir den Stoß, dessen ich bedurfte, um Ihnen zu schreiben. Vielen herzlichen Dank noch für Ihren so besonders lieben letzten Briefeinen Tag nach dem Haftantritt auf der Festung Königstein geschrieben [vgl. Wedekind an Beate Heine, 22.9.1899]., den Sie unmittelbar nach Ihrer Uebersiedlung schrieben; er klang so frisch u. unternehmend, daß wir unsere Freude daran hatten. Inzwischen hab ich Ihnen Carl geschicktCarl Heine hat Wedekind gleich in den ersten Tagen seiner Haft auf der Festung Königstein besucht [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 5.10.1899]., und nun hatte ich so das Gefühl, daß mir der alles Erwähnenswerthe | wegerzählt hätte, u. deshalb wartete ich so lange. Ich sage Ihnen, ich wäre furchtbar gerne mitgekommen, Sie besuchen ‒ u. Carl hat mir sehr viel von Ihnen erzählen müssen. Ich habe die Zeit seiner Abwesenheit aber auch recht nutzbringend verwendet, mit Einmachen von Früchten für den Winter ‒ im FebruarBeate Heine war über den Termin von Wedekinds Haftentlassung am 3.2.1900 von der Festung Königstein informiert., hoff ich ‒ kosten Sie von Allem. In unserm Hause hat Sie wirklich jeder gern ‒ wie der Herre, so’s GescherreDie sprichwörtliche Wendung ‚wie der Herr, so’s Gescherr‘ meint die Prägung von Personen durch Personen, die ihnen sozial übergeordnet sind.: ‒ das ist LinaDie nicht identifizierte Frau dürfte Hausangestellte bei dem Ehepaar Beate und Carl Heine gewesen sein; dem Dialekt zufolge war sie eine Berlinerin., die es mir aufrichtig übel nimmt, wenn ich ihr nicht genug aus Ihren Briefen berichte; gestern sagte sie ganz wehmüthig: | Jott nee, die Jilkaflascheberlinernd intonierter Ausdruck für eine Flasche Kümmelbrandwein, der sich von der Berliner Firma J. A. Gilka herleitet (diese Firma stellte solche Getränke her)., wie die da steht, ohne Hrn. Wetegint!! ‒ Nun sagen Sie aber, lieber BenjaminWedekind hat einen Brief an die Freundin einmal mit diesem Namen unterzeichnet [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899]. ‒ Sie schrieben gestern tout est gagné(frz.) alles ist gewonnen. ‒ ja aber was?? Sie setzen voraus, daß mein Mann etwas weiß, was er in der That nicht weiß!? Welche Redaktion?? Und was springt für Sie dabei heraus? Carl hat auch nicht mit Heine irgend sowas gesprochen! Nun ‒ ich hoffe, Sie klären uns bald mal auf ‒ wir freuen uns aber, da es doch etwas Gutes zu sein scheint. Sagen Sie ‒ Sie sind doch noch Hase“ im SimplicissimusHinter dem Pseudonym „Hase“ steckt Korfiz Holm, Prokurist und leitender Redakteur des „Simplicissimus“, seit Albert Langen im Exil war. ‒ die beiden letzten SachenBeate Heine bezieht sich auf die mit „Hase“ gezeichneten Gedichte „Zu Heines Befreiung“ [Simplicissimus, Jg. 4, Nr. 27, S. 210] und „Revision“ [Simplicissimus, Jg. 4, Nr. 28, S. 219], die am 3. und 10.10.1899 erschienen sein dürften (der „Simplicissimus“ kam immer Dienstags heraus). waren | ja prachtvoll, über die letzte besonders haben wir uns gestern herrlich amüsirt. Nun aber, schreiben Sie, Langen kriegte keine Gegenleistung, für das, was er schickte!? Sehn Sie, das ist uns Alles ein Bischen dunkel! Indeß sage ich Ihnen ‒ wir sind jetzt wirklich sattsam an Unsicherheit u. Dunkelheit gewöhnt ‒ leider ‒ und wir haben jetzt wirklich Beide genug davon. Ich hätte Ihnen so gern etwas Greifbares über unsere Zukunft mitgetheilt ‒ nun wissen wir aber selber nichts u. ich will Ihnen nur erzählen, daß wir vorigen Freitag einen Brief von | dem Agenten Lednerder Theateragent und Impresario Emil Ledner, der in Berlin eine Musik- und Theateragentur (Mittelstraße 34) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1900, Teil I, S. 885] betrieb [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 220]. bekommen ‒ d.h. Carl bekam ihn natürlich. Darin stand, daß C. nach einer sehr ernsten u. ausführlichen Unterhaltung mit Hrn. v. BergerDer Dramaturg Alfred von Berger ‒ zu diesem Zeitpunkt noch als Professor für Ästhetik an der Universität Wien tätig ‒ wurde dann der erste Direktor des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 366]. ‒ sie überein gekommen seien, mit Carl wegen des Regiepostens am Hamburger neuen SchauspielhauseHamburger neuen Schauspielhause, mit in nähere Verhandlungen zu treten. Er sollte seine genauen Bedingungen nach Wien telegraphiren, damit sich alles schnell erledigte u. B. die günstigsten Conjunkturen erzielen könne. Wir waren natürlich sehr glücklich ‒ mein Mann hat so ehrlich gestrebt und gearbeitet, daß er wahrlich endlich | eines solchen Lohnes werth wäre! Nun konnte sich Carl nicht recht mit sich einig werden, was er fordern sollte ‒ er wollte nicht zu viel u. nicht zu wenig sagen ‒ und, nach einem Gespräch mit SchwartzBernhard Schwartz war Direktionsvertreter, Bürochef und Dramaturg am Carl Schulze-Theater (Direktion: Max Monti) in Hamburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 377]. hat er (ich find’s nicht gut) depeschirt: Acceptire, was Sie für mich ausmachen. Seitdem ist jede Nachricht ausgeblieben ‒ trotzdem Carl am Dienstag telegraphirte: Erbitte Nachricht, wie die Verhandlungen stehn! ‒ Wir sind nun in Sorge, ob irgend etwas dazwischen gekommen ist. Ob die noch Je|mand auf der Liste haben?? Ich kann es mir nicht denken, der Brief klang so sicher! ‒ Es wäre sehr hart, wenn es sich wieder zerschlüge! Aber ‒ ich will vorläufig noch nicht so muthlos sein ‒ u. hoffen, daß sich Alles zum guten Ende findet. Ich lasse Sie nun an unseren momentanen Sorgen theilnehmen ‒ statt Ihnen heitere Dinge zu erzählen ‒ aber ‒ ich weiß keine. Wir waren einige Mal im Theater, wo Grenzenlos schlecht gespielt wurde ‒ sodaß Carl ganz | nervös wurde u. erklärte, nicht mehr hingehn zu wollen. Sie wissen, Menschen haben wir hier auch fast garnicht, die einem ein Bischen über diese Zeit hinweghelfen könnten ‒ u. so ist es augenblicklich recht mies mit uns. Das schwindet aber mit dem Moment der glücklichen Entscheidung ‒ die wir Ihnen sofort mittheilen werden! Carl will selbst noch ein Mal an Sie schreiben ‒ ich schließe mit herzlichsten Grüßen, u. bin in treuster Gesinnung
Ihre
Beate Heine.

Frank Wedekind schrieb am 2. November 1899 in Festung Königstein folgenden Brief
an Beate Heine

Festung Königstein, 2.XI.1899.


Meine hochverehrte Freundin,

wollen Sie es mir bitte nicht als Selbstüberhebung auslegen, sondern nur als einen Beweis dafür, daß ich das sehnlichste Bedürfnis habe, Ihnen eine Freude zu machen, wenn ich Sie bitte, mit den vielen schönen Sachen auf Ihrem GeburtstagstischWedekind nahm irrtümlich an, Beate Heine feiere am 5.11.1899 ihren Geburtstag [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 27.10.1899], tatsächlich aber war ihr 40. Geburtstag schon am 31.10.1899. diesen kleinen Spiegel zu vereinigen. Meine herzlichsten Wünsche zu Ihrem Wohlergehen, zur Erfüllung eines jeden Ihrer Herzenswünsche begleiten ihn.

Und nun lassen Sie mich auf Ihre lieben freundlichen Zeilen vom 12.vgl. Beate Heine an Wedekind, 12.10.1899. zurückkommen. Sie schreiben mir sehr nervös. Ich hoffe, daß die Crisis vorüber ist. Ich habe in meinem Leben soviel an Warten durchgemacht und werde noch soviel durchmachen müssen, daß ich das mitempfinde. Aber es wird für uns Alle die Zeit kommen, darum ist mir garnicht bange.

Sehr ergötzt hat mich der Ausdruck über die Kümmelflasche„Jilkaflasche“ [Beate Heine an Wedekind, 12.10.1899], ein dialektal geprägter Ausdruck der berlinernden Hausangestellten Beate Heines für eine Flasche Kümmelbrandwein, der sich von der Berliner Firma J. A. Gilka herleitet.. Das ist das pure Gold. Gerhart Hauptmann würde 20 Mk. darum geben. Vielleicht komme ich auch noch dahin, ihn verwerthen zu können. Meine Arbeit ist hier oben auch thatsächlich jetzt mein einziges Interesse. Seit Heines AbreiseDer Zeichner Thomas Theodor Heine, der wie Wedekind wegen Majestätsbeleidigung im „Simplicissimus“ verurteilt worden war, wurde am 29.9.1899 aus der Festungshaft entlassen und kehrte nach München zurück. habe ich mit keiner Seele mehr ein Wort gewechselt. Wenn es jetzt nichts wird, dann werde ich mit Ueberzeugung die Feder bei Seite legen können. Sie sehen, es ist das gleiche Hangen und Bangen überall.

Für den Simpl. darf ich jetzt gar nicht arbeiten. Das ist eben mein Glück. Die Gedichte „Hase“die mit „Hase“ gezeichneten Gedichte „Zu Heines Befreiung“ [Simplicissimus, Jg. 4, Nr. 27, S. 210] und „Revision“ [Simplicissimus, Jg. 4, Nr. 28, S. 219], von denen Beate Heine angenommen hat, sie stammten von Wedekind [vgl. Beate Heine an Wedekind, 12.10.1899]. sind von Korfiz Holm. Sobald er in geschlossener Form schreibt, ist er mir mindestens ebenbürtig. Meine Specialität war nur der Radauton. Ich sehne mich nicht danach zurück, bin aber froh, daß ich eine gewisse Uebung und anderseits Popularität darin erlangt habe, derart, daß ich jetzt überall zu gutem Preis damit ankommen werde. Das giebt mir ein gewisses Gefühl der Sicherheit, das ich vor dem Proceß nicht hatte.

Vor einigen Tagen erhielt ich zum ersten Male ein componirtes GedichtHermann Bischoff hat seine Komposition von Wedekinds Gedicht „Das Goldstück“ [KSA 1/I, S. 378f.] dem Autor zugeschickt und ihn kurz darauf auf diese Sendung nochmals aufmerksam gemacht [vgl. Hermann Bischoff an Wedekind, 30.10.1899]. Noch im gleichen Jahr hat der Komponist seine Vertonung dieses Gedichts „für ‚mittlere Stimme und Clavier‘ [...] 1899 als op. 7 im Verlag Ferd. Heckel, Mannheim“ [KSA 1/III, S. 511] publiziert. Wedekind selbst komponierte in der ersten Jahreshälfte 1901 zu seinem Gedicht eine eigene Melodie [vgl. KSA 1/III, S. 87-89, 507-511]. von mir zugeschickt, und zwar durchcomponirt, offenbar heillos complicirt und hypermodernWedekind sprach auch von „hochmoderner Komposition“ [Wedekind an Walther Oschwald, 31.10.1899]., von einem gewissen Hermann Bischoff in München. Ich kann absolut nichts damit anfangen, da ich erstens kein Instrument habe und mich auch damit wol nicht zwischen den unzähligen Kreuzen hindurchfinden würde. Ich werde mir erlauben, es Ihnen nächster Tage zu zu schicken; vielleicht schreiben Sie mir Ihr Urtheil darüber.

Hier oben ist es jetzt recht lebendig geworden, von früh bis spät wird vor meinem Fenster exercirt, nicht zur Erhöhung der landschaftlichen Reize. Die Tage sind aber immer noch so milde, daß ich möglichst viel im Freien bin. Ich habe jetzt nur noch drei Monatebis zum 3.2.1900, dem Tag von Wedekinds Haftentlassung aus der Festung Königstein. vor mir, dann ist die Episode zu Ende. Mein. einziger Wunsch ist, durch meine Arbeit etwas dabei zu gewinnen, d.h. weniger pekuniär, als in der Achtung des Publicums. Andernfalls ist es in Gottes Namen ein vergeudetes Jahr.

In München scheint der Dilettantismus hohe Wogen zu schlagen. Amüsant muß sich das Treiben ansehen. Hartleben schrieb mir am Abend seines Durchfalles am HoftheaterOtto Erich Hartlebens Komödie „Ein wahrhaft guter Mensch“ (1899) wurde am 24.10.1899 am Königlichen Residenztheater in München uraufgeführt (Beginn: 19 Uhr, Ende gegen 21.30 Uhr) und kam nicht gut an. In einer Münchner Besprechung (mit der Chiffre „μδι“ unterzeichnet) ist von „Zischen“ und „Pfeifen“ die Rede und geurteilt: „Noch nie, solange wir zurückdenken können, ist ein witz- und geistloseres Stück von roherer Mache über unsre vornehmste Bühne gegangen.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 102, Nr. 296, 25.10.1899, Abendblatt, S. 1] Ein anderer Rezensent konstatierte: „Man klatschte, zischte und pfiff durcheinander [...]. Woher diese Aufregung des Publikums? [...] man war allgemein enttäuscht! Daher die triumphirende Entrüstung aller Gegner der modernen Dichtung, daher die krampfhaften Anstrengungen der Freunde Hartlebens, zu retten, was doch nicht zu retten war. Das Publikum war von Anfang an verwirrt, es wurde sich nicht klar, welche Stellung es dem Stück gegenüber einnehmen sollte. [...] Das Schicksal des Stückes war schon nach dem zweiten Akt besiegelt, und so fuhr es denn, obwohl der Dichter zweimal gerufen wurde, unter Zischen und Pfeifen hinab in den Orkus.“ [Edgar Steiger: Ein wahrhaft guter Mensch. Komödie in drei Akten von Otto Erich Hartleben. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 494, 26.10.1899, Vorabendblatt, S. 2-3] eine Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Otto Erich Hartleben, Max Bernstein, Thomas Theodor Heine an Wedekind, 24.10.1899.: „Auch ich starb fürs Vaterland.“ Ich sehe daraus zu meinem Vergnügen, daß mir die Stimmung in München nicht ungünstig ist, sonst hätte er das nicht gethan. Anderseits werde ich unter der Hand von der Redaction des Simpl.Verantwortlich für die Redaktion des „Simplicissimus“ zeichnete seinerzeit Dr. Reinhold Geheeb (so in den Heften der Zeitschrift), eigentlich war aber Korfiz Holm als leitender Redakteur tätig. aus verleumdet, ich wäre unredlich gegen Langen verfahren. Ich schreibe das nur, verehrte Freundin, damit Sie sich, wenn Sie etwa per Zufall darüber hören, nicht dadurch beirren lassen. Ich habe Langen allerdings den Hals umgedreht, aber das hat er auch nicht anders um mich verdient. Und wenn er nicht zufrieden ist, kann ich ihm jederzeit noch den Rest geben. Wenn ich ihm durch meine Rückkehr die Möglichkeit genommen habe, auf Schleichwegen zurückzukommenAlbert Langen kehrte nach viereinhalb Jahren im Ausland im Frühjahr 1903 nach Deutschland zurück, nachdem einem Begnadigungsgesuch stattgegeben worden war und die sächsischen Justizbehörden ihm „ein ‚Bezeigungsquantum‘ von 20000 Mark aufgebrummt“ [Abret/Keel 1987, S. 101] hatten, das am 21.4.1903 bezahlt war [vgl. Abret/Keel 1987, S. 101: Faksimile der Quittung]., so that ich das aus purer Nothwehr.

Und nun leben Sie wohl, geehrte Freundin. Ich habe Ihnen heute fast nur von mir gesprochen, aber ich verkehre ja auch mit niemand anders. Grüßen Sie Ihren lieben Herrn Gemahl auf das allerherzlichste und seien Sie selber gegrüßt von Ihrem Ihnen in Verehrung ergebenen Freunde
Frank Wedekind.


Ich erlaube mir nur noch die eine Bitte, Sie möchten sich dem Spiegel gegenüber nicht über mich moquiren und etwa Grimassen schneiden. Umsomehr werde ich ihn beneiden, wenn er Ihnen bei der Toilette dienlich sein kann. Sollte das Muster Ihren Gefallen finden, so ist das leider nicht mein Verdienst, da Heine so freundlich war, ihn mir zu besorgenThomas Theodor Heine dürfte den Spiegel demnach beschafft haben; zunächst hat Wedekind seine Mutter gebeten, ihn zu besorgen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 27.10.1899]., doch habe ich es allerdings nicht an Instructionen fehlen lassen.
Fr. W.

Beate Heine schrieb am 5. November 1899 in Hamburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Hamburg,
d. 5.11.99.


Mein lieber Freund ‒ das war aber eine Ueberraschung! Lassen Sie sich von ganzem Herzen danken, für Ihre lieben Zeilenein Begleitbrief zu einem Geburtstagsgeschenk, einem Handspiegel [vgl. Wedekind an Beate Heine, 2.11.1899]. und den geradezu berückenden Spiegel. Ich habe wirklich noch kaum etwas so wunderbar Hübsches u. Geschmackvolles gesehn! Ich werde ihn mit Freude brauchen ‒ Ihr Gedenken und daß Sie sich für mich wirkliche Mühe gegeben haben, um mir so etwas Schönes zu schenken, | das hat mich tief gerührt und im tiefsten Herzen gefreut. Also, nochmals 1000 Dank! ‒ ‒ Wir haben die letzte Woche des Oktober in Berlin verlebt ‒ aber: der Aufenthalt wurde sehr traurig ‒ meine Tante Peterseneine Schwester von Beate Heines Mutter (siehe unten); ihr Tod ist in der Presse unter „Sterbefälle“ angezeigt: „Frau Anna Petersen geb. Weimann (Berlin).“ [Berliner Tageblatt, Jg. 28, Nr. 554, 30.12.1899, Abend-Ausgabe, S. (4)] die schwer gelitten, starb während unseres Dortseins, und, wenn sie mir auch persönlich nicht so nahe stand, so doch im Andenken an meine MutterBeate Heine war in jungen Jahren öfters gemeinsam mit ihrer Mutter ‒ Franziska Wüerst (geb. Weimann), am 22.10.1888 in Berlin gestorben ‒ als Konzertsängerin aufgetreten, die wie sie auch Gesangslehrerin gewesen ist und mit der sie seinerzeit in einer Wohnung zusammenlebte. ‒ u. im Hinblick auf ihre älteste Tochter, meine Cousine FrankaFranziska Petersen, viereinhalb Jahre älter als Beate Heine, als Gesangslehrerin tätig., mit der ich sehr schwesterlich stehe. Ach, und, wissen Sie, Sterben | ist an sich etwas so Furchtbares, daß einem der Sterbende garnicht mal nahe zu stehn braucht, um einem im tiefsten Innern zu erschüttern. ‒ Wir haben natürlich doch zuerst einige Kunst gesehen ‒ z.B. das FriedensfestGerhart Hauptmanns Schauspiel „Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe“ (1890) hatte am 14.10.1899 am Deutschen Theater (Direktion: Otto Brahm) in Berlin Premiere. In Hauptrollen spielten: Luise von Pöllnitz (Frau Scholz), Emanuel Reicher (Robert), Rudolf Rittner (Wilhelm), in weiteren Rollen: Louise Dumont, Hans Fischer, Gisela Jurberg, Max Reinhardt, Annie Trenner. Die nächsten Vorstellungen fanden am 21. und 22. sowie am 26.10.1899 statt. im Deutschen Theater. Rittner als Wilhelm wundervoll ‒ auch die Pöllnitz als Mutter ‒ aber Reicher war als Robert im ersten Akt nicht sehr gut, u. die Uebrigen recht mittel ‒ aber das Ensemble ausgezeichnet. ‒ Ich muß jetzt schließen ‒ ich schreibe Ihnen aber bald mehr ‒ ich | wollte meinen Dank nur nicht kalt werden lassen. Vielleicht theile ich Ihnen da schon irgend eine Entscheidung über Carls Anstellung mit. Ich könnte den BergerAlfred von Berger wurde Direktor am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, das nach der Grundsteinlegung am 12.8.1899 schließlich am 15.9.1900 eröffnet wurde [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 366]. Carl Heine hoffte auf eine Anstellung als Regisseur in dem neuen Theater und wartete seit Wochen auf die Entscheidung des designierten Direktors. erwürgen, daß er sich nicht entschließen kann!!

Carl grüßt Sie mit mir!!

Bald mehr v. Ihrer
getreuen
Beate Heine.

Beate Heine schrieb am 22. Dezember 1899 in Hamburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Hamburg,
d. 22.12.99.


Mein lieber Freund ‒ wir senden Ihnen die allerherzlichsten u. wärmsten Weihnachtsgrüße, eigentlich sollte dieser Brief die Kiste (oder vielmehr den Korb) begleiten, den ich eben für Sie armen Einsamen gepackt habe, aber die Paketbestellung ist jetzt so unzuverlässig, daß ich wenigstens sicher sein möchte, daß Sie diesen schriftlichen Gruß am heilig Abend haben, damit Sie wissen, daß wir | in Freundschaft Ihrer denken. Im Uebrigen erklärt sich meine diesmalige Sendung von selbst ‒ sie ist entsetzlich materiell, aber nach vielem Nachdenken fand ich dies „das Geeignete“ wie mein Mann sagen würde. Ich schreibe Ihnen in den Feiertagen ausführlich ‒ dies soll kein Brief sein, sondern nur ein Gruß. Carl hat Ihnen von Ihrer PremièreWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ wurde ‒ inszeniert von Martin Zickel ‒ am 10.12.1899 im Rahmen der Eröffnungsmatinee der Sezessionsbühne am Neuen Theater in Berlin (Beginn: 12 Uhr) im Anschluss an den Einakter „Der Besiegte“ von Wilhelm von Scholz uraufgeführt. Martin Zickel hatte sich vergebens darum bemüht, dass Wedekind der Uraufführung beiwohnte. So meldete die Presse, als Wilhelm von Scholz in Berlin eingetroffen war: „Von der Leitung der Secessionsbühne wurden Schritte unternommen, um auch die Anwesenheit Franz Wedekinds zu ermöglichen, dessen ‚Kammersänger‘ die Matinée beschließt; doch wurde das betr. Gesuch von der Commandantur der Festung Königstein abschlägig beschieden.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 571, 6.12.1899, Morgen-Ausgabe, 2. Beilage, S. 9] Die Inszenierung gefiel und „das Publikum [...] brach am Schlusse in tosenden Beifall aus, als Herr Martin Zickel, der Regisseur [...] namens des zur Zeit auf dem Königstein büßenden Dichters dankte.“ [G.S.: Die Sezessionsbühne. In: Volks-Zeitung, Nr. 580, 11.12.1899, Abendblatt, S. (2)] ja schon geschriebenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 10.12.1899. ‒ war das eine Freude für uns! Ich sage Ihnen, dieser Zickel ist brillant ‒ als höch|stes Lob kann ich nur sagen, er inscenirt wie mein Mann ‒ ich sagte es ihm sogar selbst ‒ u. er schien sich drüber zu freuen. Das Schu/o/lzsche Sche Stück ‒ sehr poetisch, sehr unverständlich, à la Maeterlinck, war wirklich wundervoll, was die Inscene betrifft; eine figurenreichere Trinkscene darin ging nicht ‒ hatte Löcher ‒ aber das ist wohl nur zu wenig geprobt gewesen. Ihr Kammersänger wirkte brillant, gerade nach diesem hyper-romantischen Ding„Der Besiegte. Mystisches Drama in einem Aufzuge“ (1899) von Wilhelm von Scholz.. Die Leute haben gelacht und sich | ebenso bereitwillig von dem alten MusikerHans Pagay spielte in der Uraufführung des „Kammersänger“ den Professor Dühring. (Pagay ausgezeichnet) rühren lassen. HeleneTilly Waldegg spielte in der Uraufführung des „Kammersänger“ die Helene Marowa. war vorzüglich gespielt, kann ich mir überhaupt nicht besser denken. Nur der KammersängerPaul Biensfeld spielte in der Uraufführung des „Kammersänger“ die Titelrolle: Gerardo, k.k. Kammersänger. selbst gefiel mir nicht ‒ er spielte gut, aber er war nach meinem Geschmack viel zu outrirtübertrieben. in der Maske ‒ u. a. hatte er solche Perücke, wie Sie damals zum PrologDen Prolog zum „Erdgeist“ sprach Wedekind, kostümiert als Tierbändiger, erstmals bei der 8. Vorstellung des Stücks in Carl Heines Inszenierung des Ibsen-Theaters am 24.6.1898 in Leipzig ‒ ihr „geht ein vom Dichter verfaßter und gesprochener Prolog voraus.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 314, 24.6.1898, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4804] Die Kritik urteilte: „Der von dem Autor selbst gesprochene Prolog darf [...] auf eine geradezu verblüffende Originalität Anspruch machen“ [Rudolf von Gottschall: Ibsen-Theater. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 317, 25.6.1898, Abend-Ausgabe, Beilage, S. 4843]. Der Prolog wurde in der 9. Vorstellung am 27.6.1898 ‒ „Dem Stücke geht auch diesmal der originelle vom Dichter verfaßte und gesprochene Prolog voraus“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 319, 27.6.1898, Morgen-Ausgabe, Beilage, S. 4892] ‒ und in der 10. Vorstellung am 29.6.1998 wiederholt: „Eingeleitet wird das Stück wieder durch den Prolog des Dichters.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 323, 29.6.1898, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4935] Welche Art von Perücke Wedekind als Tierbändiger trug, ist nicht überliefert. hatten ‒ welcher Kammersänger hätte heutzutage noch Künstlerlocken ‒ das ist doch ganz ausgeschlossen. Und eine knallrothe Weste mit Goldknöpfen!! Und ‒ ein großer Fehler ‒ für den er aber nichts konnte ‒ | der Mann war dünn!! Kammersänger, insbesondere Tenöre sind immer dick ‒ auch so angebetete Leute, denen alle Weiblichkeit so nachläuft, sind auch immer stark u. kräftig. Die Figur störte mich von a-Z! Aber, wie gesagt, er spielte gut, brachte Alles raus ‒ nur die große Rede: junge Mädchen verloben sichZitat (aus dem Gedächtnis zitiert) aus einer Replik Gerardos („Der Kammersänger“, 7. Auftritt): „Die jungen Mädchen verloben sich, [...] die Gattinnen fallen dem Hausfreund zum Opfer“ [KSA 4, S. 31]., Frauen werfen sich ihren Hausfreunden an den Hals ‒ etc. etc. ‒ diese Rede jagte er so, daß sie kaum verständlich war für Leute, die sie zum ersten Mal hörten. Ausgezeichnet wirkte die lautlos an die Luft beförderte KlavierlehrerinIn einer Szenenanweisung („Der Kammersänger“, 7. Auftritt) heißt es über Gerardo: „scheint [...] etwas hinter dem Paravent zu bemerken. Nachdem er sich neugierig orientiert, reckt er plötzlich die Hand aus und zieht eine Klavierlehrerin in grauer Toilette hervor, die er, mit vorgestreckter Faust am Kragen haltend, vor dem Flügel durch zur Mitteltür führt. Nachdem er die Tür hinter ihr geschlossen, zu Dühring“ [KSA 4, S. 24] ‒ nach diesem Nebentext Wechsel zum Haupttext. ‒ überhaupt | vieles, das beim Lesen nicht wirkungsvoll erschien ‒ schlug ein ‒ ich kann’s Ihnen im Moment, so ohne Buch nicht genau angeben ‒ da ich dieses Stück noch nicht wie den Erdgeist par coeur(frz.) auswendig. weiß. ‒ ‒ Ach ‒ übrigens ‒ pardondie TalianskyLeonie Taliansky spielte in der Uraufführung des „Kammersänger“ die Miss Isabel Coeurne. 1898 in der „Erdgeist“-Inszenierung des Ibsen-Theaters in Leipzig hat sie die Lulu gespielt.! Sie wissen, ich kann sie nicht leiden, aber sie hat die Rolle gut gespielt ‒ bis darauf, daß sie keine Ahnung von Englisch-DeutschIn einer Szenenanweisung ist für die junge Miss Coeurne angegeben („Der Kammersänger“, 4. Auftritt): „spricht mit englischem Akzent“ [KSA 4, S. 16]. hatte. ‒ Ich sehe, ich schreibe Ihnen nun doch einen Brief ‒ mein Thema riß mich fort. Wir waren am Abend vor Ihrem Kammersänger in Bahrs JosephineHermann Bahrs Lustspiel „Josephine“ (1899) hatte am 9.12.1899 am Berliner Lessingtheater Premiere., was freundlich durchfiel ‒ | mit Recht ‒ ein elendes Stück ‒ und nicht mal satirisch-geistvoll ‒ das kann man doch von Bahr verlangen! Erzählen muß ich Ihnen noch, daß ein wirklicher Kammersänger Ihr Stück mitanhörte ‒ und sich grandios amüsirte ‒ Emil Götze nämlichder international bekannte Kammersänger Emil Götze, ein gefeierter Gesangskünstler, der in den 1890er Jahren von seinem Wohnort Berlin aus nur noch Gastspiele unternahm. ‒ der kennt doch das Milieu, u. hat zuletzt noch immer im schon fast leeren Parket gestanden u. applaudirt ‒ sehen Sie ‒ das ist die richtige Maske ‒ die „Tolle“die Haartolle als signifikant in Frisuren von Künstlern. ist schon das Höchste, das sich ein Künstler heut gestatten darf. ‒ ‒ Von uns kann ich Ihnen wenig melden. | Carl hat am 12ten in Breslau mit seinem Heine-VortragCarl Heine hat am 12.12.1899 in Breslau auf der von der dortigen Freien literarischen Vereinigung veranstalteten Feier zu Heinrich Heines 100. Geburtstag den einleitenden Vortrag über die Bedeutung Heinrich Heines für die Gegenwart gehalten. Seine Festrede fand großen Beifall (allerdings nicht bei der Arbeiterpresse). glänzend gefallen, u. kam über Leipzigsehr gehoben nach Hause. Wissen Sie von der großen Theaterrévoltein der Presse als Leipziger Theaterfrage bezeichnete Bestrebungen nach besserer Qualität des Bühnenangebots in Leipzig, die durch die anstehende Entscheidung einer Neuverpachtung der städtischen Theater besonders ausgeprägt waren; langjähriger Pächter der vereinigten Stadttheater (Altes und Neues Theater) in Leipzig war deren Direktor Max Staegemann [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 420]. in Leipzig? Es ist ganz enorm gewesen ‒ Protest-VersammlungenEine solche Versammlung fand am 27.10.1898 statt, außerdem am 6.11.1898 im Krystallpalast, bei der 695 Anwesende eine Resolution an die Stadtverordneten verabschiedeten [vgl. Versammlung in Sachen der Neuverpachtung des Stadttheaters. In: [Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 568, 7.11.1899, Abend-Ausgabe, 5. Beilage, S. 8643] von 800 Menschen haben stattgefunden, Comités haben sich gebildetSo veröffentlichte der „geschäftsführende Ausschuss eines Comités“ eine ganzseitige Anzeige „20 Thesen. Leipziger Theaterfrage.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 605, 28.11.1899, Morgen-Ausgabe, 5. Beilage], Brochüren sind geschrieben (eine brillanteHans Merians im Selbstverlag erschienene Broschüre „Wo fehlt es unserem Stadttheater? Ein ruhiges Wort zur Leipziger Theaterfrage“ (1899). von Merian) ‒ kurz man hat gethan, was man konnte ‒ man hat Nikisch für die Oper und Carl für das Schauspiel engagieren wollen ‒ denken Sie | das wäre doch noch was gewesen!! Aber der Bürgermeister hat eine so fulminante Rede für StägemannIn der Stadtverordnetensitzung vom 29.11.1899 in Leipzig ‒ auf der Tagesordnung stand die Theatervorlage, die eine Neuverpachtung der beiden Stadttheater betraf ‒ ergriff der neue Oberbürgermeister Carl Bruno Tröndlin (in das Amt gewählt am 2.10.1899) nach scharfer Kritik an Max Staegemann, dem Direktor und Pächter der vereinigten Stadttheater Leipzigs, das Wort und nahm Partei: „In dem fünfzehnjährigen Verkehr mit Herrn Staegemann hätte sich derselbe aber stets als ein feinfühliger Mann gezeigt. Weshalb ihn stürzen?“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 609, 30.11.1899, Morgen-Ausgabe, S. 9286] Im Ergebnisbericht heißt es: „In der heutigen Sitzung der Stadtverordneten wurde die Entscheidung über die Rathsvorlage wegen der Neuverpachtung des Stadttheaters getroffen. Dem sehr sachlich gehaltenen Referate des Herrn Vorstehers [...] folgte eine eingehende Debatte, die in der äußerst wirkungsvollen Rede des Herrn Oberbürgermeisters Dr. Tröndlin unstreitig ihren Höhepunkt erreichte.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 609, 30.11.1899, Morgen-Ausgabe, S. 9298] gehalten, daß er’s doch wieder gekriegt hat ‒ allerdings ‒ sonst einstimmig ‒ diesmal aber mit 33 St. gegen 27Im Bericht über die der Theatervorlage gewidmeten Stadtverordnetensitzung vom 29.11.1899 in Leipzig (siehe oben) heißt es: „Das Ergebniß der Abstimmung [...] war Folgendes: Antrag [...], die Neuverpachtung auszuschreiben, wurde mit 33 gegen 27 Stimmen abgelehnt. Damit war die weitere Verpachtung des Stadttheaters an Herrn Director Staegemann bis zum 1. Juli 1909 ausgesprochen.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 609, 30.11.1899, Morgen-Ausgabe, S. 9298]!!! Es schwebt nun was mit einem neuen Theater (dies bitte nur für Sie) ‒ auch in Breslau will man ein neues Theater machen ‒ u. in beiden Orten will man Carl zum Direktor aber ‒ wissen Sie, wenn man so trübe Erfahrungen gemacht hat, wie wir, dann verliert | man das Zutrauen ‒ d.h. man glaubt erst an eine Sache, wenn sie verbrieft u. versiegelt vor einem liegt. Augenblicklich wird mein Mann getriezt, eine Tournée zu machen ‒ aber er hat sich fest vorgenommen, sein Geld nicht wieder zu riskiren ‒ u. ich kann ihm nur beistimmen. WaldemarWedekind kannte den Schauspieler aus Carl Heines Ensemble in Leipzig; Arthur Waldemar hatte in dem „Erdgeist“-Vorstellungen vom 24., 27. und 29.6.1898 den Dr. Schön gespielt. war neulich mal bei uns einige Tage ‒ um eben meinen Mann zu beschwatzen ‒ er war wieder ganz echt ‒ ganz der alte ‒ sehr gut zu leiden, sehr anschlägig, | log das Blaue vom Himmel runter ‒ u. erzählte so vom Gefängniß u. seinen Tricks dort, daß ich ihm sagte ‒ es sei eigentlich schade, daß er wieder freigekommen sei ‒ er sei doch zum Verbrecher prädestinirt!! ‒ Hören Sie, lieber BenjaminWedekind hat einen Brief an die Freundin einmal mit diesem Namen unterzeichnet [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899] und sie hat ihn schon einmal so angeredet [vgl. Beate Heine an Frank Wedekind, 12.10.1899]. ‒ wenn Ihre Haftzeit verstrichen ist ‒ dann kommen Sie doch erst ein Bischen zu uns??? Ich finde, wir müssen uns doch mal wieder sprechen ‒ finden Sie nicht? Wir haben ein bescheidenes, aber ganz genügendes Logir|zimmerGästezimmer. ‒ sodaß Sie kein Hôtel brauchen ‒ u. Sie sollen gut gepflegt werden ‒ d.h. nach Kräften! Und nun, leben Sie wohl ‒ ich habe so geschmiert, da ich mir jetzt wirklich die Finger abschreibe u. immer in Eile bin! Also ‒ alles Gute, zu Weihnachten u. immer! Mit herzlichen Grüßen von uns Beiden
treulich Ihre
Beate Heine.

Frank Wedekind schrieb am 28. Dezember 1899 in Festung Königstein folgenden Brief
an Beate Heine

Festung Königstein, 28.XII.1899.


Meine hochverehrte Freundin!

Tausend Dank für alles, für die prächtigen Handschuhe und für die mir so sehr nützlichen Delikatessen, vor allem für Ihre freundlichen Zeilenvgl. Beate Heine an Wedekind, 22.12.1899.. Nun aber muß ich sofort einschalten, daß eine Lücke zwischen uns entstanden ist. Ich erhalte eben einen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 14.12.1899. zurück, den ich Ihrem lieben Herrn Gemahl vor vierzehn Tagen nach Berlin schrieb. Ich sende ihn mit diesen Zeilen ab. Was müssen Sie von mir gedacht haben, daß ich garnichts von mir hören ließ. Daß ich den Weihnachtsabend einsam verbracht habe, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. In Gedanken war ich bei Ihnen. Ein so großer Phlegmatiker ich bin, beginnt sich meiner doch nachgerade ein gewisser Trübsinn zu bemächtigen. Aber ich habe ja jetzt nur noch einen MonatWedekind wurde am 3.2.1900 aus der Festungshaft entlassen. vor mir. Ich finde sehr richtig, was Sie mir schreiben, wir müssen uns wieder einmal sehen. Wenn also nichts dazwischen kommt und Sie zu der Zeit noch in Hamburg sind, besuche ich Sie auf einige Tage. Es ließe sich nur noch erwägen, ob wir uns nicht lieber Rendezvous in Berlin geben, vorausgesetzt, daß Sie dort Geschäfte haben. Ich würde auch in Berlin nur auf Ihre liebe Gesellschaft angewiesen sein. Die Gründe finden sich in den Zeilen an Ihren verehrten Herrn Gemahl. Geschäftlich kann ich mich nicht beklagen. Ich hatte das Kunststück fertig gebracht, den ersten Act eines DramasWedekinds „Marquis von Keith“ (1901) erschien unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet“ in der von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder herausgegebenen Monatsschrift „Die Insel“, der 1. und 2. Akt im Frühjahr 1900 [vgl. Die Insel, Jg. 1, 3. Quartal, Nr. 7, April 1900, S. 3-76], die weiteren drei Akte bis zum Sommer sowie die Buchausgabe vordatiert im Herbst [vgl. KSA 4, S. 425]., das noch nicht fertig ist, schon zu Geld zu machen, natürlich lediglich für Abdrucksrecht, so daß ich in der ersten Zeit nach meiner Entlassung die Ellenbogen frei haben werde. Sehr bald werde ich dann aber nach München gehen müssen, um meine dortigen Hinterlassenschaften zu ordnen und den noch jungfräulichen Boden der Inseldie im Vorjahr gegründete Monatsschrift „Die Insel“ [vgl. Wedekind an Beate Heine, 22.9.1899]. zu cultiviren.

Herrn Doctor meinen herzlichsten Glückwunsch zu seinem Breslauer VortragCarl Heine hat am 12.12.1899 in Breslau auf einer von der Freien literarischen Vereinigung veranstalteten Feier zu Heinrich Heines 100. Geburtstag die Festrede gehalten, die großen Beifall fand.. Nun eine heikle Angelegenheit, über die ich Sie ersuchen würde möglichst mit niemandem zu sprechen. Martin Zickel bittet michHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Martin Zickel an Wedekind, 27.12.1899. Eine Bitte um Wedekinds Mitwirkung an einem literarischen Varieté (siehe unten) steht auch später noch im Raum [vgl. Wedekind an Martin Zickel, 27.4.1901]. um Beiträge und Mitwirkung zu einem literarischen VarietéMartin Zickel dürfte mit seiner Sezessionsbühne ein solches Kabarett geplant haben. Carl Heine hatte Wedekind angeboten, in einem von ihm geplanten Kabarett oder literarischen Varieté mitzuarbeiten [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.8.1899]. Den Plan eines Varietés hat davor bereits Beate Heine erwähnt [vgl. Beate Heine an Wedekind, 16.3.1899]. in Berlin. Ich denke nicht im Traum daran, darauf einzugehen, da ich Herrn Doctor im Herbst auf die gleiche Anfragevgl. Carl Heine an Wedekind, 26.8.1899. beinahe einen Korb gegebenAnspielung auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 10.10.1899.. Wenn das aber auch nicht der Fall wäre, so würde ich mich von der Sache, die meines Erachtens in einen großen KladderadatschChaos, Durcheinander. ausläuft, fernhalten. Diese meine Ansicht aber unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit. Ich ersehe nun aus allerhand Feuilletons aus der Provinz, die mir ein Journalistnicht identifiziert. zugeschickt, daß seit Monaten mein Name aufs engste mit diesen Bestrebungen verknüpft ist. Wenn ich also dabei bin, dann werde ich den ganzen Kladderadatsch ausfressen müssen. Bin ich aber nicht dabei, so wird man sagen, daß meine Abwesenheit an dem Kladderadatsch schuld war. Wird es aber ein Kladderadatsch oder nicht, auf alle Fälle bleibt das Berliner Unternehmen die allerwirksamste Reclame für ein gleiches nachfolgendes, das man später mit viel geringeren Mitteln in einer anderen Stadt, eventuell auch wieder in Berlin, beginnen könnte und dazu stände ich Herrn Doctor vollkommen zur Verfügung. Also, um zum Schluß zu kommen, von dem Berliner Unternehmen werde ich mich auf alle Fälle fern halten, möchte dadurch aber weder Zickel vor den Kopf stoßen, noch mich mit Hartleben und WolzogenErnst von Wolzogen plante ‒ womöglich gemeinsam mit Otto Erich Hartleben ‒ selbst die Gründung eines Kabaretts, das spätere Bunte Theater (Überbrettl) in Berlin (offiziell eröffnet am 18.1.1901). Inwiefern dieses Vorhaben mit den Plänen Martin Zickels in Verbindung stand, ist ungeklärt., die dabei betheiligt sind, noch mehr verfeinden, als ich es schon bin, und deshalb werde ich eine abwartende Stellung einnehmen. Bis jetzt habe ich Zickel noch garnicht geantwortet; drängt er mich, dann berufe ich mich auf meine Gebundenheit an Ihren Herrn Gemahl; sollte mich Herr Doctor aus Rücksicht auf Zickel frei geben, dann suche ich eine andere Ausflucht. Dies ist mein Plan, den ich hiemit vollkommen in Ihre Hände liefere, aber mit der Bitte, keiner Seele etwas davon zu sagen. Alles weitere könnten wir in Hamburg besprechen. Ich glaube wie gesagt nicht, daß es Herr Doctor zu bedauern hat, daß er dies heikle Unternehmen auf einem so heiklen Boden wie Berlin und mit einer so heiklen Persönlichkeit wie ich es bin, nicht inscenirt. Ich meinerseits habe aber nicht die geringste Lust, auch hier wieder wie beim Simplizissimus die Kastanien aus dem Feuer zu holen. In Hamburg könnten wir die Sache näher besprechen; träfen wir uns in Berlin, so wäre es für mich nur unter der Bedingung des Incognitos. Andererseits wäre es vielleicht auch gescheiter von Berlin fern zu bleiben.

Ich bitte Sie, meine liebe Freundin, seien Sie über dies Papier nicht böse. Das Festungspapier ist für einige Tage ausgegangen und ich kann es unmöglich länger verschieben, Ihnen meinen herzlichsten Dank für Ihre reiche Bescherung zu melden. Die besten aufrichtigsten Wünsche für das nächste Jahr an Sie und Herrn Doctor. Mit den herzlichsten Grüßen bin ich Ihr Ihnen treuergebener
Frank Wedekind.

Beate Heine schrieb am 30. Dezember 1899 in Hamburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Hamburg,
d. 30.12.99.


Mein lieber Freund ‒ das alte Jahr soll nicht zu Ende gehn, ohne Ihnen unsereDie fast durchgehende Wir-Form (und die Unterschrift) suggeriert, der Brief stamme von Beate und Carl Heine, geschrieben aber hat ihn Beate Heine und ihr Mann hat nicht unterzeichnet. wärmsten Wünsche für das neue zu bringen. Ich möchte nicht weiter detaillirenim Einzelnen ausführen. ‒ Sie wissen, wie ehrlich wir’s meinen! Ihre beiden Briefeein soeben erhaltener Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 28.12.1899] und ein nicht überlieferter Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 14.12.1899. haben uns sehr erfreut, natürlich hatten wir uns schon über Ihr Schweigen ein Bischen gewundert ‒ indeß ‒ ich fin|de, man kommt dahin, Alles zu nehmen wie es ist ‒ das ist ja eigentlich garnicht meine Art ‒ doch lernt man’s. Aber was Sie schrieben, interessirte uns so sehr wie stets Ihre Episteln(lat.) Briefe, briefliche Mitteilungen., und wir freuen uns sehr auf Ihren Besuch, der wohl sicher hier stattfinden wird. Wir haben den Plan, unsere Häuslichkeit aufzulösen, um die Sommermiethe zu sparen, da das infame C. S. TheaterUnklar ist, inwiefern Carl Heine zu diesem Zeitpunkt noch immer für das Carl Schultze-Theater in Hamburg tätig war. Bevor er sich im Januar 1900 als Direktor mit seinem Dr. Heine-Ensemble (früher Ibsen-Theater) auf Europatournee begab [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 262], ist er zuletzt als Direktor des Carl Schultze-Theaters verzeichnet [vgl. Hamburger Adressbuch 1900, Teil III, S. 256; Teil IV, S. 108]. Ein Pressehinweis lässt offen, ob er noch in Hamburg gebunden war: „Ein neues Schauspielhaus soll in Leipzig gegründet werden. Eine Vereinigung, die unter dem Namen ‚Leipziger Schauspielhaus-Gesellschaft‘ zusammen getreten ist, will ein neues Schauspielhaus gründen [...]. Wie es heißt, hat man Dr. Carl Heine, den ehemaligen Vorsitzenden der Leipziger Litterarischen Gesellschaft, als Direktor des neuen Theaters in Aussicht genommen. Dr. Heine, der auch in Hamburg von seiner Thätigkeit am Carl Schultze-Theater her wohl bekannt ist, ist augenblicklich der Leiter des auf Gastreisen befindlichen Ibsen-Theaters. Man hofft in Leipzig von dem neuen Unternehmen eine anregende Rückwirkung auf das dortige Stadt-Theater.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 5, Nr. 60, 6.2.1900, Morgen-Ausgabe, S. (2)] | uns doch wieder viel Geld gekostet hat. Ich denke daran, nach England zu gehn ‒ aber ‒ was werde ich jetzt Tinte verschwenden ‒ mündlich wollen wir uns über Alles gründlichst unterhalten!

Mit herzlicher Freundschaft
Heines.

Beate Heine schrieb am 2. Februar 1900 in Hamburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 11.2.1900 aus Leipzig:]


[...] daß ich erst heute für Ihre lieben Zeilen danke. [...] bis ich in Dresden Ihre lieben Zeilen vorfand [...]

Frank Wedekind schrieb am 11. Februar 1900 in Leipzig folgenden Brief
an Beate Heine

Leipzig, 11.II.1900.


Meine liebe verehrte Freundin!

Seit acht Tagenseit dem 3.2.1900, dem Tag, an dem Wedekind aus der Festungshaft entlassen wurde. athme ich wieder freie Luft, aber unter so erkälteten Verhältnissen und in solcher schwebender Ungewißheit, daß Sie mir nicht zu sehr zürnen dürfen, daß ich erst heute für Ihre lieben Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 2.2.1900. danke. Ich denke mir nach dem Trubel und den Ueberraschungen der letzten vier Tagevom 8.2.1900 (Donnerstag) – als Wedekind abends in Leipzig eintraf (er kam von Dresden, wo er nach seiner Entlassung aus der Festungshaft am 3.2.1900 die ersten Tage in Freiheit verbrachte) – bis 11.2.1900 (Sonntag)., d.h. seit meiner Ankunft in Leipzig, nur immer, wie einsamBeate Heine war allein in Hamburg zurückgeblieben, als ihr Mann Carl Heine mit seinem Ensemble auf Gastspielreise ging. Sie sich fühlen müssen; ich habe die intensive Empfindung, daß Sie doch nothwendig mit dazu gehören. Ich habe das Gefühl, daß Ihnen und mir damit ein Unrecht geschieht. Ich bin in Folge Ihrer Abwesenheit nämlich auch Quantité négligeable(frz.) zu vernachlässigende Größe.. Heute ist KammersängerprobeWedekinds drei Szenen „Der Kammersänger“ (1899) wurden im Rahmen des Gastspiels des Dr. Heine-Ensembles im Krystallpalast in Leipzig aufgeführt (siehe unten); es spielten Arthur Waldemar (die Titelrolle des Gerardo), Helene Riechers (Helene Marowa), Mizzi Callweit (Miss Isabel Coeurne) und Egbert Soltan (Professor Dühring), Regie führte Carl Heine.. Daß ich nicht dabei erscheinen darf, brauche ich Ihnen kaum zu sagen. Ich sage mir aber folgendes: die Zeit ist sehr kurz und der gute Erfolg von allergrößter Bedeutung. Also warum nicht stillhalten. Ich komme dann hier in Leipzig abends an in der Erwartung, in einigen Tagen Ihren Herrn Gemahl zu treffen, gehe, um alte Erinnerungenan die Zeit in Leipzig von Ende 1897 bis Sommer 1898 im Kreis um die Literarische Gesellschaft in Leipzig und deren von Carl Heine geleitetes Theater (Ibsen-Theater), an dem Wedekind als Dramaturg und Schauspieler engagiert war; „Der Erdgeist“ (1895) als erstes Stück Wedekinds überhaupt wurde in Leipzig durch Carl Heines Ensemble im Krystallpalast uraufgeführt. aufzufrischen, am ersten Abendam 8.2.1900 (Donnerstag). in den Krystallpalast, sehe ihn dort am nächsten Tisch sitzen, verbringe den Abend mit ihm; am nächsten Tageam 9.2.1900 (Freitag). diniren wir zusammen, treffen dabei Merian. Nach Abfahrt Herrn Doctors gehen Merian und ich zu KlingerMax Klinger, Maler und Bildhauer, wohnte in Leipzig in der Carl Heine-Straße 2 (Parterre); sein Atelier (nach seinen Plänen erbaut) befand sich in der Carl Heine-Straße 6 [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1900, Teil I, S. 474]. und kneipen den Rest des Abends im Atelier zwischen Beethoven und Jesus im OlympMax Klinger hatte nach Vorarbeiten um 1886 in den 1890er Jahren mit der Großplastik eines Beethoven-Denkmals im Jugendstil begonnen (der Komponist sitzend mit nacktem Oberkörper in Marmor), die er in Leipzig vollendete und die erstmals vom 15.4.1902 bis 15.6.1902 in der Beethovenausstellung der Wiener Secession zu sehen war (Höhe allein der Figur: 150 cm, mit Thron: 155 cm, des Denkmals insgesamt: 310 cm). Sein monumentales symbolistisches Gemälde „Christus im Olymp“ (Öl auf Leinwand, 5,50 x 9 Meter) war 1897 fertiggestellt. ungezählte Flaschen, nächsten Tagam 10.2.1900 (Samstag). Katzenjammerkörperlich matte Befindlichkeit nach Alkoholkonsum., zum Schluß große Kneiperei, heute Katzenjammer, bei Tisch klopft mir jemand auf die Schulter, es ist Ihr Herr Gemahl, hat aber keine Zeit, Probe, soll ihn um 7 Uhr abholen. Ich gehe in mein HotelWedekind logierte in Leipzig in Müller’s Hotel (Matthäikirchhof 12) [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 11.2.1900]. und schreibe endlich an meine liebe Freundin, was ich seit dem ersten Augenblick meines Hierseins thun wollte; leider war ich aber indessen fürchterlich erkältet, konnte Ihnen also auch die Grüße noch nicht ausrichten, die mir Ihr Herr Gemahl, ich weiß nicht mehr an welchem Tage, an Sie aufgetragen. Bei alledem stecke ich aber auch wieder bis an den Hals in meiner Arbeit und werde wol Mitte dieser Woche nach München fahren, um sie dort in Ruhe zu Ende zu bringenWedekind wollte sein Stück „Marquis von Keith“ (1901) in München abschließen, das fast fertig war [vgl. KSA 4, S. 413].. Alles weitere wird sich dann schon finden.

Sie gratuliren mir zu meiner ErbschaftWedekind hatte eine Erbschaft in Aussicht, deren Auszahlung sich jedoch verzögerte (siehe dazu Wedekinds Korrespondenz mit seinem Schwager Walther Oschwald).; bis jetzt habe ich aber noch nichts davon, vor einem Monat wird sie nicht fällig werden. Bis jetzt lebe ich immer noch von meiner Majestätsbeleidigung.

Ich zittere für den Kammersänger, nicht meinet-, sondern Herrn Doctors wegenCarl Heines Ensemble hatte mit „Der Kammersänger“ auf der letzten Gastspielstation vor Leipzig, in Halle an der Saale, wo der Einakter am 31.1.1900 am dortigen Thalia-Theater gespielt wurde, nur mäßigen Erfolg, wie die Pressestimmen verraten; „der ‚Kammersänger‘ von Frank Wedekind“ sei „nicht gerade das glänzendste Werk dieses Autors“ [Hugo Gerlach: Thalia-Theater. Letztes Gastspiel des Heine Ensembles. In: Saale-Zeitung, Jg. 36, Nr. 53, 1.2.1900, Abend-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (1)]; „‚Der Kammersänger‘ von Frank Wedekind. Darauf hätten wir lieber verzichtet. Diese Bühnendichtung läßt an Langeweile und Unwahrscheinlichkeit nichts zu wünschen übrig. [...] Der reine Blödsinn von Anfang bis zu Ende. Gespielt wurde [...] vortrefflich.“ [B. Corony: Thalia-Theater. In: General-Anzeiger für Halle und den Saalkreis, Jg. 12, Nr. 27, 2.2.1900, 1. Beilage, S. 5] Entsprechend vorbelastet waren die Erwartungen an die Resonanz auf Wedekinds Einakter in Leipzig, zumal Carl Heine dort Hoffnungen auf berufliche Perspektiven (siehe unten) hatte., weil für ihn der Augenblick hier in LeipzigDie Presse hatte berichtet: „Ein neues Schauspielhaus soll in Leipzig gegründet werden. Eine Vereinigung, die unter dem Namen ‚Leipziger Schauspielhaus-Gesellschaft‘ zusammen getreten ist, will ein neues Schauspielhaus gründen [...]. Wie es heißt, hat man Dr. Carl Heine, den ehemaligen Vorsitzenden der Leipziger Litterarischen Gesellschaft, als Direktor des neuen Theaters in Aussicht genommen. [...] Man hofft in Leipzig von dem neuen Unternehmen eine anregende Rückwirkung auf das dortige Stadt-Theater.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 5, Nr. 60, 6.2.1900, Morgen-Ausgabe, S. (2)] Insofern stand Carl Heine bei seinem Gastspiel in Leipzig unter großer Anspannung. „Daß Herr Dr. Heine sich gerade jetzt in Erinnerung bringt, wo er als künftiger Leiter eines sehr nötigen, aber auch sehr problematischen Theaters genannt wird, ist begreiflich.“ [Dr. G.M.: Gastspiel des Dr. Heine-Ensembles. In: Leipziger Volkszeitung, Jg. 7, Nr. 36, 18.2.1900, S. (6)] so kritisch ist. Gottseidank ist es die letzte der drei VorstellungenCarl Heines Gastspiel mit seinem Ensemble in Leipzig war zunächst auf drei Vorstellungen im Theatersaal des Krystallpalastes angesetzt, wobei „Der Kammersänger“ zuletzt am 14.2.1900 gespielt werden sollte [vgl. Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 68, 7.2.1900, Morgen-Ausgabe, S. 1041], dann wurden es vier. Die erste Vorstellung fand am 12.2.1900 statt (gespielt wurde eine Szene von Marcel Prevost und das Lustspiel „Die Erziehung zur Ehe“ von Otto Erich Hartleben), die zweite am 13.2.1900 („Das Friedensfest“ von Gerhart Hauptmann), die dritte am 14.2.1900 („Der Kammersänger“ zusammen mit „Der Edelknabe und die Müllerin“ von Johann Wolfgang Goethe, „Lotte“ von Hugo Marck und „Ein Liebesroman“ von Marcel Prevost) – „Mittwoch, den 14. Februar 1900: Vorletztes Gastspiel des Dr. Heine-Ensemble: Der Kammersänger. Drei Scenen von Frank Wedekind“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 81, 15.1.1900, Morgen-Ausgabe, S. 1253] – sowie die vierte und letzte („Der Kammersänger“ mit „Ein Liebesroman“ von Marcel Prevost und „Lotte“ von Hugo Marck) am 15.2.1900: „Krystallpalast – Theatersaal. Heute Donnerstag, den 15. Februar 1900: Letztes Gastspiel des Dr. Heine-Ensemble: Der Kammersänger. Drei Scenen von Frank Wedekind.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 83, 15.1.1900, Morgen-Ausgabe, S. 1283]. Ich werde mich möglichst im Hintergrund halten. Nutzen kann ich nichts und schaden sehr viel.

Leipzig gefällt mir natürlich sehr gut, und zwar gerade die Intimitäten. Gestern begrüßte mich mein Gefängniswärternicht identifiziert. Wedekind, wegen Majestätsbeleidigung verurteilt, war mehr als drei Monate im Gefängnis in Leipzig inhaftiert, bis er am 23.8.1899 zum Antritt der Festungshaft nach der Festung Königstein überführt wurde. auf der Straße. Eigenthümliche Gefühle! Aber auch alles Uebrige, die Straßen, die Häuser und Menschen, alles wie eine eroberte Provinz. Aehnliche Gefühle beseelen Herrn Doctor bei seinem hiesigen Gastspiel. Ich habe nun aber auch wirklich lange genug Trübsal geblasen und die Ohren hängen lassen; der richtige Lebensmuth ist doch nur ein Ergebnis der Freiheit. Es wird Ihnen nicht gerade leicht sein, liebe Freundin, die absolute Einsamkeit zu ertragen. Ich hatte, bis ich in Dresden Ihre lieben Zeilen vorfandWedekind hat das nicht überlieferte Schreiben von Beate Heine (siehe oben) in Dresden vorgefunden, wo er sich nach seiner Haftentlassung am 3.2.1900 die ersten Tage aufhielt., fest darauf gerechnet, wir werden uns wiedersehen, und zwar unter einiger Behaglichkeit, in der man alles Geschehene ruhig besprechen kann. An diese Behaglichkeit ist aber auch zwischen Ihrem Mann und mir nicht zu denken; Hetzerei, Aufregung, bange Erwartung und kaum ein ruhiges Wort. Immerhin haben ja auch Sie während Ihrer Hamburger Wirksamkeit eine herbe Schule durch gemacht. Hoffentlich bricht für uns alle bald eine ruhige Zeit der Beschaulichkeit an, in der wir die Früchte unserer blutigen Eroberungen genießen können. Wenn ich Sie jetzt auch nicht sehe, sage ich darum doch auf Wiedersehen in LeipzigWedekind sah Carl Heines nächste berufliche Zukunft in Leipzig.!

Seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem Ihnen dankbar ergebenen
Frank.

Frank Wedekind schrieb am 20. Juli 1900 in Leipzig folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


Leipzig, 20.III.1900irrtümlich datiert; dem Briefinhalt zufolge war der 20.7.1900 das Schreibdatum..


Meine liebe verehrte Freundin!

Die Sehnsucht, endlich wieder einmal zu wissen wie es Ihnen geht, die Unmenge gemeinsamer Erinnerungen, von denen ich auf Schritt und Tritt bestürmt werde, drängen mich, Ihnen zu schreiben, obwohl meine eigene ebenso komische wie unerquickliche Situation meinen Willen vollkommen geknickt hat und mich nur noch sehr selten und dann mit dem größten Widerwillen die Feder ergreifen läßt. Um Ihnen mein seltsames Verhalten kurz zu erklären, so schrieb ich, nachdem Carl und ich uns hier in Leipzig zum letzten Mal gesehenWedekind sah Carl Heine zuletzt am 8.2.1900 und in den Tagen darauf in Leipzig [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900]. hatten, in München endlich unter Ach und Krach meinen „Marquis v. Keith“ fertig, verdiente auch ein hübsches Stück Geld bei der „InselWedekinds „Marquis von Keith“ (1901) erschien im Vorabdruck [vgl. KSA 4, S. 413, 425] in der von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder herausgegebenen Monatsschrift „Die Insel“ [vgl. Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet von Frank Wedekind. In: Die Insel, Jg. 1, 3. Quartal, Nr. 7, April 1900, S. 3-76, Nr. 8, Mai 1900, S. 166-198, Nr. 9, Juni 1900, S. 255-310]. und hoffte und hoffte und hoffte, daß sich der seit nun 7 Monatenzurückgerechnet der 20.12.1899. Wedekinds Tante Auguste Bansen, die jüngste Schwester seines Vaters, war am 15.12.1899 in Hannover kinderlos gestorben, so dass die Neffen und Nichten auf ein Erbe hofften [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 199f.], das auf sich warten ließ. Wedekind hatte die ihn stark belastende Erbschaftsangelegenheit im Sinn (siehe dazu seine Korrespondenz mit Walther Oschwald). verkündete bescheidene Glücksfall endlich realisiren würde und mir ermöglichte, mir nach zehn Jahren heimathlosen Umherirrens nun endlich wieder einmal eine Stätte zu schaffen, wo ich mein Haupt hinlegen und in etwas rationellerer Weise arbeiten könnte, als mir das bisher möglich war. Daneben träumte ich davon, dramatischen Unterricht zu nehmen, zur Bühne zurückzukehren und tausend andere bescheidene schöne Dinge. Meine Hoffnung hat mich bis jetzt in unmenschlich grausamer Weise genarrt. Der RechtsanwaltDie Kanzlei des Rechtsanwalts Hans Heiliger in Hannover (Georgstraße 7) [vgl. Adreßbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover 1900, Teil I, S. 752] bearbeitete Wedekinds Erbschaftsangelegenheit. hatte sich verrechnet, Monat um Monat zieht sich die SacheWedekind hatte eine Erbschaft in Aussicht (siehe oben), deren Auszahlung sich jedoch verzögerte (siehe dazu Wedekinds Korrespondenz mit seinem Schwager Walther Oschwald sowie überhaupt seine Korrespondenz mit Familienmitgliedern in dieser Zeit). hinaus, schließlich kommen die Gerichtsferien und jetzt soll ich, wenn alles gut geht, mich noch einen vollen Monat gedulden. Dieser Zustand hat mich nun bis auf das Mark demoralisirt, so daß ich in München schließlich vor mir selber Reißaus nahm und mich hier in der LampestraßeWedekind hatte sich in Leipzig in der Lampestraße 13 (4. Stock links) eingemietet [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900]. auf einen Monat einmietete, in der Hoffnung, an der hiesigen BibliothekWedekind besuchte vermutlich entweder die Stadtbibliothek in Leipzig (Neumarkt 9), Öffnungszeiten des Lesesaals täglich 10 bis 13 Uhr, außerdem Dienstag, Mittwoch, Freitag und Samstag 15 bis 18 Uhr [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 130], oder die Universitätsbibliothek (Beethovenstraße 6) [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 28], Öffnungszeiten des Lesesaals (Bibliotheca Albertina) Montag bis Freitag 9 bis 13 Uhr und 15 bis 18 Uhr, Samstag 9 bis 13 Uhr [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 79]. eine bestellte ArbeitWedekind hoffte in Leipzig für eine Publikation „Das Varieté des Lebens“ (nicht nachgewiesen) für den S. Fischer Verlag arbeiten zu können [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900], die nicht realisiert wurde. absolviren zu können. Das ist meine ebenso lächerliche wie trostlose Geschichte seit dem Tage meiner wiedergewonnenen FreiheitWedekind war am 3.2.1900 aus der Festungshaft entlassen worden, die er wegen Majestätsbeleidigung verbüßte.. Womit ich diese horrenden TantalusqualenQualen dadurch, dass etwas Ersehntes zwar in greifbarer Nähe, aber nicht erreichbar ist (nach dem König Tantalus aus der griechischen Sage, der wegen Frevels gegen die Götter unstillbaren Hunger und Durst leiden musste, obwohl Essen und Trinken zum Greifen nah war). und obendrein den von mir am meisten gefürchteten Fluch der Lächerlichkeit verdient habe, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, daß irgend jemand anders nach meinen Erlebnissen dieses neue Mißgeschick tapferer bestanden haben würde als ich.

Aber nun zu Ihnen. Von Carl erhielt ich vor zwei Monaten einige Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 1.6.1900. aus AmsterdamCarl Heine gastierte auf der Gastspielreise mit seinem Ensemble am 1.6.1900 einmalig in Amsterdam mit Henrik Ibsens Schauspiel „Wenn wir Toten erwachen“ (Anfang: 20 Uhr) am Stadttheater am Leidseplein [vgl. Het Nieuws van den Dag, Nr. 9318, 1.6.1900, 4. Blatt, S. 13]. und las in den Zeitungen mit Vergnügen und Genugthuung von den auch in pekuniärer Beziehung bedeutenden Erfolgen, die er in Belgien und Holland erntete. Jetzt wird er wol nicht mehr spielen, sondern irgendwo in schöner Natur mit Ihnen der wolverdienten Erholung genießen. Aber wie haben Sie die langen Monate in Berlin verbracht? Sie werden eine Menge neuer Menschen kennen und schätzen gelernt haben; Sie werden mehr Berlinerin gewordenBeate Heine, in Berlin geboren und aufgewachsen, lebte mit ihrem Mann, dessen Dr. Heine-Ensemble nun in Berlin seinen Sitz hatte, wieder in der Stadt (Lutherstraße 17) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 262]. sein und über vieles lachen, was Sie früher eher träumerisch und muthlos stimmte. Ich habe hier in Leipzig bei jedem Schritt das Gefühl, als ob ich über Gräber wandelte, über die Gräber einer Gesellschaft voll der lebendigsten Beziehungen, einer ganzen Welt1898 der gesellige Kreis um die Literarische Gesellschaft und das Ibsen-Theater in Leipzig, zu dem Carl und Beate Heine gehört hatten., die mit Ihnen spurlos aus Leipzig verschwunden ist. Was an Trümmern davon zurückgeblieben, das kann mir wenig Freude mehr machen. Ebenso war es in München. Ich muß und muß in größere Kreise gelangen; dazu hoffte ich von dem tückischen Glücksfall einige Hülfe. Nun, es muß ja kommen; wenn bis dahin nur nicht der letzte Rest an Raketensatzdas Pulver in der Rakete (mit Brandsatz gefüllte Blechbüchse), bildlich gemeint. zum Teufel geht. Aber ich möchte Ihnen um alles in der Welt nichts vorjammern. Vor vierzehn Tagenam 6.7.1900 (genau gerechnet), an dem Wedekind in München Ernst von Wolzogen getroffen hat. traf ich Wolzogen in München, der mir die Hand zur Versöhnung bot und mich für sein Berliner Tingel TangelErnst von Wolzogen plante die Gründung eines Kabaretts, das Bunte Theater (Überbrettl) in Berlin (offiziell eröffnet am 18.1.1901). zu gewinnen trachtete. Ich habe nach wie vor wenig Zutrauen zu dem Unternehmen, nun erst recht, wo Wolzogen an der Spitze steht, dem alles Verständnis für Humor fehlt. Uebrigens hörte ich mit Freude gestern aus einem ruhigen sachlichen Gespräch mit dem hiesigen Oberregisseur AdlerLeopold Adler war Oberregisseur des Schauspiels an den vereinigten Stadttheatern in Leipzig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 409]., mit dem ich durch Hezel Der Wedekind freundschaftlich verbundene Rechtsanwalt Kurt Hezel aus Leipzig hatte ihn bei seinem Majestätsbeleidigungsprozess verteidigt; Wedekind dürfte in Leipzig vor allem mit ihm Kontakt gehabt haben.zusammenkam, einen wie unbestrittenen und nachhaltigen Eindruck Carl hier in LeipzigCarl Heine gastierte mit seinem Ensemble vom 12. bis 15.2.1900 im Krystallpalast in Leipzig [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900]. zurückgelassen und wie ernst er gerade von seinen Gegnern genommen wird. Ich glaube, es hat sich auch hier gezeigt, daß im entscheidenden Moment die besten Freunde immer die unzuverlässigsten Factoren sind. Meßthaler, der momentan hier spieltEmil Meßthaler war als Direktor des Leipziger Sommer-Theaters in der Stadt (Spielstätte: Hotel Stadt Nürnberg, Bayerische Straße 8-10) und auch als Schauspieler auf der Bühne zu sehen. Eröffnungsvorstellung des Leipziger Sommer-Theaters war am 1.7.1900 [vgl. Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 329, 1.7.1900, S. 5329], davor gastierte er im Krystallpalast mit seinem „Meßthaler-Ensemble“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 292, 11.6.1900, Abend-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4781]., wird künstlerisch nicht ernst genommen. Ich hoffe sehr darauf, daß wir uns bald einmal wiedersehen. Ich hatte vor, im August nach Berlin zu kommen; da mir jetzt aber alles durcheinander geworfen ist, habe ich den Plan wieder fallen lassen.

Grüßen Sie Carl aufs herzlichste von mir. Jeder Schritt, den er thut, ist für mich Gegenstand des lebhaftesten Interesses. Vielleicht werden unsere beiderseitigen Bestrebungen doch auch wieder einmal miteinander verknüpft. Aber auch sonst begleiten ihn meine aufrichtigsten Wünsche.

Mit herzlichen Grüßen Ihrer gedenkend in Freundschaft und Dankbarkeit
Frank.


Zu meinem Schrecken fällt mir ein, daß ich den Brief erst in vier TagenWedekinds 36. Geburtstag am 24.7.1900. abschicken kann, da Sie sonst imstande wären, ihn zum Vorwand zu nehmen, um mir wieder ein Geschenk zu machen. Sie müssen sich das selber zuschreiben. Warum verwöhnen Sie Ihre Freunde so!


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Die Sehnsucht, endlich wieder einmal zu wissen wie es Ihnen geht, die Unmenge gemeinsamer Erinnerungen, von denen ich auf Schritt und Tritt bestürmt werde, drängen mich, Ihnen zu schreiben, obwohl meine eigene ebenso komische wie unerquickliche Situation meinen Willen vollkommen geknickt hat und mich nur noch sehr selten und dann mit dem größten Widerwillen die Feder ergreifen läßt. Um Ihnen mein seltsames Verhalten kurz zu erklären, so schrieb ich, nachdem Carl und ich uns hier in Leipzig zum letzten Mal gesehen hatten, in München endlich unter Ach und Krach meinen „Marquis v. Keith“fertig, verdiente auch ein hübsches Stück Geld bei der „Insel“ und hoffte und hoffte und hoffte, daß sich der seit nun 7 Monaten verkündete bescheidene Glücksfall endlich realisiren würde und mir ermöglichte, mir nach zehn Jahren heimatlosen Umherirrens nur endlich wieder einmal eine Stätte zu schaffen, wo ich mein Haupt hinlegen und in etwas rationellerer Weise arbeiten konnte, als mir das bisher möglich war. Daneben träumte ich davon dramatischen Unterricht zu nehmen, zur Bühne zurückzukehren und tausend andere bescheidene schöne Dinge. Meine Hoffnung hat mich bis jetzt in unmenschlich grausamer Weise genarrt [...]

Beate Heine schrieb am 31. Juli 1900 in Berlin folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 2.8.1900 aus München:]


[...] ich [...] erhalte Ihre liebe freundliche Einladung erst heute hier in München.

Frank Wedekind schrieb am 2. August 1900 in München folgenden Brief
an Beate Heine

München, 2.VIII.1900.


Meine verehrte liebe Freundin,

Sie schreibenin der genannten Einladung (siehe unten)., Sie fänden mein Geschick gar nicht so bedauernswerth; aber da sehen Sie es gerade: Wegen lumpichter CorrecturenKorrekturen im Zusammenhang mit der Drucklegung des „Marquis von Keith“ (1901) als Buchausgabe im Albert Langen Verlag, im Vergleich mit dem Vorabdruck des Stücks in der Monatsschrift „Die Insel“ [vgl. KSA 4, S. 425] eine „nur unerheblich veränderte Fassung“ [KSA 4, S. 413. Um Korrekturen für die 2. Auflage des Einakters „Der Kammersänger“ handelte es sich definitiv nicht, da diese bereits am 22.6.1900 als erschienen gemeldet ist [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 142, S. 22.6.1900, S. 4730]. und einiger anderer geringfügiger Accidenzienzufällige Einkünfte. mußte ich Leipzig plötzlich wieder verlassen und erhalte Ihre liebe freundliche Einladungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 31.7.1900. Es handelte sich vermutlich um eine Einladung zu einer Zusammenkunft mit Beate und Carl Heine in Leipzig. erst heute hier in München. Das ist lediglich die Folge davon, daß das Leben keinen Sinn und keine Direction hat und man der Spielball jedes elenden kleinen Zufalls ist. Ich fühlte im Voraus, daß mir Ihre Antwort eine erfreuliche Nachricht bringen werde; trotzdem konnte ich nicht länger in Leipzig bleiben, da ich dadurch den Druck meines Marquis, den ich schon drei Wochen lang vernachlässigt hatte, vollkommen gefährdet hätte. Sie machen sich keinen Begriff von dem Chaos und der Wüstenei, wozu mein Leben dank dieser ekelhaften GeldangelegenheitWedekind hatte eine Erbschaft in Aussicht, deren Auszahlung sich jedoch verzögerte (siehe dazu Wedekinds Korrespondenz mit seinem Schwager Walther Oschwald). geworden ist. Mit Vergnügen habe ich in Leipzig gehört, daß Carl im Winter wieder Tournee machtCarl Heines Tournee mit seinem Dr. Heine-Ensemble in der Winterspielzeit begann am 20.9.1900 und führte ihn zunächst wieder nach Holland., wenn ich mich recht erinnere in Holland. Wenn ich nur endlich flott werde, dann werde auch ich keine Secunde versäumen, um sofort meine Bühnenthätigkeit wieder aufzunehmen. In sämtlichen KammersängervorstellungenWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ wurde in den drei Städten Prag, Wien und München auf einer Gastspielreise der Berliner Sezessionsbühne (Leitung: Paul Martin. Oberregisseur: Martin Zickel) aufgeführt. Premiere am Neuen deutschen Theater in Prag war am 10.7.1900 [vgl. Prager Tagblatt, Jg. 24, Nr. 188, 10.7.1900, Morgen-Ausgabe, S. 4]; eine weitere Vorstellung als Abschiedsvorstellung des Ensembles fand am 15.7.1900 statt. Premiere am Theater in der Josefstadt in Wien war am 21.7.1900 [vgl. Wiener Allgemeine Zeitung, Nr. 6710, 21.7.1900, S. 8]; weitere Vorstellungen fanden am 22. und 23.7.1900 statt. Premiere am Münchner Schauspielhaus war am 24.7.1900 [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 53, Nr. 339, 24.7.1900, General-Anzeiger, S. 1] (an Wedekinds Geburtstag); die letzte Wiederholung des „Kammersänger“ fand am 27.7.1900 statt. Einem Irrtum dürfte folgende Pressemeldung zugrunde liegen (hier scheint das in Berlin angesiedelte Dr. Heine-Ensemble mit der Sezessionsbühne verwechselt worden sein): „Aus München wird uns telegraphirt: Das Berliner Heine-Ensemble brachte gestern Wedekinds ‚Kammersänger‘ mit großem Erfolg zur Aufführung.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 29, Nr. 372, 25.7.1900, Morgen-Ausgabe, S. (3)]., die in Prag, Wien und München stattgefunden, war die HauptrolleDie Titelrolle – „GERARDO, k.k. Kammersänger“ [KSA 4, S. 12] – in Wedekinds in Prag, Wien und München aufgeführtem Einakter „Der Kammersänger“ (siehe oben) wurde in Prag von Kurt Junker gespielt, in Wien von Rudolf Christians und in München wieder von Kurt Junker. unter aller Kritik, und so brenne ich vor Begierde, dem Publicum einmal zu zeigen, was ich damit gemeint habe. Ein amüsantes Curiosum: Das ThaliatheaterDruck- oder Lesefehler, statt: Tivoli-Theater. Das Thalia-Theater in Bremen wurde erst 1907 erbaut und am 16.5.1909 eröffnet [vgl. Neuer Theater-Almanach 1910, S. 332]. Gemeint ist das Tivoli-Theater in Bremen, dessen Direktor seinerzeit wohl noch Max Monti gewesen ist, der zugleich Direktor des Carl Schultze-Theaters in Hamburg war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 287], oder bereits Carl Waldemar [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 275]. in Bremen, eine Operettenschmiere letzten Ranges, hat sich um Aufführungsrecht vom „Erdgeist“ beworben. Voraussichtlich wird ja nichts daraus, aber als Sympthom ist es ganz erfreulich. Es ist mir sehr schmerzlich, daß ich die Gelegenheit, Carl und Sie zu sehen, unbenützt vorübergehen lassen mußte. Aber seit 4 Monaten geht mir das mit allem so. Es ist der wahre Jammer. Lange würde ich es auch nicht mehr aushalten. ‒ Harlan, der Wohlzogens VariétéErnst von Wolzogens Buntes Theater (Überbrettl) in Berlin, das am 18.1.1901 offiziell eröffnet wurde [vgl. Budzinski/Hippen 1996, S. 437], „eine deutsche Variante des literarisch-künstlerischen Cabarets Pariser Prägung“ [Budzinski/Hippen 1996, S. 400]. Ernst von Wolzogen und Walter Harlan, inzwischen Dramaturg am Berliner Lessingtheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 243], kannten sich aus Leipzig aus dem Umkreis der Literarischen Gesellschaft. finanziren wollte, hat sich wieder zurückgezogen und läßt Wohlzogen mit seinen abgeschlossenen Engagements sitzen. Immer dasselbe! Grüßen Sie Carl aufs herzlichste. Auf baldiges wirkliches Wiedersehen! Mit tausend Grüßen Ihr Ihnen unverändert ergebener
Frank.

Beate Heine schrieb am 4. August 1900 in Berlin folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 4.9.1900 aus München:]


[...] so hätt ich Ihre letzten Zeilen [...] nicht unbeantwortet gelassen. [...] Ihren letzten Brief [...

Frank Wedekind schrieb am 26. August 1900 in München folgenden Brief
an Beate Heine

München, 26.VIII.1900irrtümlich datiert; dem Briefinhalt zufolge ist der 26.9.1900 als Schreibdatum anzunehmen..


Meine liebe Freundin,

eben habe ich meine Bühnenabentheuer wieder aufgenommen in Gestalt von dramatischem Unterricht bei der ersten hiesigen Ballettänzerinwohl die Hofballettmeisterin und Primaballerina Flora Jungmann [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 445], die seit 1890 das Ballett des Münchner Hoftheaters leitete, auch als Tanzlehrerin sehr geschätzt wurde und modernem Tanz gegenüber aufgeschlossen war. Sie hat am Münchner Hoftheater die „neuen Ballets [...] eingeführt und recht geschmackvoll durchgeführt.“ [Otto Julius Bierbaum: Fünfundzwanzig Jahre Münchner Hoftheater-Geschichte. München 1892, S. 49] Die Ballettmeisterin Flora Jungmann (geb. Thieme) wohnte in München (Pilotystraße 9a, 1. Stock rechts) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1901, Teil I, S. 278, 621]. In Frage käme auch die Koryphäe (erste Solotänzerin) Leopoldine Engelhard, weniger die anderen Tänzerinnen des Königlichen Hofballetts, die Solotänzerinnen Sofie Haber, Antonie Habitz und Marietta Olly sowie die Pantomimistin Betty Straß [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 445].. Die Schauspieler, die ich in meinem Fall consultirte, wiesen mir alle diesen eigenartigen Weg, da ich das, was mir fehle, nirgends und von niemandem besser lernen könne. Ich selber fühle, daß es das beste Mittel ist, um rasch wieder in Uebung zu kommen. Uebung ist doch schließlich die Hauptsache, wenigstens wenn man wirklich etwas zu geben hat.

Aber wie geht es Ihnen. Der lange Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 20.9.1900. ‒ Beate Heine dürfte Wedekind in diesem Brief darüber informiert haben, dass die ihm in einer Postkarte mitgeteilten beruflichen Aussichten Carl Heines [vgl. Wedekind an Beate Heine, 4.9.1900] sich zerschlagen haben., in dem Sie mir so resignirt von Ihren Erwartungen und Aussichten sprachen, machte mir einen erschütternden Eindruck. Trotzdem verlor ich für meinen Theil nicht die Zuversicht, daß es Carl baldmöglichst gelingen werde, einen Ausweg in der Art zu finden, wie er ihn jetzt thatsächlich gefunden hat. Ich gestehe Ihnen auch offen, daß ich zugleich fürchtete, Sie möchten in Ihrem Eifer, zu sparen, sich einzuschränken, sich Entbehrungen aufzuerlegen, zu weit gehen. Das Leben hat es nicht gern und ist einem nicht gnädig und günstig, wenn man es zu ernst nimmt. Das weiß niemand besser als ich, der vor lauter Begriffen, Ideen, Ansichten, Principien, Absichten, Vorsätzen, Befürchtungen und Hoffnungen keinen Augenblick zur Besinnung kommt, nirgends die nöthige Unbefangenheit findet und die schönsten Gelegenheiten; sein Glück zu machen, darüber verpaßt.

Schreiben Sie mir bitte, wie Sie jetzt Ihr Leben eingerichtet haben. Gottlob besitzen Sie ja gute Freunde in großer Anzahl in Berlin und meistens Menschen, die mitten im praktischen Leben stehen, und dabei das Herz auf dem rechten Fleck haben. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich im Laufe der nächsten Monate einmal nach Berlin komme. Von Carl erhielt ich einen sehr lieben Brief aus Rotterdamnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 21.9.1900. Carl Heine gastierte in Rotterdam am Großen Schauspielhaus (Groote Shouwburg) in der Aert van Nesstraat am 20.9.1900 mit Henrik Ibsens Schauspiel „Gespenster“ – angekündigt: „Erstes Gastspiel des Dr. HEINE-Ensemble Ibsen Theater“ [Rotterdamsche Nieuwsblad, Jg. 23, Nr. 6903, 18.9.1900, S. (4)] – sowie am 22.9.1900 mit Otto Erich Hartlebens Lustspielen „Die sittliche Forderung“ und „Die Erziehung zur Ehe“ – angekündigt: „Zweites Gastspiel des Dr. HEINE-Ensemble Ibsen Theater“ [Rotterdamsche Nieuwsblad, Jg. 23, Nr. 6906, 21.9.1900, S. (4)]. Carl Heine dürfte in Rotterdam den Tag dazwischen, an dem keine Vorstellung stattfand, dazu genutzt haben, den Brief an Wedekind zu schreiben. Das Ensemble Carl Heines trat dann am 23.9.1900 in Arnheim auf, am 29.9.1900 nochmals in Rotterdam.. Ich werde ihm nächster Tage schreiben.

Vergessen Sie mich bitte nicht, meine liebe Freundin, und seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem Ihnen sehr ergebenen
Frank.

Beate Heine schrieb am 2. September 1900 in Berlin folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 4.9.1900 aus München:]


[...] die Nachrichten [...], die Sie mir auf der Carte mittheilen [...]

Frank Wedekind schrieb am 4. September 1900 in München folgenden Brief
an Beate Heine

München, 4.IX.1900.


Meine liebe Freundin!

Ich gratulire!!

Wenn ich während der letzten Monate nicht ein menschenunwürdiges Dasein geführt hätte, unfähig, etwas zu arbeiten in der Wüstenei, die sich meine Wohnung nennt, in der es mir an jeder Art menschlichen Comforts mangelt, so hätt ich Ihre letzten Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 4.8.1900. Es handelte sich um einen Brief (siehe unten), der Wedekinds letzten Brief beantwortete [vgl. Wedekind an Beate Heine, 2.8.1900] und offenbar Ausführungen über Hans von Weber und Kurt Martens enthielt., die mich noch trauriger stimmten als ich schon war, nicht unbeantwortet gelassen. Ich brachte einfach den moralischen Muth nicht auf, Ihnen ein Wort zu schreiben. Ich war durch diese ErbschaftsgeschichteWedekind hatte seit Ende des vergangenen Jahres eine Erbschaft in Aussicht, deren Auszahlung sich jedoch verzögerte (siehe dazu Wedekinds Korrespondenz mit seinem Schwager Walther Oschwald)., die sich zu den fürchterlichsten TantalusqualenQualen dadurch, dass etwas Ersehntes zwar in greifbarer Nähe, aber nicht erreichbar ist (nach dem König Tantalus aus der griechischen Sage, der wegen Frevels gegen die Götter unstillbaren Hunger und Durst leiden musste, obwohl Essen und Trinken zum Greifen nah war). ausgestaltete, vollkommen demoralisirt. Jetzt zeigt sich ein Lichtblick. Die nächsten drei Tage können alles ändern. Immerhin bitte ich Sie, auch diese Zeilen noch nicht als einen „Brief“, als eine Antwort auf Ihre Mittheilungen zu betrachten. Es fehlt mir jede Ruhe und jede Sammlung, da ich seit fünf Monaten nur Pech, Pech, Pech, Pech und Pech hatte und nicht eine Secunde freien Aufathmens. Aber jetzt scheint sich das Wunder in der That erfüllen zu wollen, nicht daß sich die Erbschaft realisirt hätte ‒ Gott behüte mich! ‒, sondern mein Schwager hat sich bereit erklärt, mir 3000 Mk.Wedekind hatte seine Schwester in Dresden um die Summe von 3000 Mark als Darlehen gebeten [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 24.8.1900 und 28.8.1900]; deren Gatte sagte sie ihm zu [vgl. Walther Oschwald an Wedekind, 1.9.1900], er quittierte dem Schwager die Summe [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 8.9.1900] und dieser bestätigte den Empfang der Quittung [vgl. Walther Oschwald an Wedekind, 9.9.1900]. darauf zu pumpen. Damit werde ich aus der Wüstenei, in der ich seit fünf Monaten lebe, eine menschliche Wohnung zu machen suchen und werde versuchen, mich zum gesunden Menschen zurückzubilden, wenn es noch möglich ist.

Aber wie ich mich über die NachrichtenFritz Strich erläuterte hier: „Engagement an das Neue Theater in Berlin.“ [GB 2, S. 358] Die Presse meldete dann allerdings erst am Jahresende, Carl Heine werde das Neue Theater in Berlin pachten, sei aber wegen der Finanzierung noch in Verhandlungen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 29.12.1900]. freue, die Sie mir auf der Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 2.9.1900. Beate Heine dürfte Wedekind auf der Postkarte berufliche Perspektiven Carl Heines in Berlin mitgeteilt haben (siehe oben). mittheilen, kann ich Ihnen kaum sagen. Ich bin stolz darauf, daß mich meine Zuversicht nicht betrogen hat. Sagen Sie Ihrem lieben Manne die allerherzlichsten Glückwünsche. Er hat es ja allerdings weit, weit besser verdient; aber es ist doch ein Anschluß, es ist ein Sieg über das Geschick; er geht ohne Unterbrechung den Weg zu seinen Zielen weiter und braucht den Kopf nicht sinken zu lassen. Vor allem freut mich die künstlerische Anerkennung, die sich in den Thatsachen documentirte. Also Glück auf! Ich meinerseits lasse den Kopf auch nicht sinken, aber über Thatsachen läßt sich nicht hinwegphantasiren. Ich hoffe, Ihnen in den nächsten Tagen in zuversichtlicherem Ton schreiben zu können.

Der „Marquis von Keith“ erscheint in den nächsten TagenDie vordatierte Buchausgabe von Wedekinds Schauspiel „Marquis von Keith. (Münchener Scenen)“ (1901) im Albert Langen Verlag in München [vgl. KSA 4, S. 425] wurde erst Wochen später als erschienen gemeldet [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 252, 29.10.1900, S. 8812]. bei Langen als Buch. Selbstverständlich erhalten Sie ihn sofort. Ich fühle mich Ihnen sehr verpflichtet für das Vertrauen, das Sie mir durch Ihren letzten Briefnicht überliefert (siehe oben). bewiesen haben. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, am wenigsten natürlich mit Weber und Martens. Um so gesprächiger werde ich jetzt sein.

Grüßen Sie Ihren lieben Mann auf das herzlichste. Ich bin trotz der Kürze dieser Zeilen Ihr Ihnen stets ergebener und getreuer
Frank.

Beate Heine schrieb am 20. September 1900 in Berlin folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 26.9.1900 aus München:]


Der lange Brief, in dem Sie mir so resignirt von Ihren Erwartungen und Aussichten sprachen [...]

Beate Heine schrieb am 6. November 1900 in Berlin folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 7.11.1900 aus München:]


Herzlichen Dank für Ihre Zeilen [...]

Frank Wedekind schrieb am 7. November 1900 in München folgenden Brief
an Beate Heine

München, 7.XI.1900.


Meine theure liebe Freundin!

Herzlichen Dank für Ihre Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 6.11.1900. und für die Empfehlungen. Ich werde die beiden Damennicht identifiziert; möglicherweise Verwandte von Eva Bonarth (oder eine davon diese selbst) oder von Samuel Bonarth [vgl. Beate Heine an Wedekind, 13.11.1900]. übermorgen, Freitagder 9.11.1900., besuchen. Aber warum schreiben Sie in so trübem Ton und was haben Sie Schweres erdulden müssen? Ich kann mir wol vorstellen, daß Sie unter der Aufregung über Carls Geschäfte schwer gelitten haben. Aber Gott sei Dank steht es ja jetzt ganz vorzüglich um ihn, sein Unternehmen und seine Zukunft. Ich bitte Sie, die Dinge nicht ernster zu nehmen als sie thatsächlich sind. Sie werden auch Carl nur dadurch nützen, wenn Sie etwas vertrauensvoller in die Zukunft sehen. Wenn Sie kein Vertrauen zu ihm haben, ja, wer in der Welt soll es denn dann haben? Sie beklagen sich darüber, daß Carl Ihnen Jahre hindurch seine Vermögenslage verschwiegen. Diese Thatsache wird ihm aber von jedem vernünftigen Manne nur zur Ehre angerechnet werden. Und dann dürfen Sie nicht vergessen, daß Carl doch nicht lediglich Künstler, sondern auch Unternehmer ist. Die großen Unternehmer die ich kenne und die sämmtlich ihr Glück gemacht haben: Maggi, Albert Langen u. a., haben, bevor sich ihre Schöpfungen rentirten, noch ganz andere Lasten auf sich nehmen müssen als Carl. Deshalb erblicke ich durchaus keinen Grund zu einer pessimistischen Auffassung der Situation und Sie könnten Carl eventuell sogar Nachtheil zufügen, wenn Sie zu düster in die Zukunft schauen. Aber nehmen Sie mir bitte diese Offenheit nicht übel. Daß die Ereignisse Sie tief erschüttert haben müssen, um so mehr da Sie gegenwärtig doch sehr einsam leben und vielleicht auch nicht soviel Gelegenheit finden, Carl zu nützen, wie Sie gerne möchten, das alles ist mir vollkommen klar. Wie wäre es denn, liebe Freundin, wenn Sie hierher nach München kämen, vielleicht auch nur für einige Zeit? Auf das Leben bei Fremden, auf Pensionsleben sind Sie gegenwärtig ja doch wol schlechterdings angewiesen. Der Kreis, in dem ich mich hier bewege, ist ja allerdings nicht sehr interessant, aber leichtlebig. Dabei ist es nicht dieses Junggesellenvolk wie in LeipzigAnspielung auf den geselligen Kreis 1897/98 um die Literarische Gesellschaft in Leipzig, deren Vorsitzender Kurt Martens und deren Schriftführer Hans von Weber war (Carl Heine leitete das Theater der Literarischen Gesellschaft), die jetzt beide in München lebten., sondern meistens verheirathete Leute, Professoren vom Conservatoriumunklar, welches Konservatorium in München gemeint ist. u. a. u. a. Martens und Weber sehe ich allerdings nur mehr selten. Ich hege die feste Ueberzeugung, daß einige Wochen oder Monate Münchner Luft, auch wenn es Hofbräuhausluft wäre, Ihnen besser bekommen würde als der Aufenthalt in einem Sanatorium. Sie würden schon am zweiten oder dritten Tag wieder lachen lernen und das ist doch die wirksamste Medizin die es giebt. Vielleicht wäre es Ihnen auch nicht unangenehm, möglichst häufig bei mir in meiner kleinen Wohnung zu Gast zu sein. Mir wäre es jedenfalls eine große Freude. Meine Wohnungseinrichtung ist nämlich mein Stolz. Ich habe auf dem allerbeschränktesten Raum und mit den allergeringsten Mitteln Effecte erzielt, über die Jedermann in Staunen geräth. Aber ich will nicht renommiren. Ich erzähle Ihnen das nur, damit Sie vielleicht um so eher hierher kommen.

Von meinem Gastspiel in RotterdamWedekind trat am 6.10.1900 in Rotterdam am Großen Schauspielhaus bei einem „Gastspiel des Dr. HEINE-Ensemble“ [Rotterdamsche Nieuwsblad, Jg. 23, Nr. 6919, 6.10.1900, S. (4)] auf, bei dem im Anschluss an Max Halbes „Jugend“ Wedekinds drei Szenen „Der Kammersänger“ aufgeführt wurden und Wedekind in seinem Einakter die Titelrolle des Gerardo spielte; eingeladen dazu habe ihn Carl Heine, wie die niederländische Presse berichtete. Wedekind schrieb seiner Mutter Einzelheiten über dieses für ihn als Schauspieler wichtige Gastspiel [vgl. Frank Wedekind an Emile Wedekind, 10.10.1900]. werden Sie gehört haben. Die Fahrt war, trotz meines furchtbaren Lampenfiebers wundervoll. Aber ohne Lampenfieber keine Stimmung. Die Rückreise war natürlich noch angenehmer. Und dieses Holland! Unsagbar langweilig, eintönig und dabei so schön und stimmungsvoll. Jeder Ausblick ein Bild!

Augenblicklich thue ich eigentlich, genau genommen, im Wesentlichen nichts. Ich studire die beiden Rollen in dem Marquis von Keith und ‒ jetzt werden Sie erstaunen, liebe Freundin, ‒ verwende die meiste Zeit des Tages auf Turnübungen. Diese Uebungen haben allerdings nur den Zweck, mein Gehen und meine Bewegungen zu verbessern. Aber ich bin in diese Uebungen geradezu verliebt. So lernt man die schönsten Genüsse des Lebens erst kennen, wenn man schon beinahe gar keine Zeit mehr übrig hat. Meine Muse scheint sich mit mir verkracht zu haben. Ich schreibe buchstäblich garnichts und befinde mich außerordentlich wohl dabei. Ich genieße zum ersten Mal in meinem Leben die ungeheure Annehmlichkeit, ein ganz gewöhnlicher Mensch zu sein. Damit möchte ich nicht etwa sagen, daß ich früher was Besseres war; im Gegentheil. Es plagt mich bei alledem nur die beständige Angst, daß es nicht lange dauert.

Und nun leben Sie wohl, meine liebe Freundin. Schreiben Sie mir doch bitte wie es ihnen geht. Ich habe ja nicht die geringste Ahnung, was Sie zu dem Entschluß gebracht hat, ein Sanatorium aufzusuchenHier lag ein Missverständnis vor, wie Beate Heine dann klarstellte [vgl. Beate Heine an Wedekind, 13. und 14.11.1900].. Seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem Ihnen treu ergebenen
Frank.


Eben fällt mir ein, daß vorgesternam 5.11.1900 (Montag) – Wedekind hat schon im Vorjahr dieses falsche Geburtsdatum Beate Heines angenommen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 27.10.1899]. Beate Heine hatte ihren 41. Geburtstag bereits am 31.10.1900. Ihr Geburtstag war. Verzeihen Sie mir, aber ich lebe so in den Tag hinein.

Beate Heine schrieb am 13. November 1900 - 14. November 1900 in Berlin folgenden Brief
an Frank Wedekind

DinstagSchreibversehen, statt: Dienstag. Das war der 13.11.1900, nicht der 6.11.1900, da Beate Heine den Brief Wedekinds [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900] noch nicht erhalten haben kann, auf den sie hier antwortet..


Lieber Freund Frank! Wenn ich auch nicht glaube, daß ich weit komme, so will ich doch wenigstens diesen Brief an Sie beginnen, um Ihnen herzlich für Ihr liebes Schreibenvgl. Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900. zu danken. Sie schrieben zwar sehr strenge u. ließen mir eine tüchtige Strafrede zu theil werden ‒ aber das gerade ist mir ein Zeichen Ihrer Freundschaft u. ich danke Ihnen von Herzen dafür. Aber ‒ ich bin diesmal nicht recht schuldig. Ich weiß nicht, woraus Sie schlossen, daß ich Carl mit Pessimismus quäle ‒ oder, daß ich nicht an ihn glaube!? Ich glaube so fest an ihn, an seine Fähigkeiten, ja ich möchte sagen, | an sein Genie für sein Fach ‒ daß ich ganz bestimmt glaube, er muß einmal réüssiren ‒! Und, fragen Sie ihn, ob ich ihm die Gegenwart verderbe durch Pessimismus! Er war vorigen Mittwochmöglicherweise ein Versehen. Da Beate Heine auf Wedekinds letzten Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900] antwortet, den sie wohl am 8.11.1900 erhalten hat, dürfte nicht der 7.11.1900 (das wäre der vorige Mittwoch) gemeint sein, sondern der Mittwoch in der Woche davor, der 31.10.1900, ihr 41. Geburtstag. hier ‒ u. ich sage Ihnen, wir haben die Zeit, die wir für einander hatten, so wahrgenommen, wie man nur kann ‒ u. haben mit Wünschen, aber nicht mit Befürchtungen in die Zukunft zu gesehen. Daß wir die Gegenwart im Ganzen nicht gerade schön finden, versteht sich wohl von selbst ‒ wir sind getrennt, das ist das Schlimmste; wir haben keine Häuslichkeit u. wissen nicht, wann wir wieder eine haben werden ‒ und wir haben Beide eine schwere Existenz ‒ dies sind die 3 Punkte! Ueber die tanzt man nicht so ohne | Weiteres fort ‒ aber ‒ wir sind alle Beide guten Muths u. hoffen auf die Zeit der dauernden Wiedervereinigung. Trotz Allem war es ja ein Glück, daß Carl die TournéeCarl Heines Europatournee mit seinem Dr. Heine-Ensemble. mit festem Gehalt kriegte, u. ich diese Stellung, ebenfalls mit guter Dotirung ‒ verhältnißmäßig ‒ ‒ wir wissen ja, wofür wirs thun ‒ u. wir müssen es eben durchhalten. Liebster Freund, Sie haben wohl ganz u. gar meine Pläne hier mißverstanden? Als ob ich für mein Vergnügen oder Gesundheit hier im Sanatorium säße? Nein ‒ ich bin eine ganz richtige, bezahlte Gesellschafterin ‒ die sehr, sehr gebunden ist u. deshalb nicht die Wohnung ihres Freundes Frank besuchen kann ‒ was sie doch so gerne thäte. Frl. Bonhartnicht identifiziert; es dürfte sich um eine der beiden Damen (Freundinnen Beate Heines) gehandelt haben, die Wedekind in München aufsuchen sollte [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900], möglicherweise Verwandte von Eva Bonarth (oder eine davon diese selbst), Geflügelhändlerin in München (Klenzestraße 64), oder von dem Handelsmann Samuel Bonarth (Klenzestraße 64) [vgl. Adreßbuch von München auf das Jahr 1901, Teil I, S. 62]. bat ich, Ihnen meinen letzten Brief vorzulesen ‒ weil ich darin alles aus | meinem Leben erzählte u. so schwer dazu komme, ausführlich zu schreiben. Wissen Sie, die erste Zeit vergesse ich niemals ‒ es war zu furchtbar. Vor allem ‒ der Anfall ‒ was ich da an Todesangst ausgestanden habe, es könne sich wiederholen, wie ich da zitternd in der Nacht auf jedes Geräusch gehorcht habe, u. wie ich (und das war das Schlimmste) total vergraut war ‒ das ist kaum zu schildern! Wenn mir der Arzt auch später sagte ‒ es sei kein Wahnsinn, es sei Hysterie, so wurde ich das Grauen doch nicht mehr los ‒ ach ‒ u. ich sag Ihnen ‒ ich hätte am Liebsten damals gestreikt. Aber ‒ ich schämte mich ‒ zunächst vor mir selber, so bei der ersten schwereren Prüfung zu versagen, und dann ‒ ich konnte es auch nicht übers Herz bringen, die arme Fr. K.nicht identifiziert. Es handelt sich um eine Frau, deren Nachname mit „K“ beginnt; die Abkürzung „Fr.“ steht entweder für ‚Frau‘ oder für einen abgekürzten Vornamen. So oder so scheint es sich bei ihr um die Dame zu handeln, bei der Beate Heine in Berlin (Grunewald) als Gesellschafterin tätig war. | allein zu lassen. ‒ Jetzt fühle ich aber, ich bin über das Aergste fort. Auch hat mir Carls Hiersein sehr geholfen, mir wieder mehr das Gefühl gegeben, daß ich doch irgendwo hingehöre ‒ u. hat mir Muth u. Heiterkeit gegeben. Daran bedarf ich hier aber auch. Wissen Sie ‒ ich thue eigentlich garnichts u. bin doch von früh bis spät beschäftigt. Dieses Nichtsthun war mir zu Anfang fast unerträglich. Wie Sie sagen würden: „nix Reelles“ thu ich. Aber ‒ ich sehe ‒ daß ich Fr. K. etwas bin, u. fühle, daß ich ihr gut thue ‒ ich bringe sie oft dazu Thränen zu lachen ‒ durch allerlei Blödsinn, von dem ich ja ziemlich reiche Vorräthe in mir habe ‒ sie behauptet, ich hätte ein geradezu lächerliches Anpassungsvermögen ‒ ich wünschte mir manchmal etwas weniger davon, | ich leide so mit ihr ‒ jeder Gang zum Kirchhof kostet mich Herzschläge u. Nerven ‒ mein Mitleid ist mir so im Wege ‒ weil ich nicht so sehr kräftig bin, was Herznerven betrifft. Das Gute ist, daß Fr. K. eine wirklich liebenswürdige u. geistig recht bedeutende Frau ist ‒ die viel Humor hat ‒ u. mit der ich mich sehr gut verstehe ‒ wenigstens im großen Ganzen. Sie war z.B. sehr befriedigt, daß ich ihr die Bekanntschaft v. Hartleben d.h. seiner Werke! vermittelte, von dem sie garnichts wußte ‒ jetzt wird sie Ihren Kammersänger lesen (von dem mir Karls BandeMitglieder des Dr. Heine-Ensembles. leider Ihr Dedikationsexemplarnicht überlieferte handschriftliche Widmung in einem Exemplar von „Der Kammersänger“ (1899); erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 12.3.1899. verloren hat!!) ‒ u.s.w. Sehr schwer ist mir’s, immer auf dem qui vive(frz.) auf der Hut. zu sein ‒ beim Schreiben z.B. ‒ mit einem Wort, mir nie zu gehören ‒ das strengt die Nerven so an. | In die Stadt komme ich mitunter, Besorgungen zu machen


Mittwochder 14.11.1900 (siehe oben und die Hinweise zur Datierung).. Heut hoffe ich, den Brief zu beenden. Erzählen kann ich ja auch eigentlich nicht viel ‒ nur Ihnen sagen, in welcher Art ich lebe! Wenn ich mal in der Stadt bin, komme ich mal 10 Minuten zu meinen Verwandten oder Freunden herenSchreibversehen, statt: herein. ‒ aber ‒ das ist sehr wenig u. ich habe oft Sehnsucht heraus zu kommen ‒ wissen Sie ‒ um nur mal sich wieder klar zu werden, daß es auch noch anderes giebt, als Grabkränze, Kränze und Kirchhofs-Atmosphäre. Hier in Grunewald ist es sonst wunderhübsch. Wir fahren u. gehen viel spazieren ‒ machen Gymnastik (tout comme chez-vous(frz.) genau wie zu Hause; hier wohl: alles wie bei Ihnen (Wedekind machte auch Gymnastik).) auf Wunsch des Arztes ‒ und | essen im Uebrigen recht viel ‒ ich fürchte, ich werde immer dicker! Carl hat in Preußen sehr viel Glück ‒ er hat volle Häuser u. viel Enthusiasmus, jetzt wollte er nach Rußland ‒ hat aber aufgeschoben, wegen der Krankheit des ZarenDie Presse hatte über Nikolaus II. in einer seiner Residenzen gemeldet: „Der Aufenthalt des Zaren in Livadia ist durch ärztliche Verordnung veranlaßt, da der Zar dringend Ruhe brauchte.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 514, 2.11.1900, Morgen-Ausgabe, S. 8]. Der Tag, mein Geburtstag (übrigens der 31 OktoberBeate Heine ist am 31.10.1859 geboren; ihr Vater hatte seinerzeit ihre Geburt angezeigt: „Die glückliche Entbindung meiner Frau Franziska, geb. Weimann, von einem gesunden Mädchen, zeige ich Freunden und Verwandten, statt jeder besondern Meldung, hierdurch an. Berlin, den 31. Okt. 1859. Richard Wüerst.“ [Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen (Vossische Zeitung), Nr. 255, 1.11.1859, 3. Beilage, S. 4] und nicht der 7 NovemberBeate Heine schreibt hier versehentlich das Datum von Wedekinds letztem Brief an sie, nicht das Datum 5.11.1900, das Wedekind in jenem Brief mit „vorgestern“ [Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900] als ihr vermeintliches Geburtstagsdatum angegeben hat.!!), an dem Carl hier war, war ein wirklicher Festtag ‒ u. nun hoffen wir auf Weihnachten ‒ da sind wir bestimmt bei einander ‒ wo u. wie ist noch unbestimmt! Ich glaube ‒ lieber Freund, ich habe sehr ungeordnet geschrieben ‒ nehmen Sie bitte vorlieb ‒ ich schreibe immer so in der Hast! Schreiben Sie mir mal was Gutes von sich! Wie bin ich neugierig auf Ihre Wohnung! Sie ist gewiß reizend! Ich grüße Sie mit wärmster Herzlichkeit! Ihre getreue
Beate Heine.

Frank Wedekind schrieb am 29. Dezember 1900 in München folgenden Brief
an Beate Heine

München, 29.XII.1900.


Meine liebe geehrte Freundin!

Nun sind schon bald zwei und ein halbes Jahr verflossen, seit ich nicht mehr das Vergnügen und die Freude hatte Sie zu sehen und zu sprechen. Und wie viel Ereignisse und Schicksale aller Art liegen für uns beide in diesem Zeitraum. Ueber Ihre schrecklichen Erlebnisse im Lauf dieses Herbstes hörte ich von Ihren FreundinnenWedekind hat die Damen wohl am 9.11.1900 in München besucht [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900]. hier in München. Ich hoffe nur, daß Sie sich von den Aufregungen allmählich wieder erholt haben. Ich freue mich unendlich, daß Sie die Festtage in voller Zufriedenheit und mit den schönsten Aussichten in die Zukunft genießen können. Vor drei Tagen las ich im Berliner TageblattWedekind las dort folgende Notiz: „Dr. Karl Heine, der Direktor des Ibsen-Theaters, wird im Beginn des nächsten Jahres in Berlin gastieren. Zu diesem Zweck wird er, wie wir hören, das Neue Theater in Berlin auf längere Zeit pachten und dort mit einem in Berlin noch nicht zur Aufführung gelangten Drama großen Stiles sein Ensemble einführen. Wegen der neuen bühnentechnischen Einrichtungen, die Dr. Heine für dieses Gastspiel plant, sind bereits Verhandlungen mit den maßgebenden Fachmännern im Gange.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 29, Nr. 655, 27.12.1900, Abend-Ausgabe, S. (2)] Carls definitiven Abschluß mit dem neuen Theater. Am gleichen Tage erhielt ich einige sehr liebe Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 26.12.1900. von ihm. Die Situation während seines kurzen Hierseinsnicht ermittelt. Carl Heine dürfte kurz vor dem 26.12.1900 in München gewesen sein. hatte ich sofort erfaßt, da ich ja halbwegs auf dem Laufenden war, und fürchtete nur, ihm mit einem auch nur kurzen Besuche lästig zu fallen. Um so mehr wußte ich seine Liebenswürdigkeit zu schätzen. Es hätte ihm kein Mensch anmerken können, um welch große Entscheidungen es sich in dem Augenblicke handelte, in dem wir eben mit einander sprachen. Ich erwäge nun gerade die Frage, ob ich im Monat Januar einmal nach Berlin kommen werde. Es zieht mich an allen Nervenfasern hin; ich fürchte nur das Eine, daß ich mir mehr dadurch verderbe, als ich gewinnen kann. Mein liebstes wäre, wenn ich im Lessingtheater den Kammersänger spielen kann. Ich dürste furchtbar nach Bethätigung. Neumann Hofer hat ihn angenommenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Otto Neumann-Hofer an Wedekind, 28.12.1900. Die geplante „Kammersänger“-Inszenierung verzögerte sich und Wedekind bemühte sich um eine Auflösung des Vertrags mit dem Berliner Lessingtheater (Direktion: Otto Neumann-Hofer) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 242], die erfolgreich war [vgl. Wedekind an Martin Zickel, 23.5.1901, 12.7.1901 und 6.8.1901]. Das Stück hatte dann am 31.8.1901 am Berliner Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 245] Premiere (in der Titelrolle Willy Martini) ‒ in der Vorstellung vom 8.9.1901 (Sonntag) trat Wedekind als Gerardo auf., ob er sich aber auf das Wagnis einläßt, mich spielen zu lassen, ist eine andere Frage. Immerhin glaube ich, wenn ich auch nur fünf Proben haben kann, meiner Sache vollkommen sicher zu sein.

Wie denken Sie denn, liebe Freundin, über Wolzogens Ueber-BrettlErnst von Wolzogens Buntes Theater (Überbrettl) wurde am 18.1.1901 in den Räumen der Sezessionsbühne in Berlin offiziell eröffnet [vgl. Budzinski/Hippen 1996, S. 437]. Die Eröffnung war zunächst für den 31.12.1900 angekündigt, was revidiert wurde: „Das ‚Bunte Theater‘ Ernst v. Wolzogens wird nun doch nicht am Sylvesterabend in der Sezessionsbühne zum ersten Mal vor der Oeffentlichkeit erscheinen. Herr v. Wolzogen wird bis zu diesem Termin mit allen seinen Vorbereitungen noch nicht fertig und kann seine Neuschöpfung erst gelegentlich des Goethe-Festes, das der ‚Verein zur Förderung der Kunst‘ plant, ins Leben treten lassen. Dagegen ist ein Gastspiel des ‚Bunten Theaters‘ in der Sezessionsbühne für zehn Abende gesichert. Dies Gastspiel wird am 26. Januar seinen Anfang nehmen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 29, Nr. 655, 27.12.1900, Abend-Ausgabe, S. (2)]. Ich will Gott und allen Heiligen danken, wenn ich von diesem Unternehmen vollkommen ungeschoren bleibe. Ich hatte ihm meine Mitwirkung zugesagtvgl. Wedekind an Ernst von Wolzogen, 23.12.1900., hauptsächlich im Hinblick auf meinen „Rabbi Esra“ und einige ähnliche Dinge; nun macht er aber seit Monaten eine für meinen Geschmack so ekelhafte und meines Erachtens so mörderisch schädliche ReclameSo bewarb Ernst von Wolzogen in einem gut besuchten Vortrag am 11.12.1900 in Berlin sein demnächst eröffnendes Kabarett etwa mit dem Hinweis auf die Pariser Cabarets: „In Paris habe sich der Versuch gelohnt. Aus den geistreichen und übermüthigen Tollheiten der intimen Künstlerkreise seien die Cabarets entstanden, in denen ohne den gewöhnlichen Zubehör der Spezialitätenbühnen nur die künstlerische Form und der künstlerische Gedanke wirkten, und wo mit Freimuth alle Zustände des Staates und der Gesellschaft von den jungen Poeten gegeißelt würden. Freilich, so weit wie in Paris wären wir noch nicht. Bei uns empfinde man noch nicht so intensiv künstlerisch, daß man über der Form und der Grazie des Gebotenen den Stoff ohne Weiteres übersehe. Gewagte Szenen, wie sie in einigen dieser Cabarets vorgeführt würden, wären in Berlin unmöglich. Aber etwas Aehnliches ließe sich doch schaffen. [...] Ebenso wie sich erste und echte Dichter gefunden, die an dem Werke mitthun wollen, so würde es auch an einem echten Publikum nicht fehlen. Und die Polizei, die Mancher vielleicht als die größte Gefahr jeder freieren Kunstbethätigung betrachte, würde das Ueberbrettl, wie man hoffen dürfe, mit liebenswürdigem Entgegenkommen als einen ‚Ausnahmefall‘ behandeln. So könne man denn frohen Muthes und frohen Sinnes in die Zukunft gehen und als Motto das vergnügte Tralala der lustigen Zechlieder auf die Fahne schreiben.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 29, Nr. 630, 12.12.1900, Morgen-Ausgabe, S. (3)], daß mir alle Lust vergangen ist und ich fest entschlossen bin, mich um dieses gefährliche Vergnügen herum zu drücken. Heute bekomme ich eine Anfragenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Akademischer Verein für Kunst und Literatur an Wedekind, 28.12.1900. ‒ Eine Aufführung des Lustspiels „Die junge Welt“ durch den Akademischen Verein für Kunst und Literatur in Berlin kam nicht zustande. von dem Akademisch-dramatischen Verein in Berlin, der die „Orestie“ gegebenDie Presse meldete (am selben Tag wie der vorliegende Brief): „Auch die gestrige Nachmittagsaufführung der ‚Orestie‘ im Theater des Westens war völlig ausverkauft. Der Andrang war so groß, daß sogar in den Räumen zu beiden Seiten des Parkets und, so weit es anging, im Orchester das Publikum placirt werden mußte. Wie wir hören, beabsichtigt der ‚Akademische Verein für Kunst und Literatur‘ noch einige Wiederholungen des Werkes, die allerdings von dem Erfolg besonderer Vereinbarungen mit den betheiligten Bühnenleitungen (Hoftheater, Deutsches Theater und Lessing-Theater) abhängig sein werden.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 29, Nr. 659, 29.12.1900, Abend-Ausgabe, S. (2)] Premiere der Inszenierung der antiken Tragödie des Aischylos in der Übersetzung von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff durch den Akademischen Verein für Kunst und Literatur unter der Leitung von Hans Oberländer war am 22.11.1900 im Theater des Westens in Berlin. hat, ob sie zu einer Faschings-Veranstaltung meine „Junge Welt“ aufführen dürfen, da sie auf der Suche nach etwas Literarisch-Parodistischem seien und die „Junge Welt“ außerdem auch die Frauenfrage behandle und außerdem die Schulmeisterstücke doch gerade Mode seien. Nun hatte sich wegen der Jungen Welt Emanuel Reicher vor zwei Monaten in einigen äußerst liebenswürdigen Briefennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emanuel Reicher an Wedekind, 1.10.1900 (und wohl mindestens zwei weitere nicht überlieferte Briefe etwas früheren Datums). ‒ Eine Aufführung des Lustspiels „Die junge Welt“ durch Emanuel Reicher an der Hochschule für dramatische Kunst in Berlin kam nicht zustande. an mich gewandt, er wollte sie mit seiner dramatischen HochschuleEmanuel Reichers Hochschule für dramatische Kunst in Berlin (Lessingstraße 5) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1901, Teil I, S. 1289] ‒ im Herbst 1899 von Emanuel Reicher begründet (der Unterricht dieser privaten Hochschule hatte in noch provisorischen Räumen am 1.11.1899 begonnen). geben und machte mir Vorschläge zu einigen ganz unbedeutenden Aenderungen. Seither hat er aber nichts mehr von sich hören lassen. Was soll ich thun? Ich kenne die Berliner Verhältnisse so wenig und tappe derart im Finstern, daß ich voraussichtlich thun werde, was ich gewöhnlich thue, nämlich nichts.

Die nächste Anregung zu irgend welcher Aktivität erwarte ich jetzt von Wien. Eisenschütz, der Dramaturg des Jarno-TheatersOtto Eisenschitz, Dramaturg am Theater in der Josefstadt (Direktion: Josef Jarno) in Wien [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 550], plante Wedekinds „Marquis von Keith“ zu inszenieren [vgl. Wedekind an Otto Eisenschitz, 3.12.1900]. Die Presse hatte gemeldet: „Director Jarno hat das neueste Werk Wedekind’s ‚Marquis von Keith‘ zur Aufführung im Theater in der Josefstadt angenommen.“ [Neues Wiener Journal, Jg. 8, Nr. 2523, 1.11.1900, S. 8] Die Wiener Premiere am Theater in der Josefstadt fand dann allerdings erst am 30.4.1903 statt., will mich nach Neujahr besuchen, um wegen Besetzung des Marquis v. Keith zu sprechen. Leider ist das Stück in Berlin MeßthalerEmil Meßthaler war Eigentümer, Direktor und Oberregisseur des am 22.12.1900 eröffneten Intimen Theaters in Nürnberg und zugleich im kommenden Sommer (15.6.1901 bis 15.8.1901) Direktor des Neuen Theaters in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 461], wo „Marquis von Keith“ uraufgeführt werden sollte; der Plan zerschlug sich (eine Aufführung des „Marquis von Keith“ kam bei Emil Meßthaler erst 1903 zustande). in die Hände gefallen. Es wird eine Ewigkeit dauern, bis er es herausbringt. Damit ist alles erschöpft, was meine momentanen Interessen sind. Warum ich Ihnen das so ausführlich schreibe? Ich denke mir, weil Sie selber in Berlin sind, mag es Sie interessiren. Ich glaube auch, daß es für Carl keinerlei Gefahr hat, wenn ich im Lessingtheater spiele. Mißlingt es, dann trägt er keine Verantwortung. Gelingt es aber, dann bin ich als Schauspieler seine Schöpfung; sein Schüler und der Kammersänger ist ihm speciell gewidmetWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ (1899) enthält die gedruckte Widmung: „Dem Meister deutscher Bühnenkunst Dr. Carl Heine in treuer Freundschaft gewidmet.“ [KSA 4, S. 333]. Nun schreiben Sie mir bitte, wie es Ihnen geht, wie Sie leben in der Hochfluth der Saison. Ich denke mir, daß Sie jetzt jeden Abend einer anderen großen Sensation beiwohnen. Grüßen Sie bitte Carl auf das allerherzlichste. Ich sende Ihnen die allerbesten Wünsche zum neuen Jahr und für alle Zukunft und gratulire Ihnen aufrichtig dazu, daß Sie das langersehnte Ziel endlich glücklich erreicht haben. ‒ Mit herzlichsten Grüßen Ihr Ihnen sehr ergebener
Frank.

Beate Heine schrieb am 20. Mai 1901 folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Carl Heine vom 7.8.1901 aus München:]


Ich weiß aus einem lieben Brief Ihrer Frau Gemahlin, wie schwere Zeit Sie diesen Frühling durchgemacht haben [...]

Frank Wedekind schrieb am 21. Mai 1901 in München folgenden Brief
an Beate Heine

München, 21.V.1901.


Meine liebe verehrte Freundin!

Ich freue mich unendlich, Sie und Ihren lieben Mann wieder an einem Ort der Erholungnicht ermittelt. und der Ruhe zu wissenHinweis auf einen nicht überlieferten Brief [vgl. Wedekind an Carl Heine, 7.8.1901]; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 20.5.1901. Beate Heine hat Wedekind von den beruflichen Anstrengungen ihres Mannes und der Erholung danach berichtet.. Noch vor einigen Wochen las ich von Gastspielen des Dr. Heine Ensembles, wenn ich mich recht erinnere in EssenCarl Heine gastierte während seiner letzten Tournee mit seinem Ensemble (unter den Schauspielern inzwischen Leopold Jessner) am Stadttheater in Essen zunächst am 13.3.1901: „Mittwoch gastiert in unserem Stadttheater das [...] bekannte Dr. Heine-Ensemble. [...] Das Ensemble des Herrn Dr. Heine genießt hier einen vorzüglichen künstlerischen Ruf“ [Essener Volks-Zeitung, Jg. 34, Nr. 59, 12.3.1901, S. (2)]; angezeigt war: „Stadt-Theater Essen. Direktion: Hans Gelling. [...] Mittwoch, den 13. März [...] Einmaliges Gastspiel des Dr. Heine-Ensemble. Ueber unsere Kraft. Schauspiel von Björnson.“ [Essener Volks-Zeitung, Jg. 34, Nr. 60, 13.3.1901, S. (4)] Ein weiteres Gastspiel am Stadttheater in Essen fand am 2.4.1901 statt, wie angezeigt war: „Dienstag, den 2. April [...]. Einmaliges Gastspiel des Dr. Heine-Ensemble. Gespenster. Schauspiel von Ibsen.“ [Essener Volks-Zeitung, Jg. 34, Nr. 76, 2.4.1901, S. (2)] an der Ruhr. Jedenfalls wird es Herrn Doktor angenehm sein, wenn er das schlechte Sommergeschäft nicht zu machen braucht und dafür Gelegenheit hat, sich auszuruhen und frische Kräfte zu sammeln. Was mich anbetrifft, so bin ich seit einem halben Jahre fortwährend auf dem Sprung, nach Berlin zu fahren, ohne daß jemals Ernst daraus wird. Jetzt steht das dortige Meßthaler GastspielEmil Meßthaler, Direktor des Intimen Theaters in Nürnberg, gastierte vom 15.6.1901 bis 15.8.1901 als Direktor am Neuen Theater in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 461], wo „Marquis von Keith“ uraufgeführt werden sollte; der Plan zerschlug sich., ich weiß nicht mehr in welchem Theater, vor der Thür, wobei mein Marquis v. Keith das Lampenlicht erblicken soll. Jetzt werde ich nun Berlin wol wiedersehen, vorausgesetzt, daß nicht wieder was dazwischen kommt. Vor drei Jahren um diese Zeit saßen wir bei ziemlich trübem Wetter in StettinStettin war im Frühjahr 1898 eine Station der Tournee des Ibsen-Theaters von Carl Heine, dessen Ensemblemitglied Wedekind war. und führten Nora auf; heute singe ich im hiesigen Ueberbrettldie Elf Scharfrichter in München, deren eigentliche Eröffnungsvorstellung am 12.4.1901 stattfand – „Mit der Ehrenexekution des gestrigen Abends hat das sogenannte ‚Ueberbrettl‘ auch in München seinen Einzug gehalten“ [Die elf Scharfrichter. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 104, Nr. 102, 13.4.1901, Abendblatt, S. 1] – und deren offizielle Eröffnungsvorstellung am 13.4.1901 Wedekind besucht hat [vgl. Wedekind an Bertha Doepler, 14.4.1901]. Wedekind war Mitglied der Elf Scharfrichter und trat dann regelmäßig mit seinen Liedern auf: „Das bisher schon so reichhaltige Programm hat durch Anreihung eines ‚inoffiziellen‘ Theiles eine schätzenswerthe Bereicherung erfahren. [...] Wedekind – er gab uns einige echte Wedekinds. Seine ‚Brigitte B.‘ und die ‚Sieben Rappen‘ sind in der Form so vollendet gehalten, daß man es hinnehmen kann, daß der Inhalt ‚jenseits von Dezent und Indezent‘ liegt. Dabei verfügt Herr Wedekind über eine bewunderungswürdige Ruhe im Vortrage, eine Ruhe, die selbst ängstlichen und prüden Gemüthern über etwaige Gewissensbisse leicht hinweghilft.“ [Die Elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 195, 26.4.1901, Morgenblatt, S. 3] Inzwischen stand ein neues Programm an: „Die letzte Vorstellung des laufenden Programms findet Mittwoch, 22. Mai statt. [...] Dieses gelangt gleich nach Pfingsten zur ersten Aufführung und wird [...] enthalten [...] neue Solovorträge von [...] Frank Wedekind“ [Die elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 234, 21.5.1901, Vorabendblatt, S. 4]. meine Gedichte und Compositionen und schlage die Guitarre dazu. O quae mutatio rerum(lat.) Oh, dass sich die Dinge ändern.! Unser hiesiges Ueberbrettl ist nach dem allgemeinen Urtheil um vieles geschmackvoller und künstlerischer als das WolzogenscheErnst von Wolzogens Buntes Theater (Überbrettl), das am 18.1.1901 in Berlin eröffnet wurde [vgl. Budzinski/Hippen 1996, S. 437]. in Berlin. In Berlin schießen diese Institute jetzt aber wie die Pilze aus dem Boden. Sämmtliche Nummern und Productionen der hiesigen Scharfrichter sind für den kommenden Winter schon für Berlin gewonnen; und täglich kommen neue Anerbietungen und Werbungen von Berlin. Ich glaube, es wird dort über kurz oder lang eine schwere Krisis über diesen ganzen Plunder hereinbrechen. Aehnlich scheinen die Verhältnisse gegenwärtig in DarmstadtWährend Ernst von Wolzogen mit seinem Bunten Theater (Überbrettl) bereits im Rahmen der am 15.5.1901 eröffneten ersten Ausstellung der Künstlerkolonie in Darmstadt gastierte, traten die Elf Scharfrichter erst vom 26. bis 30.7.1901 dort auf, im Spielhaus der Künstlerkolonie; über den Premierenabend wurde berichtet: „Im Spielhaus begannen gestern abend die ‚Elf Scharfrichter‘ aus München ein auf drei Abende vorgesehenes Gastspiel. [...] Herr Frank Wedekind würde sein Publikum zu Dank verpflichten, wenn er künftig die [...] Balladen, die sich durch eine tadelnswerte Rücksichtslosigkeit gegen das Schicklichkeitsgefühl auszeichnen, aus der Liste seiner Darbietungen für Darmstadt streichen würde.“ [Darmstädter Zeitung, Jg. 125, Nr. 348, 27.7.1901, Nachmittags-Blatt, S. 1497] Das Gastspiel in Darmstadt wurde verlängert und anschließend in Kreuznach und Ems fortgesetzt. zu liegen, wo das erste Programm schon mit Pauken und Trompeten ins Wasser gefallen ist. Vorgestern war ein Mannnicht identifiziert. hier, um Productionen für den Monat August zusammenzusuchen, und zwar das allerexzentrischste. Ich habe ihm meine Kaiserin von Neufundland mitgegeben. Jetzt wird sie dem GroßherzogErnst Ludwig von Hessen hatte die Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt 1899 initiiert. zur Begutachtung vorgelegt. Nimmt mich Wunder, was daraus wird. Diesen Frühling, als die ersten schönen Tage kamen, begann ich wieder einmal an einem Stück„Blanka Burkhart“ [vgl. KSA 4, S. 317-319] blieb Fragment. zu schreiben; ich habe die Arbeit aber bald wieder beiseite gelegt. Ich weiß augenblicklich nicht, nach welcher Richtung ich mich wenden soll; ich muß erst wissen, wie der Marquis von Keith aufgenommen wird, um mir darüber klar zu sein, ob ich einen Schritt vorwärts gehen darf oder noch einmal zurückdämmen muß. So beschäftige ich mich denn hauptsächlich damit, für meine Gedichte aus der „Fürstin Russalka“ Melodien zu finden, die ich selber harmonisire so gut ich das eben kann. Es ist keine übermäßig anstrengende Arbeit. Daneben sorgt Max Halbe ununterbrochen für die nöthige UnterhaltungAnspielung auf Max Halbes Unterströmung [vgl. Gräbner/Lauinger 2021, S. 536f.] – „Der Geselligkeit diente Max Halbes zur Kegelbahn gewordene ‚Unterströmung‘“ [Kutscher 2, S. 74] – und auf die „kleine Tafelrunde, zu der Wedekind, Graf Keyserling, Halbe [...] gehörten. [...] Oft, wenn wir, Wedekind, Martens und ich, nachts den Heimweg antraten, und Keyserling [...] einen Wagen bestieg und seine Zigarette zwischen den dünnen Lippen, mit seitwärts und uns Fußgängern abgewandtem Gesicht in dem nächtlichen Einspänner vorbeifuhr, sagten wir uns: ‚Seht ihr – das ist der innere Zusammenhang!‘“ [Holitscher 1924, S. 192] ; immer muß etwas los sein. Der Wahlspruch dieser Gesellschaft, in der der Graf KeyserlingMax Halbes Freund Eduard von Keyserling, dessen Stück „Ein Frühlingsopfer“ (1900) am 23.8.1900 am Münchner Schauspielhaus Premiere gehabt hatte, nachdem es am 12.11.1899 im Berliner Lessingtheater durch die Freie Bühne öffentlich uraufgeführt worden war, zählte wie Max Halbe zu Wedekinds engerem Münchner Freundeskreis. „Näher standen ihm – außer Weinhöppel – wohl nur Halbe und Keyserling. Es verging keine Münchner Woche, in der er nicht wenigstens 3–4mal mit diesen zusammenkam in harmloser, genußfroher Stunde.“ [Kutscher 2, S. 74], der Verfasser von Frühlingsopfer, eine führende Rolle spielt, lautet: Man muß die Feste feiern wie sie fallen, und da so ziemlich auf jeden Tag ein Fest fällt, kommt man nur mit größter Mühe einmal aus dem Feiern heraus. Uebrigens würden Sie sich meiner Ueberzeugung nach unendlich wohl unter diesen Leuten fühlen. Vielleicht überlegt Carl sich die Frage, ob es nicht vielleicht geschäftlich von Vortheil wäre, auf einige Wochen nach München zu kommen. München ist, nächst dem Westen Berlins, um diese Zeit entschieden die schönste Stadt Deutschlands. Das wäre herrlich, wenn wir hier in dieser behaglichen Münchener Stimmung die Abende zusammen auf den Kellernin den Biergärten. verbringen könnten. Ich lege mein Bildnicht überliefert (ein wohl aktuelles Foto Wedekinds). bei, nicht aus Eitelkeit, es ist das erste und einzige seit zehn Jahren; aber ich möchte um alles nicht, daß Sie es zuerst bei jemand anders sehen, bevor Sie es aus eigener Anschauung kennen.

Ich bitte Sie, meine liebe Freundin, Karl auf das allerherzlichste von mir zu grüßen. Mit den besten Grüßen und aufrichtigsten Wünschen bin ich Ihr Ihnen stets ergebener
Frank.

Frank Wedekind schrieb am 10. März 1902 in München folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


München, 10.III.1902.


Hochgeehrte liebe Freundin!

Sie hätten längst schon Nachricht von mir bekommen, wenn ich Ihnen irgend etwas wirklich Erquickliches über mich zu schreiben gehabt hätte. Aber die längste Zeit dieses Winters brachte ich in trübseligem Hinbrüten zu; besonders in Folge der schmählichen Darstellung und des lächerlichen Durchfallsdie Uraufführung des „Marquis von Keith“ am 11.10.1901 im Rahmen des 2. Literarischen Abends am Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg) in Berlin unter der Regie von Martin Zickel (mit Fritz Gerhard in der Titelrolle, Marie Reisenhofer als Anna von Werdenfels und Fritz Spira als Ernst Scholz), die Fritz Engel „eine fröhliche Leiche“ [F.E.: Literatur im Residenztheater. „Marquis von Keith“ von Frank Wedekind. In: Berliner Tageblatt, Jg. 30, Nr. 519, 12.10.1901, Morgen-Ausgabe, S. (2)] nannte. Siegfried Jacobsohn meinte in der „Welt am Montag“ vom 14.10.1901: „Frank Wedekind ist in Berlin durchgefallen. Die Premierenrotte [...] hat ihn ausgelacht, [...] weil sie für Unvermögen, für unfreiwillige Komik hielt, was feinstes Raffinement und hohnvoller Zynismus ist.“ [KSA 4, S. 542] Nur wenige Kritiker lasteten den Misserfolg nicht dem Stück, sondern der Inszenierung an, die nach drei Vorstellungen abgesetzt worden sein soll [vgl. KSA 4, S. 534]; das ist nicht nachweisbar, die Presse sprach von einer „einmaligen Aufführung des Schauspiels ‚Marquis von Keith‘ von Frank Wedekind“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 477, 11.10.1901, Morgen-Ausgabe, S. 7]. meines Marquis v. Keith. Dieses Stück ist mir unter allem was ich bis jetzt produzirt habe, das liebste und ich glaube mit einigem Recht, da am meisten darin enthalten ist. Daß es mit den Kräften des Residenztheaters nicht zu geben war, wußte ich im voraus. Aber unser lieber Freund Zickel ließ sich in seinem Vernichtungsdrang nicht aufhalten. An dieses Berliner Fiasko schloß sich mein grandioser DurchfallWedekind trat am Eröffnungsabend des von Felix Salten gegründeten Jung-Wiener Theaters Zum lieben Augustin im Theater an der Wien am 16.11.1901 (sowie in den Tagen darauf, bis 22.11.1901) mit dem Vortrag eigener Lieder auf und stieß beim Publikum auf völliges Unverständnis. in Wien, den ich mir weit weniger zu Herzen nahm, zumal ich damals, um meine Gefühle auszudrücken, mit einem Stück beschäftigt war und Abend für Abend, nachdem man mich im Theater an der Wien verhöhnt hatte, in der nächsten Bierkneipe gemüthlich weiterschrieb. Dieses Stück hat nun hier vor 14 TagenDie Uraufführung von „So ist das Leben“ („König Nicolo“) am 22.2.1902 am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) durch den Akademisch-Dramatischen Verein [vgl. KSA 4, S. 632] rief unterschiedliche Reaktionen hervor; Hanns von Gumppenberg zufolge „spaltete sich“ das Publikum „in zwei feindliche Parteien, eine enthusiastisch anerkennende und eine ebenso heftig widersprechende“ [KSA 4, S. 636]. Max Halbe hielt am 23.2.1902 zum Premierenabend fest: „Mit einer ‒ nicht nur in München unerhörten Heftigkeit platzten die Gegensätze im Publikum aufeinander und noch eine Viertelstunde nach Schluß des Stücks setzten sich die Demonstrationen für u. wider den Dichter im Zuschauerraum fort. Um ein Haar wäre es zu Thätlichkeiten gekommen. Wedekind erschien nach dem Fallen des eisernen Vorhangs in der Direktionsloge, v.d. Einen leidenschaftlich gefeiert, von den Andern ebenso leidenschaftlich mit Pfeifen u. Zischen bekämpft.“ [KSA 4, S. 635] das Licht der Rampe erblickt, aber ob es sich halten wird ist noch sehr die Frage. Wenn’s gedruckt ist, erhalten Sie es sofort. Mein ganzes inneres Getriebe werden Sie deutlicher daraus erkennen, als ich es Ihnen hier schildern könnte. Denn zu alledem kommt nun seit 10 Monaten mein allabendliches Auftreten als BänkelsängerWedekind trat als Ensemblemitglied der Elf Scharfrichter auf und trug seine Lieder zur Laute vor., eine Rolle, die mir entsetzlich ist und die es Ihnen gleichfalls wäre, wenn Sie mich darin sähen. Aber sie bringt Geld und ich lebe davon. Ueber Sie und über Carls ThätigkeitCarl Heine war seit dem Vorjahr als Oberregisseur am Deutschen Schauspielhaus (Direktion: Alfred von Berger) in Hamburg tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 374]. in Hamburg habe ich nur Erfreuliches gehört. Allerdings munkelte man, daß Berger etwas verkitscht sei, aber um so selbstverständlicher wird sich Carl dafür auf seinem Gebiete der ernsten Kunst bei ihm stellen können. Wie gerne würde ich wieder einige Zeit in Ihrer Nähe leben, wie gerne würde ich wieder einmal unter Carls Leitung und Führung arbeiten. Aber meine RevenuenEinkünfte. sind noch immer nicht der Art, daß ich mich frei bewegen kann. Man hofft und hofft und hofft von einem Durchfall zum andern, von einem Scheinerfolg zum andern. Jetzt sind es ungefähr vier Jahre herWedekinds Engagement an Carl Heines Ibsen-Theater 1898 in Leipzig., daß ich zu Ihnen in Ihre Obhut nach Leipzig kam. Das war der glückliche Umschwung in meinem Dasein, aber wie langsam dieser Weg aufwärts führt, davon hätte ich mir nie etwas träumen lassen. Und so wird man alt und dick. Ich sehne mich von ganzem Herzen zurück nach großen Rollen, nach anstrengender und erschöpfender Bethätigung. In Ermangelung solcher Genüsse sucht man Trost in den Armen des Bieres und der Kummerspeck setzt sich an.

Letzten HerbstWedekind dürfte die Schauspieler Max Henze und Arthur Waldemar, die er aus seiner Zeit beim Ibsen-Theater in Leipzig kannte, im Zusammenhang mit der Uraufführung des „Marquis von Keith“ am 11.10.1901 im Residenztheater in Berlin (siehe oben) getroffen haben. traf ich am Berliner Residenztheater Waldemar sowohl wie Henze; Waldemar voll hochfliegender Pläne wie immer, Henze mit seinem Geschicke hadernd. Henze und ich schmiedeten damals den Plan in Wien, bei JarnoJosef Jarno war Direktor des Theaters in der Josefstadt [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 563]. Die Wiener Premiere des „Marquis von Keith“ fand dann tatsächlich dort statt, am 30.4.1903 mit großem Erfolg unter der Regie von Josef Jarno, der auch die Titelrolle spielte. zusammen die Hauptrollen im Marquis von Keith zu spielen, aber die hereinbrechenden Durchfälle machten sehr bald alle Entwürfe zu nichte, obschon ich die Ueberzeugung habe, daß unter bescheidenen Verhältnissen das Stück mit dieser Besetzung unbedingt Erfolg haben müßte. Aber wer lernt je zwischen Ueberzeugung und Pläsir unterscheiden. Jetzt sehe ich übrigens wieder einer kleinen Aufregung entgegen. Uebermorgenam 12.3.1902, an dem die Uraufführung von Wedekinds Tanzpantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897) bei den Elf Scharfrichtern in München stattfand [vgl. KSA 3/II, S. 794]. Beate Heine dürfte noch in Erinnerung gehabt haben, dass die von der Literarischen Gesellschaft in Leipzig in Aussicht genommene Aufführung [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 9.10.1897] nicht zustande gekommen war und Wedekind die Pantomime auch während seines Aufenthalts in Paris 1898/99 nicht auf einer Bühne hatte unterbringen können [vgl. Beate Heine an Wedekind, 20.12.1898 und 20.1.1899]. soll bei den Scharfrichtern hier die Kaiserin von Neufundland in Scene gehen, natürlich auf das allernothwendigste zusammen gestrichen, da unsere Bühne für nicht mehr als fünf Menschen auf einmal Platz hat. Die Sache hat viel Arbeit gekostet, aber im schlimmsten Fall kann der Schaden wenigstens nicht groß sein.

Grüßen Sie Carl bitte aufs herzlichste von mir. Meine aufrichtigsten besten Wünsche begleiten meinen lieben Lehrmeister und Freund auf jedem seiner Schritte. Sehen wir uns diesen Sommer vielleicht in München? Seien Sie aufs beste gegrüßt, liebe Freundin, von Ihrem alten treu ergebenen
Frank.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Sie hätten längst schon Nachricht von mir bekommen, wenn ich Ihnen irgend etwas wirklich Erquickliches über mich zu schreiben gehabt hätte. Aber die längste Zeit dieses Winters brachte ich in trübseligem Hinbrüten zu; besonders in Folge der schmählichen Darstellung und des lächerlichen Durchfalls meines Marquis v. Keith. Dieses Stück ist mir unter allem was ich bis jetzt produziert habe das liebste und ich glaube mit einigem Recht, da am meisten darin enthalten ist. Daß es mit den Kräften des Residenztheaters nicht zu geben war, wußte ich im voraus [...] An dieses Berliner Fiasko schloß sich mein grandioser Durchfall in Wien, den ich mir weit weniger zu Herzen nahm, zumal ich damals, um meine Gefühle auszudrücken, mit einem Stück beschäftigt war und Abend für Abend, nachdem man mich im Theater an der Wien verhöhnt hatte, in der nächsten Bierkneipe gemütlich weiterschrieb. Dieses Stück hat nun hier vor 14 Tagen das Licht der Menge erblickt aber ob es sich halten wird ist noch sehr die Frage. Wenn es gedruckt ist, erhalten Sie es sofort. Mein ganzes inneres Getriebe werden Sie deutlicher daraus erkennen, als ich es Ihnen hier schildern könnte. Denn zu alledem kommt nun seit 10 Monaten mein allabendliches Auftreten als Bänkelsänger, eine Rolle, die mir entsetzlich ist und die es Ihnen gleichfalls wäre, wenn Sie mich darin sähen. Aber sie bringt Geld und ich lebe davon [...]

Beate Heine schrieb am 23. Juli 1902 in Tiefenort folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 5.8.1902 aus München:]


Herzlichen Dank für Ihren Geburtstagsbrief [...]

Frank Wedekind schrieb am 5. August 1902 in München folgenden Brief
an Beate Heine

München, 5.VIII.1902.


Meine liebe theure Freundin!

Herzlichen Dank für Ihren Geburtstagsbriefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 23.7.1902. ‒ selbstverständlich der einzige, den ich erhalten habe. Wenn es mir die Verhältnisse erlaubten, dann käme ich zu Ihnen nach Tiefenort. So aber bin ich, ohne daß es mir gerade besonders gut oder schlecht geht, an München gefesselt, besonders in dieser todten Zeit, wo die Einkünfte spärlich fließen und man daher gut thut, den Quellen nahe zu bleiben. Meine BücherWedekinds aktuell in Buchausgaben erschienene Stücke „So ist das Leben“ (1902), vor einigen Wochen im Albert Langen Verlag in München herausgekommen [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 148, 30.6.1902, S. 5327], und wahrscheinlich „Die Büchse der Pandora. Tragödie in drei Aufzügen“ (1903), nach dem Erstdruck in der Zeitschrift „Die Insel“ [Jg. 3, Nr. 10, Juli 1902, S. 19-105] im Verlag Die Insel in Leipzig in einer geringen Anzahl von Exemplaren hergestellter Sonderdruck als erste, nichtöffentliche Ausgabe in Buchform [vgl. KSA 3/II, S. 861]. hätten Sie langst erhalten, wenn ich nicht wieder einmal mit Albert Langen in schweren ConflictenWedekind hatte seit Jahren Konflikte mit seinem Verleger (siehe seine Korrespondenz mit Albert Langen und dem Albert Langen Verlag), zuletzt wegen des Bühnenvertriebs seiner Stücke [vgl. Wedekind an Theaterdirektoren, 4.4.1902]. läge, so daß ich den Verlag nicht gut besuchen kann. Ich hoffe indessen daß die Spannung in acht bis 14 Tagen überstanden ist. Dann werden Sie die beiden Stücke sofort erhalten. ‒ Sie fragen mich, wie es mir geht. Darüber weiß man selber eigentlich am allerwenigsten Bescheid. Jedenfalls geht es mir noch immer nicht so, daß ich schreiben und arbeiten könnte, was ich gerne wollte und was ich der Welt zu sagen habe. Ich bedauere es sehr, daß ich Sie in Berlin nicht gesehenBeate Heine war offenbar während Wedekinds Gastspiel vom 14. bis 26.5.1902 in Berlin (siehe unten), zu dem er am 5.5.1902 in der Stadt eintraf [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1902], zu Besuch in Berlin, wie sie Wedekind in ihrem Geburtstagsbrief (siehe oben) geschrieben haben dürfte. habe, aber auch dort war ich meist in recht misanthropischer Stimmung, denn auch jener Monat Mai, den ich bei Wolzogen verbrachteWedekind hatte vom 14. bis 26.5.1902 ein Gastspiel an Ernst von Wolzogens Buntem Theater (Überbrettl) in Berlin (Köpenickerstraße 67/68) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 269], sein erster Brettlauftritt in der Stadt. Er sprach den Prolog zum „Erdgeist“ und bot zusammen mit Elsa Laura von Wolzogen seinen Dialog „Rabbi Esra“, sang aber nicht, „wie er es sonst pflegt, zu Guitarrenbegleitung eines seiner kecken, prächtigen Lieder“ [Berliner Tageblatt, Jg. 31, Nr. 242, 15.5.1902, Morgen-Ausgabe, S. (2)]., war weder ein Honig- noch ein Wonne-MondHonigmond = die ersten Wochen nach der Hochzeit, Flitterwochen; Wonnemond = der fünfte Monat des Jahres (Mai). für mich. Mein einziges Problem war, mich wenigstens nicht öffentlich zu blamiren; ein hervorragender Erfolg war vor einem Publikum, wie es bei Wolzogen verkehrt, von vornherein ausgeschlossen. ‒ Armer Wolzogen. Zu allem Unglück kam ich noch gerade in die Zeit, wo er von seinem eigenen Unternehmen abgesägtErnst von Wolzogen, vom Konkurrenzdruck durch die inzwischen zahlreichen anderen Kabaretts und von der Presse getrieben, trat als Direktor des von ihm begründeten und anfangs erfolgreichen Bunten Theaters (Überbrettl) zurück, erklärte dies auch in einem offenen Brief vom 21.5.1902 an die Presse [vgl. Die Zukunft des „Bunten Theaters“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 31, Nr. 252, 21.5.1902, Abend-Ausgabe, S. (2)], um nur noch im Hintergrund als künstlerischer Berater zu wirken; offiziell vertraten ihn Martin Zickel und Marcell Salzer [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 269]. „Auf Anraten geschäftstüchtiger Unternehmer hatte Wolzogen das Theater in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Als deren Aufsichtsrat eine Anpassung an den breiten Publikumsgeschmack auf Kosten der literarischen und künstlerischen Qualität durchsetzen konnte, wurde Wolzogen zuerst ‚beurlaubt‘ und schied zu Beginn der Spielzeit1902 ganz aus.“ [Budzinski/Hippen 1996, S. 400f.] wurde. Der Anblick dieses Schauspiels war ebenso unerquicklich wie mitleiderweckend. So ist es denn mit der ganzen Ueberbrettelei ungefähr ebenso gegangen wie ich von vornherein voraussah und fürchtete. Ob sich unsere Elf Scharfrichter im nächsten Winter noch halten werden ist eine Frage, die sich nur durch das Experiment entscheiden läßt. Immerhin boten sie mir eine leichte Gelegenheit, den täglichen Unterhalt zu verdienen, ohne mich dabei allzusehr zu compromittiren. Die größte Freude war mir dabei die Aufführung meiner „Kaiserin von Neufundland“, natürlich ohne Comparserie und mit einer von mir selbst zusammengestellten Potpourri-MusikWedekind hatte für die Uraufführung seiner Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897) am 12.3.1902 bei den Elf Scharfrichtern in München (Türkenstraße 28), auf seine musikalischen Pläne von 1897 (zur nicht zustande gekommenen Aufführung bei der Literarischen Gesellschaft in Leipzig) zurückgreifend, die dafür notwendigen musikalischen Arrangements festgelegt, die im Notizbuch teilweise in einer Liste zur musikalischen Begleitung zu den Bildern I bis III und Noten erhalten sind [vgl. KSA 3/II, S. 794, 798].. Der Eindruck war indessen ein vollendet künstlerischer, da die beiden HauptrollenBei der Uraufführung der Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ am 12.3.1902 bei den Elf Scharfrichtern in München (siehe oben) spielte Tilly Brannenburg die Titelrolle „Fillisa XXII., Kaiserin von Neufundland“ und Heinrich Kunolt die männliche Hauptrolle „Eugen Holthoff, der stärkste Mann der Welt“ [Programm Die Elf Scharfrichter, März-April 1902, S. 3]. so gut besetzt waren, wie ich es mir von keiner großen Bühne besser wünschen könnte. Demgegenüber nagt ununterbrochen der Kummer über die absolute ErfolglosigkeitWedekind hatte noch immer den Durchfall seines „Marquis von Keith“ am 11.10.1901 bei der Uraufführung im Residenztheater in Berlin vor Augen. meines Marquis von Keith an mir, den ich für weitaus das beste halte, was ich bis jetzt überhaupt geschrieben. Deshalb habe ich mich jetzt auch entschlossen, ihn zu Beginn der nächsten Saison selber zu spielenWedekind spielte bei der Premiere des „Marquis von Keith“ am Münchner Schauspielhaus am 20.10.1902 (eine geschlossene Vorstellung unter seiner Regie, veranstaltet vom Akademisch-Dramatischen Verein) die Titelrolle. ‒ wo kann ich Ihnen noch nicht verrathen. Es wird ein Sieg oder eine fürchterliche Niederlage.

Und nun leben Sie wohl, meine theuere verehrte Freundin. Grüßen Sie Carl aufs herzlichste. Ich sende mit gleicher Post ein Buch an ihnHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 5.8.1902. Das Buch ist nicht ermittelt., das ihm einigermaßen bekannt erscheinen wird. Seien Sie selber herzlichst gegrüßt von Ihrem ergebensten
Frank Wedekind.

Frank Wedekind schrieb am 18. März 1903 in München folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


München, 18.III.1903.


Liebe verehrte Freundin!

Wie sehr hatte ich gehofft, Sie gelegentlich der Scharfrichter-Tournée wiederzusehenEin Wiedersehen Wedekinds mit Beate Heine stand in Aussicht, da im Zuge der Tournee der Elf Scharfrichter ein Gastspiel in Hamburg im Theatersaal des Sagebielschen Etablissements angekündigt war (Wedekind namentlich genannt), das am 9.3.1903 begann und dann ohne Wedekind stattfand (wegen des im vorliegenden Brief erwähnten Zerwürfnisses). Die Presse schrieb: „Pech war es [...], daß nicht alle elf Scharfrichter anwesend sein konnten, daß unter den abwesenden gerade einer der Eigenartigsten und Ausgeprägtesten des Kreises, Frank Wedekind, sich befand.“ [B.: Die elf Scharfrichter. In: Neue Hamburger Zeitung, Nr. 116, 10.3.1903, Abend-Ausgabe, 1. Beilage, S. (1)], da brach in NürnbergAm 3.3.1903 fand in Nürnberg ein Gastspiel der Elf Scharfrichter am Intimen Theater statt. Nach dem Gastspiel in Nürnberg brach Wedekind wegen Streitigkeiten seine Teilnahme an der Scharfrichtertournee ab. zwischen der Regie und meiner Wenigkeit Streit aus und meine Mitwirkung hatte ein Ende. Ich ging dann nach Stuttgart und spielte Kammersänger, ohne Erfolg als Autor, aber mit ziemlichem Achtungserfolg als SchauspielerWedekind gastierte am 6. und 8.3.1903 am Wilhelma-Theater in Cannstatt bei Stuttgart in der vom Württembergischen Goethebund veranstalteten Inszenierung seines Einakters „Der Kammersänger“ [vgl. Schwäbischer Merkur, Nr. 97, 28.2.1903, Mittagsblatt, S. 3] und spielte die Titelrolle des Gerardo, deren Darstellung von der Presse gelobt wurde: „Herr Wedekind erwies sich in der Titelrolle als gewandter Schauspieler; er zeichnete den geschäftsmäßigen Modesänger und kühlen Pflichtmenschen mit gelungener Charakteristik.“ [W.: K. Wilhelma-Theater. Drei neue Einakter von Wedekind, Maeterlinck und Mirbeau. (Goethebund-Vorstellung.) In: Neues Tagblatt, Jg. 60, Nr. 55, 7.3.1903, S. 1] Die überregionale Presse meldete: „Der Stuttgarter Goethe-Bund veranstaltete [...] eine Einakteraufführung, bei der Wedekinds ‚Kammersänger‘ (mit dem Autor in der Hauptrolle), Maeterlinks ‚Eindringling‘ und Mirbeaus ‚Dieb‘ zur Darstellung kamen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 124, 9.3.1903, Abend-Ausgabe, S. (2)]. In Berlin war ich um NeujahrWedekind verbrachte den Jahreswechsel in Berlin (siehe unten). und sah die Eysoldt als LuluWedekind sah in Berlin die erfolgreiche „Erdgeist“-Inszenierung unter der Regie von Richard Vallentin am Kleinen Theater (Direktion: Hans Oberländer) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 259] mit Gertrud Eysoldt in der weiblichen Hauptrolle, deren Premiere am 17.12.1902 er wegen seiner Auftritte bei den Elf Scharfrichtern nicht hatte besuchen können [vgl. Wedekind an Gertrud Eysoldt, 20.12.1902].großartig. Dagegen war mir Reicher ungefähr das Gegentheil von dem was ich von der Rolle erwarte. Ich brauche Ihnen wol nicht zu sagen, daß ich persönlich von dem Ertrag des Erdgeistes bis jetzt nicht einen Pfennig erhalten habe, da alles von vornherein mit Beschlag belegt ist, theils durch Langens Vorschuß, theils durch andere Gläubiger. Ich hatte gehofft, mich auf einige Monate zurückziehen und ein anderes Stück beginnen zu können. Aber diesen Genuß, den höchsten, den ich vom weiteren Leben noch erwarte, muß ich vorderhand noch hinausschieben, um so mehr da ich nun auch mit den Scharfrichtern zerkriegtEduard von Keyserling, der den Abend des 24.2.1903 in München mit Wedekind verbrachte, schrieb am 25.2.1903 an Max Halbe: „Frank behauptet definitiv mit den Scharfrichtern auseinander zu sein, aber das war er doch schon öfters.“ [Gräbner/Lauinger 2021, S. 310] bin, die für mich immerhin einen ziemlich leicht verdienten Unterhalt bedeuteten.

Am Tage vor meiner Abreise nach BerlinWedekind dürfte spätestens am 28.12.1902 nach Berlin gereist sein, wie aus Korfiz Holms Brief an Albert Langen vom 5.1.1903 hervorgeht (siehe unten), und war diesem Brief zufolge am 4.1.1903 wieder zurück in München: „Nun ist Wedekind gestern aus Berlin zurückgekommen“ [Abret/Keel 1989, S. 312]. traf ich hier bei Max Halbe den Baron BergerAlfred von Berger war Direktor des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 382], wo Carl Heine als Regisseur tätig war., der sehr viel Liebes über Carl erzählte. Er sprach mit großer uneingeschränkter Anerkennung von seinen künstlerischen Leistungen. Ebenso scheint er ihn persönlich sehr hoch zu schätzen. Von Max Halbe höre ich, daß Carl jetzt Mutter Erde inscenirtMax Halbes Schauspiel „Mutter Erde“ (1898) hatte unter der Regie von Carl Heine am 26.3.1903 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere [vgl. Hamburger Fremden-Blatt, Jg. 75, Nr. 72, 26.3.1903, 2. Beilage, S. (4)].. Das Stück hat bei seiner Aufführung diesen Winter wol den stärksten Erfolg der SaisonMax Halbes Schauspiel „Mutter Erde“ hatte am 17.1.1903 am Münchner Schauspielhaus Premiere [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 56, Nr. 26, 17.1.1903, General-Anzeiger, S. 1]. Die letzte Vorstellung dieser Inszenierung fand am 11.3.1903 statt. erzielt und hält sich immer noch wacker auf dem Repertoir. Demgemäß wird auch Carl in der Inscenirung eine dankbare und ihm sympathische Aufgabe gefunden haben. Ich hatte während der verflossenen drei Jahre immer gehofft, es werde sich noch mal jemand finden, der mit mir und meinen Stücken eine Tournée unternimmt, aber trotz aller Zeitungsartikel stehe ich offenbar noch immer nicht hoch genug im Coursim Kurs. für ein solches Wagnis. Gleich zu Beginn der Saison habe ich mich zur Rehabilitirung des „Marquis von Keithhier in MünchenDie Münchner Premiere des „Marquis von Keith“ unter Wedekinds Regie und mit ihm in der Titelrolle – es spielten ferner Franz Herterich (Ernst Scholz), Ottilie Gerhäuser (Anna von Werdenfels), Anni Blaha (Molly Griesinger), Carl Sick (Konsul Casimir), Lili Marberg (Hermann Casimir), Emil Lind (Sommersberg), Julius Stettner (Saranieff), Robert Hiller (Zamrjaki), Gisela Graselli (Simba) – fand als geschlossene Vorstellung (veranstaltet vom Akademisch-Dramatischen Verein) am 20.10.1902 am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 460] statt: „Montag, den 20. Oktober. Aufführung des Akademisch-dramatischen Vereins. (Vor geladenem Publikum.) Zum ersten Male: Marquis von Keith Schauspiel in 5 Alten von Frank Wedekind.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 487, 20.10.1902, General-Anzeiger, S. 1] Die beiden weiteren Vorstellungen am 27.10.1902 und 3.11.1902 waren öffentlich. als Schauspieler in die Schanze geschlagen. Die Besetzung war, von mir natürlich abgesehen, vorzüglich. Um so enttäuschender war für mich der rasche Rückgang der Casse, so daß aus all der Mühe nur drei Vorstellungen resultirten. Um Neujahr sollte ich in Berlin, da Reicher plötzlich streikte, den Dr. Schön spielenEmanuel Reicher spielte in der Berliner „Erdgeist“-Inszenierung seit der Premiere am 17.12.1902 am Kleinen Theater in Berlin (siehe oben) die männliche Hauptrolle des Dr. Schön und drohte bald darauf wegen Krankheit auszufallen und Wedekind sollte ihn gegebenenfalls vertreten, wie aus Korfiz Holms Brief an Albert Langen vom 5.1.1903 hervorgeht: „Reicher, der den Dr. Schön spielte, erklärte auf einmal, er wäre krank und müßte einige Wochen ausruhen. Darauf bombardierte das Kleine Theater Wedekind mit Telegrammen, er müßte nach Berlin kommen entweder, um die Rolle selbst zu spielen, oder aber um durch seine Anwesenheit einen moralischen Druck auf Reicher auszuüben und ihn zum Spielen zu bringen. Das letztere gelang übrigens schließlich. Schließlich am 27. Dezember war die Reicherfrage sehr brennend geworden, und Reinhardt telefonierte mich von Berlin an, wir sollten um jeden Preis Wedekind bewegen nach Berlin zu kommen, sonst würde die Erfolgsserie des Erdgeist unterbrochen und bei einer späteren Wiederaufnahme würde die Chance sicher vorüber sein. Das Kleine Theater wäre bereit, uns sofort 400 Mark zu überweisen, [...] wenn wir uns bereit erklären, diese M. 400.– als Reisevorschuß weiterzugeben und sobald Wedekind ihm telegrafiert hätte, daß er käme. Und so geschah es.“ [Abret/Keel 1989, S. 311f.], hatte in den fünf Jahren aber leider die ganze Rolle wieder vergessen. Jetzt erscheint eben die zweite AuflageDie 2. Auflage des „Erdgeist“ kam unter dem Titel „Lulu. Dramatische Dichtung in zwei Teilen. Erster Teil: Erdgeist. Tragödie in vier Aufzügen“ [vgl. KSA 3/II, S. 861] noch im Frühjahr im Albert Langen Verlag in München heraus [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 70, Nr. 100, 2.5.1903, S. 3482]. „Dem Stück geht erstmals der ‚Prolog‘ in leicht überarbeiteter Fassung voraus. Der Dramentext stellt eine an den Erfahrungen der ersten Inszenierungen orientierte Korrektur des Erstdrucks dar“ [KSA 3/II, S. 861f.]. von „Erdgeist“. Ich habe vieles darin gestrichen und vielem einen natürlicheren Klang zu geben versucht, so daß sich nun vielleicht auch irgend eine andere Bühne dafür erwärmen wird. Bis jetzt hat nämlich, trotz des Berliner ErfolgesDie Berliner „Erdgeist“-Inszenierung (Premiere: 17.12.1902) stand noch immer auf dem Spielplan, als Wedekind den vorliegenden Brief schrieb. Die Tragödie war fast allabendlich zu sehen; um die Jahreswende 1902/03 herum stand sie lediglich am 31.12.1902 nicht auf dem Programm. Einen Monat nach der Premiere meldete die Presse: „Im Kleinen Theater wurde gestern Frank Wedekinds ‚Erdgeist‘ mit Emanuel Reicher und Gertrud Eysoldt in den Hauptrollen zum 25. Mal aufgeführt.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 30, 17.1.1903, Abend-Ausgabe, S. (3)], noch nicht ein einziges Theater auf das Stück angebissen.

Grüßen Sie bitte Carl aufs herzlichste von mir; hoffentlich sehen wir uns doch noch einmal wieder. Und seien Sie selber bestens gegrüßt von Ihrem treuergebenen
Frank Wedekind.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Wie sehr hatte ich gehofft, Sie gelegentlich der Scharfrichter-Tournee wiederzusehen. Da brach in Nürnberg zwischen der Regie und meiner Wenigkeit Streit aus und meine Mitwirkung hatte ein Ende. Ich ging dann nach Stuttgart und spielte Kammersänger, ohne Erfolg als Autor aber mit ziemlichem Achtungserfolg als Schauspieler. In Berlin war ich um Neujahr und sah die Eysoldt als Lulu ‒ großartig. Dagegen war mir Reicher ungefähr das Gegentheil von dem was ich von der Rolle erwarte. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß ich persönlich von dem Ertrag des Erdgeistes bis jetzt nicht einen Pfennig erhalten habe, da alles von vornherein mit Beschlag belegt ist, theils durch Langens Vorschuß, theils durch andere Gläubiger. Ich hatte gehofft mich auf einige Monate zurückziehen und ein neues Stück beginnen zu können. Aber diesen Genuß, den höchsten, den ich vom weiteren Leben noch erwarte, muß ich vorderhand noch hinausschieben, um so mehr da ich nun auch mit den Scharfrichtern zerkriegt bin, die für mich immerhin einen ziemlich leicht verdienten Unterhalt bedeuteten [...]

Beate Heine schrieb am 23. Juli 1904 in Helgoland folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 28.7.1904 aus München:]


Sie glauben nicht, wie mich Ihre Karte hoch erfreut hat [...]

Frank Wedekind schrieb am 28. Juli 1904 in München folgenden Brief
an Beate Heine

[1. Druck:]


München, 28.VII.1904Wedekind notierte am 28.7.1904: „Brief an Beate Heine.“ [Tb].


Hochverehrte Freundin!

Sie glauben nicht, wie mich Ihre Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 23.7.1904. hoch erfreut hat, vor allem als ein Zeichen, daß Sie mir meines langen Schweigens wegen nicht böse sind und daß Sie selber noch dieses Jahr wieder in Ihrem angestammten SommersitzFritz Strich zufolge „Helgoland“ [GB 2, S. 361] ‒ dort verbrachten Beate und Carl Heine nachweislich bereits die Sommer 1898 und 1899. Erholung gefunden. Ich habe in den letzten Jahren viele Menschen getroffen, mit denen ich über Sie und Ihre Hamburger Wirksamkeit sprechen konnte, und habe mich immer von ganzem Herzen über die guten Nachrichten und über die uneingeschränkte Verehrung, die Karls ThätigkeitCarl Heine war als Regisseur am Deutschen Schauspielhaus (Direktion: Alfred von Berger) in Hamburg tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 426]. in Hamburg und in der dortigen guten Gesellschaft erntet, gefreut. Freilich wird ihm das Hamburger Publicum im großen ganzen wol längst zu schwerfällig und zu hartmäulig sein. Sein Platz wäre jetzt unbedingt Berlin.

Was mich betrifft, so geht es mir in dieser Hinsicht nicht anders. Officielle Erfolge sind da, aber trotzdem sitze ich immer noch festgewachsen wie ein Schwamm und ohne Bewegungsfreiheit, über die doch schließlich jeder Handelsreisende verfügt. Dazu kommt, daß man sich durch das Münchner Bierleben entsetzlich weit von der reichen interessanten Welt entfernt. Nachdem ich nun diesen Frühling wieder eine recht düstere Zeit durchlebt hatte, sagte ich mir schließlich, daß solch eine Situation meiner nicht würdig ist, und nahm ein Engagement an ein TingeltangelWedekind war bei den Sieben Tantenmördern engagiert, ein Kabarett, das am 31.1.1904 im Lokal Zur Räuberhöhle (Färbergraben 33) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1904, Teil II, S. 326] eröffnet worden ist: „Der Anfang der heutigen Eröffnungsvorstellung in der Künstlerkneipe Räuberhöhle, Färbergraben 33, ist auf halb 9 Uhr festgesetzt.“ [Künstler-Cabaret der 7 Tantenmörder. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 49, 31.1.1904, S. 4] „Im Cabaret zu den sieben Tantenmördern haben die jüngst entschlafenen Elf Scharfrichter eine teilweise Wiederauferstehung in der ‚Räuberhöhle‘, einem originell dekorierten Souterrainlokale am Färbergraben 33, gefeiert. [...] Joseph Vallé, der Unvermeidliche, hat die Rolle des Conférenciers übernommen.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 64, 9.2.1904, Morgenblatt, S. 6] Das Kabarett, das dann in den Kaim-Saal (Türkenstraße 5) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1904, Teil II, S. 724] umzog, ist in den Veranstaltungshinweisen mit Mehrfachbezeichnungen versehen: Intimes Theater, Münchner Künstler-Kabarett, Sieben Tantenmörder [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 211, 5.4.1904, Morgenblatt, S. 3; Nr. 217, 9.5.1904, Generalanzeiger, S. 1; Nr. 454, 28.9.1904, Generalanzeiger, S. 1], bevor es nach einer Auftrittspause am 22.10.1904 seinen Namen änderte: „Am Samstag, den 22. Oktober, eröffnet das Münchener Künstler-Cabaret (früher 7 Tantenmörder) im unteren Kaim-Saal wieder seine Vorstellungen.“ [Intimes Theater im Kaim-Saal. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 481, 21.10.1904, Vorabendblatt, 3. Blatt, S. 10] Wedekinds erste Auftritte waren angekündigt: „Montag, den 16., Dienstag, den 17., und Mittwoch, den 18. Mai. gastiert M. Frank Wedekind im Münchner Künstler-Kabarett 7 Tantenmörder.“ [Intimes Theater Kaimsaal. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 225, 14.5.1904, Generalanzeiger, S. 1] Wedekind hat am 12.5.1904 „Kontraktabschluß mit den 7. Tantenmördern“ [Tb] und am 16.5.1904 erstmalig „Auftreten bei den Tantenmördern“ [Tb] notiert, was bald fast täglich der Fall war. an. Diesem ersten Engagement folgten andere, so daß ich voraussichtlich den ganzen nächsten Winter vor großem Publicum die Laute schlagen werde, aber dafür über die kleinlichen Mißhelligkeiten hinweggehoben bin und, was mir die Hauptsache ist, endlich wieder mit der Welt und ihren Bewohnern in Berührung kommen werde. Für den ganzen Monat NovemberDie Presse meldete: „Frank Wedekind ist zum Variété übergegangen und hat sich, einem Privat-Telegramm aus Breslau zufolge, der Direktion des dortigen Etablissements Liebich für ein vierwöchentliches Gastspiel verpflichtet.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 33, Nr. 546, 26.10.1904, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Wedekind notierte am 31.10.1904 seine Ankunft in Breslau und den „Abend in Liebichs Etablissement“ [Tb]; sein Gastspiel in dem bekannten Varieté-Theater dauerte allerdings nur vom 1. bis 6.11.1904 – es wurde vorzeitig abgebrochen: „Aus Breslau wird gemeldet: Frank Wedekind hat bei seinem Auftreten im Variété hier wenig Glück gehabt. Er begegnete so entschiedener Opposition, daß er seinen Vertrag mit Liebichs Etablissement nach sechs Tagen lösen mußte und Breslau bereits verlassen hat.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 33, Nr. 572, 9.11.1904, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Wedekind ist am 7.11.1904 von Breslau abgereist, wo er sechs Vorstellungen absolviert hatte; zu den Vorstellungen am 1. und 6.11.1904 notierte er: „Durchgefallen.“ [Tb] bin ich für Breslau engagirt, Liebigs Etablissement, es soll ein Institut allerersten Ranges sein. Ich weiß nicht, ob Sie es kennen. Aller Wahrscheinlichkeit nach komme ich auch nach HamburgEin Gastspiel Wedekinds mit den Sieben Tantenmördern in Hamburg fand nicht statt. und werde mich unendlich freuen, Sie wiederzusehen. Mit der Literatur bin ich fertig. Die halsstarrige Abneigung des großen Publicums gegen mich würde ich auch in den kommenden zehn Jahren durch die heißesten Kämpfe kaum besiegen, und was hätte ich dann vom ganzen Leben gehabt! Ich wiederhole mir täglich mit dem Gefühl großer Erleichterung, daß mir von jetzt an die Literatur den Rücken hinunterrutschen kann.

Verzeihen Sie, liebe Freundin, daß ich soviel von mir selber schreibe. Aber da liegt eben der Hund begraben. In allem, was ich bis jetzt geschrieben habe, fehlt mir die große Liebe, der Hauptmann seine gewaltige Wirkung zu danken hat. Und diese Liebe läßt sich nicht vorgaukeln, auch wenn man es noch so durchtrieben anstellt. Als Mittel zur Unterhaltung, zur Bekämpfung der Langeweile ist sie mir auch schon gekommen, aber ich sehe zu meiner Enttäuschung, daß meine Begriffsverdrehungen keinen Glauben finden. Die wahre Liebe ist es nicht.

Wir hatten hier in München eine ziemlich lebendige tote Saison durch das Gastspiel des kleinen TheatersDas Ensemblegastspiel des Kleinen und Neuen Theaters (Direktion: Max Reinhardt) aus Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 291] (das frühere Kleine Theater „Schall und Rauch“, seit 1.1.1903 nur noch: Kleines Theater) am Münchner Volkstheater wurde am 17.6.1904 mit Maxim Gorkis „Nachtasyl“ eröffnet und am 3.7.1904 mit demselben Stück beschlossen. Wedekind notierte am 17.6.1904 „Abends Nachtasyl“ [Tb] und am 3.7.1904 „Abschiedsvorstellung des Kleinen Theaters“ [Tb]; auf dem Programm standen außerdem Stücke von Maurice Maeterlinck, Oscar Wilde, Hugo von Hofmannsthal, August Strindberg und Wedekinds „Erdgeist“ ‒ seine Tragödie wurde unter der Regie von Richard Vallentin mit Gertrud Eysoldt als Lulu und Emanuel Reicher als Dr. Schön am 24.6.1904 gespielt (Beginn: 20 Uhr, Ende gegen 23 Uhr) [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 291, 24.6.1904, General-Anzeiger, S. 1] und mit Beifall aufgenommen [vgl. KSA 3/II, S. 1227]. Hanns von Gumppenberg (H.v.G.) meinte: „Im Volkstheater wurde Wedekinds ‚Erdgeist‘ in der vortrefflichen Wiedergabe durch das Ensemble des Kleinen und Neuen Theaters mit starkem, zuletzt stürmischem Beifall aufgenommen. Mit und nach den Darstellern erntete auch Wedekind selbst zahlreiche Hervorrufe.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 293, 25.6.1904, Morgenblatt, S. 4] Selbst die konservative Presse schrieb über die „Erdgeist“-Vorstellung: „Das sehr gut besuchte Haus spendete den Schauspielern stürmischen Beifall, von dem auch der Verfasser sein Teil erhielt. Jedenfalls war der Abend äußerst interessant und, soweit die Leistungen der Schauspieler in Frage kommen, unbedingt einer der genußreichsten des Gastspiels.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 284, 26.6.1904, S. 2] Wedekind hielt am 24.6.1904 fest: „Abends Erdgeist.“ [Tb] und allerhand krumme Händel, die sich daran knüpften. Ich verwandte die Zeit hauptsächlich zum Studium von Frau Eysoldt, bin ihr aber höchstens bis auf ein Dritttheil auf den Grund gekommen; vielleicht befinde ich mich auch noch ganz an der Oberfläche. Jedenfalls ist sie das interessanteste MenschenkindWedekind hat die Künstlerin auch als „Menschenkind“ [Wedekind an Gertrud Eysoldt, 25.6.1904] angeredet., das mir seit vier Jahren vor Augen gekommen. Aber danach mögen Sie unser hiesiges Leben beurtheilen. Man gehört zum Inventar eines bestimmten Restaurants, und wenn das Lokal den Besitzer wechselt, wird man im Verkaufspreis so und so hoch bewerthet. In diesem Restaurant sitzt man nun wie in einem Burgverließ, über sich ein enges Gitter, durch welches man von unten dann und wann irgend etwas zu sehen bekommt, was die Sonne bescheint, während natürlich kein Schimmer von einem Strahl nach unten dringt. Verzeihen Sie mir die JeremiadeKlagelied.. Jetzt glaube ich ja den Ausweg gefunden zu haben, das Gitter öffnet sich, ich steige zum Licht empor; Freiheit, dein Name ist Tingel-Tangel.

Grüßen Sie bitte Karl auf das allerherzlichste von mir und seien Sie selber ebenso gegrüßt von Ihrem Ihrer in Dankbarkeit gedenkenden
Frank.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Verzeihen Sie, liebe Freundin, daß ich soviel von mir selber schreibe. Aber da liegt eben der Hund begraben. In allem, was ich bis jetzt geschrieben habe, fehlt mir die große Liebe, der Hauptmann seine gewaltige Wirkung zu danken hat. Und diese Liebe läßt sich nicht vorgaukeln, auch wenn man es noch so durchtrieben anstellt. Als Mittel zur Unterhaltung, zur Bekämpfung der Langeweile ist sie mir auch schon gekommen, aber ich sehe zu meiner Enttäuschung, daß meine Begriffsverdrehungen keinen Glauben finden. Die wahre Liebe ist es nicht.

Wir hatten hier in München eine ziemlich lebendige tote Saison durch das Gastspiel des kleinen Theaters und allerhand krumme Händel die sich daran knüpften. Ich verwandte die Zeit hauptsächlich zum Studium von Frau Eysoldt, bin ihr aber höchstens bis auf ein Dritttheil auf den Grund gekommen; vielleicht befinde ich mich auch noch ganz an der Oberfläche. Jedenfalls ist sie das interessanteste Menschenkind, das mir seit vier Jahren vor Augen gekommen. Aber danach mögen Sie unser hiesiges Leben beurtheilen. Man gehört zum Inventar eines bestimmten Restaurants, und wenn das Lokal den Besitzer wechselt, wird man im Verkaufspreis so und so hoch bewerthet. In diesem Restaurant sitzt man nun wie in einem Burgverließ, über sich ein enges Gitter, durch welches man von unten dann und wann irgend etwas zu sehen bekommt, was die Sonne bescheint, während natürlich kein Schimmer von einem Strahl nach unten dringt.

Verzeihen Sie mir die Jeremiade. Jetzt glaube ich ja den Ausweg gefunden zu haben, das Gitter öffnet sich, ich steige zum Licht empor; Freiheit, dein Name ist Tingel Tangel [...]

Frank Wedekind schrieb am 29. April 1905 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Beate Heine

[Hinweis in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


WEDEKIND, Frank [...]. 27 e. Br. m. U. [...] Zum Teil mit den Umschlägen. [...] An seine vertraute Freundin Beate Heine. Die Briefe sind bis auf einen (vom 29.IV.1905) gedruckt in: Frank Wedekind. Gesammelte Briefe. München 1924.

Beate Heine schrieb am 23. Juli 1905 in Hamburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Beate Heine vom 14.9.1905 aus Berlin:]


[...] Ihren lieben freundlichen Geburtstagsglückwunsch [...]

Frank Wedekind schrieb am 14. September 1905 in Berlin folgenden Brief
an Beate Heine

Berlin, 4.IX.1905.


Hochverehrte liebe Freundin!

Ich schreibe heute wirklich nur, um Ihnen mitzutheilen, daß die beiden BilleteTheaterkarten für den Besuch der Premiere von „Hidalla“, die am 26.9.1905 im Kleinen Theater (Direktion: Victor Barnowsky) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 277] in Berlin stattfand (Beginn: 19.30 Uhr) [vgl. Berliner Tageblatt, Jg. 34, Nr. 490, 26.9.1905, Morgen-Ausgabe, 2. Beiblatt, S. (3)]. Ob Beate und Carl Heine sie nutzten, ist nicht belegt. Wedekind hielt am 26.9.1905 lediglich fest: „Hidalla Premiere in Berlin. Spiele [...] Hetmann.“ [Tb] Knapp vier Wochen später notierte er am 24.10.1905 zur 25. Vorstellung von „Hidalla“ den Namen von Carl Heine – „25. Aufführung von Hidalla in Berlin. Ich gebe ein Banket im Restaurant Astoria. Nachher geht die ganze Gesellschaft zu Stallmann. Es wird viel gesungen. Dr. Heine“ [Tb] – und Beate Heine war auch mit dabei, wie ein Brief bestätigt [vgl. Beate Heine an Wedekind, 12.12.1906]. für die Premiere für Sie bereit liegen. Vielleicht wird die Vorstellung aber noch für einige Tage verschoben. Sie werden das am besten aus der ZeitungDie Premiere von „Hidalla“ war zuerst für den 21.9.1905 angekündigt: „Im Kleinen Theater gelangt am Donnerstag, 21. d.M. als erste der von Direktor Viktor Barnowsky erworbenen Novitäten das fünfaktige Schauspiel ‚Hidalla‘ von Frank Wedekind zur Aufführung. Die Hauptrolle (Karl Hetmann) spielt Wedekind selbst.“ [Berliner Volks-Zeitung, Jg. 53, Nr. 439, 19.9.1905, 2. Beiblatt, S. (1)] Wedekind notierte am 19.9.1905: „Hidalla wird verschoben“ [Tb] – auf den 26.9.1905, wie die Presse mitteilte: „Die im Kleinen Theater auf Donnerstag angesetzte Erstaufführung von ‚Hidalla‘ mußte bis nächsten Dienstag, 26. d.M., verschoben werden, da Frank Wedekind, der selbst die Hauptrolle in seinem Stücke spielt, in einer dringenden Prozeßangelegenheit nach München abberufen wurde. Die für die Premiere von ‚Hidalla‘ bereits gelösten Billets behalten für die Erstaufführung am Dienstag ihre Gültigkeit.“ [Berliner Volks-Zeitung, Jg. 53, Nr. 441, 20.9.1905, Morgenblatt, S. (2)] ersehen.

Ihnen für Ihren lieben freundlichen Geburtstagsglückwunschnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 23.7.1905. zu danken, fand ich bis heute nur deshalb keine Sammlung, weil ich mitten in einer größeren Arbeitnicht eindeutig identifiziert. stecke und den Tag herbeisehne, wo ich damit fertig sein werde. Seit acht TagenWedekind traf am 8.9.1905 in Berlin ein [vgl. Tb]. bin ich hier in Berlin und suche den Proben beizuwohnen, die aber nur sehr sporadischWedekinds Tagebuch zufolge fanden vor der Premiere von „Hidalla“ an folgenden Tagen Proben statt: 9.9.1905 (Samstag: „Um 10 Uhr Probe“), 12.9.1905 (Dienstag: „Um 10 Uhr Probe“), 16. 9.1905 (Samstag: „Probe von 11-3“, also bis 15 Uhr), 19.9.1905 (Dienstag: „Um 10 Uhr Probe“), 22. 9.1905 (Freitag: „Um 11 Uhr Probe“), 25.9.1905 (Montag: „Generalprobe“). stattfinden. Ich freue mich sehr darauf, daß wir uns nach so langer Zeit nun also doch endlich wiedersehen werden. Die bevorstehende Aufführung ist für mich wieder einmal eines der wichtigsten Ereignisse meines Lebens. Bis jetzt habe ich bei so wichtigen Gelegenheiten selten Glück gehabt. Das Glück lächelte mir bisher immer mit Vorliebe im Verborgenen. Obschon ich auf jeden Ausgang stoisch gefaßt bin, bemächtigt sich meiner doch allmählich eine gehörige Aufregung, zumal die angesetzten Proben immer wieder abgesetzt werden.

Grüßen Sie Carl bitte auf das allerherzlichste. Auf baldiges Wiedersehen! Mit herzlichem Gruß Ihr treuergebener
Frank Wedekind.

Beate Heine schrieb am 12. Dezember 1906 in Frankfurt am Main folgenden Brief
an Frank Wedekind

Frkft a. M.
Fichardstr. 21Beate und Carl Heine wohnten nun in Frankfurt am Main (Fichardstraße 21, 2. Stock) [vgl. Adreßbuch für Frankfurt am Main 1907, Teil I, S. 129]..
II.


Mein lieber Freund ‒ es ist Ewigkeiten her, daß ich nichts von Ihnen gehört habe, u. heute stehn Sie mir (durch einen besonderen Anlaß) so lebendig vor, daß ich mich sofort an den Schreibtisch setze, um Ihnen einen Gruß zu senden. Wir sahen uns das letzte MalBeate und Carl Heine hatten Theaterkarten für die Berliner Premiere von „Hidalla“ [vgl. Wedekind an Beate Heine, 14.9.1905], haben aber wahrscheinlich erst am 24.10.1905 die 25. Vorstellung von „Hidalla“ am Kleinen Theater in Berlin (Premiere: 26.9.1905) besucht und waren anschließend in größerer Gesellschaft mit Wedekind zusammen; er notierte: „25. Aufführung von Hidalla in Berlin. Ich gebe ein Banket im Restaurant Astoria. Nachher geht die ganze Gesellschaft zu Stallmann. Es wird viel gesungen. Dr. Heine.“ [Tb] in Hidallah, aber so auskömmlich gesprochen, wie früher, haben wir uns natürlich nicht. Und so kommt’s, daß ich garnicht recht Bescheid weiß ‒ wie Sie leben, wo Sie fest engagirt sind ‒ wo Ihr Domizil ist ‒ u. vor Allem ‒ wie es Ihnen als jungem Ehemanne ergeht u. zu Muthe ist. Als ich von Ihrer Heirath zuerst hörte, habe ich’s nicht geglaubt ‒ erst als ich Ihr gemeinsames Bild in der WocheDas Foto von Frank und Tilly Wedekind (Heirat: 1.5.1906) in der Berliner Illustrierten „Die Woche“ zeigt das frisch verheiratete Ehepaar an einem gedeckten Kaffeetisch sitzend (sie schenkt ihm eine Tasse Kaffee ein); Bildunterschrift: „Frank Wedekind als Ehemann: Der Dichter und Schauspieler mit seiner jungen Frau (Tilly Niemann-Newes).“ [Die Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift, Jg. 8, Nr. 18, 5.5.1906, S. 772] Im selben Heft ist (mit irrtümlicher Seitenangabe) auf das Foto hingewiesen: „Frank Wedekind (Abb. S. 771) wird als Schauspieler fast noch mehr wie als Dichter angegriffen, aber niemand wird ihm bestreiten, daß er eine interessante Persönlichkeit ist. Der Künstler hat sich dieser Tage in Berlin mit Tilly Niemann-Newes vermählt.“ [Die Woche, Jg. 8, Nr. 18, 5.5.1906, S. 764] sah ‒ da habe ich das merkwürdige Faktum als Wahrheit ansehen gelernt. Ihre Frau ist bild|hübsch u. sieht sehr liebreizend aus nach meinem Geschmack ‒ aber Sie können sich wohl denken, daß ich gern noch mehr von ihr wüßte ‒ u. der Zweck dieses Briefs ist eigentlich nur ‒ Sie zu bitten, mir einmal wieder zu schreiben ‒ es ist doch schade, wenn man sich so ganz verliert u. Sie glauben nicht, wie oft wir Ihrer denken u. von Ihnen sprechen. Für uns sind auch wichtige VeränderungenCarl Heine, seit 1901 Regisseur am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (Direktion: Alfred von Berger), wechselte 1906 zum Schauspielhaus in Frankfurt am Main (Intendant: Emil Claar), wo er als Oberregisseur und Dramaturg tätig war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 400]. eingetreten. In Hamburg ging’s für Carl nicht mehr. Berger war so eifersüchtig, daß er ihm schließlich kaum noch etwas Anständiges, d.h. Lohnendes zum Inszeniren gab. Der „Brand“ war wohl im letzten Jahre das EinzigeHenrik Ibsens Drama „Brand“ (1866) hatte unter der Regie von Carl Heine am 21.3.1906 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere. Bald darauf meldete die Presse: „Dr. Carl Heine, der ausgezeichnete Regisseur des Deutschen Schauspielhauses, ist zum Oberregisseur des Schauspielhauses in Frankfurt a.M. erwählt worden und verläßt mit Ablauf dieser Saison Hamburg. Hamburgs Kunstleben erleidet dadurch einen herben Verlust.“ [Altonaer Nachrichten, Jg. 56, Nr. 173, 12.4.1906, Abend-Ausgabe, S. (7)]. Ich sah, wie unglücklich sich Carl fühlte, die besten Schauspieler waren auch fort ‒ u. so kam uns die Frankfurter Sache sehr gelegen. Zwar, es war uns trotz Allem nicht leicht, von Hamburg fortzugehn. Wir hatten dort sehr gute Freunde, u. Kritik u. Publikum war so für | meinen Mann eingenommen, daß man das doch nicht so ganz leichten Sinnes aufgab. Indessen ‒ wir gaben es auf u. sind seit August hier. September begann Carls Thätigkeit. Welchen Schlendrian er hier fand, das ist unbeschreiblich. Aber es scheint, daß man ihm seine Reformen dankt ‒ der IntendantEmil Claar, Intendant des Schauspielhauses in Frankfurt am Main [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 400]. ist reizend zu ihm u. das Personal folgt ihm mit Freuden, er hat ‒ für die kurze Zeit, ‒ schon viel Gutes geschaffen, u. wir hören aus dem Publikum, wie sehr man Carls Hand fühlt u. wie man seine Thätigkeit zu würdigen versteht. So kann ich eigentlich sagen, daß Carl sich sehr glücklich in seiner Stellung fühlt ‒ nur die Presse enttäuscht uns, sie ist entsetzlich lauwarm u. unfreundlich. Aber ‒ das soll hier Usus sein. Wir müssen eben Geduld haben. Sehr glücklich waren wir über das Klima ‒ der schwere hamburgische Himmel drückte auf die Stimmung u. man war immer erkältet ‒ | hier ist man viel heiterer. Von den Frankfurtern selbst weiß ich noch nicht viel, wir leben noch recht still. ‒ Was haben Sie denn voriges Jahr zu dem großen Erfolge meines WeihnachtsmährchensDie erfolgreiche Uraufführung des Weihnachtsmärchens „Prinzessin Tausendschön“ (Verfasserin: Beate Heine, Pseudonym: Charlotte Graef) fand am 9.12.1905 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg statt [vgl. Hamburger Echo, Jg. 19, Nr. 287, 8.12.1905, S. (8)]; ihr folgten weitere Vorstellungen, wie die Presse meldete: „Das sensationell ausgestattete neue Weihnachtsmärchen ‚Prinzessin Tausendschön‘ geht allabendlich in Szene. Die bisherigen zwei Aufführungen desselben fanden stürmischen Beifall.“ [Deutsches Schauspielhaus. In: Hamburger Fremden-Blatt, Jg. 77, Nr. 291, 12.12.1905, 2. Beilage, S. (2)]. gesagt? Ich sage Ihnen, das war eine große, große Freude für mich ‒ ich hatte es unter falschem Namenunter dem Pseudonym Charlotte Graef; die Presse meldete, „daß sich als Verfasserin der Weihnachtsmärchen- Novität ‚Prinzessin Tausendschön‘ hinter dem Pseudonym Charlotte Graef eine Dame aus der Hamburger Gesellschaft verbirgt ‒: Frau Beate Heine, die Gattin des bekannten Schauspielhaus Regisseurs. Was anfänglich als strenges Geheimnis gehütet wurde, ist gegen den Willen der Verfasserin durch Indiskretion bekannt geworden.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 10, Nr. 580, 11.12.1905, Abend-Ausgabe, 1. Beilage, S. (1)] v. Berlin eingereicht, es wurde einstimmig gewählt, u. erst 5 Tage vorher erfuhr man, daß ich die Attentäterin war ‒ Tableau!(frz.) Bild; Ausruf des Erstaunens, der Überraschung, der Verblüffung. Es ist 25 Mal gegeben, 2000 TextbücherBeate Heines Kinderstück „Prinzessin Tausendschön“ (1905) ist nicht im Buchhandel erschienen, sondern lediglich als Bühnenmanuskript reproduziert worden. sind davon verkauft ‒ u. sämmtliche Kritiken waren ideal! Wie stehe ich nun da?? Uebermorgenam 14.12.1906, an dem nicht nur die Premiere von Beate Heines Märchenstück „Prinzessin Tausendschön“ (1905) im Großherzoglichen Hof- und Nationaltheater in Mannheim (Intendant: Carl Hagemann) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 496] stattfand (Beginn: 19 Uhr, Ende gegen 21.30 Uhr): „Freitag, den 14. Dezember 1906. [...] Zum ersten Male: Prinzessin Tausendschön. Weihnachtsmärchen in 6 Bildern von Beate Heine. Musik von Carl Krüger. In Szene gesetzt von Karl Neumann-Hobitz“ [General-Anzeiger der Stadt Mannheim, Nr. 582, 14.12.1906, 2. Mittagblatt, S. 4], sondern auch die Premiere im Stadttheater in Köln (Direktion: Max Martersteig) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 353] und zwar im Alten Stadttheater (Beginn: 19 Uhr, Ende gegen 22 Uhr): „Zum ersten Male: Prinzessin Tausendschön. Weihnachtsmärchen in 6 Bildern von Beate Heine. Musik von Karl Krüger. [...] Inszeniert von Max Reitz.“ [Kölner Local-Anzeiger, Jg. 20, Nr. 341, 13.12.1906, S. 3; vgl. Kölnische Zeitung, Nr. 1330, 14.12.1906, 1. Morgen-Ausgabe, S. (4)] wird’s inSchreibversehen, statt: im. Mannheimer Hoftheater u. am selben Tage im Cölner Stadttheater zum 1sten Mal aufgeführt. Schrieb Ihnen Carl, daß er Ihr: „So ist das Lebenbringen willCarl Heine inszenierte „König Nicolo oder So ist das Leben“ am Schauspielhaus in Frankfurt am Main, Premiere war am 5.3.1907: „Zum ersten Male: So ist das Leben. Schauspiel in 5 Akten von Frank Wedekind.“ [Almanach des Frankfurter Opernhauses und Schauspielhauses 1908, S. 105] Wedekind in Berlin notierte am 5.3.1907: „Aufführung von ‚So ist das Leben‘ in Frankfurt a.M.“ [Tb] Weitere Vorstellungen fanden am 8. und 10.3.1907 sowie am 18.3.1907 statt. Carl Heine inszenierte am Schauspielhaus in Frankfurt am Main auch „Erdgeist“ (Premiere: 24.8.1907; danach noch sieben weitere Vorstellungen vom 25.8.1907 bis 26.9.1907).? Dazu müssen Sie herkommen ‒ u. dann wollen wir mal in alter Art plaudern. Wir haben uns sehr über „Frühlings-Erwachen“ gefreutüber den großen Erfolg von Max Reinhardts Inszenierung von „Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie“ (1891), am 20.11.1906 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters zu Berlin uraufgeführt. ‒ wie war die Aufführung? Und nun für heut addio. Nicht wahr, Sie schreiben mir bald malWedekind sah Beate und Carl Heine bald im neuen Jahr in Berlin, am 13.1.1907, wie er festhielt: „Heines [...] kommen zum Kaffée. Abends mit Heines bei Töpfer“ [Tb]. ‒ Carl grüßt Sie mit mir herzlich u. ich bin, in stets gleicher Freundschaft
Ihre
Beate Heine.


[Seite 1 oben, um 180 Grad gedreht:]


Wenn Ihre Frau Gemahlin etwas von mir weiß, empfehlen Sie mich Ihr bitte, freundlichst.

Frank Wedekind schrieb am 14. Dezember 1907 in Berlin folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Beate Heine , Carl Heine

[Hinweis in Beate Heines Brief an Wedekind vom 27.12.1907 aus Frankfurt am Main:]


[...] erst heute komme ich dazu, Ihnen für die Büchersendung zu danken [...]

Beate Heine schrieb am 27. Dezember 1907 in Frankfurt am Main folgenden Brief
an Frank Wedekind

Frankfurt a. M.
Fichardstr. 21.II.


Liebster Freund ‒ erst heute komme ich dazu, Ihnen für die BüchersendungHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Beate und Carl Heine, 14.12.1907. Wedekind dürfte die Büchersendung, über deren Inhalt nichts bekannt ist, nach dem letzten Treffen mit Beate Heine aufgegeben haben, die er zuletzt am 13.12.1907 in Berlin getroffen hat, wie er notierte: „Um 10½ Uhr hole ich Beate Heine im Zentraltheater ab und fahre mit ihr zu Steinert, wo uns Tilly erwartet.“ [Tb] zu danken, die uns eine reizende Weihnachts-Vorfreude war! Ich spreche auch für Carl, der vorläufig keine Muße zum Schreiben haben wird. Also ‒ vielen, herzlichen Dank! Wie haben Sie den heilig AbendWedekind notierte am 24.12.1907: „Nachmittags 6 Uhr Bescherung. 9½ Uhr fahren wir zu Tilla Durieux. Bleiben dort bis 3. Dann im Caffé Austria bis 6.“ [Tb] verlebt? Und war Anna-PamelaBeate Heine dürfte bei ihrem Besuch in Berlin (siehe oben) Wedekinds kleine Tochter an deren 1. Geburtstag gesehen haben, wie seine Notiz vom 12.12.1907 nahelegt: „Anna Pamelas Geburtstag. [...] Beate Heine zum Café.“ [Tb] schon sehr für Weihnachtsfreuden empfänglich? Unser Weihnachtstag war entzückend ‒ vielleicht in erster Linie dadurch, daß | Carl endlich einmal einen ganzen Tag frei hatteCarl Heine war Oberregisseur und Dramaturg am Schauspielhaus (Intendant: Emil Claar) in Frankfurt am Main [vgl. Neuer Theater-Almanach 1908, S. 368].. Wenn ich auch Alles für den Baum allein hatte vorbereiten, vergolden, anbinden müssen, so konnten wir nun doch wenigstens den Baum gemeinsam schmücken. Er sah des Abends wunderschön aus u. wir waren von früh bis spät in so froher, festlicher Stimmung, wie lange nicht. Mir war’s außerdem eine besondere Freude, Carl zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder einiges schenken zu können, was nicht absolut nützlich war! Unser Tisch stand unter dem Zeichen der Bücher ‒ ich hatte Carl welche geschenkt, Sie schickten welche, Weber sandte die Hebbelsche JudithIm Verlag von Hans von Weber war eine von Thomas Theodor Heine illustrierte bibliophile Ausgabe des berühmten Dramas herausgekommen [vgl. Friedrich Hebbel: Judith. Eine Tragödie in 5 Akten. München 1908]. von Th. Th. Heine illustriert, u. meine Schwägerineine Schwester Carl Heines (er hatte vier Schwestern: Blanka, Clara, Selma, Olga), vermutlich die seinerzeit bekannte Schriftstellerin Anselma (Selma) Heine (Pseudonym: Anselm Heine). Wedekind ist ihr seinem Tagebuch zufolge nachweislich am 10.5.1906 in Berlin begegnet (nach „Dr. Heine“ notierte er für diesen Abend „Anselm Heine“). hatte ebenfalls Bücher geschenkt ‒ sodaß es | wirklich ein embarras(frz.) Verlegenheit, Befangenheit. war! Aber ein erfreulicher ‒ denn wir können Beide viel von Druckerschwärze vertragen! ‒ Carl war sehr kaput, u. die Mühen von „Anna KaréninaEdmond Guirauds Bühnenbearbeitung von Lew Tolstojs Roman „Anna Karenina“ (1878) hatte am Schauspielhaus in Frankfurt am Main unter der Regie von Carl Heine am 21.12.1907 Premiere: „Anna Karenina. Drama in 5 Akten nach Tolstois Roman von Edmond Guiraud.“ [Almanach des Frankfurter Opernhauses und Schauspielhauses 1909, S. 104] Weitere Vorstellungen: 22., 26., 27. und 30.12.1907. hatten ihn vollends erschöpft, ohne ihn zu erfreuen, weil das Stück schlecht ist ‒ wenn man nicht etwa eine Sorma für die TitelrolleAgnes Sorma, die berühmte Schauspielerin, seit dem 4.10.1907 am Berliner Kleinen Theater tätig, war dort zuerst in der Titelrolle von Friedrich Hebbels Tragödie „Maria Magdalena“ zu sehen, anschließend noch bis zum Jahresende als Nora in Henrik Ibsens Schauspiel „Ein Puppenheim“ und als Bianca in Paul Egers Lustspiel „Mandragola“, allesamt Hauptrollen. zur Verfügung hat! Jetzt hat er ein paar freie Vormittage, die er eigentlich im Taunus verleben sollte und wollte; nun ist aber seit ein paar Tagen eine solche Bärenkälte, daß er sich auf Spaziergänge in der nächsten Umgegend beschränkt. Er hofft aber in nicht zu langer Zeit sich 10 Tage Urlaub zu nehmen, und irgendwo in den Süden zu ziehn ‒ leider allein, da es für 2 Personen zu theuer ist. Vielleicht geht er über Wien oder Berlin, | um zugleich ein Bischen Theater zu sehen ‒ aber, das ist noch nicht sicher. Mein MährchenBeate Heines Weihnachtsmärchen „Prinzessin Tausendschön“ [vgl. Beate Heine an Wedekind, 12.12.1906]. hat nicht so viel gebracht, als ich hoffte ‒ aber es hatte viel Beifall u. war wenigstens an den Sonn u. Feiertagen gut besetzt. Ich würde so gern ein Neues schreiben ‒ aber mir fällt nichts Gutes ein. Erzählen will ich noch, daß Wilhelm Weigand letzthin einen Abend bei uns war ‒ kannten Sie ihn von MünchenWedekind kannte den Schriftsteller Wilhelm Weigand, den er im Tagebuch nur einmal erwähnt ‒ am 26.5.1905 zu einer Abreise aus München: „Abends Abfahrt nach Wien. In München Ost steigt Wilhelm Weigand ein. Der neben mir schläft.“ [Tb] Wilhelm Weigand hat sich später in seiner Autobiografie abfällig über Wedekind und dessen Werk geäußert [vgl. Wilhelm Weigand: Welt und Weg. Aus meinem Leben. Bonn 1940, passim].? Carl hat damalsWilhelm Weigands Einakter „Der Vater“ wurde von der Literarischen Gesellschaft in Leipzig am 8.12.1895 im Carola-Theater in einer Matineevorstellung aufgeführt. Die Presse urteilte seinerzeit über diese „moderne Schicksalstragödie, welche die Vererbungstheorie zur Grundlage hat und von Ibsen’s ‚Gespenstern‘ inspirirt zu sein scheint“, sie mache „einen weniger tragischen, als tristen Eindruck.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 89, Nr. 600, 10.12.1895, Morgen-Ausgabe, 4. Beilage, S. 8795] Welches Stück Wilhelm Weigand Carl Heine 1907 in Frankfurt am Main angeboten hat, ist nicht ermittelt. in der Litterarischen Gesellschaft einen Einakter „Der Vater“ von ihm gebracht, seitdem aber nichts mehr, u. nun brachte er ihm wieder ein Stück zur Begutachtung. Ich hatte mir seine Persönlichkeit viel vornehmer u. feiner vorgestellt, u. war etwas enttäuscht. Aber nun genug für heut. Grüßen Sie Ihre liebe Frau vielmals, u. seien Sie selbst von uns Beiden von Herzen gegrüßt und für 1908 beglückwünscht!

In Freundschaft
Ihre
Beate Heine.

Frank Wedekind schrieb am 15. Januar 1914 in Berlin folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Beate Heine

[1. Hinweis in Wedekinds Tagebuch vom 15.1.1914 in Berlin:]


Gebe bei Heines Karten ab [...]


[2. Hinweis in Frank Wedekinds Brief an Tilly Wedekind vom 16.1.1914 aus Berlin:]


Gestern Nachmittag ging ich zu Dr. Heines, traf aber niemand zu Haus und ließ meine Karte dort.