Briefwechsel

von Minna von Greyerz und Frank Wedekind

Minna von Greyerz schrieb am 22. Juli 1882 in Lenzburg folgende Visitenkarte
an Frank Wedekind

Minna von Greyerz


[Billet:]


Gott grüsse dich!


[Kuvert:]


Herr Franklin Wedekind.
Schloß Lenzburg.


Z.g.H.

Minna von Greyerz schrieb am 5. August 1882 in Lenzburg
an Frank Wedekind

An Vetter Franklin.

Durch Güte„Die gelegentlichen Bemerkungen bei der Aufschrift [...] durch Gelegenheit, durch Güte, durch gefällige Besorgung, wenn die Briefe nicht durch die Post, sondern durch die Gefälligkeit eines anderen befördert werden, [...] werden gewöhnlich linker Hand auf das Couvert gesetzt.“ [Georg von Gaal: Allgemeiner deutscher Muster-Briefsteller und Universal-Haussecretär. 12. Aufl. Wien 1899, S. 79].


Z. g. H.

Minna von Greyerz schrieb am 30. August 1882 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind , Frank Wedekind , Frank Wedekind , Frank Wedekind , Frank Wedekind , Frank Wedekind , Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Minna von Greyerz vom 31.8.1882 aus Aarau:]


Besten Dank für Deine freundliche Einladung.

Frank Wedekind schrieb am 31. August 1882 in Aarau folgenden Brief
an Minna von Greyerz

AarauWedekind wohnte während der Schulwochen bei Frau Regula Huber-Aeschmann am Zollrain in Aarau. 31 August 82


Liebe CousineMinna von Greyerz, die Tochter des Lenzburger Stadtförsters Walo von Greyerz und seiner Frau Sophie, geborene von Wedekind, war mütterlicherseits entfernt verwandt mit Frank Wedekind.,

Besten Dank für Deine freundliche Einladungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Minna von Greyerz an Wedekind 30.8.1882.. Wenn es mir irgendwie möglich ist, werde ich derselben jedenfalls Folge leisten. Wie wollte mich auch ein ArtilleriewixDer Begriff Wix (auch: Wichs) bezeichnet eigentlich die Festtracht studentischer Verbindungen. Analog dazu hießen Wixe die Feste, die von den Kadetten- bzw. Kantonsschülern veranstaltet und bei denen die Verbindungszeichen (u. a. Mütze, Band und Zipfel) getragen wurden. davon abhalten können! Allein haben wir nächsten Samstagden 2.9.1882. noch ScharfschiessenIm Sommersemester hatten sämmtliche Schüler der Kantonsschule Aarau jeden Mittwochabend und einmal im Monat am Samstagnachmittag (auf dem Kasernengelände) Militärunterricht. Der Stoff gliederte sich in „Soldaten- und Kompagnieschule, Geschützbedienungs- und Zugschule. Richt- und Schießübungen mit Geschütz und Gewehr. Marschsicherungs- und Vorpostendienst. Uebungen im Kartenlesen im Terrain, im Distanzenschätzen, Recognisciren, in Anfertigung von Croquis und Terminbeschreibungen, Orientierungsübungen. Lösung leichter taktischer Aufgaben für Infanterie und Artillerie. Kleine Gefechtsübungen.“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1882/83, S. 22] was mixr vielleicht dennoch, dauerte es zu lange, das schöne Vergnügen verderben könnte. Immerhin hoff’ ich das Beste. Also noch einmal meinen wärmsten Dank. Viele Grüße an meine liebe TanteSophie von Greyerz, die Mutter Minnas., an OttoOtto von Greyerz, Cousin Minnas aus Bern, wo er Germanistik studierte. Er war im Sommer zu Besuch in Lenzburg und traf dort mit Wedekind zusammen [vgl. Otto von Greyerz an Wedekind, 13.10.1882]., vor Allen an Dich, meine liebe Cousine von Deinem ergebensten

BabeKosename Frank Wedekinds..

Frank Wedekind schrieb am 21. April 1883 in Lenzburg folgende Visitenkarte
an Minna von Greyerz

Hr. Franklin Wedekind.

Minna von Greyerz schrieb am 27. April 1883 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Lieber BabyKosename Frank Wedekinds.!

Komm jetzt lieber nicht, darum bittet Dich
Deine böse CousineMinna von Greyerz war mütterlicherseits entfernt verwandt mit Frank Wedekind. MinkiKosename Minna von Greyerz’.


Volte subito(ital.) schnell umblättern; sofort wenden (musikalischer Fachbegriff)


27. April 1883. |


Du denkst wohl „das sind Mädchenlaunenzeitgenössisch verbreitete Wendung.“,
Allein Du irrst Dich darin sehr;
Zwar kann ich’s Dir jetzt nicht erklären,
Ein ander Mal erzähl’ ich mehr.
Zum Schluße dieser Litanei:
Ich wünsch’ mir Deine PoeseiGemeint sein könnte Wedekinds Gedichtsammlung „Poesie“ [Aa, Wedekind-Archiv B, Nr. 145 u. Nr. 44], die in einem Schulheft aus dem Winter 1882/83 überliefert ist [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind. Lenzburg. 29.4.1883 – 1.5.1883 sowie KSA 1/I, S. 792].!
Schick’ sie durch Donald oder MietzeFrank Wedekinds jüngere Geschwister Donald und Erika, genannt Mietze.;
Und meinetwegen reiß’ jetzt Witze
Von wegen diesem KnittelversVerse, wie man sie aus dem Stegreif, zum Scherz, in Gelegenheitsgedichten macht, mit größtmöglicher Freiheit in Reim und Rhythmus, doch meist mit paarweise folgenden Reimen und vier Hebungen in der Verszeile.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 9. Leipzig 1887, S. 890],
Du weißt, s’ist meine AchillesfersAchillesferse (griech. Mythologie) Metapher für wunden Punkt, Schwachstelle..

–––

Und eine schöne Schrift hab ich auch – Und sei ein gehorsamer Sohn sagt die Tante Minnawohl scherzhafte, Autorität vorgebende Selbsttitulierung in Anspielung auf den Altersunterschied – Minna von Greyerz war 3 Jahre älter als Frank Wedekind; wenig wahrscheinlich ist es, dass hier Wilhelmine Margarethe Sophie von Greyerz, die Mutter Minnas, gemeint ist, da sie ‚Tante Sophie‘ gerufen wurde [vgl. exemplarisch Armin Wedekind an Frank Wedekind, 24.4.1885].

Minna von Greyerz schrieb am 30. April 1883 - 3. Mai 1883 in Lenzburg folgendes Briefgedicht
an Frank Wedekind

Was Deine Poesie’nmöglicherweise Wedekinds Sammlung „Poesie“; als Indiz dafür spricht das Stichwort „Hagelkorn“ hier in der 2. Gedichtzeile sowie die Wiederholung im Plural (Deinen „Hagelkörner“) in der Nachschrift, die auf Wedekinds Gedicht „Meinem Freunde“ (Poesie, Nr. 8) rekurrieren dürften: „Nein, du kritisirst zu strenge, / Darfst dich nicht so hoch erheben! / Du erwartest nichts als Perlen; / ’s muß auch Hagelkörner geben!“ // O, wie lächelst du verächtlich. / Jetzt versteh ich dich, auf Ehre! / „Wenn nur eine einzge Perle“, / Meinst du wol „darunter wäre!“ [KSA 1/I, S. 68] betrifft,
Stellst Du sie gleich dem Hagelkorn.
Dies off’ne Urtheil sich wol trifft,
Denn drunter fand ich manchen Dorn
Der mich natürlich hat verletzt,
Was Dich natürlich jetzt ergötzt.


Doch fand ich drunter manch Gedicht,
Das wiederum mir gut gefiel.
VerhelenSchreibversehen, statt: Verhehlen. kann ich jedoch nicht,
Daß mir noch etwas sehr mißfiel:
Du ahmest HeineZu Wedekinds Heine-Lektüre vgl. auch die Korrespondenzen mit Oskar Schibler, Hermann Huber und Anny Barck. gründlich nach
Den Heine, der oft gar so flach. |


Originale liebst Du wohl,
Doch machst Du selbst die Mode mit;
Pflegst HeinekultusDer Heine-Kult war im 19. Jahrhundert ein internationales Phänomen und nicht auf das deutsche liberale Bürgertum beschränkt. Dagegen bestritt das konservative, deutschnational orientierte Bürgertum die literarische Bedeutung Heines. Dessen negative literarische Wertschätzung beruhte auf Vorurteilen gegenüber Heines Lebensschicksal und seiner jüdischen Herkunft. viel zu toll,
Drum Deine Muse drunter litt.
Erzürnt Dich meine Offenheit,
Bin ich gewärtig einen Streit. –

SturmwindPseudonym von Minna von Greyerz. In der griechischen Mythologie sind die Sturmwinde (griech. Harpyien) Mischwesen in Vogelgestalt mit Frauenkopf, Töchter des Meeresgottes Thaumas und der Okeanide Elektra. Minna von Greyerz dürfte ihr Alias mit Aello (Sturmwind, auch: Windsbraut) gleichgesetzt haben, da sie auch Windsbraut genannt wurde. Beide Pseudonyme nutzte sie auch im Freundschaftsbund Fidelitas, den sie im Herbst 1883 mit Frank Wedekind („Zephyr“) und Armin Wedekind („Boreas“) gegründet hat und dem Mary Gaudard („Nordpol“) und Anny Barck („Glanzpunkt“) beitraten..


Mai 1883. Nachschrift:
Ein paar Tage sind verflossen
Seit ich die Kritik geschrieben,
Heute mach’ ich selbst mir Glossenspöttische Bemerkungen.,
Daß zu stark ich übertrieben.
Nein, ich fand nur wen’ge Dörner
Unter Deinen „Hagelkörner“vermutlich zitiert aus Wedekinds Gedicht „Meinem Freunde“ [siehe oben die Anmerkung ,Deine Poesien‘]..
Zwar mein Urtheil will nichts heißen
Und Du selbst magst drüber lachen;
Dennoch können „Hiebe“ beißen!
Nein, verdrießlich wollt’ ich machen
Dich, mein holder ZephyrPseudonym Wedekinds; in der griechischen Mythologie der milde Westwind – Bruder des Boreas, des winterlichen Nordwinds., nicht;
Drum erzürne Dich auch nicht.

Minna von Greyerz schrieb am 28. Mai 1883 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Minna von Greyerz’ Brief an Wedekind vom 2.6.1883 aus Lenzburg:]


Schon wiederHinweis auf einen kurz zuvor geschriebenen Brief – das hier erschlossene Korrespondenzstück. wirst Du verurtheilt eine meiner Episteln zu lesen [...].

Minna von Greyerz schrieb am 2. Juni 1883 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Samstag Nachmittag Juni 1883.


Lieber Franklin!

Schon wieder wirst Du verurtheilt eine meiner EpistelnHinweis auf den vorliegenden und mindestens einen früheren, nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Minna von Greyerz an Wedekind, 28.5.1883. zu lesen, was ich um so mehr bedaure, da ich Dir nichts weniger als etwas Angenehmes zu melden habe.

Der Anfang in der RegelZitat („Der Anfang in der Regel ist das Schwerste“ [KSA 1/I, S. 59]) aus Wedekinds Gedicht „Wie man sich in Aarau auf das Eidgenössische Turnfest rüstet“ [vgl. KSA 1/I, S. 55-60]. ist das Schwerste“, besonders wenn man nicht weiß, wie seine Rede hübsch einzukleiden; eben deßhalb bin ich froh, Dir mein Anliegen „auf diesem nichtZitat („auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege“) aus der Opernparodie in 2 Akten „Martha, oder: Auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege“ (Leipzig 1877) des Komponisten und Musiklehrers Hermann Kipper. mehr ungewöhnlichen Wege“ zu offenbaren, so komme ich weniger in Verlegenheit u Du kannst Deine Miene ungenirt verziehen vor – weiß ich was. Also nach dieser ungefähren Einleitung will ich jetzt mit der Thür’ in’s Haus fallen: Ich habe noch mehr Zwirn nöthig, stelle Dir vor, 3 wirklich, drei Knäuel sollte ich noch haben, es ist zum Davonlaufen. Darf’s ich Dich wohl noch einmal, hoffentlich zum letzten Mal, darum bitten, mir dies zu besorgen? Ich wäre Dir sehr dankbar, d. h. den Dank begehrst Du | wohl nicht, nun gut, so magst Du meinetwegen etwelche „DonnerwetterZitat („Donnerwetter“ auf mich beschwören) möglicherweise aus Georg Dörings Novelle „Rettung in der höchsten Noth“: „Laßt mich im Augenblick frey und unaufgehalten weiter ziehen, oder ich werde bey der nächsten Obrigkeit ein Donnerwetter auf euer Haupt beschwören, vor dem ihr zittern sollt!“ [Penelope. Taschenbuch für das Jahr 1827. Jg. 16, (Leipzig), S. 253]“ auf mich beschwören, oder ich erlaube Dir, mich das nächste Mal zu ohrfeigen, kurz ich bin ganz dehmüthigSchreibversehen, statt: demütig., soweit ich DehmuthSchreibversehen, statt: Demuth. begreifen kann. Verzeihe meine steten Anliegen, Du denkst am Ende, ich wolle Dich für dergleichen mißbrauchen und hast vielleicht nicht einmal recht Zeit, eh bien(frz.) nun; na., Du mußt nicht, Du sollst Dich selbst als liebenswürdiger Vetter nicht verpflichtet fühlen, nur wenn Du willst so gut sein. Ach Gott, ich mache Dir wohl nur zu viel Worte, aber das liegt eben meist in unsrer Natur, diese weitberühmte allbekannte Schwäche des weiblichen Geschlechts. Also noch drei Knäuel à 80 Cts. vom selben Bindfaden, dessen Muster ich mir nochmals beizulegen erlaube.

Um noch von etwas anderm zu sprechen, möchte ich Dir beiläufig bemerken, daß ich es vollkommen begreife, wenn Du dem ersten Satznicht ermittelt. v. Richtergemeint ist vielleicht der Philosoph Heinrich Ferdinand Richter, der in seiner Schrift „Über das Gefühlsvermögen“ (Leipzig 1824) zu den Themen ‚Wollen und Müssen‘ (S. 56 u. passim) sowie über den Glauben an Gott (S. 130ff.) kritisch Stellung nimmt. Möglicherweise ist aber auch der Schriftsteller Jean Paul (Richter) gemeint: „Minnas Bemerkungen könnten sich auf die ‚Rede des toten Christus‘ im ‚Siebenkäs’ beziehen“ [Austermühl 1989, S. 411 (Anm. 7)]. nicht beis ganz beistimmst. Natürlich, das Wollen und MüssenIn „Frühlings Erwachen“ (1891) wird der vermummte Herr sagen: „Unter Moral verstehe ich das reele Produkt zweier imaginärer Größen. Die imaginären Größen sind Sollen und Wollen. Das Product heißt Moral und läßt sich in seiner Realität nicht leugnen.“ [(III/7) KSA 2, S. 321; (Erläuterung), S. 828] läßt sich überhaupt sehr leicht umdrehen. Ich gebe | auch zu, daß ich mich oft, nur zu oft vom Schein blenden lasse – irren ist menschlich.

Was den 2ten Satznicht ermittelt. von R. anbelangt, habe ich ihn deßhalb gern, weil damit angedeutet ist, daß nur derjenige welcher verzweifelt, also den Glauben an sich u Alles verliet verliert u dadurch zu Grund geht, Atheist ist. So lang man aber noch an sich glaubt, Achtung vor sich selbst hat, so lang ist man auch nicht AtheistZur Atheismus-Diskussion vgl. auch Wedekinds Korrespondenzen mit seinen Jugendfreunden Oskar Schibler und Adolph Vögtlin., selbst wenn man es behaupten wollte, denn alsdann fühlt sich der Betreffende et entweder selbst als Gott, (vermessene Idee) oder Gott ist in uns.

Nein weiter philosophire ich nicht, denn ich sehe schon Dein sarkastisches Lächeln und schließlich verstehst Du mich eben doch nicht denn – „Gefühl ist Alles.Zitat („Gefühl ist alles“) aus Goethes „Faust“ (Marthens Garten) [Goethes Werke (WA), Bd. 14, S. 174 = V. 3456].

Jetzt will ich Dir noch schwarz auf weiß sagen, welche von Deinen GedichtenVon den im Folgenden genannten 18 Gedichten Wedekinds befinden sich die ersten und die letzten 6 auch in Wedekinds Heft „Memorabilia / 1882-83“ [Aa, Wedekind-Archiv B, Nr. 22; vgl. KSA 1/I, S. 776f.], das neben anderen Texten und Notizen weitere 23 Gedichte enthält. In seinem Heft „Poesie“ befinden sich die mittleren 6 Gedichte (von „Ghasel“ bis „An die Weltschmerzler“). Die erwähnten Abschriften Minna von Greyerz’ sind nur als Abschriften Sophie Haemmerli-Martis überliefert. mir am Besten gefielen: „die Liebe stieg vom Himmel nieder“, „Ein Lebenslauf“, „Abschied“, „Aenderung“, 2 Verse von dem „Traum“, Reue, Ghasel u Fernsicht, Letzteres aber nicht deßhalb weil Du Deine poetischen Ergüsse zu verbrennen gedenkst, sondern die Poesie an u für sich; abgeschrieben ferner habe ich Idyll (reizend) Lehre, Meinem Freunde | An die Weltschmerzler, Verstanden, die Sonne (gefällt mir auch recht gut), Nachtgedanken, Winter, Jubel, die Maid.

Verzeih meine Schrift, Styl, kurz das ganze Schreiben u sei mir nicht gar zu ungehalten wegen meiner Aufdringlichkeit. In fliegender Eile, drücke ich Dir vor aus tiefgefühltestem Dank stumm die Hand u grüße Dich u Deine LiebenFrank Wedekinds Eltern (Friedrich Wilhelm und Emilie Wedekind) und die jüngeren Geschwister Willy, Erika (Mieze), Donald und Emilie (Mati). Der ältere Bruder Armin Wedekind studierte in Zürich Medizin. als Deine
Cousine Minna.

Frank Wedekind schrieb am 30. Juni 1883 in Lenzburg folgendes Briefgedicht
an Minna von Greyerz

Die Lieder des GefangenenMinna von Greyerz dürfte die nicht überlieferte Gedichtsammlung, die Ihre Brieffreundin „Lieder eines Gefangenen“ [Anny Barck an Minna von Greyerz und Wedekind, 1.7.1883] nannte, wohl im Juni 1883 fertiggestellt und Wedekind mit der Bitte um eine kritische Stellungnahme übergeben haben, wie der fragmentarisch überlieferte Brief Anny Barcks nahelegt.,
Die herzzerreißend, trüben Klagen,
Die Klänge aus vergangenen,
Schon längst dahingeschwund’nen Tagen,


Sie stürzten mich in schweres Leid;
Doch wollt’ es scheinen mir bisweilen,
Als hätte der Gefang’ne Zeit,
Sie etwas besser auszufeilen. –––


––––––
Dein Franklin.

Minna von Greyerz schrieb am 28. Juli 1883 in Lenzburg folgendes Briefgedicht
an Frank Wedekind

An Deiner Dichtungsform, Zephyrin der griechischen Mythologie der Gott des Westwinds; Pseudonym Wedekinds im dichterischen Dialog mit Minna von Greyerz (Sturmwind).,
Giebt es nichts weiter auszufeilenAntwort auf Wedekinds Kritik an Minna von Greyerz’ Gedichten in der vorangegangenen Korrespondenz [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 30.6.1883].;
Doch wünschte ich von Herzen Dir
Es möchte sich Dein Inn’res heilen.
Du lächelst nun etwas moquant(frz.) spöttisch.
Und denkst: „jetzt wird sie gar moralisch“ –
Doch nein! Du liebst mich amüsant,
Drum gebe ich mich theatralisch.


So höre denn, Du Musensohn,
Wie kannst Du Dich nur unterstehen,
Den Idealen sprechen Hohn?
Im Sinnlichen nur aufzugehen?
Gewiß, Du hast mich sehr erschreckt
Mit Deinem Aufruf zur VerthierungMinna von Greyerz dürfte sich auf Wedekinds Gedicht „Entschluss“ beziehen: „Brüder, laßt uns Räuber werden, / Laßt uns plündern, brennen, tödten! / Die Gemüthlichkeit auf Erden / Ging ja doch schon lange flöten. // Brüder, es soll eine Lust sein, / Das Geraubte zu vertrinken! – / Ja, wir wollen mit Bewußtsein / Bis zum Thier hinuntersinken. // Denn zur Allgewaltregierung, / Die den Menschen zwingt zu leben, / Paßt viel besser die Verthierung, / Als ein ideales Streben.“ [KSA 1/I, S. 89; Kommentar vgl. KSA 1/II, S. 1488-1493],
Und hast Gedanken mir geweckt,
Wie jener Apfel der Verführungder Paradiesapfel, die Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, von dem zu essen Gott den Menschen dem Alten Testament der Bibel zufolge verboten hat [vgl. Genesis 2,16-17]; nach der biblischen Geschichte vom Sündenfall verführt Eva Adam, in die Frucht zu beißen, nachdem sie – selbst verführt – zuvor dasselbe tat [vgl. Genesis 3,6]..


Doch Abscheu u Empörungswuth,
Bemächtigten sich gleich der Sinne
Und sanfter ward des Denkens Fluth,
Als ich mir wurd’durch die Ziffern „2“ und „1“ angezeigte Änderung der Wortfolge „wurd’ mir“. der Äuß’rung inne:
Daß Dir die Hauptsach sei Effeckt,
Und das hast Du damit erreichet;
Allein das Böse drinnen steckt,
Weßhalb man jäh darob erbleichet. |


So war ich gleich der AnnyAnny Barck, die im Juli 1883, während des Turnerballs in Lenzburg (24.7.1883), wo sie mit Wedekind tanzte, bei ihrer Freundin Minna von Greyerz zu Besuch war. „baff“ –
Und wußte nicht was von Dir halten,
Denn Poesie soll nicht so straff
Mit derlei Hirngespinsten walten.
Auch ich hätt’ mündlich Dir in ProsaHinweis auf eine persönliche Begegnung, die einige Stunden früher – am Samstagnachmittag – zwischen Anny Barck, Minna von Greyerz und Wedekind stattgefunden haben dürfte.
Die Abhandlung darob gehalten,
Doch gleich ich darin der MimosaMimosa pudica (auch Schamhafte Sinnpflanze), tropische Pflanzenart, deren Blätter sich bei Berührung schließen.,
Bin schüchtern sollt’ ich Reden halten.


Ich hoff’ Du hast mich nun verstanden
Und wirst in Zukunft immerdar,
Mir Deine Poesien zu Handen
Dann kommen lassen, wahr und klar.


–––––

Samstagvermutlich Samstag, der 28.7.1883. Nachts die 11te Stunde verfaßt von
Deiner Freundin Minna.

Minna von Greyerz schrieb am 14. Oktober 1883 in Lenzburg folgende Widmung
an Frank Wedekind

Ob wir uns dem Tode geben,
Oder ob wir willig leben,
Stets sind wir von Gott umgeben;
Und da hilft kein Widerstreben,
Nur ein williges Ergeben
Kann uns vor uns selbst erheben.


Zur ErinnerungDer 14.10.1883 dürfte der letzte gemeinsame Sonntag von Minna von Greyerz, Frank Wedekind und seinem Bruder Armin gewesen sein, ehe letzterer nach Göttingen reiste, wo er sein Medizinstudium fortsetzte. An der Universität in Zürich, wo Armin Wedekind zuvor studiert hatte, hatten die Semesterferien am 4.8.1883 begonnen. an einen der wunderschönen
Sonntage von Sturmwind.“

Minna von Greyerz schrieb am 17. Oktober 1883 in Lenzburg folgenden Brief
an Armin (Hami) Wedekind , Armin (Hami) Wedekind , Frank Wedekind

An Boreasin der griechischen Mythologie der personifizierte den Winter bringende Nordwind. Beiname für Frank Wedekinds Bruder Armin in dem am 14.10.1883 initiierten (später Fidelitas genannten) Freundschaftsbund. und Zephyrin der griechischen Mythologie der personifizierte den Frühling bringende Westwind. Beiname für Frank Wedekind in dem am 14.10.1883 initiierten (später Fidelitas genannten) Freundschaftsbund. zur gefälligen Einsicht von ihrem getreuen Sturmwindauch Windsbraut (griech.) Aello; in der griechischen Mythologie zu den weiblichen stürmischen Winden (Harpyien) gehörend, die als geflügelte Mischwesen (Vögel mit Frauenkopf) beschrieben werden. Beiname für Minna von Greyerz in dem am 14.10.1883 initiierten (später Fidelitas genannten) Freundschaftsbund.. Folgende NamenMinna von Greyerz machte Namensvorschläge für den später Fidelitas genannten Freundschaftsbund zwischen Armin Wedekind (Boreas), Frank Wedekind (Zephyr), Minna von Greyerz (Sturmwind), Mary Gaudard (Nordpol) und Anny Barck (Glanzpunkt). sind meinem Gedankenfluß entsprungen: „Vorwärts“ – die Zusammengehörigen – die Verbundenen – die geistig verwandten Seelen – (natürlich müßte man diese Benennungen in’s Latein oder Griechische übertragen, was sich jedenfalls besser ausnimmt.) „Confluenzia“ heißt glaub’Schreibversehen, statt: glaub’ ich.: die Zusammengeschmolzenen oder Zusammengeflossenen. Ferner: „Einfall“ – Idee – (Hamyim familiären Kreis gebräuchlicher Kosename für Armin Wedekind.’s: „Dämmerung“) oder: das Unbewußte weil unser Zeichenein Kreis mit einem nach oben weisenden Pfeil an der rechten Seite. [Symbol] sich auf das Willkommsgedichtnicht ermittelt. stützt, u dasselbe der unbewußte Grund zu unsrer Verbindung gegebenSchreibversehen, statt: gewesen.; denn auf das hin seid Ihr meine lieben Windgenossen auf die Idee einer solchen Vereinigung gekommen. NordpolPseudonym Mary Gaudards in dem am 14.10.1883 initiierten (später Fidelitas genannten) Freundschaftsbund. fand Alles wunderschön und außergewöhnlich, lachte aber nicht minder zu der Vereinigung mit dem ihr ihm persönlichen unbekannten Zephyr. | Was den Schatz in Schwarzwald’s Gründen Anny Barck in Freiburg im Breisgau, die im Juli 1883 ihre Freundin Minna von Greyerz in Lenzburg besucht hatte, dort mit den Brüdern Frank und Armin Wedekind zusammengetroffen war, und im Freundschaftsbund Fidelitas den Beinamen ‚Glanzpunkt‘ wählte.anbelangt, wird er jedenfalls einverstanden seinMinna von Greyerz dürfte sich hier auf ein nicht überliefertes kurzes Schreiben ihrer Freundin Anny Barck beziehen, mit dem diese ihr Einverständis zum angefragten Freundschaftsbund gab. – Diese schnelle Einwilligung („sofort“), für die sich Wedekind ausdrücklich bei ihr bedankte [Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883], kann Minna von Greyerz frühestens am 17.10.1883 vorgelegen haben – zwei Tage für den Postweg (Anfrage und Antwort) von Lenzburg nach Freiburg im Breisgau und zurück gerechnet.; doch gehts noch 14 Tage bis seine Antwort einläuft u werdet Ihr daher dem/n/ Namen schriftlich wählen müssen von GöttingenDer Medizinstudent Armin Wedekind wechselte zum Wintersemester 1883/84 an die Universität Göttingen. Die Vorlesungszeit begann dort am 15.10.1883 [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen auf der Georg-August-Universität zu Göttingen während des Winterhalbjahrs 1883/84. Göttingen 1883 (Titelblatt)]. Armin Wedekind, der am 14.10.1883 noch mit seinem Bruder Frank und Minna von Greyerz zusammen war [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 14.10.1883] und sich bei vorliegendem Brief offenbar noch in Lenzburg aufhielt, dürfte frühestens am 18.10.1883 (spätestens am 21.10.1883) abgereist sein. Er machte Zwischenstationen bei einem Freund in Basel, Verwandten in Darmstadt, war zwei Tage zur Besichtigung in Frankfurt und wurde von der Familie Theodor Wedekinds, dem Bruder seines Vaters, in Göttingen empfangen [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Armin Wedekind, 21.-28.11.1883; Familienarchiv Wedekind, Leichlingen; Kopie in der EFFW]. Am 27.10.1883 wurde er für Medizin immatrikuliert [vgl. Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen. Hildesheim 1974, S. 562, Nr. 139]. nach Lenzburg. Unser Bund hat bereits den Erfolg erzielt daß Nordpol demnächst nach Freiburg schreiben wird. Wegen unsern Farben bin ich ist mir eingefallen, daß wir drei harmoniren sollten z. B. Zephyr weiß, Boreas schwarz od. umgekehrt u ich als Verbindungsglied grau. Anny himmelblau u Mary rosa: Nichtwahr?
Mit herzlichem Gruß verbleibe ich Euer,
Sturmwind.

Frank Wedekind schrieb am 27. Oktober 1883 in Lenzburg folgenden Brief
an Minna von Greyerz

Erst dies lesen!

Schloß Lenzburg, GeisterstundeDie Stunde zwischen Mitternacht und 1 Uhr früh – passend zum Inhalt des Gedichts..


Liebe Cousine,

Daß ich Dir in allem Ernste zumuthe, beiliegendes langes PoemaWedekinds Gelegenheitsgedicht „Die ästhetische Caffeevisite“ [vgl. die Beilage], das er zu Minna von Greyerz’ Geburtstag verfasste. von vorn bis hinten durchzulesen, ist eigentlich nur Folge davon, daß ich Dir die Kritik vo Deiner G. versprochen und letzten Sonntagden 21.10.1884 – Frank Wedekind, Minna von Greyerz und (bis zum 14.10.1883) auch Armin Wedekind trafen sich im Herbst regelmäßig an ihren freien Sonntagnachmittagen [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 14.10.1883]. schon vom Anfang des G/g/anzen Opus geplaudert hatt/b/e. Da ich nun mit Recht hoffte, Dich am Sonntag, daßs wäre morgenSonntag, den 28.10.1884., wiederzusehn, so drängte mich mein Pflichtgefühl doch, | Das angefangene Geschreibsel zu vollenden. Die ersten 4 Seiten waren vorhanden, und heute dichtete ich in der Eile die folgenden 12 dazu. Sollt’ ich Dich in der Beurtheilung Deiner G. irgend wie beleidigt haben, so bitte ich schon im Voraus um Verzeihung. Doch so viel kann ich Dich versichern, daß ich mit gutem Gewissen zu Gr/e/richt gesessen bin. Das WeltschmerzpoemaWedekind fügte die 3 Strophen seines Gedichts „Die Schöpfung“ (vom Frühjahr 1883), in den Schlussteil des Widmungsgedichts „Die ästhetische Caffeevisite“ ein [vgl. Beilage S. 17-18]. am Ende des Gedichtes hab’ ich hineingeflickt, weil der Satznicht ermittelt. drin vorkommt, der Dich so sehr zu interessiren schei/ie/n. Ich glaube aber kaum, daß du Dich so weit durcharbeiten wirst, denn wenn ich mir vorstellen, wie langweilig mir sogar, dem Autor, das das ganze Machwerk vorkommt, | So wag’ ich kaum, mich dem Urtheil Anderer zu unterziehen. – Also Gnade und Barmherzigkeit laß walten einem armen Sünder gegenüber, der im Schweiße seines Angesichts auf Commando dichtendanlässlich des Geburtstags Minna von Greyerz’ am 27.10.1883. keine Perlen zum Tage förderte! Und wenn Du das Gedicht zu lesen angefangen hast und die Geduld will Dir reißen, denn Du siehst immer noch kein Ende, wie der besorgte Seemann auf hohem Meer Tag für Tag vergebens nach Land ausschaut, dann erinnere Dich des Reimund’schen VersesVerse des österreichischen Dramatikers Ferdinand Jakob Raimund; in dessen romantischem Zaubermärchen „Der Bauer als Millionär“ (1826) singt die Jugend: „Scheint die Sonne noch so schön, Einmal muß sie untergehn.“ Diese Verse wurden durch Heinrich Heine im Vorwort zu seinem „Buch der Lieder“ umgedichtet zu: „Und scheint die Sonne noch so schön, Am Ende muß sie untergehn.“ [DHA 1/1, S. 566]:

„Und scheint die Sonne noch so schön,
Am Ende muß sie untergehn.“


Ich wünsche DirEs dürfte sich hier um Wedekinds Glückwünsche zu Minna von Greyerz’ 22. Geburtstag (27.10.1883) handeln. also gutes Glück, Gottes Segen und recht viel Sonnenschein auf all Deine Lebenswege ,! | Und damit verabschiede ich mich, denn des ist bereits 1 Uhr, und mein Bett steht noch leer. Meine schlechte Schrift mußt Du verzeihen, denn sie steht einmal da und alles Reclamiren würde nichts mehr nützen. Übrigens hab ich heute schon sehr viel geschrieben, was noch ein weiterer Entschuldigungsgrund ist.

Gute Nacht! schlaf wohl!
Morgen auf Wiedersehn!
Träume süß, liebe Minna!


Dein Franklin a/g Zephyrin der griechischen Mythologie der personifizierte den Frühling bringende Westwind. Beiname für Frank Wedekind in dem am 14.10.1883 initiierten (später Fidelitas genannten) Freundschaftsbund..


[Beilage:]

Meiner lieben Cousine
Minna von Greyerz.


Eine ästhetische Caffeevisite. |


Wol gibt es Gespenster.
Sie schleichen sich sacht
Durch Thüren und Fenster
In finsterer Nacht.
Sie kommen und gehen,
Bevor wir erwacht,
Und haben uns herrliche
Träume gebracht. ––

[Finisschnörkel] |


Da trat sie ein. In ihren Blicken
Las ich die Freuden dieser Welt,
Auf ihren Lippen das Entzücken,
Das Menschen fest zusammen hält.
Das Diadem in ihrem Haare,
Hell strahlt’ es – da erkannt’ ich sie,
Die Königin der Jugendjahre,
Die schöne Göttin Poesie.


„O, sei mir tausend Mal willkommen!
Hier steht ein Canapee; komm, setz’ dich hin.
Und wenn du artig Platz genommen,
Dann, wunderbare Königin,
Erzähl’ mir alles, was seit Anbeginn
Der Zeit, die wir uns nicht gesehen,
In Deinen Reichen Interessantes ist geschehen.“


Die Göttin nahm die Laute von der Wand
Und ließ sich vornehm auf den Sopha nieder, |
Drauf stimmte ihre kunstgeübte Hand
Die schlaffgeword’nen Saiten wieder.
Es rauschten ihre zarten Finger in den Strängen
Mit einer Fertigkeit, die Ihr nicht kennt;
Und aus dem neubelebten Instrument
Floß ein bewegtes Meer von wundervollen Klängen.


Jetzt aber leg ich meine Feder hin.
Denn, ach, mit welchen Worten, welchen Bildern
Könnt’ ich die zauberhaften Töne schildern,
Die aus der Kehl’ ihr strömten?! – Nein ich bin
Zu schwach zu solchem Werke. Tiefbeschämt
Laß ich in diesem Fall mein Schweigen reden
Und bitte unterthänigst einen Jeden
Von Euch, daß Ihr es mir nicht übel nehmt.


Ich hatte unterdessen den Kaffee
Gekocht, und als er nun tiefbraun und klar
Im feinsten Porzellan bereitet war,
Setzt’ ich mich ebenfalls aufs Canapee.
Noch sang und spielte sie geraume Zeit, |
Ich aber, zur Erhöhung der Gemüthlichkeit,
Hätt’ gern mir ’ne Cigarre angezündet.
Jedoch ein Blick von meiner Königin
Bracht’ unerwartet wieder mir zu Sinn,
Daß Rauchen sie höchst unpoetisch findet.


Derweilen war aus strammen Duraccorden
Durch manche Fuge, reich und wundervoll,
Ihr Spiel zur süßen Phanthasie geworden,
Die bald in trübem, grambewegtem Moll,
Bald leichthin tändelnd sich zum Herzen schleicht,
Und hat sie dort der Saiten Zarteste erreicht,
Dieselbe unbarmherzig läßt erklingen,
Daß uns die Thränen in die Augen dringen. –
So ging’s auch mir: Ich spürte schon das Nasse
Im Augenlied. Es war die höchste Zeit;
Sie sollt’s nicht sehn. – In der Verlegenheit
Griff hastig ich nach meiner Caffeetasse. –
Was half’s? Die Göttin hatte sich bereits
An meiner Rührung schadenfroh geweidet
Und so ihr Ziel erreicht; auch ihrerseits
Sich selbst das Melancholische verleidet. |


Durch wunderbares Zwischenspiel –
Ich wage nicht, es kritisch zu behandeln –
Ließ sie die Sehnsuchtsklänge voll Gefühl
In eine lust’ge Tanzmusik sich wandeln.
Da ward mir plötzlich sonderbar zu Muth:
Schnell fuhr ich auf aus düst’ren Träumen;
Ich sah im Geiste mich in weiten Räumen,
Erhellt durch vieler Lampen lichte Gluth.
Rasch ging der Tact, noch rascher floß mein Bluth.
Die Göttin recitirt’ in schönen StanzenStrophenform; elfsilbige, jambische Achtzeiler mit der Reimfolge abababcc.
Ein Epos„Frühe epische Großform in gebundener Sprache, die sich bevorzugt erhabener Stoffe wie Götter- und Heldensagen oder ‚großer‘ historischer Ereignisse bedient und sie in pathetisch-feierlichem Stil wiedergibt. Den Beginn der abendländischen Epentradition markieren Homers ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘“ [KSA 1/II, S. 1476]., doch ich hörte nur den Schall.
Mir war’s, als dürft’ ich auf dem TurnerballIm Sommer 1883 wurde das kantonale Turnfest, das mit einem Turnerball endete, von der Stadt Lenzburg ausgerichtet. Die Presse berichtete: „Den würdigen Schluß des Festes bildete ein recht gelungener Ball in den geräumigen Gemeindesäälen, an welchem sich cirka 60 vom Comite offiziell eingeladene Damen und ca. 70 Herren betheiligten. – Die letzten Gäste waren die mit so brillantem Erfolg gekrönten Aarauer, welche Abends halb 6 Uhr verreisten. Eine Anzahl Lenzburger Turner ließ es sich nicht nehmen, dieselben bis nach Aarau zu begleiten.“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 29, Nr. 175, 26.7.1883, S. (2)] Schon am Vortag hieß es in einer Kurzmeldung: „Am 24.7.1883, Abend 6 Uhr. Rückkehr der Turner aus Lenzburg [Aargauer Nachrichten, Jg. 29, Nr. 174, 25.7.1883, S. (2)].
Mit Fräulein BarckAnny Barck besuchte Ende Juli 1883 ihre Freundin Minna von Greyerz in Lenzburg, wo Wedekind sie kennenlernte und sich in sie verliebte. noch einen Walzer„als bezeichnung eines drehtanzes im ¾ takt (verwandt mit dem dreher, schleifer, auch ländler, von denen er sich durch ein rascheres tempo unterscheidet, auch deutscher tanz“ [DWB Bd. 27, Sp. 1437]. tanzen.
So träumt’ ich denn in meinem Geist
Von Walzer, Schottisch„Auch Schottisch-Walzer oder Ecossaisen-Walzer genannter Paartanz, der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem beliebten Modetanz entwickelte. Die Bewegungsfolge besteht aus einem Wechselschritt mit anschließendem Hüpfer.“ [KSA 1/II, S. 1477], Polonaisen„Feierlich geschrittene Promenaden der Paare im 3⁄4-Takt. Sie sind als Eröffnungstänze bei großen festlichen Bällen bis heute beliebt.“ [KSA 1/II, S. 1477];
Sah, wie der ganze Saal im Wirbel kreist,
Und wie ich selbst der Glücklichste gewesen,
Und wie mir meine güt’ge LehrerinAnny Barck hatte Wedekind die Tanzschritte beigebracht [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883].
Die kleinen Schritte explicirte,
Und wie ich doch unsterblich mich blamie/r/te,
Da ich durchaus kein leichter Tänzer bin. – |


Die Göttin intonirt’ indessen Stück für Stück
Auf ihrer Laute wie mit Klarinett’ und Flöthen,
Mit Paukenbiblisches Zitat: „Und David und das ganze Israel tanzten vor Gott einher mit aller Macht und unter Gesängen, mit Zithern, Harfen, Pauken, Cymbeln und Trompeten.“ [1. Chronik 13,8] – Cymbeln sind antike Schlaginstrumente, die aus zwei hohlen Becken bestehen., Cymbeln und Trompeten –
Es war die reinste Regimentsmusik.
Da plötzlich – eben spielte sie
’ne schöne Polkamelodie, ––
Brach jählings sie mit einem Mißklang ab,
Der weithin schrillend durch die Saiten kreischte;
Schnell fiel aus meinem Himmel ich herab,
Da mir der Jammerton das Ohr zerfleischte.
Und als ich vollends dann erwachte,
Da saß ich wieder auf dem Canapee
Bei meiner Königin. Es dampfte der Kaffee,
Sie aber sah mich höhnisch an und lachte. ––


Jedes Ding hat einst ein Ende:
Daß ich, stas/t/t in schweren JambenVersfuß; eine unbetonte und eine betonte Silbe.
Weiter meine Bahn zu trampen„plump, schwer, geräuschvoll auftreten“ [vgl. DWB Bd. 21, Sp. 1183].,
Zu TrochäenVersfuß; Gegenstück zum Jambus: eine betonte und eine unbetonte Silbe. nun mich wende,
Wird mir gnädigst wol verziehen; |
Denn für solche Poesieen,
Wie sie mir im Kopfe liegen,
Muß die Feder schneller fliegen
Und mit ewig heiter’m Sinn,
Wie die schöne Tänzerin,
Die auf Schillers gottgeweihten
Brettern, dieDie sprichwörtliche Bezeichnung des Theaters als Bretter, die die Welt bedeuten, prägte Schiller in seinem Gedicht „An die Freunde“ [vgl. Schillers sämmtliche Schriften 2/I, S. 225f.]. die Welt bedeuten,
Leichten Fußes sich bewegt,
So auf leichten Füßen springen,
Daß ihr Tanzen, daß ihr Singen
Freudig unser Herz erregt. –


Ja, ich war auch ganz begeistert:
Eben hatten noch die Klänge
Und der Göttin Tanzgesänge
Meiner Sinne sich bemeistert, –
Sieh, da wußte sie mein Ohr
Schon aufs Neu’ zu unterhalten,
Denn aus des Gewandes Falten
Zog sie nun ein BuchAnspielung auf ein Buch oder Album von Minna von Greyerz (s. u.); nicht überliefert. hervor,
Das aufs Schönste eingebunden |
War in rothem SaffianZiegenleder.,
Und mit Goldschnitt angethan.
Auf der ersten Seite stunden
Weng’eSchreibversehen, statt: Wen’ge. Wort in großen Lettern,
Daß in diesen Palmenblättern„palmblätter wurden, ehe noch das papier aufkam, zum schreiben gebraucht“ [DWB 13, Sp. 1413].
Uns entdeckt ihr großes Herz
Fräulein Minna von Greyerz. –


Und gleich sah man, daß ein wilder
Genius in dem Buche weilt’,
Denn ohn’ Ordnung d’rum vertheilt
Waren viele Abziehbilder:
Männer, Frauen, kleine Kinder,
Thiere, Pflanzen und nicht minder
PostillioneSchreibversehen, statt: Postillone. – Gemeint sein dürfte hier die Schmetterlingsart (Tagfalter)., Bürstenbinderauch Bürstenspinner (Orgyia), ein Gattung von Nachtfaltern.
Alles, was den Geist belebt,
Fand man hier in bunten Reihen
Einzeln, paarweis und zu Dreien
Durcheinander aufgeklebt.


„Richte, was drinn ist, |
Nicht nach der Hülle! –
Was voller Sinn ist,
Lebt in der Stille.
Oft trägt, was Klarheit ist,
Närrisch’ Gewand.
Wo keine Narrheit ist,
Wohnt kein Verstand!“


Diese tiefgedachten Worte
Sprach zu mir mit vielem Pathos
Meine Göttin, als ich rathlos
Stets noch an des Buches Pforte
All’ die zarten, wundernetten,
Bunten TitelviniettenSchreibversehen, statt: Titelvignetten – Verzierungen des Titelblatts.
Stummen Mund’s betrachtete
Und sie halb verachtete. ––


Als ich aber mit der Hand
Nun die Blätter umgewandt,
Da entdeckt ich eine Menge
Schöner Lieder und Gesänge,
Sprüche, die von Weisheit schwer, |
Worte, die uns wider Willen
Oft aus tiefstem Herzen quillen
Und noch vieles andre mehr.
Da entdeckte ich Gedanken,
Welche nur in trüben Stunden,
Tief, im Schmerzgefühl der Wunden,
Wenn wir, fast verzweifelnd, wanken,
Aus dem Kopf heraus sich ranken. –
Alles was uns hier im Dasein
Nur bemerkenswerth erscheint,
Mag es ferne, mag es nah sein,
War in diesem Buch vereint. –


Aber als ich nunmehr fragte,
Wie sie denn das alles fände,
Was darin geschrieben stände,
Hub die Göttin an und sagte:


„Die Sonne sinkt im Westen nieder
Und steigt im fernen Ost empor. –
Ein ganzer Frühling sproßt hervor.
Er grünt und blüht und welket wieder. – |


Auf unabänderlicher Bahn
Ziehn durch den Weltraum die Planeten,
Und ewig singen die Poeten
Von Liebesglück und Liebeswahn.


Die Erde fliegt mit ihren Polen
Dahin in tausendjähr’ger Spur.
Das ganze Weltall siehst du nur
Die eig’nen Wege wiederholen.


Jedoch des Menschen Geist allein
Bleibt immer neu und unergründet.
Was sich in Deiner Seele findet,
Das wird dir stets ein Räthsel sein.


Denn wie der Schiffer auf dem Meer
Vergebens sucht den Grund zu sehen,
So ist’s dem Menschen doppelt schwer,
Ein tiefes Herze zu verstehen.


Hier aber tritt es schön zu Tage
In kunstgerechtem Strophenbau:
Des Lebens Fröhlichkeit und Plage,
Das alles spiegelt sich genau. |


Du siehst, wie Leidenschaften kämpfen
In sturmbewegter Fluthen Gischt;
Bis die Vernunft, die Gluth zu dämpfen,
Mit ihrer Weisheit drein sich mischt.


Aus tiefempfundenen Sonn/e/ttenaus 4 Strophen (2 Quartette und 2 Terzette) bestehende Gedichtform mit länderspezifisch unterschiedlichen Versmaßen. – Die Sonette der Freundschaft sind nicht überliefert.
Der Freundschaft kannst du klar ersehn,
Wie sich zwei Herzen eng verketten,
Die sich begreifen und verstehn.


Wie sich zwei Herzen innig lieben
Und, ob auch Jahre fließen hin,
In unabänderlichem Sinn
Sich ohne Wanken treu geblieben. –


Zwar sind noch holprig oft die Wege,
Als ging es durch den dicht’sten Wald.
Doch steht zu hoffen, daß recht bald
Der kleine Übelstand sich lege.


Hingegen was mir auf der Stelle
Gefiel, und was ich fand noch nie,
Das ist das ganz Originelle
In dieser Freundschaftspoesie: |


Nichts schleppt die Dichterin uns her
Von überird’schem Liebeswesen
Man sieht, sie hat nicht viel gelesen,
Doch dafür denkt sie desto mehr.


Auch Pessimismuszur Pessimismus-Diskussion Wedekinds vgl. auch seine Korrespondenzen mit Oskar Schibler, Adolf Vögtlin und Olga Plümacher. find’st du nicht;
Obschon es Mode jetzt geworden,
Daß man von frechem Selbstermorden,
Von tiefer Weltverachtung spricht.“


(Ich schlug beschämt die Augen nieder
Als plötzlich ich dies Wort vernahm,
Das ihr aus tiefster Seele kam,
Und dacht’ an meine Weltschmerzliederlyrische Dichtungen im Stile Nikolaus Lenaus und Lord Byrons. Wedekind dürfte an seine Gedichte „Die Rache“, „Weltschmerz“, „Auf der Brücke“, „Winter“ und „Ende“, alle 1880/81 entstanden, gedacht haben, kritisch distanziert er sich von dem Stil in den Gedichten „An die Weltschmerzler“ und „Änderung“ (1882/83) [vgl. KSA 1/I, S. 1000]..)


„Nein, wahre, sittliche Moral,“
Fuhr ungestört die Göttin weiter.
„Und froher Lebensmuth spricht heiter
Aus ihren Worten überall.


Rein sieht man die Gedanken quillen;
Die Form zwar könnte besser sein. |
Die Dicht’rin soll den neuen Weinbiblische Redewendung nach dem Neuen Testament: „Man füllt auch nicht jungen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißen die Schläuche [...]. Jungen Wein füllt man in neue Schläuche, dann bleibt beides erhalten.“ [Matthäus 9,17-18]
Nicht in die alten Schläuche füllen.


Nein, neue Schläuche schaffe sie
Für ihren Wein in voller Gährung.
Dann wird wol auch der Welt Verehrung
Nicht fehlen ihrer Poesie.


Selbst Götter werden niedersteigen
Und horchen auf der Laute Klang.
Der ganze Himmel wird sich neigen
Vor ihrem herrlichen Gesang.


Sie wird die Sterblichen erheben
Durch ihre Weisen, stark und schön. –
Dann werd’ auch ich herniederschweben
Von des Olymposder höchste Berg Griechenlands; in der griechischen Mythologie der Sitz der Götter. lichten Höh’n;


Und mich erfreu’n an ihren Tönen,
An ihrer Rede tiefem Sinn,
Und mit geweihtem Lorbeer krönen
Die Stirne meiner Priesterin. –[“]


Die Tassen hatt’ ich unterdessen frisch gefüllt, |
Und als die Göttin nun mit ihrer Rede fertig,
Und ihren Durch/s/t durch einen guten Schluck gestillt,
War ich des Weiteren gewärtig.
Sie aber sah mich eine Weile forschend an;
Ironisch lächelnd sprach sie dann:


„Mein Bester, jetzt gestatt’ ich dir“ –
Und gnädig senkte sie dabei die Wimpern –
„Auf deiner Dichterharphe mir
Auch einmal etwas vorzuklimpern.“ –


„Ach, meine Göttin“, sprach ich „ich kann Ihnen
Ja nur mit Weltschmerzliedern dienen!“


„Thut nichts!“ sprach sie, und ich griff schnell
In die von ihr gestimmten Saiten, |
Um mit Accorden, voll und hell,
Die Klageworte zu begleiten:


Halte das LebenMit dieser und den beiden nachfolgenden Strophen zitiert Wedekind sein bereits im Frühling 1883 entstandenes Gedicht „Die Schöpfung“ [vgl. KSA 1/I, S. 180; (Kommentar) KSA 1/II, S. 1352]. – Das Motiv vom Leben als Traum ist durch Pedro Calderón de la Barcas Versdrama „La vida es sueño“ (1636; dt.: Das Leben ein Traum) bekannt. Dem erkenntnistheoretischen Topos kommt in Schopenhauers Philosophie („Die Welt als Wille und Vorstellung“, 1859), die Wedekind vertraut war, ein zentraler Stellenwert zu. für einen Traum!!
Was nützt dir alle Philosophie?!
Verschling den ganzen Erkenntnißbaum,
Du findst doch die ewige Wahrheit nie.
Und wenn ich Himmel und Hölle früge,
Sie sprächen: Die Wahrheit ist eine Lüge!


Wahrheit ein eit’les Hirngespinst!
Und eitel sind Recht und Gerechtigkeit! –
Versuch, ob du sie bei den Göttern gewinnst! –
Auf Erden herrschet die Schlechtigkeit.
Sie ruht in der Schöpfung geheimsten g/G/ewalten,
Und/Sie/ wird die Welten auf ewig erhalten. |


Frag, wie das Übel entstanden sei?!
Todt lag das All in friedlichem Grab,
Bis daß mit grausamer Barbarei
Ein Gott dem Staube das Leben gab. –
So zeugte am Sechsten der SchöpfungstageNach der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments der Bibel schuf Gott am 6. Tag den Menschen „zu seinem Bilde [...] als Mann und Weib“ [Genesis 1,27].
Der erste Frevel unendliche Plage!“ –


So sang ich zu dem Schmerzgewimmer
Der weichen Laute mein Gedicht.
Ein leises Rauschen durch das Zimmer
Das störte meine Worte nicht.


Doch als der letzte Ton verklungen,
Und ich mich umsah, ward mir klar,
Daß, während ich mein Lied gesungen,
Die Poesie verduftet war. –


[Finisschnörkel mit Schlusspunkt]

Franklin Wedekind.

Frank Wedekind schrieb am 30. November 1883 in Lenzburg folgenden Brief
an Minna von Greyerz

(Nov 1883)Bei der eingeklammerten Datumsangabe dürfte es sich um eine handschriftliche Ergänzung Sophie Hämmerli-Martis handeln.


Zuerst dies lesen!

Schloß Lenzburg GeisterstundeDie Stunde nach Mitternacht (= 0-1 Uhr).

Cousine SturmwindMinna von Greyerz’ Pseudonym im Fidelitas genannten Freundschaftsbund, zu dem sich die Brüder Armin (Boreas) und Frank Wedekind (Zephyr/Cephyr), Minna von Greyerz, Mary Gaudard (Nordpol) und Anny Barck (Glanzpunkt) verschwistert hatten..

Ich wollt’Zitat („Ich wollt’ meine Schmerzen ergössen / Sich all in ein einziges Wort, / Das gäb’ ich den lustigen Winden, / Die trügen es lustig fort.“) der 1. Strophe des 59. Lieds aus Heines „Buch der Lieder“ [(Reisebilder. Erster Theil), DHA, Bd. 1/1, S. 272]. – Ob die hier wiedergegebenen Abweichungen („wollt’,“ statt: „wollt’“; „sich all’“ statt: „Sich all“; „einziges“ statt: „ein einziges“; „das gäb“ statt: „Das gäb’“; „fort“ statt: „fort.“; „de“ statt: „Die“) auf Wedekind oder Sophie Hämmerli-Marti zurückgehen, ist unklar., meine Schmerzen ergössen sich all’ in einziges Wort, das gäb ich den lustigen Winden, de trügen es lustig fort“ – So sang Heine und hat es vielleicht nie empfunden. Ich aber, der nicht so schön singen kann, ich empfinde es mit der ganzen Glut meiner Seele. – Dir Sturmwind, will ich keine Schmerzen klagen und so wird das Heinische Lied vielleicht zum ersten Mal dramatisch aufgeführt. – Doch zuvor mußt du eine Geschichte anhören, die mir jüngst in den Sinn kam. Sie spielt zwar nicht erst jetzt, sondern schon seit undenklichen Zeiten und nicht in Lenzburg sondern im Weltall. So höre denn:

Einsam und hülflos stand die junge Menschheit Der allgewaltigen, schrecklichen Natur gegenüber | und wußte nicht, wohin das Auge wenden, um nicht Grauen und Schauder zu empfinden. Da sehnte sich ihr zages Herz nach einem trauten Freunde, dem es sich offenbaren, bei dem es Hülfe suchen durfte. Ach, es fand ihn nur in eigenen Träumen und Hoffen. So entstand Gott. Aber der unerbittliche strenge Verstand prüfte mit pedantischer Genauigkeit das Treiben seines Meisters. Mißtrauisch erforschte er deßen Gedanken. „BesserDas Zitat („Besser gar kein Freund als ein falscher Freund“) dürfte an die Redewendung „Ein offenbarer Feind ist besser als ein Falscher Freund.“ [Wander 1867, S. 967, Nr. 59] angelehnt sein. gar kein Freund als ein falscher Freund“! Und dann verbannte er auf ewig den frommen Kinderglauben aus meiner (!) arglosen Seele. Doch kein Unglück ohne Segenin Anlehnung an das Sprichwort: „Kein Vnglück ist ohn Glück“ [Wander 1870, Bd. 4, Unglück, Nr. 185].: Mit der Verzweiflung an Gott wuchs in mir der Glaube an die Menschheit und das Verlangen, mit ihr zu verkehren, sie kennen und lieben zu lernen. Ich glaube nicht, daß mein Herz den Tausch zu bereuen hat. – Soweit die Theorie. Und die Praxis? ––– |

Das Sonett, welches ich Dir mit diesem Briefe sendeWedekinds Gedicht „Blanche Zweifel“, dessen Titel er in hebräischen Lettern schrieb: „כלנֺש צויפל / Wol werden meine Kühnheit Sie nicht loben; / Nein, zürnen hör ich Sie, weil heiß durchglüht / Von wildem Feuer meine Rede sprüht. / Doch hoff’ ich Glück, wenn Sie das Wort erproben. // Denn wem im Herzen laut’re Freundschaft blüht / Vom Dufte zarter Harmonie umwoben, / Deß Seele fühlt sich stolz emporgehoben, / Und süße Freud verkläret sein Gemüth. // Vertrauensvoll vor Ihnen ausgebreitet / Sehn Sie mein Herze. – Noch kein Stern verlieh / Ihm jenes Licht, das uns auf Erden leitet. // Doch was in Winterskälte nicht gedieh, / Das athmet auf vom Frühlingshauch begleitet / Im warmen Sonnenglanz der Poesie.“ [KSA 1/I, S. 181] Zum Verbleib der nicht überlieferten Beilage äußerte sich Minna von Greyerz zwei Wochen später [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 10.12.1883]. entstand letzten Montag Morgenam 26.11.1883.. Du erhältst es nun zu strenger, rücksichtsloser Kritik. Schone es so wenig, wie ich deine LiederWedekind hatte in dem Gedicht „Die ästhetische Caffeevisite“ eine nicht überlieferte Gedichtsammlung seiner Cousine kritisiert [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 27.10.1883]. schonte: „Aug um AugGleiches mit Gleichem vergelten nach dem biblischen Rechtsspruch des Alten Testaments: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ [Exodus 21,23].“! Zahn um Zahn! sei unser Wahlspruch in dieser Sache. – An wenBlanche Zweifel, geborene Gaudard, eine Schwester von Minna von Greyerz’ Freundin Mary Gaudard; sie war seit 1882 verheiratet mit dem Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel. es gerichtet ist, das mußt du selber erraten.

Vielleicht giebt dir der Titel Aufschluß. Die Veranlaßung war der Tanzabend bei HünerwadelsÜber den Rahmen der Festivität am Abend des 25.11.1883 schrieb Frank Wedekinds Vater: „ein Ball für nur junge Leute, gemeinschaftlich von Fritz Hünerwadels und Wilhelm Schwarzes und im Hause der erstren, von welchem Bebi erst heute früh nach 3 Uhr heimkam.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Armin Wedekind, 21., 26., 28.11.1883 (Familienarchiv Wedekind, Leichlingen)]. Ich bitte dich, zeig es niemandem, obschon ja durchaus nichts Schlimmes darin steht und ich für jedes Wort mit Leib und Seele einstehen möchte. Doch könnte es immerhin auf keinen Fall etwas nützen. Vielleicht daß mir das Schicksal ein ander Mal günstiger ist und die Damen von Lenzburg nicht im Frauenverein versammelt hältDer Lenzburger Frauenverein traf sich am Donnerstag, den 29.11.1883 [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.12.1883]. – Sein Gründungsjahr ist unbekannt, eine kleine Mitteilung in der Presse bestätigt für das Jahr 1877 seine Existenz: „Aargau. Der Regierungsrath hat dem Frauenverein Lenzburg die Verloosung von Gaben zu Gunsten der Mädchenerziehungsanstalt Friedberg bewilligt.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 57, Nr. 485, 16.10.1877, Erstes Blatt, S. (2)] Als sich am 22.4.1889 in Aarau der SGF (Schweizerischer gemeinnütziger Frauenverein) gründete, wurde mit Gertrud Villiger-Keller eine Lenzburger Frauenrechtlerin zur Präsidentin gewählt. [vgl. Der Bund, Jg. 40, Nr. 175, 27.6.1889, S. (2); Heidi Neuenschwander: 101 Jahre Schweizerischer Gemeinnütziger Frauenverein – 100 Jahre Sektion Lenzburg. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Jg. 61, 1990, S. 52-59]., wenn ich ausgehe, um Visiten zu machen. O, mein verwünschtes Pech!! –––––

Soll ich dir noch mehr gestehen? – Nun warum denn nicht. – Es war besonders das | unruhig leuchtende und doch so freundliche Feuer, es waren die wenigen Worte, die mich einen überlegenen Verstand ahnen ließen, was mir solch tiefen Eindruck machte. Wie willkommen war mir doch Mamas Gedanke, ich könnte sie besuchen und mich nach ihrem Befinden erkundigen! Das lebhafte, vernünftige Gespräch einer Viertelstunde hätte mich ja für ein halbes Jahr beseligt durch ewig frische Erinnerung. – Ich weiß nun zwar recht wohl was du denkst beim Lesen dieser Worte. „Noch kein halbes Jahr[“] sagst du zu dir selber, „ist es her, da war er in ganz gleicher Weise begeistertWedekind spielt an auf seine Verliebtheit in Anny Barck, die im Sommer ihre Freundin Minna von Greyerz in Lenzburg besucht und die Wedekind dort kennengelernt hatte [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883]. und schwärmte ebenso feurig und erging sich in Gedanken und Träumen. Noch hat er nicht den ersten Brief abgesandt, da beginnt er schon wieder von neuem mit solchen Reden um sich zu werfen.“

––– Höre, wenn meine Gefühle anderer Natur wären, so möchtest du darin Recht haben. Aber sie sind nicht das, wofür sie die Welt halten würde, wenn sie auch nur eine Ahnung davon hätte. Deswegen spreche | ich sie auch so offenherzig aus und hoffe, nicht misverstanden zu werden. –

–––––

Der Briefder Brief an Anny Barck, die in Freiburg im Breisgau lebte [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883]. nach Freiburg ist vollendet u harrt seiner Absendung. Frl. Barck wird Gott danken wenn sie ihn durchgelesen hat. Es steht nicht gerade viel Interessantes darin. Doch wird sich sichSchreibversehen (Wedekinds oder Sophie Hämmerli-Martis), statt: sich. das mit der Zeit schon fahndeSchreibversehen (Wedekinds oder Sophie Hämmerli-Martis), statt: finden.. Mein nächstes Schreiben wird nunmehr nach GöttingenKorrespondenzen zwischen Frank Wedekind und seinem Bruder Armin sind erst ab Frühjahr 1884 überliefert. gehen um unserem BoreasArmin Wedekinds Pseudonym im Freundschaftsbund Fidelitas – in der griechischen Mythologie die Personifikation des rauen Nordwinds. von dem jetzigen Stand der Dinge zu unterrichten, daß er dem BundeDer wohl am 14.10.1883 gegründete Freundschaftsbund Fidelitas, dem Minna von Greyerz, deren Freundinnen Mary Gaudard und Anny Barck sowie Frank und Armin Wedekind angehörten. nicht entfremdet wird, und um ihn, ein wenig mit dem Holzschlegel winkend, an seine Versprechungen zu erinnern. Sorge daß dieser Brief nicht in unrechte Hände kommt. –

Mit besten Grüßen, auf Wiedersehn.
Dein Cephyrauch Zephyr; Wedekinds Pseudonym im Freundschaftsbund Fidelitas – in der griechischen Mythologie die Personifikation des milden Westwinds..
[Zeichnung: Regenbogen-Symbol]

                             

Minna von Greyerz schrieb am 2. Dezember 1883 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

[Zeichnung: Regenbogensymbol]

Bundesbruderim Fidelitas genannten Freundschaftsbund, zu dem sich die Brüder Armin (Boreas) und Frank Wedekind (Zephyr/Cephyr), Minna von Greyerz (Sturmwind), Mary Gaudard (Nordpol) und Anny Barck (Glanzpunkt) verschwistert hatten.,
lieber Zephyr!

Habe keine GeisterstundeAnspielung auf Wedekinds Datierung („Geisterstunde“) seines letzten Briefs [Wedekind an Minna von Greyerz, 30.11.1883]. aufzuweisen, denn sie ist schon vorüber u die andre noch nicht angekommen, weßhalb mein jetziges Schreiben schwerlich einen schauerlichschönen, gruseligfeinen Eindruck machen wird, umsoweniger, da ich meine Seelenzustände nicht in klaren Worten definiren u klar legen kann, weil dieselben gegenwärtig in chaotischer Unordnung durcheinanderwogen. Ach ja, das Menschenherz ist ein gar wunderliches Ding! Doch um mich nicht auf Abweg führende Reflexionen bringen zu lassen, will ich mich gleich an die scharf gewünschte Kritik wagen. Ja wahrlich, es ist für mich dies ein Wagniß, umsomehr weil ich entweder nicht mehr stark zu denken vermag, oder mein sonst nicht scharf ausgeprägter Verstand, heut besonders viel zu wünschen übrig läßt, oder weil es überhaupt ein Unternehmen für mich ist. So höre denn, | und entrüste Dich! Das Sonett das Gedicht „Blanche Zweifel“ [vgl. KSA 1/I, S. 181], dessen Titel Wedekind in hebräischen Lettern geschrieben hatte und das er seinem Brief an Minna von Greyerz beigelegt hatte.ist mir (abgesehen von der Form, die wol kaum hätte besser sein können, darfst Dir zwar nichts auf dieses einklammirte Lobwohl für: Lob in Klammern. einbilden, denn ich verstehe blutwenig von Formen) leider nicht leicht verständlich, vielmehr kann ich gar keinen Zusammenhang zwischen dem Titel u der Poesie finden. „Bette zuweilenTransliterationsfehler Minna von Greyerz’ bei der Entschlüsselung der hebräischen Lettern, statt: Blanche Zweifel.“ in Folge dieser Ueberschrift, glaubte ich zuerst es wäre an mich gerichtet, fand aber diesen Zuruf, besonders aus Deinem Mund und an mich, sehr sonderlich(schweiz./österr.) sonderbar.; bin dann aber noch mehr von dieser Vermuthung abgekommen, als Du die anzuredende Person mit kühlem, unnahbarem „Sie“ titulirst, was dem Ganzen etwas Fremdes gibt, denn „Du“ ist weit p poetischer. Doch abgesehen von diesem, in meinen Augen scheinenden Verstoß, (ich weiß zwar wol Heine dichtete auch per Sie,) kann ich gar nicht begreifen, wie sich die in der Du-Anrede befindliche Ueberschrift, mit dem quasi in einer Liebeserklärung u per Sie abgehaltenen Entzückungsrede verhält. Oder sollte ich Dich nicht verstehen? Das thäte mir leid, glaubte ich doch bis anhin, daß auch uns die Harmonie der Freundschaft mit ihren süßen Klängen umwehe. Der 2te Vers d. h. Strophe gefällt | mir am besten im Ganzen. An wenBlanche Zweifel, geborene Gaudard, eine Schwester von Minna von Greyerz’ Freundin Mary Gaudard; sie war seit 1882 verheiratet mit dem Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel. kann dieses sonderliche Sonett also gerichtet sein, an eine s/S/chwars/z/- oder Blauäugige, beinah glaube’ ich an Erstere, da Du momentan für Brünetten zu schwärmen scheinst, oder sollte ich mich irren, ist’s nicht eine „Emmamehrdeutig, vielleicht Emma Bertschinger. Ein Liebesgedicht mit dem Titel „Emma“ nahm Wedekind nach Mitte Januar 1884 in seine Sammlung „Stunden der Andacht“ auf [vgl. KSA 1/I, S. 139-140; (Kommentar) S. 956f.]., welche solch’ eigenthümliches Augenspiel entwickelte? Wundern thuts mich allerdings, daß das feurig gespielte Erglühen für meine AnnyAnny Barck aus Freiburg im Breisgau, die im Juli 1883 ihre Freundin Minna von Greyerz in Lenzburg besucht und die Wedekind während des Aufenthalts kennengelernt hatte., so schnell erloschen ist, aber darin begreif’ ich Dich doch, obwohl ich selbst nur einen Stern kenne, doch lodert auch in mir so etwas, wie soll ich’s nennen – Wildromantisches, u verstehe ich daher Deine leicht erregte Dichterseele, wenn Du bald vom/n/ jener Farbenpracht, bald von diesem Duft berauscht verschiedene Blumen zu Deinen Königinnen erhebst. Zudem stehst Du bereits in dem Alter da Du Deinen Hut mit lustig flatterndem Mohn d. h. Studentenliebe schmücken darfst, worüber ich Dir nicht zürnen kann, denn wäre ich Student, wer weiß was da gescheh’. – Also am Montag Morgenden 26.11.1883. hast Du das Poem verfaßt? Du warst noch duftberauscht, Dein Auge noch entzückt? Kater hattest Du schwerlich, da Du zu solchen/r/ Produktionen fähig gewesen. | Schade, daß es DonnerstagAm Donnerstag, den 29.11.1883, trafen sich die Mitglieder des Lenzburger Frauenvereins. war, als Du Besuche machen wolltest u Du daher Deine Liebenswürdigkeit nicht entfalten konntest u sogar um den halbjährigen Genuß eines viertelstündigen Gesprächs mit „ihr“ gekommen bist. Doch der gefällige Amor wird Dir nächsten SonntagAm Sonntag, den 9.12.1883, fand in Lenzburg im Rahmen des Cäcilienfests die nächste Tanzveranstaltung statt [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 10.12.1883]. hoffentlich um so schöner den Weg bahnen! Kommt Dein Freund OskarOskar Schibler, der langjährige Freund Wedekinds, der im Sommer 1883 die Matura gemacht hatte., vielmehr hast Du ihn davon benachrichtigt? Jedenfalls war er ein geschätzter TänzerSehr „erbaut von der Eleganz, mit der Freund Schibler“ tanzte, war auch Frank Wedekinds Vater, der zudem bemerkte, dass Oskar Schibler zum Ball auf Schloss Lenzburg (am 10.11.1883) „in voller Rüstung, grad’ aus der Kaserne heraus, von Zürich [...] herbeigekommen“ war [Friedrich Wilhelm Wedekind an Armin Wedekind, 21., 26., 28.11.1883 (Familienarchiv Wedekind, Leichlingen)]. u ausgezeichneter Unterhalter. Ich bin begierig zu erfahren welchen Eindruck Dir mein Schreiben macht. Deines glich einem wild dahinbrausenden Bergstrom, bald über das u jenes hüf/p/fend ohne Rast noch Ruh. Nun allzu lange wirst Du Dich auch nicht bei meinen Zeilen aufhalten, ich meine sie sind klar zu überschauen, trotz der himmelstürmenden Schrift; Du wolltest also Deine Schmerzen all eh in ein einzig Wort gießen? Das müßte eine Erlösung sein. Hiemitveraltet, für: Hiermit. eröffne ich wiedrum einen Streit á lavorwärts, Don RodrigoIn Herders Romanze „Der Cid“ ruft die Infantin viermal: „Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo! / Deine Ehre ist verloren! / Rückwärts, rückwärts, stolzer Cid!“ [Johann Gottfried Herder: Der Cid. Tübingen 1806, S. 88 u. 89], in der Umdichtung Schwetschkes heißen die Verse dagegen „Vorwärts, vorwärts! Don Rodrigo, / Don Rodrigo von Schönhausen! / Auf zum Kampfe!“ [Karl Gustav Schwetschke: Bismarckias. Didactisches Epos, Halle 1867, S. 25]“ denn Heine sang nicht „ich wollt’ meine SchmerzenErster Vers aus Heines Lied LXI: „Ich wollt’, meine Schmerzen ergössen / Sich all’ in ein einziges Wort, / Das gäb’ ich den lustigen Winden, / Die trügen es lustig fort.“ [Heinrich Heine: Buch der Lieder. Hamburg 1827, S. 233; vgl. DHA Bd. 1/1, S. 272]“, sondern „ich wollt’ meine LiebeZitat („Ich wollt’, meine Lieb’ ergösse / sich all’ in ein einzig Wort“) aus Felix Mendelssohn-Bartholdys parodiertem Heine-Gedicht, das er als Opus 63, Nr. 1 vertonte [vgl. Felix Mendelssohn-Bartholdy: Sechs zweistimmige Lieder mit Begleitung des Pianoforte. Op. 63. Leipzig (1844)]. ergösse sich all in ein einzig Wort.“ Klage mir jedoch immerhin Deine Schmerzen, wenn es Dich einigermaßen erleichtert, denn „getheilter Schmerznach dem Sprichwort: „Geteilte Freud’ ist doppelte Freude, / Geteilter Schmerz ist halber Schmerz“ [Büchmann 1879, S. 140]. ist halber Schmerz“, sagen sie. Vielleicht hastWechsel der Schreibrichtung: Minna von Greyerz überschreibt ihren Brieftext der Seite 4 ab hier im Querformat. Du eine Kritik in Jamben oder DrochäenSchreibversehen, statt: Jamben und Trochäen – zweisilbige Versfüße bestehend aus einer unbetonten und einer betonten Silbe (Jambus) beziehungsweise einer betonten und einer unbetonten Silbe (Trochäus). erwartet, allein mit den bunten Blättern des Herbstes ist auch meine Poesie davongeflogen – ach mir ist so wimmerlich, ich wollt, s’wär’ Alles vorbei! Mit diesem pessimistischen Wunsch, wenn ein Wunsch überhaupt zum Pessimismus gehört, grüßt Dich Deine trauernde Bundesschwester
SturmwindBundesschwester im Freundschaftsbund Fidelitas, in dem Minna von Greyerz das Pseudonym Sturmwind führte..

Sonntag den 2. Dez. 9 Uhr 3/5/0 M.

Frank Wedekind schrieb am 4. Dezember 1883 in Aarau folgenden Brief
an Minna von Greyerz

Aarau, in SpitzBiername eines der Lehrer Wedekinds an der Kantonsschule Aarau, der Klarname ist bisher nicht ermittelt. – Offenbar hatten die Lehrer ihre eigenen Zimmer, in denen sich Schüler aufhalten durften, wenn dort kein Unterricht stattfand. So wurden beispielsweise Sitzungen der Schülerverbindung Industria Aarau wiederholt „auf Hr. Professor Leupold’s Lehrzimmer“ [AIA, Protokollbuch 1882, Sitzungen 430-438], außerordentliche Sitzungen auch „auf Hr. Professor Fisch’s Lehrzimmer“ [ebd., 9.6.1882] abgehalten.ens Schulzimmer.


O Sturmwind,

Soeben erhielt ich deinen werthen Briefvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.12.1883. und beeile mich, ihn zu beantworten, da ich heute Nachmittag beschäftigt bin. Weil ich gesternMontag, den 3.12.1883. – Vermutlich war der Zugverkehr zwischen Lenzburg und Aarau, wo Wedekind die Schule besuchte, wegen „Regen und Schneefall“ kurzzeitig eingestellt worden [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 63, Nr. 337, 3.12.1883, Ausgabe 2, S. (2)]. nicht in der Schule war, bekam ich ihn erst heute morgenDienstag, den 4.12.1883.. Er machte allerdings einen höchst eigenthümlichen Eindruck auf mich und wenn dir mein Schreibenvgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 30.11.1883. als „wild dahin brausender Bergstrom“ erschien, so kommt mir deiner vielmehr wie ein kühlender Regenschauer, oder noch besser, wie ein Schneegestöber vor. Es mag dies weniger deine Schuld sein, als eben in der Sache selbst liegen. Ach, wie konnte ich auch erwarten, dasSchreibversehen, statt: daß. du, o du, mich nicht verständ verstehen werdest. |

Allerdings fällt mir erst jetzt wieder ein, wie dunkel und verworren meine Worte waren; aber du hast mich auch gar nicht, in keiner Weise, verstanden. Oder wäre es möglich? Sollte es vielleicht nur Malice(frz.) Bosheit, Tücke. nur RanküneRankune (frz.) Groll; Rachsucht. sein, die mir das Geständniß in seinem ganzen Umfang aus dem Herzen pressen soll? – Nach dem was ich bei Hartman und Golz über die FrauenDerartige Urteile konnte Wedekind in Eduard von Hartmanns „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins“ (1879) sowie in Bogumil Goltz’ vielgelesener Abhandlung „Zur Charakteristik und Naturgeschichte der Frauen“ (1859) in großer Zahl finden. Hartmann spricht Frauen z. B. die Fähigkeit zu moralischem Handeln nach Vernunftprinzipien ab; „Rechtlichkeit und Gerechtigkeit“ seien „die Charaktereigenschaften, welche von allen bisher betrachteten moralischen Triebfedern beim weiblichen Geschlecht im Durchschnitt am schwächsten vertreten“ seien. „Das weibliche Geschlecht ist das unrechtliche und ungerechte Geschlecht“, [...] vom Repressionsrecht mache es „aus Eigennutz“ oder „Rachsucht“ Gebrauch, fast alle Weiber seien „geborene Defraudantinnen aus Passion“ und hätten „zur Lüge“ wie „zur Fälschung [...] eine instinctive Neigung“. [Eduard von Hartmann: Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins. Prolegomena zu jeder künftigen Ethik. Berlin 1879, S. 522f.] Bogumil Goltz meint u. a.: „Die Frauen zeigen alle Liebenswürdigkeiten und Schrecken der elementaren Natur. Sie sind divinatorisch, phantasiereich, naiv, bildkräftig, erfinderisch, witzig, graziös; aber zugleich wetterwendig, farbenwechselnd und in Augenblicken so egoistisch, verhüllend, listig, unwahr und unbarmherzig als die Natur, als die Sinnlichkeit, welche in ihren Metamorphosen ein Ringen nach Einheit und Ruhe, nach dem vernünftigen Geiste darlegt, den sie erst im Manne erlangt.“ [Bogumil Goltz: Zur Charakteristik und Naturgeschichte der Frauen. 2. Auflage, Berlin, 1863, S. 91f.] gelesen habe, läge diese Vermuthung allerdings nicht so schrecklich fern. – So will ich dich denn in deiner Speculation nicht täuschen, sondern im Gegentheil durch blanke, unbemäntelte Aufrichtigkeit die glühendsten Kohlendurch Wohltaten jemanden beschämen; Böses mit Gutem vergelten – biblische Redewendung („Feurige Kohlen auf’s Haupt sammeln“) [Büchmann 1879, S. 37 (Römerbrief 12,20)]. auf Dein Haupt sammeln.

Minna von Greyerz schrieb am 10. Dezember 1883 in Lenzburg
an Frank Wedekind

Montag AbendDer 10.12.1883 war ein Montag..


Weh mir, es ist gescheh’n!
Mit Absicht ließ ich „aus Verseh’n“
Das PoemDas zweite Gedicht Wedekinds an Blanche Zweifel, in die er sich auf der Tanzveranstaltung bei der Familie Hünerwadel (25.11.1883) verliebt hatte: „FRAU VENUS / O, wie lange soll ich harren, / Bis ich wiederum dich seh? – / Wenn Dein dunkler Blick voll Güte / Nicht mein Herze noch durchglühte, / Ach, es hätte längst erstarren / Müssen in der Liebe Weh. – // Heiße Sehnsucht läßt mich wachen, / Wenn die Welt in Träumen ruht. / Doch was soll mir auch der Schlummer? / Denn für allen Liebeskummer / Finde ich ja tausendfachen / Trost in Deiner Augen Gluth! / Tannhäuser.“ [KSA 1/I, S. 111] in der Kleidertasche,
Dazu die rosa LockenmascheGemeint sein dürfte eine rosa Haarschleife, auch als Haarmasche bezeichnet.; –
Weh mir! Weh Dir! Weh uns! –

–––––

Weiter reicht’s heut mit dem besten Willen nicht mehr mit dem Verse schmieden, denn nachdem ich um ½ 10 Uhr aufgestanden, hatte ich allüberall Ordnung zu machen, so auch | in der Theatergarderobe, u da ist’s nun vollbracht worden, was wir gestern, wollt ich sagen heute früh ausgesonnen haben. Nein es ist entsetzlich,/!/ Statt Dich von solchen Thorheiten zu kuriren, lasse ich mich hinreißen Deine Gymnasiastenstreiche auszuführen! Himmel wann wird sich mein Tollkopf endlich mal in die vielgepriesene, echte, weibliche Sphäre hineinfinden? Ich amüsire Dich mit meiner, | nicht nach der Schablone gebildeten Art u Weise, das kann ich mir theilweis denken, allein als Freundin sollte ich Dir mehr denn bloßes Amüsement bieten u das fehlt eigentlich, das fühle ich mit tiefem Bedauren! Ich habe nun mein Herz wegen der Frau Venus“-AffäreWedekind hatte sich, wie er selbst gestand, auf der Tanzveranstaltung bei Hünerwadels am 25.11.1883 in eine junge Frau verliebt [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883] und gleich am nächsten Tag ein Gedicht auf sie gemacht (mit dem in hebräischen Lettern geschriebenen Titel „Blanche Zweifel“), das er einige Tage später seiner Cousine zur Kritik vorlegte [Wedekind an Minna von Greyerz, 30.11.1883]. Das zweite, mit „Frau Venus“ überschriebene Gedicht an Blanche Zweifel (s. o.) war Minna von Greyerz der vorangegangenen Korrespondenz zufolge erst nach dem 4.12.1883 bekannt. Offenbar war sie an seiner scheinbar zufälligen Zustellung beteiligt. bereits der Anny gegenüber erleichtert u bin gespannt was sie dazu sagen wird; wenn nur die, an u für sich harmlose Geschichte, nicht schief heraus kommt, das wäre fatal! Es war | doch eigentlich recht hübsch am CäcilienfestEinmal im Jahr „am Tag der heiligen Cäcilia (22. November) sollte der Musikverein Lenzburg, 1865 eine größere musikalische Veranstaltung mit einem nachfolgenden frugalen Abendessen“ veranstalten, ein Fest, das in der Folge oft einige Tage nach dem Gedenktag gefeiert wurde [vgl. Argovia. Jahresschrift der historischen Gesellschaft des Kantons Aargau, Bd. 20, 1889. S. 176, Nr. 343]. 1883 muss das Cäcilienfest am Sonntag, den 9.12.1883, stattgefunden haben. Dafür gibt es zahlreiche Indizien. In einem Brief erzählt Wedekind von der Tanzveranstaltung bei Hünerwadels (am 25.11.1883) und erwähnt dabei, dass in 8 Tagen Cäcilienfest sei – also in der Woche nach dem 2.12.1883 [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883]. Minna von Greyerz erwähnt in einem Brief [Minna von Greyerz an Wedekind, 2.12.1883], dass am kommenden Sonntag (9.12.1883) ein Fest mit Tanzveranstaltung sei. Das Datum nennt auch Emil Braun im Zusammenhang mit dem 1883 neu gewählten Leiter des Musikvereins Eugen Gugel, der sich an „der Cäcilienfeier (9. Dezember)“ vorteilhaft eingeführt habe [vgl. Emil Braun: Geschichte des Orchesters des Musikvereins Lenzburg. Festschrift zur Feier des Hundertjährigen Bestehen 1832-1932. Lenzburg 1932, S. 75]., besonders der Tanz mit Dir, da wir uns nach unsern theilweis zuwiderlaufenden Ansichten, dennoch mit dem gleichem Gefühl, mit wahrer Tanzwuth uns unter die Wirbelnden mischten, war flott! Du u Herr Spilker waren mir die angenehmsten Unterhalter, warum sollte ich’s verhelen? Heute Nachmittag hab ich von 1-5 Uhr EisgelaufenDas fürs Eislaufen gut geeignete trockene Frostwetter mit sinkenden Temperaturen hatte sich zum Wochenende eingestellt, hielt aber nur bis Montag, den 10.12.1883, an: „Das Wetter hat vollständig umgeschlagen. Am Montag noch ansehnliche Kälte, am Dienstag Vormittag starker Schneefall, Nachmittags Regen, gestern früh Glatteis bei 6° Reaumur über Null und heute wieder Schnee.“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 29, Nr. 295, 13.12.1883, S. (2); vgl. ebd., Nr. 291, 8.12.1883, S. (3)] – Eine Woche zuvor (Montag, den 3.12.1883) lud das Wetter mit „Regen und Schneefall“ zum Eislaufen nicht ein [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 63, Nr. 337, 3.12.1883, Ausgabe 2, S. (2)]., richte Dich doch mit Deinen AufgabenEs dürfte sich um die Hausaufgaben für den Schulunterricht handeln. (!) wenn Du kannst so danach, daß Du am Mittwochzur wöchentlichen Chorprobe, die Minna von Greyerz wie auch Blanche Zweifel besucht haben dürften., wenn’s der Himmel erlaubtBei starkem Schneetreiben drohte der Zugverkehr zwischen Aarau, wo Wedekind die Kantonsschule besuchte, und Lenzburg eingestellt zu werden, so dass er die Nacht in seinem Pensionszimmer in Aarau hätte bleiben müssen., auch kommen kannst, das wäre allerliebst! Mit innigem Gruß wünscht Dir eine gute Nacht mit schönen Träumen
Dein „Sturmwind“.

Minna von Greyerz schrieb am 13. Januar 1884 in Lenzburg
an Frank Wedekind

Lieber Baby!

Du wirst wol etwas erstaunt sein, beiliegend einen BriefDer beigelegte Brief Minna von Greyerz’ an Olga Plümacher ist nicht überliefert; ihre Antwort legte Olga Plümacher einem Brief an Wedekind bei [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 20.1.1884]. an Deine „TanteOlga Plümacher, Jugendfreundin Emilie Wedekinds und von ihrem Sohn Frank Wedekind als ‚philosophische Tante‘ tituliert; sie war Vertreterin des philosophischen Pessimismus in der Tradition Arthur Schopenhauers und Eduard von Hartmanns und philosophische Schriftstellerin.“ vorzufinden. Ich weiß selbst nicht was in mich gefahren ist, aber ich hatte so große Lust, einmal einer geistreichen Dame, sei’s auch nur wegen einer Bagatelle zu schreiben. Das kommt Dir nun sicherlich noch recht backfischmäßigveraltete Bezeichnung, für: pubertierend. vor u Du bist vielleicht etwas „baff“, wie Du Dich zu dieser Sonderlichkeit Deiner sonderbaren Cousine zu stellen hast. | Allein, habe ich Dich in eine jener „verhaßten“ Verlegenheiten gebracht, so bin ich es selbst, die Dir wiederum die Skrupeln, die Du Dir darüber machen könntest, verscheucht. Sieh, ich habe meine merkwürdige Begierde befriedigt, habe mich eine kl. Spange Zeitseltene Verwendung, statt: „Spanne Zeit“. mit der „großen Plümacher“ schriftlich unterhalten. Wenn Du nun aber es für rathsamer findest, den Brief nachdem Du ihn gelesen, nicht an sie abgehen zu lassen, so glaube mir, nehme ich’s Dir nicht übel, im Gegentheil | danke ich Dir, daß Du mich dadurch vor etwaiger „Blamage“ gerettet hast; denn Du weißt, ich habe das eben Geschriebene nicht „kritisirt“, sondern wie mir’s der Augenblick eingab hingeschmiert; ja leider geschmiert, wenn Du’s für nöthig erachtest, kannst Du auch meine Schrift entschuldigen, wenn Du meine Zeilen wirklich ihr zuschickst. Somit habe ich nun einen ganz angenehmen Winter-Sonntag-Nachmittag verlebt und Du? Hast | gefaulenzt, geträumt, gespielt, gelesen gedichtet oder gar selbst auch an sie „Tante Plümacher“ geschriebenOlga Plümacher hatte Wedekind nachweislich am 23.12.1883 und am 5.1.1884 geschrieben. Auf beide Briefe antwortete er [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 5.1.1884 und 20.1.1884], seine Briefe sind nicht überliefert.? Deine Zeit ist allerdings recht ausgefüllt, SchulaufgabenNach den Weihnachtsferien (26.12.1883 – 3.1.1884) war für Wedekind das letzte Quartal seiner Schulzeit angebrochen, im März 1884 begannen die Maturaprüfungen [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1883/84, S. 8]. in erster Linie, dann 2. „PrologWedekind schrieb einen „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonssschüler“, den er zu Beginn des Kantonsschülerfests am 1.2.1884 vortrug.“ 3. Brief an „Tante Plümacher“ 4. der „WettgesangEin Wettgesang Wedekinds über das Cäcilienfest vom 9.12.1883 ist nicht überliefert.über’s Cäcilienfest 5. Briefe an „BoreasBriefe Frank Wedekinds an seinen Bruder Armin Wedekind, der im Freundschaftsbund Fidelitas den Namen des Windgotts Boreas führte und in Göttingen Medizin studierte, sind aus der Zeit vor 1884 nicht überliefert.“ u GlanzpunktDie im Freundschaftsbund Glanzpunkt genannte Anny Barck, die Wedekind zu Weihnachten aus Freiburg im Breisgau geschrieben hatte [vgl. Anny Barck an Wedekind, 20.12.-21.12.1883], erhielt erst im Frühjahr seine Antwort [vgl. Wedekind an Anny Barck, 23.2.-12.3.1884]., na ja, „Glückauf“! Hörst Du es das b/B/lasen von um den/ie/ Thürmen, das Rauschen in den Bäumen, das Heulen um die Ecken u dann wieder das sehnsuchtsvolle, langgedehnte Wehen? Das sind die Grüße Deines „Sturmwinds“.

Minna von Greyerz schrieb am 3. Februar 1884 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind , Frank Wedekind

Lenzburg Sonntag Nachmittag

2/3/. Febr. 1884.


Lieber Babyin der Familie gebräuchlicher Kosename Wedekinds.!

Nur auf indirekten Wegen hörte ich von Deinem ErfolgNachdem Wedekind zum Auftakt des Kantonsschülerfests am 1.2.1884 (Beginn 19.30 Uhr) seinen „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonsschüler“ mit großem Beifall vorgetragen hatte [vgl. KSA 1/II, S. 1983ff.], stand er zu vorgerückter Stunde noch einmal in dem Schwank „Nette Mieter“ von C. Braun als Schuhmacher und Vizewirt Lamprecht auf der Bühne; neben ihm der Klassenkamerad Hans Fleiner in der Rolle des Schauspielers Schnabel [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 30, Nr. 26, 31.1.1884, S. (4)]. Über die Veranstaltung schrieb die Kantonsschule: „Das Programm, aus einem Prolog, mehreren Vocal- und Orchesternummern, Declamationen und dramatischen Darstellungen bestehend, hatte eine unerwartet große Zahl Zuhörer angezogen; die Leistungen der Schüler haben, Dank den eifrigen Bemühungen einiger unsrer Collegen die Erwartungen des Publikums durchaus befriedigt. [...] Da dieser Versuch durchaus günstig ausgefallen ist, und da nun ein sehr schönes und geräumiges Lokal zur Verfügung steht (woran es bisher mangelte), so hoffen wir den Schülern jeden Winter einen oder zwei solcher Abende bieten zu können.“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1883/84, S. 9; vgl. auch KSA 1/II, S. 1983ff.] am Aarauer-Kantonsschülerfest u freute ich mich herzlich darüber. Ich hoffe, daß Du von all’ den Anerkennungsbezeugungen nicht so verwöhnt seist, um nicht noch gerne den treuen Glückwunsch Deiner Cousine anzuhören. Dieser Glückwunsch fällt heute allerdings ein wenig sonderbar aus,: schriftlich, da ich’s doch mündlich thun könnte, dazwischen eine bittre Mandel in Poesie eingestreut, statt in härtester Prosa Dir das vorzuwerfen, was Dir vielleicht sonst Niemand sagt, weil sie es für überflüssig halten, oder gar nicht daran denken, oder Dich nicht aus Deiner rosigen Stimmung bringen wollen. Sei dem nun wie es wolle, so bitte ich Dich inständig mich nicht mißverstehen zu wollen. Nein Du thust’s auch nicht, sagtest | Du doch neulich zu mir, daß Du schon die Ueberwindung des Andern zu schätzen wißest, wenn er im guten Glauben D/s/einen Mitmenschen etwas Unangenehmes sage. So – die Einleitung, Vorbereitung wäre gemacht u meine Freude über den Beifall Deines Prolog’s habe ich damals schon mündlich ausgesprochen, jetzt kommt die bittre Mandel, bitter in Form u Inhalt, wünsch guten Humor u richtige Verdauung!


„Verrauscht sind nun des Festes heitre Klänge,
Verrauscht der Beifall, der die Brust Dir schwellte,
Der Deines Auh/g/es Strahl glanzvoll erhellte
Als freudig Dir entgegen jauchzt’ die Menge.


Erinn’rung hält den Rausch noch in die Länge,
Doch Alles wird berührt von Todeskälte
Und während Du Dich freutest, ach so fällte
Ein Andrer schon sein Urtheil im Gedränge.


Kein schlimmes Urtheil! Doch es wird gefallen,
Mein lieber Freund, Dir nicht, doch kann es nützen,
Drum sag ich’s Dir allein: Du mögest wallen |


Als Dichter Deine Bahn, Dich freu’n, nie stützen
Auf bloßen Beifall nur, sonst wirst Du fallen
In Eitelkeit und Schmeicheleien-Pfützen!“


Packe die Menschen nur an ihrer Eigenliebe, schmeichle ihnen oder mache sie lächerlich, so sind sie entweder Deine sogenannten Freunde oder dann Deine Feinde. Du siehst aber, daß ich d/D/ich weder auf die eine noch andere Weise behandelt habe, sondern daß ich eine recht ernsthafte Freundin geworden bin. Sollte es Dir etwa unangenehm sein? Dann bitte, erkläre Dich mir unverholenveraltet für: unverhohlen., u wenn Du mir schreiben willst, so thu es nur ungenirt.

Mein lieber Bundesbruderim Freundschaftsbund Fidelitas der Bundesbruder Zephyr, die Personifikation des milden Westwinds., sei
gegrüßt von Deiner Windschwesterim Freundschaftsbund Fidelitas die Sturmwind genannte Bundesschwester.!

                             

Frank Wedekind schrieb am 4. Februar 1884 in Lenzburg folgendes Briefgedicht
an Minna von Greyerz

Liebe Cousine!

Das an Minna von Greyerz übermittelte Briefgedicht erhielt in der Gedichtsammlung „Lebensfreuden“ (1883/1884) den Titel „Leben und Tod“ [vgl. KSA I/1, S. 183 u. KSA I/2, S. 1788ff.].


Ich will mit Andern keine Kränze winden,
Nicht fremden Zwecken meine Kräfte leihen.
Es möchte sich mein Selbst mit mir entzweien,
Und meine Eigenart zuletzt entschwinden. –


Nein, sollten auch die Augen drob erblinden;
Dem ein ewig Wahren einzig mich zu weihen,
Will ich den Geist von jedem Zwang befreien,
Worin die Menschen denken und empfinden. –


Verbrechen nennen die Gesetzeswächter
Des harten Kampfes selbstgesuchte Schlichtung,
Und stempeln unser Leben zur Verpflichtung.


Was aber kümmert es den Weltverächter
Ob sich die Welt einst bessert, ob sie schlechter
Entgegeneilt der sicheren Vernichtung?!

–––––

Minna von Greyerz schrieb am 30. April 1884 in Lenzburg folgendes Briefgedicht
an Frank Wedekind

Resedablüth’Minna von Greyerz’ Gedicht dürfte inhaltlich auf Elemente der Blumensprache abzielen. Die folgenden Zitate zu den erwähnten Pflanzen entstammen der Deutschen Blumensprache: „Reseda. Deine Herzensgüte gereicht dir zur höchsten Zier [...] – Sinnbild der Innigkeit und Häuslichkeit“ [Taschenbuch der Blumensprache 1843, Teil I, S. 70 u. Teil III, S. 240]. und Epheublätter„Unser Bund ist unauflöslich“ [Taschenbuch der Blumensprache 1843, Teil I, S. 59].
Was sie bedeuten lieber Vetter,
Das Alles weißt Du ganz genau:
Dein Styl er möge fortan gleichen
In Form und Inhalt diesem Zeichen!
Und leicht beschwingt zum AetherblauHimmelblau.
Mög’ sich Dein Genius erheben,
Und doch verachten nie daneben
Das schlichte Moos„Auch ohne rauschende Freuden kann der Genügsame glücklich seyn.“ [Taschenbuch der Blumensprache 1843, Teil I, S. 68], das gute Streben
Im kleinen, unscheinbaren Leben!
Stets „vorwärts“ gleich des Windes Wehen
Magst auf der Zukunftsbahn Du gehen!
Dies ist des „Sturmwind’sMinna von Greyerz’ Pseudonym im Freundschaftsbund Fidelitas.“ sanftes Flehen,
Der „ZephyrWedekinds Pseudonym im Freundschaftsbund Fidelitas.“ wird es schon verstehen.

–––

April 1884.

Minna von Greyerz schrieb am 8. Mai 1884 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Schloß Lenzburg im wunderschönen
Monat Mai 1884.


Lieber Babyfamiliärer Kosename Wedekinds.!

Gegen alle Verabredung kriegst Du nun doch den ersten Brief von mir – warum, kannst Du Dir wol denken. Jedenfalls müßte ich allzulange warten bis ich dann endlich Dein und noch ein andres Bild bekäme. Sobald Du nämlich fort warstWedekind hatte am 1.5.1884 Lenzburg verlassen, um an der Académie de Lausanne ein Semester neuere Sprachen zu studieren., fiel mir das Unpassende meines Benehmens ein und machte ich mir harte Vorwürfe, daß ich Dir in einem meiner unüberlegten Augenblicke (von denen ich nur zu oft leider heimgesucht bin,) das liebe, hübsche Bild eingehändigt habe. Ich kann Dir gar nicht sagen, in welcher Unruhe ich seither bin u denke ich, wirst Du feinfühlend genug sein um einzusehen weßhalb u mich aus diesen Qualen erlösen u mir die „bewußte“ Photographiedas Porträtfoto von Fanny Amsler-Laué, einer Freundin Minna von Greyerz’ und Cousine von Wedekinds ehemaligem Schulfreund Walther Laué , die 1882 den Arzt Gerold Amsler geheiratet hatte. umgehend schicken. Glücklicher Weise hast Du die Affäre Deiner lieben Mama erzählt u als ich nun heut an ihrem GeburtstagAm 8.5.1884 wurde Emilie Wedekind 44 Jahre alt. zu ihr heraufkomme, theilte ich es meiner TanteEmilie Wedekind; die Familien waren entfernt verwandt miteinander. ebenfalls mit; bekam dafür einen kl. wohlverdienten Verweis u beschloß Dir sofort darum zu schreiben; denn trotz Deinem Versprechen die Unvorsichtigkeit Deiner unbedachten Cousine n/N/iemandem zu offenbaren, liegt doch die Versuchung zu nahe, das Bild doch Jemandem zu zeigen, sei’s auch nur WillyFrank Wedekinds jüngerer Bruder William, der in Lausanne bei dem Kaufmann Emile Ruffieux eine Ausbildung machte und sich mit seinem Bruder eine Wohnung teilte.. Wenn Du’s | aber gethan hast, so bitte ihn, es für sich geheim zu halten, d. h. zu schweigen, nicht nur wegen mir, hauptsächlich wegen der Betreffenden. „Und bist Du nicht willigzum geflügelten Wort gewordener Vers („Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“) aus Goethes Ballade „Der Erlkönig“ (1782) [vgl. Goethe's Werke. Bd. 1, I. Abt. Stuttgart/Tübingen 1817, S. 170]., dann brauch’ ich Gewalt“! Tante wird mir beistehen und ich würde – – – doch nein, ich will Dir nicht drohen, so boshaft, hartnäckig, so unlieb wirst Du nicht sein! –

Ob Du wol bis hier her ordentlich, aufmerksam gelesen hast? Der Gedanke ist mir nämlich sehr unangenehm: meine Episteln könnten Dir zu langweilig sein, u Du sie daher Andern zum Fertig-Lesen geben, denn „der ,Kater‘Wedekinds Biername und Pseudonym in seinen frühen Gedichten. ist zu allem fähig“. Nichts destoweniger schreibe ich Dir wie’s mir eben in die Feder fließt, denn geplante Schreibweise ist nicht meine Sache. Stelle Dir vor, am Tage Deiner Abreise 1. Mai, schrieb ichMinna von Greyerz’ Brief an Olga Plümacher vom 1.5.1884 ist nicht überliefert. Nachmittags an „unsre große Plümacher“, das ist wol eine große Unbescheidenheit, ich gebe es zu; allein mich trieb die Lust ausnahmsweise ein Mal an einen großen Geist zu schreiben u das kann sie mir doch nicht übel nehmen und über diesen, meinen Geschmack wirst Du Dich nicht ärgern wollen, obwohl ich ich im Febr. od. März auf Deine Worte hin, meinen angefangnen Brief an sieeine begonnene Antwort auf Olga Plümachers Brief an Minna von Greyerz vom 20.1.1884, den die Philosophin einem Brief an Wedekind beigelegt hatte [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 20.1.1884] – die Korrespondenz zwischen Minna von Greyerz und Olga Plümacher ist nicht überliefert. wieder vernichtete.

Sonst thut weiter nix passiren u wenn ich Dir somit nicht von Familientag, Wäsche, Kränzchen, Briefen AnnyMinna von Greyerz’ Freiburger Freundin Anny Barck, in die sich Wedekind während ihres Besuchs im Sommer 1883 verliebt hatte.’s | u BlancheBlanche Zweifel, seit 1882 verheiratet mit dem Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel, in die sich Wedekind am Tanzabend der Familie Hünerwadel in Lenzburg (25.11.1883) verliebte und an die er mehrere Gedichte richtete.’s Liebenswürdigkeit erzählen will, könnte ich das reinste Idyll schreiben d. h. ungefähr á la Plaudereieninsbesondere seit den 1860er Jahren beliebter Bestandteil von Büchertiteln zu Themen aller Art, so auch von Wilhelm Deecke „Plaudereien über Schule und Haus“ (Strassburg 1884). am Arbeitstisch; denn ich sitze hier so still u abgeschieden im Wohnzimmer am runden Tisch; Hr. Dr.Frank Wedekinds Vater Friedrich Wilhelm Wedekind, Arzt im Ruhestand. ist fort, die Kinderdie drei jüngeren Geschwister Erika (Mieze), Donald und Emilie (Mati) Wedekind. in der Schule u die Tante in der Halle, wo sie zur Feier ihres Wiegenfestes mit der EichenbergernZugeh- und Waschfrau der Familie Wedekind. Frank Wedekind hat sie im Gedicht „Hänseken“, das er seiner kleinen Schwester Emilie (Mati) zu Weihnachten 1879 schenkte, verewigt [vgl. KSA 1/II, S. 1239]. Gleich in der ersten Strophe heißt es über Hänseken: „Der Kleine treibt Allotria / Und schwatzt zu Mammas großem Ärger / Viel mehr noch als Frau Eichenberger“ [KSA 1/I, S. 38]. bügelt. Durch’s offne Fenster lacht der klarblaue Himmel, ziehen die süßen Frühlingsdüfte, klingt der Vögel liebliche Sang, das alte, urewige, immerwiederkehrende Wunder des herrlichen Mai’s dringt in mein Herz u stimmt mich ganz träumerisch. Doch das Alles kann Dich wenig interessiren, wenn Du’s nicht stimmungsvoll nachempfindest.

Richtig da fällt mir ein Thema unsres letzten Kranzabendsauch: Kränzchen; Gesellschaft befreundeter Frauen, die sich reihum an einem Tag der Woche zum Gespräch trifft; – als Kranzabend (Kränzelabend) wird auch der „Abend vor der Hochzeit“ bezeichnet, „wo der Brautkranz gewunden wird“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. 1, Sp. 37]. ein, das Dich vielleicht nachträglich amüsirt. Wir hatten nämlich bei Fr. Bethi HünerwadelMargarethe Elisabeth Hünerwadel, geb. Ringier (Cousine von Walther Oschwald), seit 1882 verheiratet mit dem Bezirksamtmann Markus Werner Hünerwadel. ausgezeichneten Maitrankalkoholisches Getränk auf der Basis von Waldmeister (Maibowle)., der löste denn die Kehle, man sprach gar manches liebe Wort u wurde unter A/a/nderm ein gewiß/ss/es Ständchennicht ermittelt. verhandelt. Es ging aber nicht von mir aus, sondern Lisnordische Kurzform für Elisabeth; –Elisabeth (Lis, Else) Saxer, älteste Tochter des Oberst Adolf Saxer von Niederlenz, die später Karl Roth, den Mitinhaber der Lenzburger Konservenfirma Hero – Gustav Henckel (He) und Karl Roth (ro) – heiratete. Saxer u Blanche besprachen es hauptsächlich. Da wurde das Liebesfeuer JulesJules Gaudard, der jüngere Bruder von Blanche Zweifel und Schüler der Kantonsschule Aarau. Seit Anfang Mai besuchte er dort die Abschlussklasse des Gymnasiums. geschildert, die Versenicht ermittelt. eines jungen Lenzburger-Dichter’swohl Wedekind selbst. gerühmt, die gelungenen Anstalten dieses Quartett’s an’s Licht gezogen u was der Hauptpunkt unsres Gaudium(lat.) Spaß.s war: Der es gegolten „die schöne MariaMaria Saxer, jüngste Tochter von Adolf Saxer, die später in die Familie Wildi einheiratete.“ war nicht | zu HausDie Familie bewohnte seit 1877 die Robert Hünerwadel-Villa (das Hauptgebäude der späteren Gartenbauschule) in der Lenzburgerstraße in Niederlenz. gewesen u nur Herr SaxerOberst Adolf Saxer, der von 1870–1890 die große Baumwollspinnerei Hünerwadel u Cie. als Anteilseigner leitete. mit seiner ältesten TochterDas war Lis Saxer. waren die aufmerksamen Zuhörer, wenigstens hat Lis den poetischen Nimbus(lat.) Ruhm, Ansehen, Gloriole., der es umgab, ganz richtig verstanden. –

So nun habe ich Dir H mehr denn die Hauptsache gesagt u ich hoffe Du wirst nun meinem dringenden Wunsch entsprechen u mir sofort das besprochene Bild ohne weitere Umstände schicken, darnach auch Dein eignes ConterfeiWedekind hatte sich vor seiner Abreise nach Lausanne im Fotoatelier Fr. Gysi in Aarau ablichten lassen und 2 Probeabdrucke zur Auswahl erhalten [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1884; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. Möglicherweise handelt es sich um das bei Kutscher abgebildete Porträtfoto [vgl. Kutscher 1, nach S. 144; auch in: Vinçon 2021, Bd. 2, S. 31]., ferner die Einlage für mein AlbumMinna von Greyerz mahnte auch im Juni und Juli erfolglos das Gedicht für ihr „Allerlei-Album“ an [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.6.1884 und 9.7.1884].denn Deine SchwüreZitat des Schlussverses aus Wedekinds Gedicht „Ghasel“ [vgl. KSA 1/I, S. 71; Kommentar KSA 1/II, S. 1626-1628]: „denn Deine Schwüre binden Dich“. binden Dich“ hast Du selbst einmal gesagt u Schwur u Versprechen ist gleichbedeutend, gleich heilig zu halten. Soeben ist’s Kaffeezeit u BerthaKüchen- und Stubenmädchen auf Schloss Lenzburg. meldet mir die Vesperstunde.

Mit bestem Gruß verbleibe ich Deine unruhige
Cousine SturmwindMinna von Greyerz’ Pseudonym im Freundschaftsbund Fidelitas, dem Frank (Zephyr) und Armin Wedekind (Boreas) sowie Anny Barck (Glanzpunkt) und Mary Gaudard (Nordpol) angehörten..

   

Frank Wedekind schrieb am 31. Mai 1884 in Lausanne folgenden Brief
an Minna von Greyerz

Lausanne Mai 84


Liebe Cousine,

Du bist gewiß wütend auf mich, weil ich dir das Bildein Foto der 19jährigen Fanny Amsler, geborene Laué aus Wildegg, eine Cousine von Wedekinds Schulfreund Walter Laué, die 1882 den Arzt Dr. Gerold Amsler geheiratet hatte. nicht sende. Aber siehst du, so gehts, wenn man immer unvorsichtig ist. Deinen lieben Briefvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 8.5.1884. – Minna von Greyerz hatte Wedekind darin dringend um Rückgabe der Fotografie gebeten. warf ich in alle vier Ecken des Zimmers bevor ich ihn nur ausgelesen hatte und wenn du wüßtest wie manche schlaflose Nacht er mich gekostet so hättest du ihn gewiß nicht geschrieben. Kaum hatt ich ihn nämlich erhalten so entwarf ich eine lebensgroße Skizze von der Photographie und habe sie soeben erst nach vieler Mühe und Arbeit vollendet. Frau Dr Amsler ists nun freilich nicht. Aber man sieht doch so ungefähr daß sies sein soll. Das OriginalDie Fotografie liegt dem Brief nicht mehr bei. erhältst du also hiemit wieder zurück. Ich hab’ es gehütet wie meinen Augapfel und trenne mich nur mit Schmerzen davon. Denn obschon hier in Lausanne sehr viele sehr schöne Originale zu sehn sind, so hatt ich mich halt doch schon ein wenig vertieft in diese kindlich ruhigen und trotzdem scharfen edlen Züge und den tiefen und unschuldigen Blick der Augen, den ich vergebens wiederzugeben suchte. | Ueberhaupt wenn ich meine Zeichnung 1894 anstatt 84 datiere, so wird sie ungefähr naturgetreu sein. Es ist ein durchaus prophetisches Werk, das erst im Laufe der Zeit seine Rechtfertigung finden wird, da die sanften weichen Formen der Photographie schon einigermaßen etwas Hartes, Markiges erhalten haben. Als das Bild heute morgen vollendet war trat WillyFrank Wedekinds Bruder William Lincoln machte seit Herbst 1883 eine Lehre bei Emile Ruffieux, Commission & Expédition, Assurances et Importation in Lausanne. Die Brüder wohnten bei dem Tierarzt Emile Gros in der Villa Mon Caprice am Chemin de Montchoisy. ins Zimmer und gab mit kritischem Kennerblick sein Urteil ab. Dann sprachen wir von vergangenen Tagen, da wir noch selbander(schweiz.) zusammen. nach Wildegg hinunter ritten und dort das HausDie Villa „Laué“ in der Bruggerstraße 18 in Wildegg lag etwa fünf Kilometer entfernt von Schloss Lenzburg. Die Geschwister Wedekind unternahmen Ausritte mit den Schlosseseln. umlagerten und an die Fenster hinauflechzten. Es war das im Winter 78 auf 79. Mich überkam bei diesen Erinnerungen eine eigentümliche Wehmut ich sprang unwillkürlich in die Ecke auf Willys geladenes Flobertgewehr„Flobertgewehr, Flobertpistole, Flobertsalongewehr, Floberttesching, nach Flobert, dem Erfinder der Einheitspatrone (1845/46), benannte Handfeuerwaffen, bei denen die treibende Kraft aus einer im Boden der Patrone eingelagerten Zündmasse besteht. Der Hahn bildet den Verschluß, durch den Hahnschlag wird der Patronenrand gequetscht und der Zündstoff entzündet. Das Geschoß besteht aus einem starken Schrotkorn oder einem kleinen Langgeschoß und vermag nur auf nahe Entfernung einen kleinen Vogel u. s. w. zu töten. Derartige Waffen sind für militär. Zwecke und für die Jagd ohne Bedeutung, sie dienen hauptsächlich als Spielzeug für die Jugend und bisweilen zu Übungs- und Ausbildungszwecken.“ [Brockhaus’ Konversations-Lexikon. 14. Aufl. Bd. 6. Leipzig u. a. 1902, S. 806] los, zielte und schoß das schöne Weib mitten ins Herz. Diese Tat war zwar vollständig unlogisch, da ich ja die Wunde trug und noch trage, aber sie symbolisierte wenigstens „bildlich“ die Gegenseitigkeit, die ich umsonst in der Wirklichkeit anstrebte. Weiß ich doch noch wie heute, wie mir Fanny Laueder Mädchenname von Frau Dr. Amsler., noch ein l5jähriges Mädchen einst durch Marie Ringier eine Nichte von Fanny Oschwald und Bertha Jahn; die Lenzburger Familie Ringier war weit verzweigt. – Die gleichaltrigen Mädchen dürften gemeinsam die Bezirksschule in Lenzburg besucht haben.sagen ließ, wenn ich jetzt dann nicht aufhöre ihr immer nachzulaufen, so werde sie es ihrem VaterEmil Laué, Fabrikbesitzer in Wildegg und Mitglied im Verwaltungsrat der Schweizerischen Nordostbahngesellschaft. sagen. | Doch war es nicht das einzige Mal, daß ich so schnöde, so wegwerfend behandelt wurde. Im Gegenteil! Es war das nur eine der vielen Variationen meines ewigen, unabänderlichen Schicksals, das mich wie ein treuer Freund auf allen Wegen und Stegen begleitet. –––

Warum willst du mir denn eigentlich nichts von Blanches LiebenswürdigkeitFür Blanche Zweifel, geborene Gaudard, schwärmte Wedekind im Winter 1883/84. schreiben? Sei überzeugt, du würdest einen sehr aufmerksamen Leser finden und gerade solche Kleinigkeiten laßen sich in Briefen bei weitem beßer behandeln als bedeutende Ereignisse und wichtige Fragen von Weltbedeutung. Denn sieh, das ist auch der Fehler an meinem Briefwechsel mit Frl. BarckZuletzt hatte Anny Barck aus Freiburg im Breisgau – Wedekinds Schwarm im Sommer 1883 – geschrieben [vgl. Anny Barck an Wedekind, 14.4.1884]. Spätere Korrespondenzen sind nicht überliefert.. Wir schreiben uns gegenseitig über Meinungen und Ansichten, wie man in jedem wissenschaftlichen Buche ebenso gut lesen kann und darum will auch die Correspondenz immer noch nicht recht in Fluß kommen. Solch einen Brief, den liest man einmal und weiß dann was darin steht. Während dem, wenn sie mir von sich selbst, von ihrem Leben etc | schreiben würde, ihre Persönlichkeit viel mehr zur Geltung, zum Ausdruck käme und ich nicht mit toten Buchstaben, sondern mit ihren eigenen gesprochenen Worten mich unterhalten könnte. Schreibe mir also immerhin à la Blanches Gedanken am Arbeitstisch über alles Erdenkliche, über die Lenzburger Damenwelt, über das Wetter, über Stadtgespräche, denn gerade für solchen Klatsch sind die Briefe erfunden und gerade in der Behandlung solcher Kleinigkeiten wird die Schreiberin selber am Besten zur Geltung kommen. –

Du hast also wiederMinna von Greyerz hatte ihren ersten Brief an Olga Plümacher im Januar 1884 geschrieben [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 13.1.1884]. an Tante Plümacher geschrieben. Nun, das wird sie sehr freuen, denn selbst der größte Geist ist nicht gegen alle Flatusenauch Fladusen (regional) Schmeichelei. schlag- und stichfest. Ich hab ihr leider noch nicht geantwortet auf ihren lieben Briefvgl. Olga Plümacher an Wedekind, 19.4.1884. und weiß in Folge dessen auch nichts neues von ihr, was etwa dein Schreiben betreffen könnte. |

Lausanne ist im allgemeinen ein äußerst langweiliges Nest, besonders wenn man die verschiedenen Curiosa abgeweidet und sich an das hiesige Leben einmal gewöhnt hat. Das einzige Bemerkenswerte sind die EngländerDie Schweiz war beliebtes Reiseziel der Engländer, die wesentlich zur Entwicklung des schweizerischen Tourismus im 19. Jahrhundert beitrugen. Seit 1863 bot Thomas Cook geführte Reisen durch die Alpenlandschaft an, die dank der Werke der englischen Romantiker (George Byron, Mary Shelley, Samuel Taylor, William Turner) dem Bildungsbürgertum bekannt geworden war und nach der Schweizreise von Queen Victoria (1868) noch einmal an Beliebtheit gewann [vgl. Beat Kümin; Kaspar von Greyerz; Neville Wylie; Sacha Zala: „Grossbritannien“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.01.2018. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/003356/2018-01-11/, konsultiert am 18.01.2024]. und besonders die Engländerinnen. Ueber ihre Toiletten allein könnte man schon ein ganzes Werk schreiben. Potz Blitz! – Da solltest du ein mal sehn! Alles roth, nicht etwa rosa oder kirschrot, nein alles ziegelrot, grelles schreiendes Ziegelrot. Dabei tragen sich auch viele Engländerinnen ganz weiß oder hellgelb. Aber immer, trotz aller Extravaganz, geschmackvoll und einfach. Am anziehendsten sind die runden vollen Gesichtchen der jungen Mädchen unter 16 Jahren. Der große Mund mit blendendweißen Zähnen, die großen runden Augen, umrahmt von starken Augenbrauen machen sich sehr gut, meistens frische gesunde altgermanische PhisionomienSchreibversehen oder Lesefehler, statt: Physiognomien.. Das schönste aber sind | die herrlichen Figuren, der hohe schlanke Wuchs deßen feine Eleganz bei der vornehmen Lässigkeit der Bewegung sehr vorteilhaft hervortritt. Die Frisuren sind meistens einfach. Junge Mädchen tragen ihre hellblonde dichte Lockenfülle gewöhnlich ganz offen. Am besten hat mir ein Kopf gefallen mit ebenfalls blonden aber ganz kurz geschorenen Locken. Ein leichter koketter Hut setzte der ganzen Erscheinung die Krone auf.emendiert aus: auf. (auf u.– wohl ein Schreibversehen Sophie Hämmerli-Martis. Aber aus dem geschmacklosen zweckwidrigen Modeschwindel einer Pariser oder Berliner Zeitung sind gewiß all diese Herrlichkeiten nicht geschöpft.

Wann wird man wohl auch in Lenzburg mal so vernünftig werden? o jemine!! ––

Schöner als die Stadt Lausanne selber ist die Umgegend, der See, die Berge, die Sonnigen Rebgelände, o das ist alles bezaubernd schön. Aber man hat weit zu gehen, will man die wahre, unzersetzte Natur finden, will man die letzten der störenden Civilisation hinter sich lassen. Entweder weit im See draußen oder auf den höchsten Bergesspitzen findet man erst Gelegenheit mit sich allein zu sein, sich zu sammeln. | Aber die Zeiten, da RousseauJean Jacques Rousseau, in Genf geboren, unternahm 1730/31 eine Fußreise durch die Schweiz, die ihn unter anderem durch Lausanne und Nyon am Nordufer des Genfersees führte. Schauplatz seines Romans „Die neue Héloïse“ ist Clarens am Ostufer des Sees., da ByronsGemeint sind George Byron, sein Leibarzt und Geliebter John William Polidori sowie Percy Shelley mit seiner Geliebten Mary Godwin (spätere Shelley), und deren Halbschwester Claire Clairmont, die zwischen Mai und Oktober 1816 in der Villa Diodati in Cologny am Genfersee in einer Ménage zu fünft lebten. Lord Byron schrieb hier das Gedicht „The Prisoner of Chillon“, Mary Godwin begann mit ihrem Roman „Frankenstein“ und John Polidori verfasste die Kurzgeschichte „The Vampyre“. hier sich von der Schönheit der Natur begeistern ließen sind vorbei und gerade jene Lobgesänge haben wohl am meisten dazu beigetragen. – Und nun leb wolalte Schreibweise für: wohl., schreibe mir bald und zürne mir nicht wegen des geliebten Bildes und sei herzlich gegrüßt von deinem treuen Vetter Franklin.


[Beilage:]


O, dürft’ ich dich küssen, geliebtes Bild!
Wie wäre mein heißes Verlangen
Im Strudel der seligsten Wonne gestillt!
Wie würd’ ich dich küssen so froh und so wild
Auf deine geheiligten Wangen! –


Wir müssen uns trennen; die Zeit ist vorbei,
Da ich, in Gedanken versunken,
Tagtäglich in süßester Träumerei
Aus deinen Zügen so zart und so frei
Den Becher der Freude getrunken!


So zieh’ denn wohl und verrath es nicht,
Daß du meine Liebe gesehen!
Denn was mir aus deinen zwei Augen spricht,
Und meine Gefühle, so klar und so licht,
Wird doch kein Dritter verstehen.

                           

Minna von Greyerz schrieb am 2. Juni 1884 - 5. Juni 1884 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Lenzburg 2. Juni 1884.


Mein lieber BabyKosename Wedekinds im Familienkreis.!

Noch nicht bis zur gefürchteten Wuth war Deine braune CousineMinna von Greyerz, die über ihre Mutter (eine geborene Wedekind) entfernt verwandt mit Frank Wedekind war. entbrannt, wol aber war sie sehr ungehalten. Ja, um so ärgerlicher war ich, als ich mich als Hauptschuldnerin wußte u deßhalb meine Verwünschungen u Vorwürfe gegen mich selbst richten mußte. Dabei dachte ich freilich oft: diese, meine Selbstqualen könnte sich Baby eigentlich vorstellen u seine Ritterpflicht wäre daher, mich sobald wie nur möglich davon zu erlösen. „Oder“, fragte ich mich: „faße ich die Sache zu schwer auf? Glaubt „er“ (d. h. Du) ich wolle noch Frag- u Ausrufungszeichenspiel fortsetzen?“ Und das Endresultat meiner Betrachtungen war dann meist: „ach, ich bin ein dummes Ding, er aber ein Faulpelz.“ Und meine rege Phantasie malte mir die peinlichsten Scenen vor, z. B. wie Du leichtsinniger Weise das Bildeine Fotografie von Fanny Amsler-Laué, die Minna von Greyerz Frank Wedekind vor dessen Abreise nach Lausanne (1.5.1884) gegeben hatte und die sie dringend zurückverlangt hatte [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 8.5.1884]. irgend Jemand zeigtest, der „sie“ gerade kenne, denn eben in Lausanne verbrachte „sie“ ihre Pensionszeit u. s. w. ––– Da, am SonntagPfingstsonntag, den 1.6.1884., ich kam just aus Carl’s erbaulicher PredigtMinna von Greyerz’ Schwager Carl Juchler war Pfarrer in Lenzburg., erwartete mich eine andere Erbaulichkeit, Dein BriefWedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884. – Beigelegt war die Fotografie von Fanny Amsler-Laué, einer Cousine von Wedekinds ehemaligem Schulfreund Walter Laué.! All meine bösen Gedanken zerstoben somit gänzlich u der Schluß dieser „Fanny-Geschichte“ bildete ein Erleichterungsseufzer u vergnügtes Auflachen meiner Seit’s. Aber nicht | nur mir hast Du großes Vergnügen mit Deinem amüsanten Brief gemacht, sondern auch D. Mama; denn ich spazierte Abends damit gemütlich hinaufauf das Schloss Lenzburg. u unterm Schatten der rothblühenden Kastanien, las ich ih denselben Tante vor, was sehr lustig war. Der Schlußeffekt aber war Folgender: Tante Emilie sagte unter Lachen, ich könne Dir melden, Du seist ein Erzschwindler – ist das nicht allerliebst? und was machst Du nun wol für ein Gesicht dazu? Nach alledem was ich Dir bis jetzt geschrieben, ersiehst Du, daß ich wenig Anlage zu wissenschaftlichen AbhandlungenWedekind beklagte dies an den Briefen Anny Barcks [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884]. zeige u somit Deiner Aufforderung persönliche Erlebnisse u andern Klatsch mitzutheilen ganz at libitumSchreibversehen, statt: ad libitum; (lat.) nach Belieben. nachkomme. O, was bist Du für ein Schlaumeier! Um Deiner Bemerkung über’s Briefschreiben noch einen pikanten Bogen zu geben, greifst Du zu den bekanntlichen Schwächen des Menschengeschlechts u kitzelst die Eitelkeit u Selbstliebe, indem Du sagstEs folgen Zitate aus Wedekinds Schreiben [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884].: „gerade in der Behandlung solcher Kleinigkeiten wird die Schreiberin selber am Besten zur Geltung kommen.“ Wie? Aergerst Du Dich vielleicht über meine Auffassung, Deiner möglicherweise harmlos geschriebenen Worte? – Doch nein, Du weißt, ich bin nicht boshaft u ob ich auch zuweilen Deine Ausdrücke anders als Du gewollt, auffaße, so wirst Du dessenungeachtet ohne weiteres Kopfzerbrechen, wie’s Gefühl oder Verstand Dir eingiebt, mir schreiben, gelt aber? Ich werde es auch so machen. Dieses, sich-im-Grunde-verstehen setzt man eigentlich bei lebhaftem Briefverkehr voraus, sonst ließe man besser die Tinte eintrocknen. | Daß aber die Briefe bloß „für solchen Klatsch“ erfunden seien, bezweifle ich jedoch sehr. Freilich, es kommt darauf an mit wem ich mich unterhalte u je nachdem werde wird sich die Unterhaltung gestalten. Je besser wir den Menschen zu kennen glauben, desto freier u ungezwungner wird der geistige Verkehr mit ihm sein. Daß ein bloß wissenschaftliches Thema (d. h. über Ansichten u dergl.) auf die Länge aber ermüdend wirkt, ist begreiflich. Man sehnt sich schließlich nach Abwechslung, nach einer leichten Wendung in’s Gebiet der Allgemeinheit u Alltg/ä/glichkeit (natürlich mit Vorbehalt der Individualität). Enthält nun aber ein Brief, bloß solche SchnackenPlaudereien., sei er auch noch so reize/v/oll ausgeschmückt u mit Humor gewürzt, so entbehren wir doch den Spiegel des innern Seelenlebens, welcher sich eher in Betrachtungen u Reflexionen zeigt, als nur im Rapport über äußerliche Wahrnehmungen.

Donnerstags Abendsden 5.6.1884.. Mein Brief ruht nun schon einige Tage in meiner Schreibmappe, denn ich kann nicht immer, wie ich wol möchte, in einem Zug fortschreiben; dazu hast Du vielleicht eher Muße oder doch Freiheit. Um Dir also weiter zu „klatschen“ fange ich bei Blanche’s Liebenswürdigkeit an, da habe ich doch einen aufmerksamen LeserAnspielung auf Wedekinds Schwärmerei für Blanche Zweifel im Winter 1883/84.. Sie machte mir nach langer Zeit wieder mal einen kl. Besuch, war wie immer nett u freundlich, lobte, da gerade nichts anderes zu loben war, mein Geschick Blumensträuße zu arrangiren; einige Zeit danach brachte ich ihr einen flotten Wald- u Wiesenstrauß, worauf sie mir ein Gedichtchen in die Hände kommen ließ, was mich | auch freute. Dann wechselten wir die Torturfragenwohl im Sinne von ‚peinliche Fragen‘. u schrieb sie mir daraufhin ein liebewarmes, offnes, inniges Briefchen, auf welches ich ebenso impulsiv antwortete – aber leider muß ich bei irgend einer Stelle einen unrichtigen Ausdruck gewählt haben oder sowas, wenigstens scheint sie etwas darin nicht verstanden zu haben, denn sie war ein bischen mißstimmt, weßhalb ich ihr gestern vor Bettgehen noch schnell ein Versöhnungsschreiben abfaßte, worin ich ihr natürlich meine Unbewußtheit u Unabsichtlichtkeit bezeugte – das Weitere ruht noch im dunklen Zeitenschoos – bist Du nun befriedigt? – Von Deinem Papa hörte ich, daß Du Dich jetzt wie ein Engländer trägst, wobei besonders Deine Kopfbedeckung sehr originell aussehen muß. Und nun wirst Du gar Künstler u besuchst gegenwärtig die Malakademiedie 1823 in der Académie de Lausanne gegründete Zeichenschule, deren erster Direktor der Maler Louis Arlaud war (1822 bis 1845) [(HLS) Marc-Louis Arlaud, in: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027687/2002-12-17/ abgerufen: 28.3.2024]. – Die Académie de Lausanne hatte im Jahr 1883 nur noch 205 Studierende [vgl. Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 10. Leipzig, Wien 1890, S. 56].! Wer weiß was Du noch für ein Faktotumfac totum (lat.) einer, der alles macht. wirst! Sinn u Geschmack traue ich Dir für alles Mögliche zu. Wie geht es denn in diesen Farbenschönheitsstunden zu? Du als einziger Masculin(frz.) hier für: Mann. hast wol trotz Deinem „unabänderlichen SchicksalZitat aus Wedekinds letztem Brief [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884].“ die Herzen Deiner Colleginnen in Brand gesteckt, hast sie besungen, beliebäugelt u abkonterfeit in Dein extra dafür angelegtes SkizzenbuchMöglicherweise ist das „violettfarbene[] Skizzenbuch Wedekinds mit der eingeprägten Aufschrift „Album“ und dem Vermerk „Franklin Wedekind. / Weihnacht 1882“ gemeint [vgl. KSA 1/I, S. 778; KSA 1/II, S. 1798 (Familiennachlass Fällanden)]. Es enthält zahlreiche Handzeichnungen sowie Gedichte Wedekinds und Stammbucheinträge von Freunden. – oder wandelst Du als einzig fühlendes Wesen unter jenen welschenhier: französischsprachigen; „Bewohner eines rom.[anisch]-sprachigen Gebietes oder Landes“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. 15, 1998, Sp. 1584]., coquetten Schönheiten, welche sich Deine Blicke wol deuten, aber ob der ganzen, schönen, reichen, deutschen Sprache in welcher Dein Herz sich | ihnen zu offenbaren sucht, nur ein leichtes Lächeln der Unkenntniß zeigen? Armer Junge! Ja, ja Du hast Künstleraugen! Nicht nur Dein Ausdruck derselben, sondern was sich Dir zeigt, siehst Du anders an, als die Meisten der gewöhnlichen Sterblichen. Du beschreibst mir auf ganz reizvolle Weise die üppige Schönheit der englischen jeunesse doe/r/ée(frz.) vergoldete Jugend; reiche und genusssüchtige Jugendliche der Oberschicht., Du ergehst Dich auf anmuthige, leichte Art in einem/r/ kleinen Landschaftsskizze, daß sich der Leser ohne W weitere Mühe so hübsch hineinversetzen kann u vor meinen Blicken entrollt sich ein hübsches Bild mit fröhlichem Treiben, u bei jedem, neuen Blatt das sich so aufrollt, seh ich Dich, den Beobachter, den Dichter, den Maler Genußmensch, StudioStudenten., Kritikus, Abenteurer, unsern lieben Bundesbruder ZephyrWedekind Pseudonym im Freundschaftsbund Fidelitas.. Hoffentlich wirst Du eine gute Regung oder Stimmung nicht vorübergehen lassen, in welcher Du Lust empfinden könntest, Deiner braunen Freundin irgend ein Bild in ihr Allerlei-Albumnicht ermittelt. zu malen; jedenfalls würde Dir die Empfängerin für das endliche Einlösen Deines Versprechens dankbar sein. Würdest Du mir vielleicht jetzt unter anderm Himmelt u unter andern Leuten u Verhältnissen jene Torturfragen, die ich Dir schon einmal gegeben habe, beantworten? Es wäre für Dich eigentlich ganz amüsant et pour moi très-interessant(frz.) und für mich sehr interessant. – Über das fast unleserlich verbesserte „interessant“ hat Minna von Greyerz das Wort noch einmal sauber geschrieben. interessant! | SageSchreibe mir ob ich Dir die Fragen nochmals geben darf. Otto Otto von Greyerz, Minna von Greyerz’ Cousin, der in Bern Germanistik studierte.beantwortete sie mir ebenfalls famos u ist es köstlich, solch verschiedene Bekenntnisse miteinander zu vergleichen. Den Menschen in Bezug auf seinen innern Werth nach solch einem „Erkenne Dich selbstdeutsche Übersetzung des „Gnothi seauton“, der Inschrift am Apollontempel von Delphi.“ zu richten, kommt mir nicht in Sinn; höchstens erhält man Anknüpfungspunkte, wenn es wahrheitsgetreu abgefaßt wird. Wenn es auch, wie Tante sagte ganz richtig bemerkte, eine eitle Selbstbespiegelung ist, so sehe ich nicht ein, warum man es gegenüber seinen Freunden, (die uns ja mit allen Fehlern kennen dürfen) nicht thun soll, da man doch sich selbst im Stillen hie u da solch eigne FlattusenSchmeicheleien. vorplauscht. – – Deine Eröffnung von der ehemaligen Hofmacherei zu Fanny überraschte mich sehr, da ich bis dato nichts davon wußte – nun, Du zeigst Geschmack. Es ist so etwas à la Heine, Mozart, Göthe in Dir, die hatten meines Wissens auch große Vorliebe für hübsche Gesichter u löste sich in deren Liebeskalender eine Geliebte nach der Andern ab. Wenn Du aber in dieser Hinsicht selbst so wechselnd bist, darfst Du auch nicht über Dein Schicksal klagen,: selbst wetterwendisch behandelt zu werden. Nun, vorderhands stehst Du noch im launenhaften April Deiner Jugendjahre, der Wonnemonat | wird später kommen u wird hoffentlich bei Dir, wie bei den meisten Männern recht lange dauern, denn da heißts gewöhnlich von einem 40jährigen Hagestolzein unverheirateter Mann.: ein junger Mann; von einem Dreißiger aber: ein ganz junger Mann. Jetzt bist Du eigentlich noch nicht einmal einmal ein jüngerer Mann, sondern stehst noch im schönsten Jünglingsalter. Beim weiblichen Geschlecht verhält sich das gleich anders. Da wird meist nach der äußern Erscheinung beurtheilt. Ist sie nicht mehr klein, graciös, mit naiven Einfällen gleichen einem Vierjährigen, so heißt sie schon nicht mehr „Kind“, sondern „Grasaffeinfältiger Mensch, „als ernste oder scherzhafte Schelte für junge Leute, naseweise oder drollige Kinder, vorwitzige Mädchen“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. 1, 1881, Sp. 100].“ gleichbedeutend mit Eurem sogenannten „Flegelalter“. Ist sie 14–15 d. h. ihre Formen noch eckig, ihre Bewegungen hölzern od. ungelenk, ihr Wissen unbedeutend, so wird sie nunmehr mit einem höhern Grad, als „Schneegans“ titulirt, welchem Namen sie auch in späterm Alter noch Ehre macht, siehe an mir Exempel. Dann kommt die kurze hübsche Zeit der Uebergangsstufe vom „Backfisch„volkstümliche Bezeichnung halbwüchsiger junger Mädchen“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 2. Leipzig, Wien 1903, S. 234].“ zum „jungen Mädchen“. Nur so lang ihr die Rosenzeit blüht ist sie „eine holde Jungfrau“, um gleich danach als „alte Jungfer“, Blaustrumpfmeist pejorativ verwendete Bezeichnung für gelehrte oder emanzipierte Frauen., alte Schachtel u. dergleichen mehr zu gelten u für solche Benennungen braucht | Unsereins kaum das 30. Jahr abzuwarten. Ist das nicht drollig? Na, Du denkst jedenfalls, ich gebe mich gehörig mit solchen Studien ab daß ich Dir über derlei Lapalien schreibe, aber Du hast es ja selbst so gewollt. Nein, in letzter Zeit habe ich mir wieder allerlei zusammenphilosophirt was mir eben zu meinem fernern Leben nöthig schien; bei Allem fragt man sich halt doch nach dem jeweiligen Zweck u ohne Zweck kann kein denkendes Wesen existiren nach meiner Ansicht. —

Das Dufourfestgroßes Fest in Genf zu Ehren des Schweizer Generals Guillaume Henri Dufour, der sich auch als Ingenieur, Wissenschaftler, Politiker und Stadtplaner Genfs große Verdienste erworben hatte. Ausführlich berichtete die Presse über Programm und Durchführung der Festwoche, die am Montag, den 2.6.1884, mit der Einweihung des Dufour-Reiterdenkmals (heute Place de Neuve) und einem Festbankett im ‚prachtvollen‘ Foyer des neuen Genfer Theaters begann und am Sonntag, dem 8.6.1884, mit einem Festbankett im Bett der Rhone endete. Neben den offiziell geladenen Gästen aus den höchsten Kreisen von Politik und Schweizer Armee wurden – eingeladen von den Genfer Verbindungen – Offiziers- und Unteroffiziersverbände aus der ganzen Schweiz erwartet, an deren Festzug die zahlreichen Vereine der Stadt Fahnen schwenkend sich zu beteiligen versprachen. „Die Genfer verstehen sich darauf, großartige Festlichkeiten einzurichten; nirgends sind dieselben so wirklich volksthümlich; es will ein Jeder nach Kräften mitmachen, seinen Beitrag liefern und wenigstens durch ein heiteres Gesicht an der allgemeinen Freude Theil nehmen. Alle Straßen, selbst die kleinsten und entlegensten, prangen in reichem und frischem Schmucke; unzählig sind die Fahnen, die Laubbogen, die Kränze, die Sinnsprüche, die Wappen, die Waffentrophäen. In allen Quartieren bilden sich dazu Spezial- oder Lokalkomite’s; hier wird Mittags auf offener Straße geschmaust, dort wird Abends auf dem Pflaster getanzt. Ein jeder Stadttheil sucht den andern zu überbieten. Und bei all diesem Getümmel herrscht im Allgemeinen überall Ordnung.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 64, Nr. 154, 2.6.1884, S. (1-2)] in Lausanne Genève muß wundervoll gewesen sein, ich habe eine ausführliche Beschreibung davon gelesen. Warst Du mit Willy auch dort? Mary G. schrieb, sie hoffe ihr werdet vielleicht kommen u dann Hr. Gd’s.Emil Gaudard, der mit seinem Schwager Sebastian Dürst ein Geschäft für Modewaren in Genf und Lenzburg betrieb, wohnte mit seiner Ehefrau Magdalena Gaudard, geb. Dürst, in Genf im Cours de Rive 15 [vgl. Moritz Dürr an Wedekind, 24.7.1884]. Tochter Blanche war seit 1882 mit dem Kolonialwarenhändler Alfred Zweifel in Lenzburg verheiratet, Sohn Jules besuchte die Abschlussklasse der Kantonsschule in Aarau. Bei den Eltern in Genf gewohnt haben dürfte die Tochter Mary (Marie), die zum Lenzburger Freundschaftsbund Fidelitas gehörte (Pseudonym ‚Nordpol‘). besuchen. Ihr seid scheints jetzt auch eifrige KirchgängerAn die Mutter hatte Frank Wedekind geschrieben, dass er zur eigenen Überraschung in Lausanne nicht nur jeden Sonntag, sondern sogar jeden Abend die Kirche besuche [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. geworden – jedenfalls hast Du an solchen Orten die beste Muße Studien über Kopfbildung, Haarwuchs, Körpervollendung, Toiletten u Schönheit des Gesammteindruckes zu machen, an reizenden u andern Modellen wird es nicht fehlen.

Hier wurde diese Woche Frau Grether beerdigtnicht ermittelt. Ein Ad. Grether in Lenzburg handelte mit Modewaren [vgl. Neues vollständiges Handels- und Gewerbe-Adressbuch nebst Ortslexikon. Zürich 1877, S. 24]., Taufe eines JungenEs dürfte sich um die Taufe Carl Zweifels, des fünf Monate alten Sohns von Alfred und Bertha Luise Zweifel, geborene Meier, handeln. Carl Zweifel wurde Architekt und Spielzeughersteller und erfand den Schweizerbaukasten (Zweifel’s Schweizerbaukasten). bei Alfred Zweifel abgehalten u HochzeitJean Eich, der nach dem Tod des Vaters 1883 zusammen mit seinem Bruder Alfred Eich-Ringier die Obere Mühle in Lenzburg übernommen hatte, heiratete eine K. Lüscher, geboren 1860, gestorben 28.7.1946 [Lenzburger Neujahrsblätter, Bd. 18, 1947, S. 85]. Hr. Jean Eich’s in der Mühle, ge|feiert u bei uns war Kindertrubel, FamilientagDie Familie bestand aus 23 Personen: den Eltern (Oberförster Walo und Sophie von Greyerz, geborene Wedekind), 3 unverheirateten Kindern (Magda, Minna und Landwirt Walo in Schweden), 3 verheirateten Kindern (Karl in Schweden, Molly Juchler und Sophie Bertschinger) mit Ehepartnern, -partnerin und 12 Enkelkindern.. Carlider vierjährige Carl Walo Gottlieb Juchler, der zweitälteste Sohn von Minnas Schwester Molly und deren Ehemann Pastor Carl Juchler. kommt nächsten Montagden 9.2.1884. als geheilt aus dem Kinderspital in Züricham 12.1.1874 mit 30 Betten eröffnetes Kinderkrankenhaus, das sich insbesondere auf die Bekämpfung der damals grassierenden Diphterie spezialisierte [vgl. https://www.kispi.uzh.ch/kinderspital/ueber-uns/geschichte, abgerufen 27.3.2024]. zurück, woselbst er 14 Tage zur nochmaligen Operation gewesen ist.

Seit jenem Charfreitagden 11.4.1884. Morgen, wo wir so fidel noch in Deiner Bude oben waren, habe ich Freund SpilkerAdolf Spilker aus Vilsen bei Hannover; nach einer Apothekerlehre in Nienburg war er als Provisor tätig, ab Herbst 1883 in der Lenzburger Löwenapotheke der verwitweten Bertha Jahn; er wechselte zum 1.10.1884 nach Oldenburg. nicht mehr gesehen. Das ist eigentlich fast sonderbar, wenn man bedenkt daß man doch zusammen in solch g kleinem Nest wohnt. Zwar will ich ihn lieber nicht antreffen unter unsern meist bornirten Lenzburgern, um dann nur ein paar oberflächliche Worte zu wechseln, denn zu bloßen Phrasen möchte ich es nicht kommen lassen, dazu ist man sich doch zu gut.

Von HamyKosename Armin Wedekinds, der seit Herbst 1883 in Göttingen sein Medizinstudium fortsetzte. erwarte ich schon seit Langem tagtäglich vergebens einen Brief. Auch nach Hause schrieb er seit Tantes GeburtstagFrank Wedekinds Mutter, Emilie Wedekind, hatte am 8.5.1884 Geburtstag. nicht mehr – wenn er nur nicht krank ist!

Richtig, fast hätte ich Deines GedichtsΦανι Αμσλερ’ς Βιλδ (Titel in griech. Lettern: Fany Amsler’s Bild), das Wedekind seinem Brief beigelegt hatte [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884]. vergessen zu erwähnen. Das ist ja ungemein leidenschaftlich verfaßt, daß man beinah versucht ist, es für Ernst zu nehmen. Es ist nur gut, daß das geliebte Bild in Natura nichts von alledem erfahren hat u dieses Poem mit der | für mich allerdings räthselhaften Inschrift in griechischen Buchstaben, wohlverwahrt in meiner Geheimmappe bei andern Schriftstücken, neben Blanches rosenrothem Briefchem ruht. Was für Fortschritte macht Dein Tagebuchnicht überliefert.? Welch neue Musenkinder haben bei Dir das Licht der Welt erblickt oder hoffen es zu erblicken, vielmehr werden sich Kraft ihres Lichtes aus dem Dunkel hervorthun? Treibst Du eigentlich auch franz. Grammatik u vertiefst Dich zuweilen in Tat/c/itus? (oder wie das römisch-griechische UngeheuerPublius Cornelius Tacitus war ein römischer Historiker und Schriftsteller. In der Abschlussklasse des Gymnasiums an der Kantonsschule Aarau wurden Auszüge aus seinen „Annalen“ übersetzt [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule. Schuljahr 1883/84, S. 20]. heißt.) O weh, Du glaubst am Ende ich wolle Dich unter Controlle halten, Dich als Tante von 12 Neffen u Nichtensiehe auch unter ‚Familientag‘. bevormunden! Nun Deine Sünden wirst Du mir doch nicht beichten; als Ästhetiker wirst Du mir nur Schönes, Angenehmes, Liebes u Erfreuliches mittheilen!!!!! Seit Deinem Fortsein war ich schon oft „dort obenZitat nicht ermittelt; gemeint ist Schloss Lenzburg. auf jener Höhe“. Aber nun Du nicht mehr da bist, hört man freilich nicht mehr Deine nervösen Ausrufungen, an die man sich nachgerade gewöhnt hatte; MietzeKosename von Frank Wedekinds Schwester Erika. wird nur noch von einem Bruder|leben geplagt, DodaKosename von Frank Wedekinds Bruder Donald. hat nicht mehr Deine Pfeifen u Tabaksbeutel herunterzuholen MatiKosename von Frank Wedekinds Schwester Emilie. keine „Dubbissonst Tuppis genannt: Küsschen.wer mehr zu geben, Tante nicht mehr für einen ungestillten Durst u Hungerleider zu sorgen Hr. Dr.Abkürzung für den promovierten Arzt im Ruhestand Friedrich Wilhelm Wedekind, Frank Wedekinds Vater. ke braucht einige Vermahnungen weniger zu ertheilen, Bertha hat – ein Bett weniger zu machen u ich – ja davon schweigt besser die Geschichte – dennoch fehlst Du uns Allen sehr d. h. man hat mehr denn je Sehnsucht nach „Boreas“, „Zephyr“ oder „Pipdie Brüder Armin, Frank und William Wedekind, die ersten beiden hier mit ihren Pseudonymen im Freundschaftsbund Fidelitas benannt, William mit dem im Familienkreis verwendeten Kosenamen; alle drei hatten das Elternhaus nach dem Ende der Schulzeit verlassen.“.

Letzthin machte ich auf dem Schloß die flüchtige Bekanntschaft des Afrikareisenden, Konrad Pestall/o/zziKonrad Emanuel Alfred de Pestalozzi, ältester Sohn von Konrad Ludwig Pestalozzi auf Schloss Lenzburg und Charlotte Anna Scotchburn. Nach dem überraschenden Ableben Konrad Ludwig Pestalozzis erwarb Friedrich Wilhelm Wedekind (1872) das Schloss von den Erben. Die Presse berichtete: „Das Schloß Lenzburg ist von den Kuratoren der Kinder Pestalozzi an Dr. Wedekind von Hannover u 90,000 Fr. verkauft worden. Er wolle eine Knabenerziehungsanstalt daselbst errichten. Nach andern Nachrichten würde Lenzburg bloß ein schöner Herrschaftssitz bleiben.“ [Zürcherische Freitagszeitung, Nr. 39, 27.9.1872, S. 2]. Als ich an Pfingstenam Abend des 1.6.1884 (Pfingstsonntag), wie Minna von Greyerz zu Beginn ihres Briefes schreibt (siehe oben). oben war las mir Tante einen lieben, interessanten Briefnicht ermittelt. von Deiner Tante Plümacher vor, worin sie meiner letzen ZeilenSchreibversehen, statt: letzten Zeilen; Minna von Greyerz hatte am 1.5.1884 an Olga Plümacher geschrieben [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 8.5.1884]. an sie erwähnt, was mich sehr freute, obgleich sie damit sagt, daß sie eben keine Flattusen annehmen will u Betitelungen mit „groß“ u. s. w. nicht goutiren könne. Dieses große Wort habe ich mir allerdings zu s/S/chulden kommen lassen, ich glaubte es d zwar richtig auf ihre Person anzuwenden. u h/H/abe mich auch aber weiter in keine Schmeicheleien ausgelassen, das könnte ich gar nicht mit Willen. | Dabei kam mir aber unwillkürlich der Gedanke, wie auf welche Weise sie denn in ihrer Jugend geschwärmt habe, wie sie denn z. B. ihren verehrten Hartmannden Philosophen Eduard von Hartmann, über dessen philosophischen Pessimismus in der Nachfolge Arthur Schopenhauers Olga Plümacher ihr erstes Buch geschrieben hatte. angesprochen habe? Oder haben sich alle ihre überschwänglichen Ausdrücke in der Theorie in das in die Praxis übersetzte Rückenkissen concentrirt u somit dem Empfänger einen stichhaltigern Eindruck hinterlassen? Fast wäre es anzunehmen; aber zu solchem Unternehmen schwinge ich mich vorderhand noch nicht auf. Frau Plümachers BuchOlga Plümachers philosophische Abhandlung „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“, die noch im Juni bei Georg Weiss in Heidelberg erschien [vgl. Olga Pümacher an Wedekind, 23.6.1884]. ist nun fertig gedruckt u nur noch beim Buchbinder, dann kriegst Du u Tante ein Exemplar u ich habe von der Verfasserin die schriftliche Erlaubniß in Tantes Brief, dasselbe von ihr zu entlehnen zum Lesen; ich freue mich sehr darauf wie ein Kind vor der Bescheerung welches nicht weiß was es bekommt u doch überzeugt ist es müsse etwas Gutes sein was man ihm schenkt.

Aber nun habe ich über alle Maaßen Dir vorgeplaudert. Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.5.1884. las uns Tante im Hof vor als am Sonntag abend die Wäsche kam. Mit der Rücksendung der saubern Wäsche schicke ich Dir nun endlich meinen langes Schreiben u hoffe zuversichtlich Du werdest mich bald, recht bald mit einem ebenso großen Brief belohnen oder beglücken.

Mit herzlichem Gruß Deine Minna.


[Kuvert:]


Monsieur Benjamin Franklin W.

Lausanne.

Durch Güte„Die gelegentlichen Bemerkungen bei der Aufschrift [...] durch Gelegenheit, durch Güte, durch gefällige Besorgung, wenn die Briefe nicht durch die Post, sondern durch die Gefälligkeit eines anderen befördert werden, [...] werden gewöhnlich linker Hand auf das Couvert gesetzt.“ [Georg von Gaal: Allgemeiner deutscher Muster-Briefsteller und Universal-Haussecretär. 12. Aufl. Wien 1899, S. 79].|


In pessimistisches Grau gehüllt
verbirgt sich die Lebensfreude/,/
Das Herz ist glücklich, doch ungestillt
Bleibt dennoch des Daseins Leid!

[Schlussschnörkel]


Frank Wedekind schrieb am 29. Juni 1884 in Lausanne folgenden Brief
an Minna von Greyerz

II. lichen Lebens.

Es wäre das ein fruchtbares Thema zu einer längeren sehr interessanten Abhandlung und würde eine herrliche Skizze abgeben. Die Revolution, von der du mir schreibstvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.-5.6.1884. sie sei in deinem Inneren vorgegangen, glaube ich aus dem MottoMinna von Greyerz hatte ein vierzeiliges Gedicht zum Thema Pessimismus auf die Rückseite des Kuverts ihres Briefs geschrieben [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.-5.6.1884]. das du aufs Couvert geschrieben erraten zu können. Immerhin würd es mich freuen darüber etwas Näheres zu vernehmen. Ist doch jedes Herz eine kleine Welt, ein kleiner Staat, wo eine Regierungsform die andere ablöst und es oft recht stürmisch dabei hergeht. Das gestrenge Ministerium (ich meine den nüchternen Verstand) hat gewöhnlich nicht viel dazu zu sagen und wird durch das begeisterte Geschrei der tobenden Massen mundtot gemacht oder gar auf hoher GilliotineSchreibversehen, statt: Guillotine. Fallbeil zur Vollstreckung der Todesstrafe. zu Tode geköpft So gehts hierhin und dorthin, auf und ab, und alles jauchzt Freiheit„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ ist eine der berühmten Devisen der Französischen Revolution., Gleichheit und Brüderlichkeit, bis da plötzlich von ungefähr ein welteroberndes GenieNapoleon Bonaparte, der sich 1804 zum Kaiser der Franzosen krönte und zeitweise über fast ganz Kontinentaleuropa herrschte. des Weges kommt und mit gewaltiger Stimme Stille gebietet. Im Augenblick sind die Massen durch die Macht seiner Rede gewonnen und was soeben noch die Republik in alle Himmel erhoben, jubelt jetzt alles mit lauten Vivatrufen der absolutesten Despotie entgegen. – So gehts in der großen Welt wie im kleinen Menschenherzen und die PeisistratosTyrannen, nach Art des Peisistratos, dem Tyrannen von Athen, und (ab 546) Herrscher über Attika., die Julius Cäsar und großen Napoleon werden ihr schändliches Wesen treiben bis zum jüngsten Tageauch Tag der Offenbarung oder des Weltgerichts genannt; der Tag, an dem nach dem Glauben der christlichen Kirche das Weltgeschehen endet und Gott über die Menschheit richtet.. |
Unsere eifrige Kirchgängerei hat indessen seit dem herrlichen WetterDer Witterungsbericht der schweiz. meteorologischen Zentralanstalt meldete seit dem 25.6.1884 steigenden Luftdruck und damit einhergehend nach langer naßkalter Wetterperiode Wetterbesserungen. Am 26.6.1884 konnte erstmals von herrlichem Wetter gesprochen werden: „Donnerstag den 26. Juni 1884. Die Zunahme des Luftdruckes hat über West- und Zentraleuropa fortgedauert und sich auch auf den Norden ausgedehnt. Bei noch vorwiegend bewölktem Himmel herrscht heute allgemein trockenes, warmes Wetter; über unserm Lande hat sich jedoch der Himmel aufgeheitert. Stellenweise haben gestern Abend in der Zentral- und Ostschweiz Gewitterregen stattgefunden.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 64, Nr. 178, 26.6.1884, 2. Blatt, S. (3)] einigermaßen nachgelassen Daß wir aber trotzdem auch die englische KircheDie anglikanische Kirche von Lausanne (Christ Church) in der Avenue de l'Église-Anglaise hielt seit 1878 Gottesdientse auf Englisch ab. schon besuchten kannst du dir leicht denken. Es geht dort sehr fromm her und man muß viel stehen und noch mehr knieen. Aber wenn ich auch von der langen Predigt kein Wort verstand, so ging es mir eben wie dem deutschen Handwerksburschen in Amsterdam beim Begräbnis des Herrn KannitverstanIn der Kalendergeschichte „Kannitverstan“ (Rheinischer Hausfreund, 1808) erzählt Johann Peter Hebel von einem Handwerksburschen aus Tuttlingen, der bei seinem ersten Besuch in Amsterdam auf seine Fragen nach dem Besitzer eines prächtigen Gebäudes und eines Schiffs als Antwort „Kannitverstan“ erhält, was er fälschlich als Namen interpretiert. Sich mit dem unbekannten Herrn vergleichend und über sein mangelndes Glück hadernd, sieht er einen Leichenzug und fragt nach dem Toten. Die wieder gleiche Antwort versöhnt ihn nach wenig Nachdenken mit seinem eigenen Schicksal., ich war doch recht aufmerksam und verließ mit großer Befriedigung den Tempel. ––– Ich komme nun noch auf einen Punkt deines Briefes zu sprechen, auf den ich lieber nicht zu sprechen käme, den ich aber doch nicht unbesprochen übergehen kann. Ich meine deine Erörterung über Frau Plümacher. Es scheint dich verletzt zu haben, daß sie sich an dem Tone deines Briefes gestossen hat, und darin (mein Interesse bei beiden Teilen muß meine Offenheit entschuldigen) darin bist du im Unrecht. Wenn du mich in deinem lieben Briefe mit Heine, Mozart und Goethe vergleichst, so mag das noch hingehen, denn erstens | nehm ich das Leben einstweilen noch nicht so ernst, und zweitens ist ein solch unabsehbarer Abstand zwischen mir und diesen Männern, daß man eben den Scherz nur als Scherz verstehen kann. Wenn du aber Frau Plümacher, die gerne groß und berühmt sein möchte und auch alle Anlagen dazu hat es dereinst sein zu können, es einstweilen aber noch nicht ist, groß nennst, so kommt das dem wirklichen Tatbestand zunahe um Scherz sein zu können und liegt ihm zu ferne um als wahrhaftiger Ernst gefasst zu werden. Es hält so gerade die richtige Mitte und Distanz, um unter andern Umständen für beissende Ironie gehalten zu werden, wovon hier natürlich nicht die Rede sein konnte. Und jetzt noch einmal verzeih mir meine Offenherzigkeit. Ich glaubte nur in deinem Interesse zu handeln, wenn ich unter vier Augen dir hirSchreibversehen, statt: hier. die Lage der Dinge mathematisch scharf auseinanderlegte. Hege ich doch die feste Ueberzeugung, daß du dich mit Frau Plümacher nun desto eher wieder aufs Beste versöhnen und verständigen wirst. Ist sie doch wahrhaftig nicht so heikel im Umgang, wie es andere | Philosophen zu sein pflegen, und hat doch gerade sie vor vielen andern Menschen sich das kindlich-naive Temperament zu bewahren gewußt und trotz allem Pessimismus noch genügende Freude an den Annehmlichkeiten des Lebens, um sich ein indirektes Compliment gerne gefallen zu laßen und ihre aufrichtige Freude an schönen Worten zu empfinden. – Also bitte, nichts für ungut! Ich schreibe dir das alles, weil es durchaus nicht nach meinem Geschmak ist, daß unter Leuten die ich lieben und schätzen muß, im Stillen solch’ unerquickliche Stimmungen herrschen. Es wäre zwar nicht das erste Mal, daß mir dies Bestreben, Frieden zu stiften, zu meinem eigenen Nachteil gedeutet würde; aber von dir, liebe Minna, hoff’ ich trotz alledem nicht mißverstanden zu werden. –––––

Ich hätte dir schon lange gern etwas in dein Allerlei-Album geliefert und war auch schon einmal ganz nahe daran es zu tun; aber es hat mich wieder gereut. So höre denn die interessante Geschichte: – Eines Morgens hört’ ich die Hähne krähn und dachte, jetzt sei es eben an der Zeit, um einen frischen Morgenspaziergang zu machen. | Als ich aber aufgestanden war und nach der Uhr sah, war es eben drei Uhr vorüber, und ich hätte mich fast wieder ins Bett retirirt. Da fiel mir ein, daß etwa um diese Zeit die Sonne aufgehn müße Ich zündete mir demnach eine Pfeife an und marschirtevermutlich am 19.5.1884; es war der erste schöne Tag nach einer langen nasskalten Wetterperiode [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 64, Nr. 171, 19.6.1884, 2. Blatt, S. (3)]; dieses Datum hat Wedekind auch auf sein Gedicht „Auf dem Signal“ notiert [vgl. KSA 1/I, S. 177; Kommentar KSA 1/II, S. 1029ff.]. zum Signal hinauf. Das Signaldas Signal de Sauvabelin (648 m), keine zwei Kilometer nördlich vom Stadtzentrum von Lausanne (489 m) entfernt, eine Aussichtsplattform mit Blick auf Lausanne und den Genfer See, ehemals ein Wachtposten (frz. signaler) am Rand des Eichen- und Buchenwalds Sauvabelin: „Sehr berühmte Aussicht vom *Signal (648m), ½ St.[unde] oberhalb der Stadt [...]. Die Aussicht umfasst einen grossen Theil des Sees“ [Karl Baedeker: Die Schweiz, nebst den angrenzenden Theilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende. 21. Aufl. Leipzig 1885, S. 212]. liegt im Rücken von Lausanne auf hohem Berge, gerade am Eingang jenes herrlichen Buchenwaldes, von dem ich dir schon erzählte, und die Aussicht von dort hinab auf den weiten Seeden Genfer See., hinüber auf die blauen Savoyer Berge und auf das reizende Gestade zur Rechten und Linken spottet jeder Beschreibung. Dort oben saß ich auf einsamer Bank, vertieft in die vielen tausend Reize vor meinen Blicken und harrte etwa eine Stunde lang, bis es auch der Frau Sonne beliebte, sich aus Morpheusin der griechischen Mythologie der Gott der Träume. Armen loszureissen. Damals dacht ich viel an Lenzburg und dachte auch an dich und dein Allerlei-Albumnicht überliefert. und beschloß, dir eine Rose dafür zu machen. Nach Sonnenaufgang streift ich noch einige Stunden durch Wald, Feld und Wiesen und gelangte an einen großen Bauernhof der, wie der Geburtstagskuchen vom Kranze von einer dichten, herrlich blühenden | Rosenhecke rings umgeben war. Ich ging gerade darauf zu und wollte mich eben bedienen, da kam ein Mann mit schwerem Knüttel aus der Hausthür auf mich losgestürzt. Wir bekamen natürlich sofort Streit, aber ich ließ nicht nach und rettete mich endlich auch glücklich mit meiner Beute über den Straßengraben ins nächste Gebüsch und von dort weiter im Morgensonnenschein durch Feld und Wiesen, seligDie Passage „selig in dem Bewußtsein, eine Rose entführt zu haben“ ist in Sophie Haemmerli-Martis Abschrift unterstrichen und von ihr mit der Bemerkung „(von mir unterstr)“ versehen worden. in dem Bewußtsein, eine Rose entführt zu haben Hier sieh das Lied, das ich dabei vor mich hintrillerte, das ich aber später für viel zu unmoralisch erkannte, als daß es würdig wäre, in deinem Allerlei-Album unter ernster Lebensweisheit und sinnigen Sprüchen einen Platz einzunehmen. Es lautet aber: |

Ich sag es unverhohlenUnter dem Titel „Das gestohlene Röslein“ nahm Wedekind das Gedicht vermutlich im Oktober 1884 in seine Gedichtsammlung „Lebensfreuden“ auf [vgl. KSA 1/I, S. 173f.; Kommentar KSA 1/II, S. 1140ff.].
Du Röslein weiß und rot,
Ich habe dich gestohlen
Trotz Wächter und Verbot.

Du bist mir desto lieber
Ich hab’ dich abgemalt,
Und längst vergaß ich drüber
Wie schwer ich dich bezahlt.

Stockprügel wohl und Hiebe
Sie haben nur versüßt
Die wonnigliche Liebe
Mit der ich dich geküßt

Aus deinem Angesichte
So rosenrot und schön
Ist manch verliebt’ Gedichte
Manch Verslein zu erspähn.

Viel wüßt ich zu erzählen
Von deinem spitzen Dorn,
Wie seine Stiche quälen
Wie doch so hold dein Zorn

Aus deinem Angesichte.
Liest Franklin Wedekind
Daß die verbotnen Früchte
Die allerbesten sind. ––––– |

Die Wahrheit zu gestehen, ich hab es nicht abgemalt, das Röslein, sondern es ist verwelkt auf meinem Schreibtisch, bis die LouiseStubenmädchen oder Familienangehörige des Tierarztes Emile Gros in Lausanne, in dessen Haus die Brüder Frank und William Wedekind im Sommer 1884 zur Pension wohnten. kam und es zum Fenster hinausgeworfen hat. So muß ich denn auf etwas anderes denken, was dich erfreuen könnte. – Das Buch von Tante Plümacher hab ich nun richtig erhaltenOlga Plümacher schickte ihre Publikation „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“ (Heidelberg 1884) mit einem Begleitbrief an den jungen Freund [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 23.6.1884]. und ihr auch sofort ein Dankesschreibennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Olga Plümacher, 24.6.1884. dafür aufgesetzt. Es ist ein herrliches Werk und ich habs auch schon zur Hälfte durchgelesen. Der zweite Teil ist natürlich bedeutend schwieriger als der ersteDer erste Teil umfasst 5 Kapitel auf 178 Seiten und thematisiert den Pessimismus in seiner geschichtlichen Entwicklung vom Altertum bis zur philosophischen Betrachtung Schopenhauers, Hartmanns und Bahnsens. Der zweite Teil thematisiert die Bekämpfung des Pessimismus von verschiedenen Standpunkten (dem naturalistischen, ethischen, religiösen und panlogistischen Optimismus), umfasst 4 Kapitel und circa 170 Seiten., aber auch nicht von dem Interesse. Der erste Teil, die wenigen specielle philosophischen Termini techniciFachausdrücke. daraus fortgedacht, hätte viel Anlage, populär zu werden, womit sicher dem Pessimismus viel geholfen würde, der Welt als solcher aber nur sehr wenig, denn wenn Frau Plümacher auch logisch genau nachweist, daß aller Fortschritt auf Pessimismus beruht, so ist das doch noch lange nicht der ächte Pessimismus, der diese guten Folgen hat, sondern im Gegenteil | der optimistische Pessimismus, eben der, den sie in ihrem Buche bekämpft, um auf seinen Trümmern Schoppenhauer und HartmannSchoppenhauer: Schreibversehen, statt: Schopenhauer; Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann waren neben Olga Plümacher die Hauptvertreter des philosophischen Pessimismus im 19. Jahrhundert. zu feiern. – Auch für dich wird die Lectüre jedenfalls von nicht geringem Interesse sein: nur möcht’ ich dich bitten, über keinen Satz, über kein Wort hinwegzugehen, eh’ es vollständig verstanden und klar begriffen ist. Dann wird es dir nützen, das Buch, und dir über manche Frage Aufklärung verschaffen. – Und zum Schluße nun noch einige Zeilen, die mir soeben einfallen:

Über bemoosteUnter dem Titel „In Pully“ (Ort am Genfer See) nahm Wedekind das Gedicht in seine Gedichtsammlung „Lebensfreuden“ auf [vgl. KSA 1/I, S. 186f.; Kommentar KSA 1/II, S. 1655ff.]. Steine
Fällt ein rieselnder Quell,
Glizert im Mondenscheine
Funkelt so silberhell.

Sinnend saß ich daneben
Sah wie die Welle schäumt
Hab vom vergangenen Leben
Hab von der Heimat geträumt.

In der Tiefe der Wogen
Sah ich gar mancherlei:
Viele Gestalten zogen
freundlich an mir vorbei. |

Waren die lieben Seelen
die mich dereinst erfreut,
die meinem Herzen fehlen
hier in der Einsamkeit. –

Tausendmal laß dir danken
Lieblicher Silberbach,
Daß du den Heimwehkranken
tröstest im Ungemach

Daß du aus alten Tagen
Freundliches mir erzählt,
Daß ich dir durfte klagen
Was meinem Herzen fehlt. –

Jetzt leb wohl liebe Minna, und antworte mir recht bald. Grüße alle die Deinen von mir und mach Dir nicht zu viel Sorgen über den Pessimismus. Für den Unglücklichen mag er von großem Nutzen sein. Aber wenn ihn auch der Glückliche in der Theorie anerkennen muß, so fühlt er sich doch gewiß im Optimismus wohler. Denk an Wieland! Ein Wahn der dich beglücktleicht abgewandelter, zum geflügelten Wort gewordener Vers aus Christoph Martin Wielands Gedicht „Idris“. Dort heißt es: „Ein Wahn, der mich beglückt, / ist eine Wahrheit werth, die mich zu Boden drückt.“ [Christoph Martin Wieland: Idris. Ein Heroisch-comisches Gedicht. Fünf Gesänge. Leipzig 1768, S. 131].. Ist eine Wahrheit wert, die uns zu Boden drückt.

Und vergiß nicht deinen treuen Vetter
Franklin.

Minna von Greyerz schrieb am 2. Juli 1884 - 3. Juli 1884 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Lenzburg Mittwoch Juli 1884.


DuDrehpeter„DREHPETER, m. nennt man im gemeinen leben einen im handeln und in der bewegung langsamen mensch, bei dem nichts einen rechten fortgang hat“ [DWB Bd. 2, S. 1368].“ von einem – DichtergeniusMit dem Wort ‚Dichtergenius‘ endet ein Gedicht Wedekinds („Künstlerblut fließt in den Adern“) [Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 11, Mappe 6, Autographen; Erstdruck: Austermühl 1989, S. 374-375] aus der Lausanner Zeit. Die Anspielung legt nahe, dass das Gedicht dem nur fragmentarisch überlieferten letzten Brief Wedekinds entstammte oder ihm beilag [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 29.6.1884]. Es ist nur in einer Abschrift durch Minna von Greyerz überliefert, die sie Wedekind später zusammen mit einem Titelblatt mit der Aufschrift „Zephyr!“ zukommen ließ [vgl. KSA 1/I, S. 786; dort wird von einer Autorschaft von Minna von Greyerz ausgegangen]. Das Gedicht lautet: „Künstlerblut fließt in den Adern / Und ich weiß nicht, was ich will – / Möchte zu den Sternen fliegen, / Doch zu hoch ist mir das Ziel. // Malen möchte ich die schönen / English lady’s gar zu gern, / Lieber noch möcht’ ich sie küssen, / Doch sie steh’n mir viel zu fern. // Ach was soll ich nur beginnen / Mit den bunten Plänen all? / Ideal sind meine Träume Doch auch sie sind bloßer Schall. // Sieh! was kommt da galoppiret? / Wahrlich, s’ ist mein Pegasus! / Und ich schwing’ mich drauf mit Wonne, // Kühn als Dichtergenius!“!
Was Drehpeter heißt, wirst Du wol wissen; zu solchen rechne ich auch diejenigen Leute, welche ohne triftigen Grund, ihre Freunde auf Briefe warten lassen u haben sie endlich den Entschluß gefaßtDies dürfte Minna von Greyerz von Wedekinds Mutter erfahren haben, der er geschrieben hatte: „Minna lasse ich vielmals danken für ihren lieben großen Brief. Ich werde ihn heute Abend noch beantworten.“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 26.6.1884], es zu thun dieselben zu beantworten u ist das große Werk vollbracht, ihr Schreiben dann noch 2-3 Tage herumliegen lassen – sie haben sich ja vorderhand selbst genügt u erst in zweiter Linie fällt ihnen ein, daß derjenige welcher Anspruch darauf machen darf, befriedigt werden sollte. Nennst Du das „heruntercapitelnausschelten; wahrscheinlich Zitat aus dem verlorengegangenen Briefteil von Wedekinds letztem Brief [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 29.6.1884].“? Oh es sollte mich freuen, wenn meine Worte etwas Eindruck machen könnten u Du Dich thatsächlich darin bessern wolltest. Dann werde ich Dir auch meine Verzeihung schicken, vorderhand werde ich Großmut üben u Dich mit einer unverdienten baldigendreifach unterstrichen. Antwort zu beschämen suchen. Dein Briefvgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 29.6.1884. – Der Brief ist nur fragmentarisch überliefert, der Anfang (vermutlich im Umfang von einem Doppelblatt) fehlt. an u für sich aber hat mich sehr gefreutMinna von Greyerz hat die Worte mit dicker Tinte und sichtbar größer geschrieben als den übrigen Brieftext., wenn Du auch nicht den Ausdruck dieser Worte hörst, so siehst Du doch den Nachdruck. |

Deine Briefbehandlungstheorie verstehe ich schon, besonders wenn ich bedenke, daß Du nun, bei Deinem/r/ einmal ausgepsprochenen Behauptung beharren willst. Im Geheimen hast Du meinem Satz aber doch auch Recht geben müssen, besonders bei einer Corresspondenz zwischen zwei intimen Freunden, die sich gern Alles offenbaren, selbst wenn der Brief über Gebühr schwer würde. In einer Beziehung allein schon billige ich Deinen Ausspruch, weil ich finde, daß dadurch mehr Leichtigkeit in StylSchreibversehen, statt: im Styl. gebracht wird, was ja nur fördernd sein kann. Ich bin also weit entfernt Dir zu zürnen, nebenbei gesagt, Du mußt mich für empfindlich halten, daß Du das fragen konntest. Na ja s’hat eben jedes seinen Haken, oft ganz unbewußt, daher verdienst Du vielleicht jene Bemerkung gar nicht. – Daß Du Dich nun so gern und oft in die Natur versenkst, auf WaldeshöhAnspielung auf Wedekinds frühmorgendlichen Spaziergang zum Signal, von dem er in seinem letzten Brief erzählt hat. u einsam plätschernden SilberbachAnspielung auf das in Wedekinds Brief mitgeteilte Gedicht „In Pully“., wundert mich, bei einem Dichtergemüt wie das Deine, gar nicht. WolSchreibversehen, statt: Wohl. aber will mir Deine einstmals hingeworfene Bemerkung nicht aus dem Sinn: daß die Natur Dich kalt lasse. Wie reimt sich denn das zusammen? Besonders wenn man Einkehr in sich selbst halten will u Probleme höherer Art lösen möchte, so | eignet sich zu solchen Betrachtungen doch keine Umgebung besser als die freie Natur, dieses Eldorado von Vollkommenheit?/!/ Nur einem/n/ geistlosen Menschen kann die Natur kalt lassen, weil er den Geist nicht darin, allüberall erkennen kann, weil er nicht im Stande ist, ihn selbst hineinzulegen. Wo der Geist fehlt ist das Leben nur Mechanik, also schon kein Leben mehr sondern nur todte Maschine. Verzeih, alle logischen Begründungen riechen nach A Abhandlung u die treffe Bann u Fluch wenn sie nicht Humor sprüht. Ich wähle daher einen bloßen Namen der alle Farbenpracht in sich schließt: Blanche! Die VersöhnungÜber die Verstimmung von Blanche Zweifel hatte Minna von Greyerz in ihrem letzten Brief geschrieben [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.-5.6.1884]. hat stattgefunden bei Blumenduft u Vollmondschein in einem der lauschigen Plätzchen des schönen Garten’sDer zur Villa Hünerwadel gehörende Garten in Niederlenz – im Besitz von Adolf Saxer, später von seiner Tochter Lis Saxer – wurde 1906 vom Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenverein erworben und beherbergte die erste Gartenbauschule für Frauen; diese bestand bis 2016. von Hr. Saxer’s, vor dem KränzchenDem Kränzchen gehörten Blanche Zweifel, Lis Saxer, Bethi Hünerwadel und Minna von Greyerz an [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.-5.6.1884].. Dieselbe aber auseinanderzusetzen wäre mehr als Klatsch, nein weniger, nichts weniger als mehr oder weniger eine frivole Zers/z/ausung einer reinen Blüthe. Glaube an deren Schönheit u Duft u sei zufrieden; denn die Poesie braucht keine Analyse: Die Abschrift des GedichtchensDie Abschrift von Blanche Zweifels Gedicht („Mir war so weh den ganzen Tag“) befindet sich am Ende des Briefs. werde ich besorgen, vielleicht frage ich sie heut extra in der SingstundeMittwochs probte der Chor des Lenzburger Cäcilienvereins, dem neben Minna von Greyerz unter anderem auch Blanche Zweifel und Frank Wedekinds Mutter Emilie Wedekind angehörten. darum, das kann ihr ja nur schmeicheln. Das Resultat werde ich Dir zum Spaß dann | mittheilen. – Donnerstagden 3.7.1884.. Daß Dir meine Betrachtungvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2. – 5.6.1884. über die verschiedenen AlterstufenSchreibversehen, statt: Altersstufen.ein fruchtbares ThemaZitat aus Wedekinds letztem Brief [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 29.6.1884]. für eine längere, sehr interessante Abhandlung“ scheint, welche „eine herrliche Skizze abgeben“ würde, freut mich sehr u möchte ich Dich daher aufmuntern Dich näher darüber auszulassen. Mir fällt vorderhand nichts weiter ein, höchstens daß ich mich in die verschiedenen Empfindungen od. auch Auffassungen der verschiedenen Altersclassen vertiefen könnte; daher bin ich um so begieriger was es denn Dir für Gedanken weckte. Deine Vergleichung in Bezug auf das Herz als kl. Staat ist gar nicht übel, sie kommt mir sogar vollständig richtig vor. Bei mir hatte die genannte Revolution in so fern g/G/utes zu Folge, als ich jetzt wieder normal bin. Um das Kind mit Namen zu nennen, glaube ich es am besten „EntrüstungspessimismusVerschiedene Ausformungen des Pessimismus diskutiert Olga Plümacher in ihrem Buch „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“ (Heidelberg 1884). Über den „Entrüstungspessimismus schreibt sie: „Wie der Weltschmerz so ist natürlich auch der Entrüstungspessimismus überwunden; denn alle Uebel und Uebelstände sind nur die variablen Formen der mit der Realität und Individualität selbst gesetzten Verhältnisse der Collision. Die Entrüstung findet daher nur den unsittlichen Verhältnissen gegenüber ihr practisches Gebiet, hat aber in der Philosophie keinen Raum.“ [Ebd., S. 160]“ zu taufen, welcher mir jedenfalls als der unvortheilhafteste Pessimismus erscheint zum Weiterleben. Was im Grund genommen der phil. echte Pess. bezweckt ist mir nicht klar, daher ich dem opt. oder Pseudo-Pessimismus huldige, welche Auseinandersetzung ich kürzlich Frau Plümacher machte. Du mußt nämlich wissen, daß ich am Samstagden 28.6.1884. – Die Korrespondenz zwischen Minna von Greyerz und Olga Plümacher ist nicht überliefert. von ihr einen längern, eingehenden, lieben, interessanten für mich sehr werthvollen | Brief von ihr hatte. Meine Freude kannst Du Dir denken, ich war nichts weniger als philosophisch beim Empfang desselben, sondern tollte u jubelte noch ein Weilchen damit in meinem Zimmer umher. Ich kenne zwar noch ein andrer großerSchreibversehen, statt: einen andren großen. Kindskopf in ähnlichen (d. h. bei freudigen Anlässen) Angelegenheiten, außer mir, nichtwahr? Am Sonntagden 29.6.1884. beantwortete ich ihn gleich u habe nun heute vor Tisch bereits eine Karte von ihr Es dürfte sich um eine Karte handeln, die Olga Plümacher am Dienstag, den 1.7.1884 an Minna von Greyerz schreiben wollte, wie sie Wedekind mitteilte [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 30.6.1884] und die – einen Tag für den Postweg von Stein am Rhein nach Lenzburg gerechnet – am Mittwoch, den 2.7.1884, Minna von Greyerz vorgelegen haben dürfte.bekommen, die mich ganz erglühen macht. Sie wird mir nächstens meinen Brief ausführlich beantworten u will mir ein Buch von KörberSchreibversehen, statt: Buch von Koeber. Gemeint ist Raphael von Koebers Abhandlung: „Das philosophische System Eduard von Hartmann's“ (Breslau 1884).: Hart’s. sämmtliche Werke im Auszug für einige Zeit schicken. Wie mich ihr Interesse für mich freut kannst Du Dir denken; es ist mir dies so neu, so ungewohnt von Jemandem der (für mich) so unerreichbar hoch über mir steht, daß ich’s kaum recht fassen kann u beinah fürchte/en/ möchte, sie, könnte sich bei genauer Untersuchung enttäuscht fühlen; nun das wäre ihre Sache, mir würde es zwar auch leid thun; allein ich werde mich geben wie ich bin; nichts studiren u künsteln um zu gefallen, das geht ja wider alle Natur. Zur Besserung trägt eine solche Bekanntschaft d. h. Theilnahme immer bei, wenn man in sich ein Streben nach Höherm kennt, daher wird jedenfalls diese Annäherung ihre guten Folgen ausüben; denn man geht selten aus den Beziehungen eines Menschen, den wir achten | u lieben müssen, hervor, ohne seinen Einfluß zu spüren. Daß Du regen Antheil genommen, an dem Verhältniß zwischen mir u O. Plümacher u mir, freute mich sehr, obwohl Du meintest ich seiMinna von Greyerz bezieht sich auf Interpretationen Wedekinds [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 29.6.1884]. verletzt gewesen. Ich muß mich in dieser Hinsicht wahrscheinlich falsch ausgedrückt haben, denn wie könnte ich einer solchen Frau gleich was übel nehmen! Das wäre zum Midesten Mindesten sehr dumm „von mich“Die konnotierte dialektale Formulierung zitiert Minna von Greyerz auch in ihrem Geburtstagsgedicht für Wedekind (von „mich“) [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 23.7.1884].. Ich habe Dich aber ganz gut verstanden u danke ich Dir herzlich für Dein freundliches Bestreben Frieden unter Deinen Leuten zu haben; ich bin sicherlich die Letzte die ein solches Bemühen falsch beurtheilen wird. Hier habe ich ja den Deinen eignen Beweis: in dieser scheinbaren Kleinigkeit zeigt sich mir gerade die Feinheit Deines Denkens Gemüthes. –

Warum Du mir noch immer nichts in mein Album fabrizirt hast kann ich mir denken: Freund BabyKosename Wedekinds innerhalb der Familie. war zu – bequem. Ich bitte Dich, mache doch ganz nach Belieben was, gerade in ein derartiges Allerleialbum, darf Verschiedenes kommen u weil Du doch zuweilen einem farbenwechselndem CamelionSchreibversehen, statt: farbenwechselnden Chamäleon. gleichst mag dem entsprechend auch Dein Einfall sein. Vorderhand amüsirte mich Deine Geschichtevgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 29.6.1884 von der Prügel-Rosentour früh | Morgend/s/ um 3 ¼ Uhr ungemein u lachten wir gehörig zusammen TanteFrank Wedekinds Mutter Emilie Wedekind. u ich. O Du! Deine poetischen ErgüsseWedekind hatte in seinem letzten Brief zwei Gedichte eingefügt: „Das gestohlene Röslein“ und „In Pully“. gefallen mir, besonders das zweite „Der Heimwehkranke“ zum andern kann ich nur sagen, wegen den verbotnen Früchten: „wohl bekomm’s!“ Aber manches schmeckt süß und hinterläßt darnach doch einen widrigen Geschmack oder nimmt einem gar den goût an(frz.) den Geschmack an, die Lust auf. einfacher, gesunder Kost.

Mein Vergleichvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.6. bis 5.6.1884. zwischen Dir, Heine Göthe u Mozart war allerdings ein Scherz, aber doch immerhin ein Scherz der auf was hinzielte, oder wolltest Du absichtlich jene Stelle nicht verstehen nicht verstehen? Der Vergleich fand ja nur wegen der allgemeinen, wechselnden Vorliebe für das sog. schöne Geschlecht, statt.

Und nun zum Schluße noch Blanches GedichtenSchreibversehen, statt: Gedichtchen., die Erlaubniß habe ich zwar nicht eingeholt, es gehört ja eigentlich mir u Deine Mama meinte, ich könne Dir’s schon schreiben.


[„]Mir war so weh den ganzen Tag,
So weh um’s Herz und trübe
Ich sehnte nach dem Frieden mich
Sehnt mich nach alter Liebe.


Des Menschen Thun, so liebeleer, |
Ich konnt’ es nicht verstehen
Des Menschen Wort, so ohne Treu
Sah’ ich im Wind verwehen.


Und was mir heilig war u groß
Mein Dichten u mein Sehnen
Sie griffen’s an mit herber Hand
Es lächelnd zu verhönen.


Ob golden auch die Sonne lacht
Ob auch die Vöglein sangen
Es hielt mein Herz mit Zaubermacht
Ein böser Traum umfangen.


Da brachtest Du die Blumen mir,
Noch frisch im Maienthaue
Die Blumen, die der Frühling bringt
In Feld u Wald u Aue.


Wie bin den lieben Blumen ich
Von Herzen so gewogen,
Durch meine Sinne ist es mir
Wie Frühlingshauch gezogen.


Es schwand der Traum, es wich der Bann,
Ze Der Zauber ist gebrochen,
Und das Erlösungswort hat mir
Die Freundschaft hold gesprochen.“

––––– |

Noch etwas: Komme doch mit Willy im August in die Ferien; Hamy kommt dann auch, vielleicht sogar Otto v. GreyerzMinna von Greyerz’ Cousin, der in Bern Germanistik studierte., u ich denke es sollte dann so hübsch sein wenn wir Alle miteinander noch einige vergnügte Tage zusammen verleben könnten deren Erinnerung uns für die kommende Schaffenszeit erfrischen u erfreuen würde. Anfangs der letzten Woche August werde ich voraussichtlich mit den Störchen weiterziehenMinna von Greyerz wollte in Dresden am ‚Königlichen Conservatorium für Musik‘ Klavier und Gesang (für künftige Lehrerinnen) studieren. wenn auch nicht d nach dem | Süden. Was machen denn Deine Malstudien, ich bin Dir sehr dankbar, wenn Du mir einmal irgend ein solches Muster zuschicken willst; auch Poesien neuern u ältern Datums sind hochwillkommen. In lieblicher Freundschaft grüßt Dich Deine braune Cousine Minna

–––––

Minna von Greyerz schrieb am 23. Juli 1884 in Lenzburg folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herr Franklin Wedekind
pr. ad. Monsieur E. Gros.
Mont Caprice
Lausanne. |


Zu Deinem frohen WiegenfesteAm 24.7.1884 wurde Wedekind 20 Jahre alt.Am 24.7.1884 wurde Wedekind 20 Jahre alt.
Wünscht „SturmwindMinna von Greyerz’ Pseudonym im Freundschaftsbund Fidelitas.“ Dir das Allerbeste!
Zwar bist Du gar nicht ritterlich
Verdientest keinen Gruß von „mich“Die konnotierte dialektale Formulierung zitiert Minna von Greyerz ganz ähnlich in ihrem letzten Brief („von mich“) [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.7. bis 3.7.1884]..
Im Gegentheil es ist recht schnöde,
Daß Du so stumm bleibst oder blöde.
Herunter möcht’ ich Dir kapitelnherunterkapiteln = ausschelten.,
Allein was helfen solche Mitteln?
Und noch dazu am Jahrestage
Hört man nicht gern der Freundschaft Klage.
Drum will den Vorwurf ich verkürzen
Und mich in die Erzählung stürzen:
Das Buch von Koeber ist gekommenOlga Plümacher Zusendung von Raphael Koebers Buch „Das philosophische System Eduard von Hartmann's“ (Breslau 1884) [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2. u. 3.7.1884].
Und wurde freudigst aufgenommen.
An „Tante P.“ schrieb ich dann wieder
Ne’ Dankepistel sofort nieder;
Bald darf ich ihren Brief erwarten
Ich freu’ mich drauf ganz – außer Arten.
Das JugendfestDas Lenzburger Jugendfest fand am 18.7.1884 statt. Wie Minna von Greyerz berichtete auch Frank Wedekinds Vater von dem Traditionsfest [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884]. Vom Maienzug, dem Aarauer Jugendfest, das eine Woche vorher am 11.7.1884 stattfand, berichtete Erika (Mieze) Wedekind [vgl. Erika (Mieze) Wedekind an Frank Wedekind, 16.7.1884]. verlief gelungen,
Ich selbst hab’ tüchtig mitgesungen,
Bin stramm gelaufen mit den Jungen
Und hab’ sogar noch Lob errungen
Von einem dicken, liebenStreichung wieder aufgehoben. rothen HerrnEs dürfte sich um Adolf Spilker, den Apothekergehilfen Bertha Jahns, gehandelt haben, für den Minna von Greyerz schwärmte.
Doch mehr verrathe ich nicht gern.
Beleuchtung blau, gelb, grün und roth
Frau Jahn im Städtchen uns dann bot.
Nachdem die Lichter ausgegangen,
Zwölf Päärchen sich im Tanz noch schwangen,
Bis daß die Glocke 2 Uhr schlug,
Dann hatten endlich sie genug.
Ach, leider war ich nicht dabei,
Es bricht mir fast das Herz entzwei!
Und dennoch bin ich wolgemut,
Es ist doch Manches schön u gut.
Noch viel wüßt’ ich Dir zu erzählen,
Allein, die Zeit läßt sich nicht stehlen.
Verzeih’ mir nunmehr meine Knittel„Verse, wie man sie aus dem Stegreif, zum Scherz, in Gelegenheitsgedichten macht, mit größtmöglicher Freiheit in Reim und Rhythmus, doch meist mit paarweise folgenden Reimen und vier Hebungen in der Verszeile.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 9. Leipzig 1887, S. 890]
Humor erscheint selten oder und nur „little(engl.) klein.“,
Wohlan, erfreue Du mich wieder
Mit einem Deiner Heldenlieder,
Und sei gegrüßt viel tausend Mal
Von wem, – ist Dir wol ganz egal. –


[am rechten Rand um 90 Grad gedreht:]
23.VII 1884. Lenzburg.

Frank Wedekind schrieb am 24. Juli 1884 in Lausanne folgenden Brief
an Minna von Greyerz

Lausanne e. ct. 84


Liebe Mina,

Herzlichen Dank für Deinen lieben langen Briefvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.7. bis 3.7.1884. und für die gütige Verzeihung meiner Sünden. Herzlichen Dank für die große Nachsicht, mit der du deinen nachlässigen VetterWedekind und Minna von Greyerz waren durch ihre Mutter Sophie von Greyerz, geborene Wedekind, weitläufig miteinander verwandt. in allen Angelegenheiten behandelst und alle Götter mögen dich belohnen für das schöne GedichtBlanche Zweifels Gedicht („Mir war so weh den ganzen Tag“) schrieb Minna von Greyerz auf Seite 4 ihres Briefs (siehe oben) ab. von Bla Frau Zweifel, das ich mit der Andacht eines betenden Muselmannsim 19. Jahrhundert übliche Bezeichnung für Muslime (nicht pejorativ gemeint). gelesen habe.
Und soeben erhalte ich noch sogar Deine liebe GeburtstagskarteMinna von Greyerz’ Postkarte mit ihrem Geburtstagsgedicht („Zu Deinem frohen Wiegenfeste“) [Minna von Greyerz an Wedekind, 23.7.1884]., die mich erst darauf aufmerksam macht, daß ja heuteAm 24.7.1884 wurde Wedekind 20 Jahre alt. mein Geburtstag ist. | In allem Ernste, ich hätt es um ein Haar vergessen und auch Willi gratulirte mir erst als er mir um Mittag deine Carte brachteWilliam Wedekind, der beim Kaufmann Emile Ruffieux in Lausanne eine Kaufmannslehre machte, wohnte wie sein älterer Bruder Frank seit 1.5.1884 bei dem Tierarzt Emile Daniel Gros..
Es sind ganz famose KnittelKnittel- oder Knüttelvers: „(gewöhnlich paarweise) gereimter vierhebiger Vers; als (auf das 16. Jh zurückgehende) Reimversform volkstümlicher, auch (burlesk-)komischer sowie bieder-deutschtümelnder Dichtungen“ [Goethe-Wörterbuch, Bd. 5, Stuttgart 2011, Sp. 478 (https://www.woerterbuchnetz.de/GWB), abgerufen am 22.05.2024]., das erste Kind Deiner Muse, daß/s/ ich seit Anbeginn meines ExilsAm 1.5.1884 hatte Wedekind Lenzburg verlassen, um ein Semester an der Académie de Lausanne moderne Sprachen und Literatur zu studieren und Malkurse zu besuchen. erhalte. – Ich wollte dir eben darum schreiben, mir doch einmal einige Klänge aus deiner straffbesaiteten Laute zukommen zu lassen. Und nun erhalt ich ganz unversehens diese ergötzliche Beschreibung des lenzburger Jugendfestesam Freitag, den 18.7.1884, veranstaltetes Traditionsfest in Lenzburg. Das seit dem 16. Jahrhundert jedes Jahr im Juli veranstaltete Fest für die Jugend begann traditionell mit Böllerschüssen, enthielt zudem die Bewirtung der Jugendlichen, Sport- und Musikauftritte sowie eine abendliche Tanzveranstaltung für Jung und Alt. . Meinen herzlichs/e/n Dank auch hierfür. –––––

Dier sehr bezeichnende Ausdruck „Drehpeter„DREHPETER, m. nennt man im gemeinen leben einen im handeln und in der bewegung langsamen mensch, bei dem nichts einen rechten fortgang hat“ [DWB Bd. 2, S. 1368]. – Wedekind bezieht sich hier und im Folgenden auf Minna von Greyerz’ Brief vom 2.7. bis 3.7.1884.“ war mir ganz neu, aber ich merkte bald was damit gemeint war. Nur darfst du meiner | Jungfer Muse keine Drehpeterei vorwerfen. Dagegen muß ich energisch prostestiren, denn ich bin ihr Ritter und sie meine minniglich verehrte Dame, die ich beschützen werde und auf die ich keinen Schatten fallen lassen darf. –

h/r/e nun, liebe Minna, meine Auseinandersetzung und du wirst gewiß zugestehen daß ich recht habe, ohne beizufügen, „daß ich im Geheimen dir wol doch hätte beistimmen müssen[“].

Vielseitigkeit und Wetterwendigkeit oder, nach deiner Bezeichnung „Drehpeterei“ ist ein großer Unterschied. Und was den Naturgenuß anbelangt, so steh ich jetzt noch immer auf gleicher Stufe wie früher. Du schreibst „Besonders wenn man ...... Probleme | höherer Art lösen will, so eignet sich zu solcher Betrachtung doch keine Umgebung besser als die freie Natur, dieses Eldorado der Vollkommenheit.“ Was die Vollkommenheit anbelangt, so wirst du in Tante Plümachers BuchOlga Plümachers philosophische Abhandlung „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“ (Heidelberg 1884). an verschiedenen Stellen genügend Belehrung darüber finden. Ich sage dir aber, die Betrachtung meines kleinen Fingers oder einer gewöhnlichen Stubenfliege eignet sich ebenso gut dazu wie die freie Natur mit all’ ihren Sternenzelten, Sonnen Monden Blumenteppichen, Wohlgerüchen e. ct. In meinem kleinen Finger oder in einer Stubenfliege liegen ebenso viel ungelöste Räthsel wie in der ganzen Herrlichkeit des Weltalls verborgen und wenn ich den gestirnten Himmel anschaue, so ist er mir | eben ein gestirnter Himmel und bringt mich in meinen Forschungen um keinen Schritt weiter. Und den Gottesglauben, der sich auf solche Effektstücke stützt, halte ich für recht oberflächlich und unvollkommen. Mich läßt in dieser Beziehung der Himmel kalt und ich müßte mich recht irren wenn es nicht letzten Winter b eben bei solch einer Gelegenheit gewesen wäre, wo ich dir das Geständniß dieses Wärmemangels beim Hinte Hinuntergehenbeim Hinuntergehen vom Schloss Lenzburg in die Stadt Lenzburg, wo Minna von Greyerz wohnte. am Abend machte. ———— Dieser Art von Einfluß ist es also gewiß nicht, den/ie/ ich in der freien Natur suche, es ist eine ganz anderereSchreibversehen, statt: andere.. Es ist nur die Stimmung, die verschiedenen Nüancen zwi von und zwischen Dur und Moll die sich sicher | nur in Landschaftsbildern so wirksam so mittheilsam finden. Wenn ich also in die schöne Natur hinausgehe so betracht ich erst in zweiter Linie diese Natur selbst und die Stimmung, die sich dabei mir aufdrängt, ist nicht selten sehr verschieden von der, in der ich unter dem Einfluß meiner schönen Umgebung über anderes NachsinneSchreibversehen, statt: nachsinne.. Und daßs ist eben die Hauptsache, das ist es was ich genieße und weßwegen ich die Enge und Stimmungslosigkeit des Zimmers fliehe,. Aber ich werde solchen Stimmungen nie gestatten auch nur den geringsten Einfluß auf meine ernsteren Betrachtungen zu erringen. – Wenn dir nun diese lange Abhandlung nicht mundenSchreibversehen, statt: mundet., so gieb nicht mir die Schuld. Ich hab’ nur gegenüber meiner Dame Ritterpflicht | erfüllt und hoffe dafür, daß mir meine Muse auch bald wieder einen Begeisterung erfüllten Hymnus anstimmt. ———— Frau Zweifels Poesiedas oben erwähnte Gedicht von Blanche Zweifel-Gaudard. hat mir außerordentlich gefallen. Zwar glaube ich nicht recht daran, an die weltschmerzliche Stimmung, die ihren Hintergrund bildet. Dazu ist Frau Zweifel selber ein viel zu harmonisches Wesen; sie paßt so wenig zum Weltschmerz wie Jupiter(griech.: Zeus) in der griechisch-römischen Mythologie der höchste Gott in der Hierarchie der Götter. zum Christenthum. a/A/ber das schließSchreibversehen, statt: schließt. doch alles nicht aus, daß sie trotzdem nicht dann und wann weltschmerzlich gestimmt sein könnte. Hoffentlich möge das neuerstandene Freundschaftsbündniß grünen und gedeihen in alle Ewigkeit. Möge kein neidisches Geschick mit schwarzer Hand den | schönen Knoten der Liebe lösen, möge die herrliche Blume, noch herrlichere Früchte tragen und noch nach Jahr und Tag, wenn rauhe Stürme der Prüfung vorüber gesaust, wenn die Flamme der Leidenschaft schadlos daran emporgeleckt, wenn die alles zerstörende Zeit sich die harte Stirne eingerannt an dem felsenfesten Tempelbau eures hehren Herzen Glaubens, möge dann unsterblicher Lorbeer die unerschütterliche Treue kröhnen und der Triumph eurer Liebe ein Beispiel und Muster sein für alle kommenden Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit ––––– Amen.

Dein dich liebender
Vetter
Franklin.

Frank Wedekind schrieb am 24. August 1884 in Lenzburg folgendes Briefgedicht
an Minna von Greyerz

Abschiedsklänge
an meine liebe Cousine
Minna.
Im August 1884Zu Beginn der letzten Augustwoche – sie begann am Montag, den 25.8.1884 – beabsichtigte Minna von Greyerz, Lenzburg zu verlassen, um am Königlichen Konservatorium in Dresden eine Ausbildung als Klavier- und Gesangslehrerin zu beginnen [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.-3.7.1884]. Erst im Frühjahr 1887, nach dem Tod ihrer Mutter, kehrte sie nach Lenzburg zurück..


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Und wieder lenkte Phöbus sein GespannBeiname des Gottes Apollo, der in der griechisch-römischen Mythologie unter anderem als Beschützer der Künste (Musik, Dichtkunst und Gesang) verehrt wurde; er wird auch mit dem Sonnengott Helios gleichgesetzt, der am Himmel im Sonnenwagen seine Rosse lenkt.
Dem Westen zu. Die Menschenkinder schliefen.
Und wieder setzt’ ich meine Feder an,
Um mich in alte Zeiten zu vertiefen.
Und auch die Gegenwart, so licht und helle,
Der Augenblick, der feierlich gedieh,
Er führet uns gewaltig von der Stelle
Und hebt uns mächtig empor ins Reich der Phantasie.


Da fällt der Schleier vom Aug’. Ein wärmendes Licht
Umwebt den ganzen Kreis mit ungewohnter Schöne.
Gedanken werden schleunigst zum Gedicht,
Und hell erklingen des Liedes harmonische Töne. |
Ein warmer Dankesruf erschallt dem Augenblick,
Dem dieser Stunde Preis gebühret,
Und dreifaches Heil dem gütigen Geschick,
Das uns so fröhlich hier zusammengeführet.


Aus aller Herren Ländern hierher verschlagen,
Aus jeder Himmelsgegend und jedem Reich –
Es blies ein Sturm, dem Wirbelwinde gleich,
Und hat uns sämmtliche hier zusammengetragen;
Vom LemanMinna von Greyerz notierte über dem Text „Franklin“ – Wedekind, der das Sommersemester an der Academié de Lausanne am Genfer See (frz.: Lac Leman) studiert hatte, kehrte um den 18.8.1884 nach Lenzburg zurück. und vom NordseestrandMinna von Greyerz notierte über dem Text „Lenchen Wedekind“ – Luise Emilie Helene Wedekind, genannt Lenchen, lebte mit ihrem Vater in Hannover: „Wedekind, Erich, Rent., Meterstr. 10.P“ [Stadt- und Geschäftshandbuch der Königlichen Residenzstadt Hannover 1884, Teil I, S. 690]. Sie dürfte am Samstag, den 8.8.1884, zusammen mit ihrem Vater und Frank Wedekinds Bruder Armin zu Besuch in Lenzburg eingetroffen sein [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 6.8.1884].,
Von AarauMinna von Greyerz notierte über dem Text „Fi Frieda Erika“. Frank Wedekinds Schwester Erika besuchte seit Ende April 1884 das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau. und vom SchwabenlandMinna von Greyerz notierte über dem Text „Adolf Spilker“ – über Adolf Spilkers Aufenthalt in Süddeutschland ist bekannt, dass er nach seiner Apothekerlehre in Nienburg eine Stelle als approbierter Apotheker in Süddeutschland angenommen hatte [vgl. Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft, Bd. 2 (1931), S. 398]. Anschließend dürfte er (vermutlich im Herbst 1883) an der Löwenapotheke Bertha Jahns in Lenzburg angestellt worden sein.,
Von überallher erschienen die frohen Gäste
Zu diesem H/h/erzerhebenden Jubelfeste: –––


Es wuchsÜber der Strophe notierte Minna von Greyerz „Lenchen Wedekind“. ein Blümelein von selt’ner Art
In einer großen StadtHannover. im hohen Norden;
Und wie der Lenz nunmehr zum Sommer ward
Und wie es warm und sonnig ist geworden,
Da hört’ es von dem wundervollen Reiz
Der Alpenwelt, von Bergen, Thälern und Auen —
Die Koffer werden gepackt, und eh drei Morgen grauen,
Da gehts schon im Triumphzug in die schöne Schweiz. —


Im SchwabenlandeÜber die Strophe notierte Minna von Greyerz „Adolf Spilker“. blüht seit manchem Jahr
Ein kleines Nest mit kreuzfidelen Leuten. |
Aus Norden kam dorthin und lebte vor langen Zeiten
Ein Jüngling mit blauem Aug’ und blond von Haar.
Auch er kam her zu uns und seufzte viel.
Man fragte sich umsonst, warum sein Herz so trübe,
Bis endlich jemand auf den Gedanken verfiel.
Der Unglückselige leide gewiß an Liebe. —


— — — — — — — —  — 
Auf den Gedankenstrichen der Zeilen 2 und 3 notierte Minna von Greyerz: „Spilker geht kopfhängerisch aus dem Zimmer“.  —  —  —  —  —  — 
—  —  —  —  — 
—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —


O Himmel, welchen Bock hab’ ich geschossen!
Bleib hier, mein Freund und zürne nicht so sehr! –
Kehr um! – Hör’ auf die Bitten der Genossen! –––
Umsonst! Da geht er hin und singt nicht mehr. 
Wohl war es hart, so schnöde zu verhöhnen,
Was ihm als Theuerstes sein Herz bewahrt.
Jedoch er ist ein Mann von guter Art;
Und wer ihn kennt, der weiß ihn zu versöhnen. –––


NunÜber der Strophe notierte Minna von Greyerz „Armin Wedekind“. aber kommt der Götti(schweiz.) Taufpate; Armin Wedekind studierte seit dem Wintersemester 1883/84 an der Georg-August Universität in Göttingen. von Göttingen:
Auch er ist hier, der lustige Geselle.
Um seinen Wissensdurst zu sättigen,
Zog er hinaus in die Welt, just hin zur richtigen Quelle.
Viel Schätze bracht’ er zurück aus fernem Land,
Daß er der kranken Menschheit damit diene;
Allein das Schönste, was er dort draußen fand, |
Das ist gewiß doch unsere liebe CousineLenchen Wedekind, die mit ihrem Vater Erich Wedekind und mit Armin Wedekind nach Lenzburg reiste (siehe oben „vom Nordseestrand“).. –––


Jetzt, Göttin, leih’ mir Deinen höchsten Schwung!
Spann jede Sehne an, o Musenschimmel!
Erfaß mich, schöpferische Begeisterung!
Und trag’ mich mächtig empor in der Dichtung Himmel.
Doch meine Stimme ist viel zu schwach und leer.
Wie wollt’ ich können, was nur Meister wagen?
O, wenn ich jetzt nur Schiller oder Göthe wär’,
Wie wollt’ ich selbstbewußt in meine Laute schlagen!


Zwei Jahre nur, ihr Lieben, denket zurück!
Damals geschah der große Augenblick:
Da fand ich sie auf jener steinigen Straße
Als Führerin auf dem Wege Pfade zum Parnasse.
Sie las mir vor: Ich wurde angeweht
Von hohem Geist, von dichterischem Sinn da,
Denn auf der ersten Sprosse der Himmelsleiter steht
Mit siegesbewußten Blicken Cousine Minna


Und jetzt, ihr Geigen und Schalmein,
Ihr Cymbeln, Pauken und Trompeten,
Ihr Trommeln und Pfeifen alle, seid gebeten
Stimmt laut in unser Jubelorchester ein! –––
Sie stieg empor, die Höhen sind erklommen; |
Aus ihrem Mund erschallen die schönsten Lieder.
Und sie, die glücklich oben angekommen
Schaut gnädig nun auf uns und auf die liebliche Landschaft hernieder.


Gelt, liebe, gute Minna, Du zürnst mir nicht,
Weil ich so frei und offen zu Dir geredet,
Weil die Begeisterung meine Wange geröthet
Und ungezügelt aus meinen Worten spricht?!
Du bist nicht böse, weil ich getrost geschildert,
Wie Deine Muse groß zu werden begann –––
Und wenn mein Versmaß dabei auch ein wenig verwildert,
So ist ja eben das das Schönste daran.


Wie oft aus schwerer Sorgen Last und Drängen
Erlöstest du mich mit deiner Stimme Klängen.
Du sangst: „Das Meer„Das Meer erbrauste weit hinaus“; frei zitiert nach Heinrich Heines Gedicht „Das Meer erglänzte weit hinaus“ aus dem Zyklus „Die Heimkehr“ (XIV) im „Buch der Lieder“ (1827) [vgl. DHA, Bd. 1/1, S. 224]. Das Gedicht wurde wiederholt vertont, unter anderem von Fanny Hensel und Franz Schubert (Schwanengesang D 957, Nr. 12). erbrauste weit hinaus“
Und mich durchrieselte ein süßer Wonne–Graus.
Mein Aug’ wird hell, und eine stille Thräne,
Drängt sich hervor, die d nur Dein Auge sieht.
Und immer, wenn ich nach Musik mich sehne,
So denk’ ich an dies Heinische Liebeslied. –––


Und wieder ertönt ein lauter Jubelruf
Und hallt zurück von allen Felsenwänden,
Der Dichterin, die uns schöne Gedichte schuf, |
Gebührenden Dank und Ehrerbietung zu spenden.
Das ganze Gemach erfüllt ein lichter Schein,
Von neuem rauschen jubelnd die Posaunen,
Ein Himmelsbote tritt schwebt zur Thür herein,
Und alle Welt ergreift das höchste Erstaunen.


—  —  —  —  —  —  —  — 
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Auf den Gedankenstrichen der Zeilen 2 und 4 schrieb Minna von Greyerz: „Spilker erscheint wieder verschleiert mit einem kl. Lorbeerkranz“.  —  —  — —  — 
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Mit leisen Schritten tritt er vor Dich hin,
Er naht sich dir mit ehrfurchtsvollem Neigen,
Und auf die Stirn’ der schönen Dichterin
Drückt er den Kranz aus frischen Lorbeerzweigen.
Ein Hosianna erfüllt die weite Luft,
Die Himmel jauchzen in niegeahntem Glücke –––
Der Engel geht und läßt uns nichts zurücke,
Als eine Nebelwolke von Blumenduft.


—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —
Auf den Gedankenstrichen der Zeile 2 schrieb Minna von Greyerz: „Er verschwindet“.  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —
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Und nun, ihr Lieben, nehmt die Gläser in die Hand,
Erhebet euch alle stracks von euern Plätzen!
Beweiset, dasSchreibversehen, statt: dass., was uns der Himmel gesandt,
Zu würdigen ihr wisset und zu schätzen. |
Stoßt wacker an und lasset die Gläser erklingen!
Blüht ja die goldne Zeit der Jugend noch.
Gepriesen sei das Dichten und das Singen!
Und unsere Cousine Minna lebe dreimal hoch!!


Hoch! Hoch! Hoch!
[Finisschnörkel]


Dein treuer Vetter
Franklin.

Minna von Greyerz schrieb am 14. September 1884 in Dresden folgende Postkarte
an William Wedekind , William Wedekind , William Wedekind , William Wedekind , William Wedekind , Erika (Mieze) Wedekind , Emilie (Mati) Wedekind , , Frank Wedekind , Donald (Doda) Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , Erika (Mieze) Wedekind , Donald (Doda) Wedekind , Frank Wedekind , Armin (Hami) Wedekind , Emilie Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , Erika (Mieze) Wedekind , Donald (Doda) Wedekind , Frank Wedekind , Armin (Hami) Wedekind , Emilie Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , Erika (Mieze) Wedekind , Donald (Doda) Wedekind , Frank Wedekind , Armin (Hami) Wedekind , Emilie Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , Erika (Mieze) Wedekind , Donald (Doda) Wedekind , Frank Wedekind , Armin (Hami) Wedekind , Emilie Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , Erika (Mieze) Wedekind , Donald (Doda) Wedekind , Frank Wedekind , Armin (Hami) Wedekind , Emilie Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , Erika (Mieze) Wedekind , Donald (Doda) Wedekind , Frank Wedekind , Armin (Hami) Wedekind , Emilie Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , Erika (Mieze) Wedekind , Armin (Hami) Wedekind , Emilie Wedekind , Friedrich Wilhelm Wedekind , Donald (Doda) Wedekind , Frank Wedekind , Armin (Hami) Wedekind

DEUTSCHE REICHSPOST.
POSTKARTE.


An
Familie Wedekind
auf Schloß Lenzburg
Schweiz |


Meine Lieben! Fröhlichen guten Morgen rufe ich Euch zu; mich selbst hat Armins Briefnicht überliefert. wieder so vergnügt gemacht, ich erhielt ihn soeben als Sonntagsmorgengruß. Herzlichen Dank dafür,/./ Wann wird sich Bab/Fran/klin herablassen seinem Beispiel zu folgen? Und Mietzelefamiliärer Kosename von Erika Wedekind. & Dodafamiliärer Kosename von Donald Wedekind.? Grüßt mir alle lieben Bekannten die Euch als zu besuchen kommen. Ich kann gar nicht recht schreiben, es schwatzen Alle um mich herum – entsetzlich! – Wie Ihr bereits aus meinen vorigen Briefennicht überlieferte Korrespondenzstücke an Mitglieder der Familie Wedekind. – Minna von Greyerz war Ende August 1884 von Lenzburg nach Dresden gezogen, um dort am Königlichen Conservatorium für Musik Klavier und Gesang (für künftige Lehrerinnen) zu studieren. ersehen konntet, geht es mir so weit recht gut, nicht daß mir nichts mehr zu wünschen übrig bliebe, im Gegentheil, man macht in einer Großstadt plötzlich andre Ansprüche, hat mehr Bedürfnisse, es steigern sich die Wünsche in geistiger Beziehung besonders. Wenn Ihr mich nun spielen u singen hörtet, ihr würdet beinah auf den Kopf stehen, denn ich übe nicht anders, denn jede Anfängerin u das ist vorderhand schrecklich langweilig, wenigstens fürs Clavier besonders langweilig. In den übrigen FächerSchreibversehen, statt: Fächern. giebt es meist viel zu schreiben. Daneben giebt es natürlich viel Abwechslung, man sieht u hört so viel im Tag, wie in Lenzburg kaum in einem Monat. Sob/e/ben komme ich aus der katholischen KircheWie die Presse berichtete gab am 14.9.1884 der Dirigent der Kirchenmusik Prof. Dr. Wüllner nach mehrjähriger Tätigkeit sein Abschiedskonzert in der Katholischen Hofkirche [vgl. Dresdner Nachrichten, Jg. 29, Nr. 258, 14.9.1884, S. 3]. u habe die Cmoll MesseBeethoven hat zwei Messen komponiert, die C-Dur Messe, op. 86, und die unter dem Namen „Missa solemnis“ bekannte Messe in D-Dur, op. 123. Welche Messe Minna von Greyerz hörte ist unklar, in der Programmankündigung hieß es: „Heute (Sonntag) kommen in der Katholischen Hofkirche zur Aufführung: Missa von Beethoven, ‚Ave Maria‘ von Cherubini, ‚Laudate‘ von Mozart, Vesper für 8 Stimmen von Kretschmer.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 29, Nr. 258, 14.9.1884, S. 3] von Beethoven gehört, doch wurde leider der musikalische Genuß durch die beklemmenden, beengenden Ceremonien ziemlich gedämpft, denn ich stand im Menschengedränge u mußte somit zusehen, statt wie ich lieber gewollt hätte, mich in einen stillen Winkel zu setzen. Vorhin bekam ich auch von AnnyAnny Barck aus Freiburg im Breisgau, die im Sommer 1883 zu Besuch in Lenzburg war; die Korrespondenz der Freundinnen ist nicht ermittelt. wieder Nachrichten. Ach nicht wahr ich bekomme von Euch Allen, (vielleicht gar von Onkel WFrank Wedekinds Vater Friedrich Wilhelm. Briefe auf den 27 Oktober? Denn an diesem, meinem JahrestageAm 27.10.1884 wurde Minna von Greyerz 23 Jahre alt. schmachte ich um so mehr nach Nachrichten von zu Haus, als ich dies Mal still und unf einsam mein Wiegenfest begehen werde. Verzeiht daß ich Euch nicht mehr erzählt habe. Nächste Woche könnt ihr wieder Briefe bei Mutterle holen. Hat Franklin O. Plümachers BuchOlga Plümachers philosophische Untersuchung „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“ (1884), von dem sie je ein Exemplar an Frank Wedekind und an seine Mutter Emilie schenkte. geholt? Sonst hole er’s bei uns zu Hause. Mit herzlichen Grüßen an Euch Alle
Eure Minna.


[Am linken Rand um 90 Grad gedreht:]

Dresden Sonntag Sept. 1884.

Frank Wedekind schrieb am 8. Dezember 1884 in München folgenden Brief
an Minna von Greyerz

München December 1884

Türkenstraße 30 Rückgebäude


Liebe Cousine, Du bist uns gewiß recht böse (Armin u Fr) daß wir so lange nichts von uns hören lassen, von Lenzburg nicht und jetzt da wir in MünchenDie Brüder Armin und Frank Wedekind waren Ende Oktober von Lenzburg aufgebrochen [vgl. Frank Wedekind an Bertha Jahn, 6.11.1884], um in München zu studieren. Sie wohnten zusammen in der Türkenstraße 30 im 1. Stock; Armin Wedekind studierte Medizin, Frank Jura. sind auch nicht, trotzdem du uns so freundlich geschriebenMinna von Greyerz hatte in der letzten Augustwoche 1884 (am 25.8.1884 oder etwas später) Lenzburg verlassen, um am Königlichen Konservatorium in Dresden Gesang und Klavier zu studieren. Überliefert ist von ihr eine Postkarte, die sie an die ganze Familie Wedekind geschrieben hatte [vgl. Minna von Greyerz an Familie Wedekind, 14.9.1884]. hast. Aber jetzt will | ich auch alles wieder gut zu machen suchen, und darum in meinen Nachrichten gründlich verfahren in der Hoffnung, daß du dadurch vielleicht wieder mit deinen reuigen Vettern zu versöhnen bist. – In den Tagen des ExilsMinna von Greyerz Aufenthalt in Dresden., in einsamen Stunden in weiter Ferne hast du vielleicht dann und wann an jemanden gedacht, der sich nicht recht klar darüber ist, ob du eigentlich zürnend von ihm schiedest. Du weißt wen ich meineAdolf Spilker, der als Apotheker in der Lenzburger Löwenapotheke Bertha Jahns beschäftigt war [vgl. zu ihm zuletzt Frank Wedekind an Minna von Greyerz, 24.8.1884].. – Spilker hatte jenes verhängnissvolle Wort gesprochen in einem theatralischen Pathos mit dem Bewußtsein, der leider unumgänglichen Notwendigkeit klar ins offene Auge zu schauen und alles andere was du darin gelesen hat ihn sehr überrascht. Deinen Abschiedsbrief wußte er sich anfangs nicht zu deuten und pries alle Himmel, als ich, der erfahrene Sterngucker dazukam und ihm dies u jenes aufs beste zurechtlegte, so daß des Pudels Kern endlich nicht mehr gar so erschrecklich aussah wie er sich zuerst in der Hülle leidenschaftlicher Satzgebilde den Anschein gegeben hatte. Darauf bat und beauftragte mich der einigermaßen beruhigte Adolf ich möchte ihn doch dir gegenüber | in Schutz nehmen, ich möchte ihn doch dir gegenüber verteidigen ecet und dich bitten, ihm doch nicht solch unerquickliches Andenken zu bewahren. Leider hab’ ich schon längst all das Für- und Gegen dieses weitläufigen Widerspiels vergessen und kann deshalb nichts tun, als dich bitten, Deinerseits selber das möglichst Beste von der ganzen Sache, speziell von meinem Freunde zu denken. Spilker hatt’ ich indessen Gelegenheit in allen erdenklichen Lebenslagen kennen zu lernen und hab ihn nie anders als durch und durch gediegen und tactvoll gefunden. Und, nicht wahr, ich darf ihm in meinem nächsten Briefe Versöhnung ankünden? Es wird ihm um so erquicklicher sein, da er sich an seinem gegenwärtigen AufenthaltWie Frank Wedekinds Vater berichtete, hatte Adolf Spilker zum 1.10.1884 eine Stelle in Oldenburg angenommen, um seinem kranken Vater in Vilsen näher zu sein [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 1.7.1884]. nicht gerade sehr wohl fühlt und nicht selten im kühlen Norden an glücklichere Tage im sonnigen Lenzburg zurück denkt. –

Die großen Ferien in Lenzburg sind mir schneller verflossen, als irgend ein Zeitraum meines Lebens. Du ahnst wol schon wieder, aus welchem Grunde. Und dem, liebe Cousine, hast du es auch zuzuschreiben, daß ich keine Sylbe von mir hören ließ. Aber nicht wahr, du erläßt es mir jetzt, meinem | Versprechen gemäß, dir eine Abhandlung über die Erkenntnistheorie zu geben. Ich bin und lebe seit geraumer Zeit so unphilosophisch wie nur möglich und verlor deshalb gerade die Erkenntniß TheorieWedekind dürfte sich hier auf Arthur Schopenhauers Erkenntnistheorie, insbesondere auf dessen Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (Leipzig 1819) beziehen. vollständig aus dem Auge. Sie behauptet ja, daß die Dinge nicht so sein müssen, wie wir sie sehen, hören, fühlen ect. sondern wahrscheinlich anders, vielleicht auch gar nicht, sind. Denn wir besitzen kein Mittel um die Zuverlässigkeit unserer Empfindungsnerven zu erweisen, können die durch jene in uns erzeugten Vorstellungen nicht mit der Wirklichkeit vergleichen, nicht ermitteln ob die Wirklichkeit unseren Vorstellungen entspricht, ja ob es überhaupt nur eine Wirklichkeit giebt; denn eben das was wir so nennen, ist ja nichts weiter als das Ensemble unserer Vorstellungen. Und wie trostlos muß dies alles für den Glücklichen sein, der nicht nur gegenüber solchen Zweifeln seine Subjektivität geltend macht, sondern außerdem, | darüber hinaus noch allerlei fühlt, sieht und hört, was auch die unphilosophischen Menschen in das Gebiet der Phantasie, der Einbildung, der Hypersubjektivität verweisen!!! Und nun rate einmal, meine liebe Minna, –– was mir diesmal übers Leberlein gekrochen. Daß es nichts Alltägliches, daß es etwas ganz besonderes ist, kannst du dir ja denken. Aber was? – Es nimmt mich in der Tat recht wunder, ob du auf die richtige Fährte gerätst. Damen haben in der Regel in solchen Dingen einen bedeutend feineren Instinkt, als wir plumpen, bärenhaften Männer. Ein Wort, ein Blick, ein zarter Wink genügt ihnen, um mit klaren Augen die Carten ihres Nächsten zu überblicken. Übrigens will ich Dir sagen wie sie heißt. Ihr Name ist LauraDer Name Laura ist bekannt geworden durch Petrarcas „Sonette an Laura“ (1470), die die europäische Liebeslyrik bedeutend beeinflussten.


O Laura, LauraWedekind zitiert hier eine Variante der Strophen 40 und 41 seines 43 Strophen umfassenden Gedichts „Der Kuss, in seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zur höchsten Vollkommenheit nach dem Leben dargestellt“ [KSA 1/I, S. 155-160]. Das in der Erstfassung auf den 19.9.1884 datierte und aus 5 Teilen bestehende Gedicht ist Bertha Jahn gewidmet, der Wedekind die Teile I-IV von München aus zusandte [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 18.12.1884] und mit Kommentaren zurück erhielt. Sie liegen zusammen mit Fragmenten zu Teil V (Strophen 36-37, 40-41, 42-43) in einem Kuvert mit der Aufschrift „Gedichte an Bertha Jahn“ (der Name in hebräischen Lettern) [vgl. KSA 1/II, S. 1247-1249]. tausend Seligkeiten
In einen einzgen Augenblick gedrängt
Die Freuden aus der Menschheit Jugendzeiten
Vom schönsten Zuge der Natur gelenkt.
Der Kindheit unschuldsvolle zarte Spiele
Verwandelt in unendlichen Genuß –
O Laura, alle seligen Gefühle
In einem einzigen
und so geht es weiter. |


Aber wer diese LauraBertha Jahn, mit der Wedekind nach Minna von Greyerz Abreise nach Dresden eine erotische Beziehung begann. ist, – das zu erraten überlaß’ ich deinem Scharfsinn. Uebrigens glaube nicht, daß ich dich hinters Licht führen will. Meine Laura existiert wirklich. Sie leibt und lebt in Lenzburg, ist in Lenzburg geboren, und auch du genießest die Gunst des Geschickes, ihre hehre Persönlichkeit zu kennen Daß ich unter solchen Umständen die Herrlichkeiten Münchens anfangs nur mit halben Ohr, mit halbem Auge in mich aufnahm, wirst du selbstverständlich finden. Ich irrte in den Straßen dieser Stadt trostlos umher, wie Max PiccolominiFigur aus Friedrich Schillers dramatischem Gedicht „Die Piccolomini“ (1799), dem zweiten Teil seiner Wallenstein-Trilogie. Auf der Kantonsschule Aarau hatte Wedekind sie in der II. Klasse gelesen [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule, Schuljahr 1880/81, S. 16]. – Im 4. Akt scheint Max Piccolomini geistig abwesend. im vierten Act ums Haus herum: und deshalb ging es auch ungewöhnlich lang, bis es mir gelang, mich für eine der hiesigen Schauspielerinnennicht ermittelt. zu erwärmen. Übrigens mag der Grund auch darin liegen, daß einem in der Tat die Wahl schwer wird. Die eine singt bezaubernd, die andere besitzt eine entzückende Figur und das Minenspiel einer dritten ist so hinreissend, daß es zur Mode des Tages gehört, davon hingerissen zu werden. Aber du weißt ja liebe Minna, daß ich von jeher ein Feind der Tagesmode war, oder vielmehr ein | großer Freund, denn sie macht es mir möglich für meine Person immer etwas Apartes zu haben. Und so huldige ich auch in dieser Branche nicht dem Geschmack der Welt, sondern meinem eigenen, der nicht unbedeutend von jenem abweicht. Es haben ihn zwar competente Leute schon einen verdorbenen Geschmack genannt. Aber mit Unrecht, denn er ist von jeher so gewesen und nur wenn er durch äußere Einflüße sich änderte, und wär es gerade zum Guten, zum Reineren, dann könnte man ihn mit Recht einen verdorbenen Geschmack nennen. Nicht wahr liebe Cousine? ––

Seit wir hier sind, bin ich jede Woche sechs bis sieben Mal ins Theater gegangen. Wir Studenten haben im Stehparterre ermäßigte Preise und bilden von dort aus, was den Applaus anbetrifft, ein ausschlaggebendes Centrum. Und jetzt leb wohl, liebe Minna, antworte mir recht bald und sei tausendmal gegrüßt von deinem treuen Vetter
Franklin.


Armin läßt ebenfalls grüßen.

Minna von Greyerz schrieb am 14. Dezember 1884 in Dresden folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Deutsche Reichspost.
Postkarte.


An
Herrn Franklin Wedekind
Türkenstraße 30. Rückgebäude?
in München.


[am linken Rand um 90 Grad gedreht:]

M. ad. Frau Dr. KretschmarSchreibversehen, statt: Kretzschmar. Die Bezirksarztwitwe Kretzschmar unterhielt in der Bürgerwiese 22 in Dresden eine Pension: „Halb-Et. [...] Kretzschmar, Bez.-ArztsWw., Inh. e. Pens.“ [vgl. Adreß- und Geschäfts-Handbuch der königlichen Residenz- und Hauptstadt Dresden, Teil 1/II, S. 531]. Bürgerwiese 22. |


Dresden Sonntag Abend 14.XII.1884.


L. B.Baby (Bebi), Kosename Frank Wedekinds.! Ich kann Dir kaum sagen welch große Freude Du mir mit Deinem lieben, langen Briefvgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 8.12.1884. gemacht hast, den ich letzten Dienstagden 9.12.1884. erhalten habe. Ja Du bist noch der alte, gute, „unverdorbene“ B. u es ist gut, daß Du nicht zur Stelle warst, sonst hätte ich Dir vor Vergnügen einen Kuß gegeben. Wie gern, ach wie viel lieber würde ich Dir einen eingehenden Brief schreiben aber Du würdest zu lang drauf warten müssen, da mir die Zeit mangelt; denn als richtiges Kind der Zeit huldige ich auch dem Zeitgeist und bin Zeitlose;. In Deinem Briefe sind aber doch verschiedene PassusseSchreibversehen, statt: Passus., die Zeitgemäß besprochen sein wollen u so will ich mich denn zeitig kurz fassen u Dir sagen, daß ich’s raus habe, wer die EineWedekind meinte Bertha Jahn. Kleine, Reine, Feine sein könnte, eine reizende Rose, fast noch eine Knospe zu nennen, deren griechischer Namen mit H.Helene; Minna von Greyerz dürfte fälschlicherweise vermutet haben, dass mit „Laura“ Helene Wedekind (genannt Lenchen), die Cousine Frank Wedekinds, gemeint war. Sie war im August 1884 gemeinsam mit ihrem Vater Erich Wedekind auf Schloss Lenzburg zu Gast. beginnt! Bist Du nun zufrieden? Oder willst Du noch meine Meinung hören? „O Laura, Laura glaub’ nur nicht, was ZephyrWedekinds Pseudonym im 1883 gegründeten Lenzburger Freundschaftsbund Fidelitas. in Gedichten spricht!“ Daß Du mit Sp. in BriefverkehrWedekinds Korrespondenz mit Adolf Spilker ist nicht überliefert. stehst, freut mich sehr und hauptsächlich für ihn, den Deine muntern Briefe gewiß erheitern. Für Dein Versöhnungstalent mach ich Dir mein Compliment! Versöhnung ist doch nur nach Unfrieden nöthig, Krieg im Frieden führten wir aber nicht, wie kann man mich nur so mißverstehen! Warum hat Sp. sich nicht gleich bei mir selbst befragt? Ich hasse Komödien hinter den Coulissen u schweige daher, Du aber mache was Du nicht lassen kannst. Grüß mir auch ArminFrank Wedekind wohnte mit seinem Bruder Armin, der in München sein Medizinstudium fortsetzte, im Wintersemester 1884/85 zusammen in der Türkenstraße 30.


[am linken Rand um 90 Grad gedreht:]

Es grüßt Dich tausend Mal Dein St.Sturmwind war Minna von Greyerz Pseudonym im 1883 gegründeten Lenzburger Freundschaftsbund Fidelitas. Schreibt mir doch bald u viel


[am rechten Rand um 90 Grad gedreht:]

Was studierst Du eigentlich? phil, jus(lat.) Philosophie, Rechtswissenschaften. od. sonst ein Muß? |

Minna von Greyerz schrieb am 4. März 1889 in Lenzburg
an Frank Wedekind

Abscheulicher Babyin der Familie verwendeter Kosename Frank Wedekinds.!

Wenn es Dir ein klein wenig darum zu tun ist, daß ich an Hesse’s BeneficeHermann Hesse, seit Frühjahr 1888 Kapellmeister in Lenzburg (als Stellvertreter, dann Nachfolger Eugen Gugels), war es gelungen, das stark zusammengeschrumpfte Orchester neu zu beleben und im Februar und März 1889 erstmals eine Oper („Der Waffenschmied von Worms“ von Albert Lortzing) zur Aufführung zu bringen. Sie wurde siebenmal vor ausverkauftem Haus wiederholt [vgl. Emil Saxer: Lenzburg. In: F. A. Stöcker: Das Volkstheater in der Schweiz. 3. vermehrte u. verbesserte Auflage, Aarau 1893, S. 124]. nicht miserabel sing/piel/e, so komm DienstagsFastnachtsdienstag, den 5.3.1889 gleich nach Tisch, schon um 1 Uhr, wenn Du auf bist, schnell zu | mir, denn ich habe Katzenjammerder Zustand nach einem Alkoholrausch. & Du bist schließlich der beste Häringalternative Schreibweise für Hering; Hausmittel zur Linderung eines Alkoholrauschs. – Zwischen Wedekind, der sich seit dem Tod seines Vaters (11.10.1888) in Lenzburg aufhielt, und seiner Cousine Minna von Greyerz hatte sich eine Liebelei entwickelt. für mich! – In Liebe voller Trug & Lug G/g/rüßt Dich voll toll verletzter Eitelkeit die allezeit Dir Schauderhafte. –

Lenzburg d. 4.III 89. |


[Vorderseite, am unteren Rand um 180 Grad gedreht:]

Ich habe heut & morgen Schneiderei & morgen um 2 wieder Stundevermutlich Musikunterricht; Minna von Greyerz war ausgebildete Klavier- und Gesangslehrerin..


[Vorderseite, am oberen Rand um 180 Grad gedreht:]

Ich habe Schnupfen & Heiserkeit, ach!

Weißt Du etwa von wem das BouquetBlumenstrauß. am Freitagden 1.3.1889. war?

Frank Wedekind schrieb am 26. Mai 1889 in Berlin folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz

[Hinweis in Minna von Greyerz Brief an Wedekind vom 28.5.1889 aus Lenzburg:]


[...] als ich dadurch einen kl. Brief von Dir bekommen habe [...]

Minna von Greyerz schrieb am 28. Mai 1889 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Lenzburg d. 28.V.89.


Lieber BabySpitzname Frank Wedekinds (auch: Bebi).!

Jetzt bist Du allerdings mal grausam gestraft für Deine unverantwortliche Nachlässigkeit, Deine bodenlose Unordentlichkeit –, es schwindelt mir wenn ich an Dich und Deine Fehler und Gebrechen denke! Oder sollte es Dir nicht einmal unangenehm sein, wenn ich Dir melde, daß nicht weniger als 500 Frs in einer Banknote in meinem BriefeDer Brief Minna von Greyerz an ihren Onkel Georg von Wedekind in Darmstadt, dessen Adresse Minna von Greyerz am Seitenrand von Seite 1 notierte, sollte von Frank Wedekind überbracht werden [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 19.5.1889], ging jedoch offenbar verloren. Wedekind machte auf seiner Reise nach Berlin Zwischenstation in Darmstadt und brachte seine Schwester Emilie (Mati), die dort ein Mädchenpensionat besuchen sollte, zu Verwandten. lagen und dieselbe nun flöten gingen? – – | Spaß bei Seite und ärgre dich nicht allzusehr über meine faden Witze. Ich hatte kein Geld eingelegt, sonst hätte ich Dir’s vorher gesagt, damit Du Dich besser in Acht nehmen sollst, auch waren die wenigen Zeilen an meine LenchentanteMagdalena Henriette von Wedekind, Ehefrau von Georg von Wedekind und Tante von Minna von Greyerz. so unbedeutend, daß also nichts oder nur eine kl. Aufmerksamkeit von uns verloren ging. Ich will Dir also verzeihen; ich tue dies ja um so lieber, als ich dadurch einen kl. Brief von Dirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Minna von Greyerz, 26.5.1889. bekommen habe, den ich sonst wol vergebens ersehnt hätte. Letzten Sonntagden 26.5.1889. frug ichdurch Ausreißen der Blütenblätter, die für verschiedene Antworten stehen. eine Gänselblume, ob ich einen Brf. von Dir bekomme, die Antwort „ja“ beglückte mich dermaßen, daß ich mich vor Jubel in’s Gras warf u in den Maihimmel hinauf träumte u der Blumenantwort keinen Glauben schenken wollte. Lache mich aus, ich weiß ja wol, daß ich ein Schaf, eine Gans, ein Kameel in Deinen Augen bin und daß ich mit Dir als Rinoceros | keine Gemeinschaft habe. Prr, wie kann man nur so absurde Vergleiche anstellen! Angenehm berührt es mich, daß Du Dich überall, wo Du Gemütlichkeit triffst, wohl befindest. Ich kann mir nicht leicht denken, daß es Dir z. B. in Amerika behagen würde, wenigstens nicht auf diSchreibversehen, statt: die. Dauer, trotzdem DodaWedekinds Bruder Donald war im Februar 1889 zu Verwandten seiner Mutter in die USA gereist. Über seinen Reiseweg von Paris über New York, St. Louis, Kansas City und Santa Fé bis San Francisco berichtete er am 17.11.1889 in einem Brief an seine Schwester Emilie (Mati) [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 138]. Er korrespondierte von dort unter anderem auch mit seiner Cousine Minna von Greyerz [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 2.4.1889]. Dich dorthin wünscht. Das Jagen u Treiben nach Geld, das wenig künstlerische Leben dasselbst, (denn die Kunst wird doch mehr um bloßes Furore machen u weniger um ihrer selbst willen getrieben) würde Dir nimmer genügen, dann rathe ich Dir eher für ein dolce far niente(ital.) süßes Nichtstun. in Italien. Unsinn, es geht mich ja nichts an – trotzdem es mich stets kümmern od. doch interessiren wird, wo Du weilst u was Du treibst. | Also immer um 5 Uhr ist der Herzogindie Schweizer Opernsängerin Emilie Herzog, Verlobte von Heinrich Welti, mit der Wedekind in München und Berlin verkehrte [vgl. Tb, Mai 1889]. ihre Theestunde; mir ist als könne ich heimlich Euch belauschen u mitschlürfen von Eurem freien Künstlerleben, on zuweilen packt mich ein ganzes Fieber. – Ich bin so froh für Dich, daß Du gerade in Berlin bistWedekind hielt sich vom 18.5. bis 4.7.1889 in Berlin auf. u wünsche von ganzem Herzen, daß es Dir dasselbst mit der Zeit immer besser gefallen möge; daß Du das findest, wonach Du suchst. Mit großem Amüsement lese ich jetzt immer die Episteln v. Hans TunichtgutUnter dem Pseudonym Hans Thunichtgut schrieb der Berliner Journalist Hugo Herold regelmäßig im Feuilleton der „Neuen Zürcher Zeitung“, darunter seit 1880 seine Serie „Berliner Streifzüge“ [zuletzt: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 69, Nr. 93, 3.4.1889, Erstes Blatt, S. 1-2]. in d. neuen Zürcherzeitung über Berlin u auch Skizzen von ParisFür „die Pariserbilder und die Pariser Theaterchronik“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 68, Nr. 366, 31.12.1888, Zweites Blatt, S. 2] in der „Neuen Zürcher Zeitung“ war Ernest Leblanc verantwortlich; zuletzt war der Beitrag „Auf dem Eiffelturm“ erschienen [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 69, Nr. 137, 17.5.1889, S. 1]., wohin ich also im Juli, (vielleicht schon in d. 1. Hälfte) z. l00jährigen RevolutionsfeierZum 100jährigen Jubiläum der Französischen Revolution fand vom 6.5. bis 31.10.1889 in Paris die Weltausstellung statt, für die der Eiffelturm errichtet worden war. Der 14.7. war in Erinnerung an das Föderationsfest vom 14.7.1790 bereits am 6.7.1880 zu Nationalfeiertag erklärt worden. reise. Willy weilt wo weiland Du wohntestWedekinds Zimmer auf dem Lenzburger Schloss.. Er wollte erst nicht als Mama Da Minna von Greyerz’ Mutter Sophie von Greyerz am 17.3.1887 gestorben war, ist hier Wedekinds Mutter Emilie Wedekind gemeint. ihm Deine Bude anwies u meinte sogar er wolle wieder verreisen, worauf ihmSchreibversehen, statt: ihn. Tschiningnicht näher identifiziert, wohl Spitzname für eine Angestellte auf Schloss Lenzburg. bat zu bleiben, wo er sei, auch könne er snoch 6 andre Zimmer dazu haben und – Willy zog denn ganz gut in Deine Stube. Na dieser Unterschied, man kennt das Zimmer | nicht wieder. Alles gute Möbelfür: Lauter gute Möbel. stehen drin, Bilder an den Wänden, allerlei Siebensachen auf dem wohlgeordneten Schreibtisch, w ein Zeichen daß eben nicht geschriftstellert wird, Alles ordentlich, merkwürdig ordentlich, noch dazu für einen Bruder jüngern Datums von Dir; selbst Blumen standen in einer WassergefülltenSchreibversehen, statt: wassergefüllten. Vase vor dem Bild seiner BrautWilliam Wedekind heiratete seine Cousine Anna Wilhelmine Kammerer aus New York am 25.7.1889 in Zürich., welcher er jedoch seit seinem Hiersein noch nie geschrieben habe, dafür eine eifrige Correspondenz mit E/e/iner Andernnicht ermittelt. führe, welche ihm aus Hamburg u jetzt als aus Zittau schreibt. Mietze ist darüber scheinbar empört u wollte ihm heute keinen Kuß geben, als sie um 10 Uhr verreiste, um in Basel ihre JosiJosephine Brunnckow aus Stettin, eine Bekannte Erika Wedekinds, die sie 1887 während ihres halbjährigen Aufenthalts im Lausanner Pensionat Duplan kennengelernt und im Winter 1888/89 in Stettin besucht hatte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 139; 319]. Wedekind ließ ihr während ihres Lenzburger Aufenthalts Grüße bestellen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.6.1889]. abzuholen. Sonst aber wandelt sie mit ihm | Arm in Arm u geben die Beiden in ihrer zusammen passenden Größe ein nettes Paar. –

Du mußt nun aber nicht glauben, daß mir das Willyzimmer mehr imponirte als das/die/ frühere Babybude. Ich war allerdings erstaunt über den kollossalen Schreibversehen, statt: kolossalen.Unterschied, der meinem Ordnungssinn um so auffallender war, als ich mich manchmal über Deine Wüstenei entsetzte. Aber – ich vermißte sie und eine sonderbare Wehmut durchschauerte mich, währenddem ich die neue Einrichtung von Willy bewunderte. Willy hat mir gleich seinen Schwestern 2 Straußenfedern geschenkt, weßhalb ich mir einen neuen, weißen Hut machen ließ; Willy u Mietze gefällt er, mir dagegen nicht, es ist der reinste Turm v. Babelals Beispiel für übermäßige Höhe (nach dem Alten Testament der Bibel, Genesis 11, 1-9).; dagegen habe ich mir macht mir soeben d. Schneiderinnicht ermittelt. ein neues Waschkleidein Kleid, das gewaschen werden kann. rothbraun mit gelben Streifen was sehr hübsch wird, ich habe eine viel hübschere | Taille darin als in den Andern, schade daß das Kleid u ich alt sind, wenn Du wieder kommst. Also wir werden uns dann nicht umhin eines Lächelns enthalten können, wenn wir uns nicht wieder sehen. Hoffentlich lächeln, wir, es kommt nur drauf an mit was für Gefühlen od. Gesinnungen. Wenn Du mir nicht der Frühling warst, so warst Du mir doch ein köstlicher Sommertag; den Herbst werde ich allein zubringen u vor dem kalten Winter wird mein heißes Herz davon fliegen; larifarieigentlich: nachlässig, unordentlich; hier wohl im Sinne von: schwuppdiwupp. habt ihr mich gesehn, – wenngleich Du mir weder Revolver noch Cyankalium sich durch Erschießen oder Vergiften umzubringen. gegeben. – Letzten Sonntagam 26.5.1889. Abend war ich bei Euch obenauf Schloss Lenzburg. und da war ich erst recht froh, daß Du fort warst, trotzdem Du mir fehltest. ++++durch massive Streichung und Überschreibungen unleserlich gemachte Passage. ++++ ++++ ++++. Ich bewunderte Mietze, die drüben zum Tanz aufspielte. Willy drehte sich mit | einem Nähmädchen der Firma Stolznicht näher identifiziert. im Reigen, eine Frl. Zimmermann, sehr hübsch, welche schon GugelEugen Gugel, Cellist und Pianist aus München, war Musiklehrer in Lenzburg Musiklehrer und leitete von 1883 bis 1888 den Lenzburger Musikverein [vgl. KSA 1/II, S. 2165]. s. Z. verehrte. Mietze sah reizend aus in einem neuen Waschkleid u war froh daß ich gekommen. Sie ging mit mir hernach in HofSchreibversehen, statt: in den Hof. u erzählte mir sehr viel aus vergangenen Zeiten bis gegen 10 Uhr. Endlich kam Tschining u ich las noch Briefe von ihren Kindern. Willy war mit Frl. Z. hinunter, kam vor 12 nicht wieder. Mama gab mir um ½ 11 noch das Geleite, trotzdem ich allein gehen wollte. Gestern Abend seist Willy erst um 2 zurück gekommen, da er noch mit Hans Ringier ein Ständchen der Schönen gebracht. Ich schlug TanteEmilie Wedekind, die Tante Minna von Greyerz’ und Mutter von William und Frank Wedekind, die sie im vorliegenden Brief auch mehrfach Mama nennt. vor Willy als Gastwirt etc. einzulernen; doch will W. erst noch in Afrika spekuliren – fallirenscheitern, in Konkurs gehen. od. reüssirenscheitern, in Konkurs gehen.? So, mein lieber Baber, jetzt hast Du wol mehr als genug von dem Gemurmel des Wüstenquells, trotzdem er noch lange mit seinem Geschwätz aufwarten könnte. Lebwohl!
Dein MinkelSpitzname von Minna von Greyerz..


[auf Seite 1 am linken Seitenrand um 90 Grad gedreht:]


Adresse: Freyherr Dr. Georg von Wedekind
Casinostr. 2.
Darmstadt. |

Minna von Greyerz schrieb am 14. Juli 1889 in Paris folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Minna von Greyerz vom 26.7.1889 aus München:]


Aus deiner letzten Carte seh ich daß du in Paris warst.

Frank Wedekind schrieb am 26. Juli 1889 in München folgenden Brief
an Minna von Greyerz

München 26.VII 89.


Liebe Mina,

warum schreibst du mir denn eigentlich nicht? Hab ich das um dich verdienst? Du weißt doch wie heißhungrig ich auf einen ausführlichen Brief von dir warte. Aber ich will nicht bitter werden. Aus deiner letzten Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Minna von Greyerz an Wedekind, 14.7.1889. seh ich daß du in Paris warst. Ich gratulire dir von ganzen Herzen. Ich wollte ich wäre auch in Paris. Dort könnte man die Zügel dem Gespann über den Kopf werfen und Hoiothoho rufen. Hast du ganz Paris gesehn? Bitte schreib mir nicht | alles sonderSchreibversehen, statt: sondern. lediglich das interessante, in erster Linie das was du niemand anderem schreibst. Aus MiezeKosenamen von Wedekinds Schwester Erika.s Briefvgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1889. erseh ich daß Frl. MinckUrlaubsgast auf Schloss Lenzburg; am 25.7.1889 notierte Wedekind im Tagebuch: „Frl. Mink ist zu Haus als Pensionarin“; nachweisen ließ sich eine Konzertsängerin dieses Namens [vgl. Hannoverscher Courier, Jg. 42, Nr. 19743, 22.10.1895, Abend-Ausgabe, S. 2]. bei uns ist. Wenn du sie siehst so melde ihr meine ganz ergebenste Empfehlung. Vielleicht hat sie dir etwas bemerkenswerthes über Frl. Sauerdie Sängerin und Schauspielerin Dora Sauer [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1889] aus Freiberg: „Die zur Sängerin am Kgl. Konservatorium in Dresden ausgebildete, [...] bekannte talentvolle Schülerin des Herrn Prof. Scharfe, Frl. Dora Sauer, welche sich bei den letzte Prüfungs-Aufführungen vorzüglich bewährte, ist vom 1. Oktober d. J. an auf 9 Jahre für das Kgl. Hoftheater in Kassel verpflichtet worden. Sie soll dort als Opernsoubrette und Schauspielerin thätig sein.“ [Freiberger Anzeiger und Tageblatt, Nr. 201, 31.8.1887, S. 4] zu erzählen. Bitte liebe Mina, theil es mir mit. Frl. Sauer gehört immer noch zu meinen IdealenDie Presse bescheinigte Dora Sauer „eine sehr anmuthige Erscheinung“ und „ein liebliches und gewinnendes Spiel“; daneben hob sie „die sehr angenehm berührenden Gesangsleistungen“ [Freiberger Anzeiger und Tageblatt, Nr. 267, 15.11.1888, S. 3] hervor.. Ich such alle BühnekalenderSchreibversehen, statt: Bühnenkalender. Im Neuen Theater-Almanach ist Dora Sauer erstmals 1909 für ein Berliner Ensemble verzeichnet [vgl. Neuer Theater-Almanach 1909, S. 307]. nach ohne eine Spur von ihr zu entdecken. Ein Wort über sie ist mir Manna, sei es vortheilhaft oder nicht, im Gegentheil. Was macht die kleine Perlenicht identifiziert; später spricht Wedekind von „M. B. [...] der kleinen Elfe mit dem blonden Haar [...] Margarita heißt auf deutsch Perle.“ [Wedekind an Minna von Greyerz, 16.11.1889], die hübsche Elfe, die mir das Herz erfrischt. Wenn du sie triffst dann richt ihr in Gedanken einen herzinnigen | Gruß von mir aus. Aber nur in Gedanken. Es wäre Sacrig/l/egium(lat.) Schändung (egtl.: Tempelraub)., wenn du da ihr gegenüber meiner mit einer Sylbe Erwähnung thun wolltest.

Denkst du noch zuweilen des vergangenen Winters? – Ich denke sehr oft zurück aber ich bekomme jedesmal Herzklopfen. Wenn ich einen Blick in meine unvollendete Predigtdas Fragment gebliebene Drama „Elins Erweckung“ [KSA 2, S. 45-505], das Wedekind im Winter 1888/89 begonnen hatte [vgl. KSA 2, S. 1135]. werfe so funkelt mir dein dunkles Auge aus den Zeilen entgegen. Du warst eben doch meine Muse. Dieser TageAm 24.7.1889 notierte Wedekind im Tagebuch: „Während der Arbeit grab ich Minnas, Anny Barks Oskar Schiblers und Moritz Sutermeisters Briefe aus, die mir einen genußreichen Tag verschaffen. Gegen Abend bin ich in Folge der Lectüre in einer ganz rührseligen Stimmung“. las ich deine BriefeWedekind ging am 1.5.1884 für ein Studiensemester der Literatur neuerer Sprachen an die Académie de Lausanne; aus diesem Zeitraum sind vier Briefe Minna von Greyerz’ überliefert [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 8.5.1884, 2.6. – 5.6.1884, 2.7. – 3.7.1884 und 23.7.1884]. durch die du mir nach Lausanne geschrieben und dann unsere Correspondenz in Lenzburgdaraus sind zwischen dem 1.8.1882 und dem 30.4.1884 elf Korrespondenzstücke Minna von Greyerz’ und sechs von Frank Wedekind überliefert. auf dem GymnasiumWedekind besuchte seit 1879 das Gymnasium der Kantonsschule Aarau, wo er am 10.4.1884 sein Maturitätsexamen ablegte.. Mir scheint, mögen sich unsere Schicksale auch gestalten wie sie wollen, daß wir Beiden eben doch für Zeit und Ewigkeit mit ein|ander verbunden sind. Wie oft schon hab ich Heimweh nach deiner unbegrenzten Theilnahme gehabt, nach deinen unersättlichen Lippen und unvorhergesehenen Bemerkungen. Ich werde indiskret aber wir sind ja unter uns. Ich ergreife deine Hand und bedecke sie mit tausend heißen k/K/üssen. Darauf läßt du dich zu mir nieder; ich will dich umfangen, du springst auf, ich dir nach, du in niederschmetternd erhabener Bühnenpose. Ich suche die Thüre und du wirfst mir deinen Pantoffel an den Kopf. Das sind Momente die nicht wiederkehren.

Mein Leben ist eintönig. Ich habe eine Anzahl neuer Bekanntschaften gemacht, die vieles manches Anregende haben, Privatdocenten, Assessoren und anderes gelehrteSchreibversehen, statt: gelehrtes. Gelichter. Meine Zür|cher Freunde sind es eben doch nicht. Jeder sieht aus wie ein gedrucktes gebundenes Buch in SteretypausgabeSchreibversehen, statt: Stereotypausgabe; ein Buch, das gedruckt wurde mit Hilfe „von Metallplatten, welche eine genaue Kopie des zum Abdruck bestimmten, aus beweglichen Lettern zusammengesetzten Schriftsatzes darstellen, zum Zweck wiederholten Abdrucks und längerer Aufbewahrung der Form, ohne daß ein Neusatz oder das Brachlegen eines größern Letternvorraths nöthig wäre“ [Meyers Konversations-Lexikon. 3. Aufl. Bd. 14. Leipzig 1878, S. 920]; hier als Metapher für ununterscheidbare Gleichartigkeit.. Wo finde ich einen Menschen? Einen Menschen, der ein Mensch ist und menschliche Schwächen hat. Ich empfinde eine unbeschreibliche Sehnsucht nach menschlichen Schwächen. Sie machen den Menschen so reich, so umgänglich. Auch erweitern sie den Horizont, der meiner Ansicht nach nich nie weit genug sein kann.

Schreib mir recht bald liebe – liebe Minna. Du hast viel wieder gut zu machen. Aber ich will nicht unerbittlich sein. Schreib mir wie es zu Hause zugeht, ich meine die charakteristische Stimmung, vor allem wie sich Mama | bei der GeschichteNach dem Tod von Friedrich Wilhelm Wedekind am 11.10.1888 betrieb Emilie Wedekind seit dem Sommer 1889 „auf Schloss Lenzburg eine Pension für Feriengäste, um zusätzlich Einkünfte für sich und die Familie zu erzielen, solange das Schloss noch nicht verkauft war.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 136] Sie hatte dazu bei der Gemeinde Lenzburg die Bewilligung einer Sommerwirtschaft auf Schloss Lenzburg beantragt, die am 28.12.1888 genehmigt wurde [vgl. ebd.], und beherbergte nun Pensionsgäste. fühlt. Schreib mir was Herr PfarrerCarl Juchler, Pfarrer in Lenzburg, war mit Minna von Greyerz’ Schwester Clara Adele Molly verheiratet. Wedekind hatte ihm offenbar Teile seines im Entstehen begriffenen Dramas „Elins Erweckung“ zur Lektüre gegeben [vgl. KSA 2, S. 1136]. zu meinem Elaborat gesagt, wahrscheinlich nichts gutes, aber eben deshalb. Es wird mir für mich, für Herrn Pfarrer, für mein Elaborat und für die Welt im Allgemeinen interessant sein. Was macht Tante OschwaldFanny Oschwald, Mundart-Schriftstellerin und spätere Schwiegermutter von Wedekinds Schwester Erika. ? Was macht Tante Jahndie Apothekerswitwe Bertha Jahn, Schwester von Fanny Oschwald; Wedekind unterhielt zu ihr von 1884 bis 1887 eine enge, auch erotische Beziehung. ? – Schreib mir auch über Mieze, ich meine so wie sie sich zurechtfindetErika Wedekind, die eigentlich Sängerin werden wollte, unterstützte ihre Mutter zunächst in dem neu eingerichteten Pensionsbetrieb auf Schloss Lenzburg (s. o.). und sich fühlt.

Zum Schluß empfange die herzlichsten Grüße von deinem treuen
Franklin.


Akademiestrasse 21.III.
München.

Ich habe die Adresse gewechseltWedekind, der am 5.7.1889 in München angekommen war, bezog zunächst zur Zwischenmiete ein Zimmer in der Adalbertstraße 41 (4. Stock) [vgl. Tb], dann am 18.7.1889 ein Zimmer in der Akademiestraße 21 (3. Stock) bei Anna Mühlberger: „Ich ziehe bei Frau Mühlberger ein.“ [Tb]. Vielleicht bist du daher so freundlich sie obenbei der Familie auf Schloss Lenzburg. mitzutheilen.



Minna von Greyerz schrieb am 30. Juli 1889 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Lenzburg 30.Das Tagesdatum wurde nachträglich mit Bleistift eingefügt. Im Tagebuch notierte Wedekind am 31.7.1889: „Brief von Minna. Tuschel hat ihr den meinigen ins Bett gelegt und sie die ganze Nacht darauf geschlafen.“ Juli 1889.


Geliebter BabyKosename von Frank Wedekind (auch: Bebi).!

Dein Briefvgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 26.7.1889. hat mich elektrisirt, er ist mir ein Labsal; ich küsse Dich dafür. Stelle Dir vor, er lag in meinem Bett, ohne mein Wissen, Tüschelvermutlich Spitzname von Clara Krapp, einer Freundin von Minna von Greyerz [vgl. Clara Krapp an Wedekind, 27.7.1887], die sie auch auf ihrer Parisreise begleitete (s. u.). hatte ihn hineingelegt, da ich derweil an Willys HochzeitWilliam Wedekind heiratete seine Cousine Anna Wilhelmine Kammerer aus New York am 25.7.1889 in Zürich. war. Ich merkte die ganze Nacht nichts davon u lag doch darauf. Sonderbar ists aber doch, daß ich gerade mehr als je wieder an Dich denken mußte – zuweilen verdreht es mir Herz u Sinne, ich möchte mich dann selbst wegfwerfen, Dir Alles sein u doch Alles von mir reißen – ein teuflischer | Zustand, o Satan! Ich bin aber noch nicht unglücklich, im Gegenteil recht fidel, ich genieße so gut ich kann u danke dem Bewußten oder Unbewußten, so oft es mir einfällt für meine Gesundheit, denn so lang mir die bleibt, suche ich mich mit Frohmut selbst in’s Unangenehme hinein zu finden; auch eine philosophische Arbeitdie Passage wohl in ironischer Anspielung auf Olga Plümacher, Wedekinds ‚philosophische Tante‘, und ihre Publikationen zum Pessimismus [vgl. auch Minna von Greyerz an Wedekind, 2.6.1884]. u zuweilen keine GeringeSchreibversehen, statt: geringe.! Also – ich erwachte –, Dein gedachte SatanellaSelbstbezeichnung Minna von Greyerz’ [vgl. ebenso Minna von Greyerz, 17.8.1889]; das Rollenspiel als Gattin des ‚Satans’ Frank Wedekind auch in Minna von Greyerz’ Gedichten „Vesuv“ (vom 17.1.1889) [Mü L 3476/8; abgedruckt in: Austermühl 1989, S. 398-399] und „Satanella’s Bitte“ (von Wedekind auf 1889 datiert) [Mü L 3476/11; abgedruckt in: Austermühl 1989, S. 407]. Der Name Satanella findet sich häufiger für Titelfiguren in der zeitgenössischen Opern- und Ballettliteratur, so bei Joseph Mazilier/Henri Reber/François Benoist: „Le Diable amoureux“ (auch: „Satanella ou Amour et Enfer“) (1840), Paul Taglioni/Cesare Pugni/Peter Ludwig Hertel: „Satanella oder Metamorphosen“ (1852), Michael William Balfe/Edmund Falconer: „Satanella“ (1858) sowie Emil Nikolaus von Reznicek/Jaroslav Vrchlitzky: „Satanella“ (1888). Die Figur eines weiblichen Teufels (als Mephistola) auch bei Heinrich Heine in seinem Tanzpoem „Der Doktor Faust“ (1851). – u just wie ich die Strümpfe anzieh’n will, find’ ich Deinen Brief – es war zu merkwürdig u ich weiß nicht wie oft ich Deinen Namen vor mich hinjubelte; ich verschlang Deine Zeilen, empfand einiges Unbehagen bei Erwähnung Deines sauern IdealsAnspielung auf Wedekinds Bewunderung der Sängerin und Schauspielerin Dora Sauer [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 26.7.1889 und Erika Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1889]., war es etwas Eifersucht? empfand große Wohltat bei den Stellen die von Dir und auch von mir handelten, freute mich überhaupt, daß Du Dir Zeit genommen, mir | zu schreiben; las ihn gleich noch ein Mal, fing dann an ihn geis zu cecirenSchreibversehen, statt: seciren; hier für: in allen Einzelheiten untersuchen., dachte an Deine öde Langeweile, daß sie Dir vielleicht den Brief dictirt, daß Du meine Correspondenz wol gar nicht mehr habest, geschweige dieselbe mitgenommen oder gar gelesen habest und dennoch – hilf Himmel der menschl. Schwäche – warf ich mich in’s Kissen zurück, umklammerte dasselbe, im Gedanken, daß ich Dich so hielte; doch nein, nachher kam mir zum Bewußtsein, daß das Kissen doch besser, angenehmer als Du, weil weicher u saubrer. Lieber Baby, ich weiß wahrhaftig nicht, ist es eine Stärke oder eine Schwäche, daß ich Dir so schreibe, daß ich so unbefangen Dir Alles sagen kann, ich untersuche es nicht näher, denn ich finde es so natürlich u das genügt mir. Wie viel großartiger ist wäre das Leben, wenn | man immer u überall sich natürlich geben könnte u dürfte, oder doch nicht. Denn mit der Zwangsjacke förmlicher Etiquette wird gerade m/M/anches verhüllt u dadurch nur pikanter gemacht, die Seltenheit reizt. Ich kann die Formmenschen auch nicht leiden, umsoweniger, wenn man denkt wie viel Unwahrheit, durch die Unnatur in ihnen steckt; um so amüsanter wenn bei Gelegenheit ihre Maske fällt. Wie z. B. Mutter und Tochter Hafnernicht näher identifiziert. (geschiedene Pfarrsfrau) bei der ich in Paris logirteMinna von Greyerz hatte Anfang des Monats für zwei Wochen Paris besucht.: wir sahen in d. grß. opérala tempêteAmbroise Thomas ‚ballet fantastique‘ „La tempête“ (nach William Shakespeares Schauspiel „The Tempest“) wurde am 26.6.1889 an der Opéra de Paris uraufgeführt und anschließend entsprechend häufig gegeben. Minna von Greyerz besuchte die Aufführung des Ballets am 5. oder am 13.7.1889. v. Thomas, ein flottes Ballet – sie schauten, schauten immer, machten aber dabei Bemerkungen, wie wenn als ob sie was UnschiklichesSchreibversehen, statt: Unschickliches. betrachteten. Ich verhielt mich erst ganz ruhig, fing dann mit der Tochter, (ein Frl. v. 30 Jahren) mit sonst sehr selbständigen Ansichten) ein Gespräch darüber an u das Endresultat war, daß sie’s eigentlich auch sehr gerne sieht; ihre Mutter deßgleichen; nur dürfe es ihre Schwester nie erfahren. Und nun bin ich wieder in Paris – o ich möchte gleich wieder hin – es war halt herrlich. | Ich möchte Dich eine Zeit lang dort wissen, mein Baby. Am liebsten würde ich mit Dir ein wenig dort herum bummeln. Ich finde es sehr großartig u bin ganz benommen von dem was ich dort sah u hörte. Ich war bloß 14 Tage, habe aber sehr profitirt. Morgens nach d. Frühstück, schrieb ich immer in’s TagebuchMinna von Greyerz’ Tagebuch ist nicht überliefert. (welches ich seit 1. Mai, angesteckt von Dir, führe) dann besuchte ich nicht bloß die kollossaleSchreibversehen, statt: kolossale. Ausstellung, sondern auch viele Kirchen: notre dame, Panthéon, Invalidendom u KapelleDas Grab Napoleon Bonapartes befindet sich seit 1861 in der Krypta des Invalidendoms, zuvor (seit 1840) lag er in der Chapelle Saint-Jérôme, einer Seitenkapelle des Invalidendoms. wo Napoleon liegt, Letztere prachtvoll, in der St. Sulpicekirche1736 fertiggestellte katholische Pfarrkirche im Pariser Quartier de l’Odéon. wohnte ich einer großartigen Leichenfeier bei, MadelaineLa Madeleine, 1845 geweihte Pfarrkirche im 8. Arrondissement von Paris. u d. reformirte Kirchewohl das 1745 fertiggestellte Oratoire de Louvre, das 1811 von Napeloen Bonaparte der protestantischen Gemeinde von St. Louis du Louvre als Kirche übergeben wurde. u. Versailles. Die Schlösser sind dasselbst inwendig lange nicht so großartig wie diejenigen von Potsdam u Charlottenburg. Auch nach St. CloudVorort von Paris, rund 10 Kilometer westlich des Zentrums. bin ich gefahren mit d. Schiff u beinah noch nach HavreLe Havre liegt am Ärmelkanal, rund 200 Kilometer nordwestlich von Paris und galt als Kur- und Erholungsort.; ich war dann als zum Ersatz doch sur la Bade de Havre(frz.) über dem Bad von Havre., wenn auch nur im transatlantischen Panoramadas anlässlich der Pariser Weltausstellung 1889 am Ufer der Seine errichtete, von Théophile Poilpot gemalte Panorama der transatlantischen Gesellschaft: „Der Zuschauer befand sich auf der Brücke eines Schiffes, der Vorder- und Rücktheil desselben verschwand in den Fresken der Wände und ringsherum sah der Zuschauer nur Meer, besät mit Schiffen aller Grössen und in der Ferne taucht der Hafen von Havre und die schöne normannische Küste auf.“ [Allgemeine Bauzeitung, Jg. 55, Wien 1890, S. 37]. Auch die enormen |Magazine v. Louvredie Grands Magasins du Louvre, ein 1855 eröffnetes Warenhaus im ehemaligen Grand Hotel du Louvre in der Rue Rivoli: „In Paris bewährt die Rue Rivoli noch jetzt ihren alten Ruhm glänzender Läden. Es sei darunter nur das ‚Louvre‘ hier erwähnt, so genannt nach dem naheliegenden Schloß Louvre. – Zusammenhängende, endlos scheinende Salons und Galerien, in welchen Alles, was der verwöhnteste Sterbliche zur Bekleidung und zum Schmuck seiner selbst und seiner Behausung wünschen kann, aufgehäuft ist!“ [Bischoff u. a.: Das Manufakturwaarengeschäft. Fabrikation und Vertrieb. 2. Aufl. Leipzig 1869, S. 469]. u bon marchéLe Bon Marché, das 1838 im 7. Arrondissement von Paris gegründete Kaufhaus gilt als das erste seiner Art. nahm ich in Augenschein, es ist fabelhaft wie splendidprächtig, kostbar. diese Geschäfte sind! Louvre allein hat bloß für die Exposition 3 Schiffe, reizende kl. vergoldete Dampfer bauen lassen u jeder der bis zu 5 Frs. kauft, bekommt ein retourbillet aufs Schiff, eau de cologne(frz.) Kölnisch Wasser; seit dem 18. Jahrhundert in ganz Europa verbreitetes Parfüm. fließt umsonst für Jedermann, ein Diener hat den ganzen Tag weiter nichts zu tun, als Leute, denen es beliebt zu wissen wie schwer sie sind, zu wiegen, Lesesalon, Conversations- u Schreibsaal, auch ein Büffet mit delikaten Syrups u Bonbons stehen unentgeldlich zur Verfügung, auch Solchen die nichts kaufen. Einen ganzen Nachmittag verbrachte ich im Louvre-Museum u hatte viel Genuß an den herrlichen Gemälden u Sculpturen. Mit Eduard Burkhard war ich in einem prächtigen Concert | der FinnländerDie beiden finnischen Chor-Konzerte im Palais du Trocadéro fanden am 6. und am 8.7.1889 statt [vgl. Annegret Fauser: Musical Encounters at the 1889 Paris World’s Fair. Rochester 2005, S. 322-324]; die Presse berichtete: „‘Die munteren Musikanten‘ so nennt sich, wie man aus Paris schreibt, eine Gesellschaft von 28 Studenten, Doktoren, renommirten Industriellen etc. aus Finnland, die sämmtlich an der Universität Helsingfors studirt haben und nun auf eigene Kosten nach Paris gegangen sind, um die Ausstellung zu besichtigen und im Trocadero-Palaste einige Konzerte zu geben. Es sind meist junge Leute und ganz bemerkenswerthe Künstler, die vom russischen Kaiserpaar und vom dänischen Hofe oft zu Konzerten herangezogen werden. Ihr Gesang ist ganz eigenartig; auf ein Zeichen des Dirigenten setzt der Chor in den schwierigsten Akkorden mit verblüffender Sicherheit ein und die Gesellschaft exekutirt sodann die mysteriösen norwegischen, finnländischen und schwedischen Gesänge und Melodien mit unvergleichlichem Reize.“ [Neuigkeits-Welt-Blatt, Nr. 160, 14.7.1889, 3. Bogen, S. 1] Da Minna von Greyerz am 6.7.1889 in der Oper war (s. u.), besuchte sie das Konzert am 8.7.1889. u zwar in dem größten Saal des TrocadéroDas zur Pariser Weltausstellung 1878 errichtete Palais du Trocadéro gegenüber dem Eiffelturm fasste in seinem größten Saal rund 5000 Besucherinnen und Besucher. Das Gebäude wurde 1937 abgetragen.. Mit ihm sah ich die OperFaustCharles Gounods überaus erfolgreiche Oper „Faust“ (Libretto: Jules Barbier und Michel Carré) war am 19.3.1859 in Paris uraufgeführt worden. Die einzige Aufführung während Minna von Greyerz’ Parisaufenhalts im Juli fand am 6.7.1889 statt.“ in d. gr. Oper, ging dann um 12 noch auf d. Boulevards wo wir noch Bock(frz.) (Bock-)Bier. tranken. Dort sah ich z. 1. Mal des eigentliche nächtliche Pariserleben, ich sah die schönsten Damen, die auserwähltesten d. h. extravagantesten u distinguirtesten, geschmackvollsten u absurdesten Toilletten. Sie gingen je 2 zu 2 – es waren, Du weißt es schon, jene unanständigen Frauenzimmer, die sich Jedem antragen, wegen denen sich so mancher junge Mann demoralisiren läßt u schließlich die wilde Ehe für die beste hält. Hmhmhmder letzte Buchstabe geht in einen langen, nach unten gezogenen Strich über. Ich hatte nun ein sehr intimes Gespräch mit Ed. Er ist ein sehr ernster junger Mann, mit soliden Grundsätzen, doch glaube ich nicht daß Ihr Euch goutiren würdet., kamen, dann noch auf die Religion zu reden, kurz bin ihm viel näher getreten als ich je gedacht hätte, worüber sich Tüschel sehr freut. Die Beiden passen ausgezeichnet zusammen | ich habe noch nie ein besser passendes LiebespaarDer „Kaufmann Eduard Burkhard u. Klara Krapp (Küßnach, Schweiz)“ [Saale-Zeitung, Nr. 16, 19.1.1890, 4. Beilage, S. 4] gaben am 19.1.1890 ihre Vermählung bekannt. gesehen. Verzeih, wenn ich Dir wahrscheinlich zu langweilig erzähle – es ist dies mein steter Fehler, schon Mutterli sagte mir’s immer. Gleichwol habe ich dagegen ein feines Ohr in der Beziehung für Andre u gerade weil mir’s mangelt, empfinde ich’s umsomehr wenn ein Andrer fesselnd schreibt od. spricht. Du giebst Dir doch sicherlich keine Mühe, wenn Du uns nach Lenzburg schreibst, Du setzst hinSchreibversehen, statt: setzt Dich hin. u schmierst schnell hin was Dir durch den Kopf geht – aber es ist sicherlich keine Einbildung von mir, wenn ich sage, daß der einfachste Satz von Dir packt, er packt in seiner treffenden Ausdruckweise, er packt mit seiner Kürze – oder hältst Du dies für ein bloßes Compliment? O ja Du bist eitel – aber auch dafür mußt Du gleich noch einen Kuß haben – ich erwärme mich oft mehr an Schwachheiten als an Tugenden. Sofie MartiSophie Marti, eine Jugendfreundin Erika Wedekinds und Klassenkameradin im Lehrerinnenseminar Aarau, war nach ihrem Abschluss im Sommer 1887 als Hauslehrerin für eine nicht näher identifizierte Familie in Paris tätig [vgl. Bertha Jahn an Wedekind, 22.6.19887], ehe sie in Thalheim und Oetlikon Lehrerin wurde. findet Paris gar nicht so besonders großartig und war | erstaunt über mein Erstaunen dieserSchreibversehen, statt: Erstaunen angesichts (oder: in) dieser. Großstadt, fand den prächtigen place de la concorde, den sie seiner Zeit auch in Beleuchtung gesehen am 14. Juli „ganz nett, aber wieter nüt(schweiz.) weiter nichts [vgl. Schweizerisches Idiotikon 16, Sp. 2302 und 4, Sp. 868].“, ich wunderte mich über ihre Blasirtheit – ich bin eben doch noch ein Kind. Und die Pariser – die sind allemiteinander Kinder – o wie habe ich mich am 14. Juli Nachts amüsirt bis ½ 3 immer in den Straßen geschwetzt(schweiz.) geschwatzt [vgl. Schweizerisches Idiotikon 9, Sp. 2250]., gelacht, gesungen u getanzt (mit Ed.) u Alles schien eitel Vergnügen! Es macht mir viel Spaß, daß ich nun ein Tagebuch führe, man lebt noch mehr; und es wenn es doch gelebt sein soll, will ich auch ganz leben. Carl hat Deine Ausarbeitungdas Fragment gebliebene Drama „Elins Erweckung“ [KSA 2, S. 45-505], das Wedekind im Winter 1888/89 begonnen und durch Minna von Greyerz ihrem Schwager, dem Pfarrer Carl Juchler, offenbar zur Lektüre gegeben hatte. immer noch nicht gelesen. Ich wünschte so sehr, Du würdest Deinen SchnellmalerWedekinds 1886 entstandenes Lustspiel „Der Schnellmaler“ war nach mehrfacher Überarbeitung im April 1889 als Buch erschienen [vgl. KSA 2, S. 545-552]; die Uraufführung fand erst am 29.7.1916 statt. nach Dresden an’s ResidenzteaterSchreibversehen, statt: Residenztheater. schicken, dort werden solche Stücke gegebenMinna von Greyerz hatte von September 1884 bis Frühjahr 1887 eine Gesangs- und Klavierausbildung am Konservatorium in Dresden absolviert und kannte daher die dortigen Verhältnisse. Die Direktion des Dresdner Residenztheaters hatte seit 1879 Engelbert Karl inne [vgl. Neuer Theater-Almanach 1890, S. 68]; ob Wedekind sein Stück nach Dresden sandte, ist nicht bekannt.. Bitte, versuch’s doch! Tante Oschwald habe ich nicht mehr gesehen, dagegen Tante Jahn, doch weiß ich nichts über sie zu sagen. Frl. Mink läßt sich Dir ebenfalls wieder bestens empfehlen u | wenn sie auch etwas über Dora Sauer wüßte, würde sie es für Dich doch nicht sagen, da Du hierin einen so verdorbenen Geschmack entwickeltest. Wie es aber zuweilen bei der Inconsequenz des weiblichen Geschlechts zu gehen pflegt, erzählte sie mir hernach auf meine weitern Fragen, daß sie ihres Wissens nach Metz oder Straßburg gekommen sei, vielleicht sei sie auch schon gestorben od. verdorben, denn sie habe sehr gehustet, auch seien ihre Tantennicht ermittelt. an Brustkrebs gestorben. Damit wollte Frl. M. wol sagen, daß Sauraverballhornende Namensverschmelzung aus Dora Sauer. auch den Krebsgang nehmen werde. Du würdest Dich famos mit der Mink kampeln(schweiz.) zanken [vgl. Schweizerisches Idiotikon 3, Sp. 298]. können, sie ist ein sonderliches Frauenzimmer, wenn Du es wünschest, schreib ich Dir mehr über sie, trotzdem sie mir gar nicht sympatisch ist. MietzeKosename von Wedekinds Schwester Erika; in wen sie sich verliebt hatte, ist nicht sicher ermittelt, die Verbindung mit Wedekinds früherem Mitschüler Walther Oschwald, den sie 1898 heiratete, wurde erst im nächsten Jahr bekannt [vgl. Tb, 2.9.1890]. liebt. Sie wird es Dir wahrscheinlich schon selbst geschrieben haben. Sie „hübschet“ immer noch u hat sich mir sehr angeschlossen u erzählt mir Alles, trotzdem ich ihr nicht die mindesten Avancen mache. Tschining nicht näher identifiziert, wohl Spitzname für eine Angestellte auf Schloss Lenzburg.befindet sich wohl, hatte bloß von der Hochzeit Kopfschmerzen. Dieselbe verlief recht gemütlich, familiär, ich platzte als die Dreizehnte auch noch hinein;/./ Es wurde alles gar schnellAm 25.7.1889, dem Tag der Hochzeit, hatte Wedekind noch irrtümlich angenommen: „Willi will nächste Woche Hochzeit halten.“ [Tb] von heut auf Morgen arrangirt. Ich freue mich bis Du mir wieder schreibst, tue es, bitte, so bald als möglich. Anna sah ganz entzückend aus u als sie später noch in offnen Haaren tanzte sah sie wie im Märchen aus d. h. nicht à la GräffGustav Graefs Ölgemälde „Das Märchen“ zeigt eine nackte junge Frau mit langem, offenem Haar am Ufer eines Teichs, in der Hand die eben abgestreifte Fischhaut, auf die sich ein Rabe stürzt. Im Jahr 1885 war es vor dem Landgericht Berlin zu seinem Prozess gegen den Maler gekommen, der eine sexuelle Beziehung zu dem minderjährigen Modell seines Bildes, Bertha Rother, unter Eid bestritten hatte. Da im Zuge der Verhandlung auch grundsätzliche Fragen wie das Verhältnis von Sinnlichkeit, Sittlichkeit und Kunst verhandelt wurden, fand der Prozeß in der Presse entsprechende Resonanz: „Die ausführlichen Zeitungsberichte, die den Verhandlungen Schritt auf Schritt gefolgt und in gekürzter Fassung durch den Draht in alle Windrichtungen hin verbreitet, sind wahrhaft verschlungen worden.“ [Paul Lindau: Idealismus und Naturalismus in Berlin. Proceß Gräf. In: Nord und Süd, Jg. 35, 1885, H. 104, S. 205]., aber à la Ludwig RichterDer Maler und Zeichner Ludwig Richter hatte unter anderem die von Johann Karl Musäus und Julius Ludwig Klee herausgegebenen „Volksmährchen der Deutschen“ (1842) illustriert sowie etliche Holzschnitte zu den Märchen der Brüder Grimm angefertigt. Richters biedermeierliche Genreszenen dienten Minna von Greyerz hier als Gegenpol zu dem erotisch aufgeladenen Bild von Graef.. Ich fürchte sie ist nicht stark; habe sie sehr lieb gewonnen. Deine Mama ist sehr zufrieden mit ihren EinrichtungenEmilie Wedekind hatte zum Sommer einen Pensionsbetrieb auf Schloss Lenzburg begonnen, bei dem sie von ihrer Tochter Erika unterstützt wurde. u verkündete mir strahlend, daß das Geschäft jetzt bereits blühe. Mietze findet sich auch bewundrungswürdig hinein – es scheint auch Alles gut zu gehen. Die schönen Tage des letzten Winters sind vorbei für immer; auch Gustavder Lenzburger Konservenfabrikant Gustav Henckell, Bruder des mit Wedekind befreundeten Schriftstellers Karl Henckell, der zum Freundeskreis Minna von Greyerz und der Familie Wedekind gehörte [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.10.1889]. bedauert es. Du würdest Dich auch nicht mehr heimisch fühlen, glaube ich.


[um 180 Grad gedreht unten auf Seite 1:]


Zu Deinem letzten GeburtstagWedekind hatte am 24.7.1889 seinen 25. Geburtstag. spreche ich Dir noch nachträglich meine innigste Teilnahme aus.


[um 90 Grad gedreht am linken Rand und quer über die Anrede auf Seite 1:]


Bei Dir, mein lieber, herzensguter Baby ist neben aller Wahrheit doch immer viel Dichtung, aber ich will nicht sondirenuntersuchen, nachforschen. – denn auch ich fühle oft, wie es mich dünkt, gerade so wie Du. Mag’s kommen wie’s will, eine Verbindung bleibt stets zwischen uns u würde auch schließlich nur eine Art Geschwisterliebe uns zusammen halten, wie ich sie oft schon als Kind für Dich ganz eigenartig empfand. O Baby, schreib mir gleich wieder, ich sehne mich so sehr nach –– Es grüßt Dich
Deine Minna.

                                


Minna von Greyerz schrieb am 17. August 1889 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

[Zeichnung: Herz in Flammen]


O Satan,

Warum schreibst Du mir nicht;/?/ mich brennen wilde HöllenglutenZitat aus Minna von Greyerz Gedicht „Satanella’s Bitte“ (von Wedekind auf 1889 datiert): „O Satan, Satan laß mich los / Mich brennen wilde Höllengluten“ [Austermühl 1989, S. 407]. –– Du konntest freilich nicht vermuten, daß diese durch Deinen letzten Briefvgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 26.7.1889. entfacht wurden! –– Hohnlächle, schilt mich – es ist mir gleich, denn Erbarmen oder gar ein andres Empfinden wird Dich nicht für mich beseelen. | So – weiter habe ich eigentlich nichts zu sagen – nicht wahr, der Vulkanausbruchvgl. dazu das Gedicht „Vesuv“ [Austermühl 1989, S. 398-399] von Minna von Greyerz (datiert auf den 17.1.1889), in dem sie die kurze Liaison mit Wedekind schildert. war kurz oder erschien Dir nicht einmal als Solcher und doch ist es in dieser Art vielleicht der Gewaltigste der mich durchbrauste, als ich vorhin anscheinend ruhig u wollüstig rauchend auf dem Divan lag; allein die Feder ist nicht beweglich genug Dir Näheres, Eingehenderes zu schildern. Solltest Du meinen allzugroßen, viel zu ausführlichen, deßhalb für Dich langweiligen Briefvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 30.7.1889. nicht bekommen haben? Glaube nicht, daß ich Dir in Zukunft, wenn Du mich zu lange warten läßt wieder solchen furiosen Wisch als | Mahnung sende, denn jetzt habe ich mich mir gegenüber selber ausgetobt u bin nun gefaßt: entweder auf Dein gänzliches Schweigen, (oder eine Zurechtweisung –, nein, offen gestanden auf die am allerwenigsten), Deine Gleichgültigkeit, Deine Nachsicht oder eine Satyre. – Satan, Abscheulichster, ich gestehe Dir, weil Du wol kein Gewissen hast, daß ich seit einiger Zeit an einem tollen BabyKosename Frank Wedekinds (auch: Bebi). Im Tagebuch notierte Wedekind: „Brief von Minna, worin sie behauptet an einem Babyfieber zu leiden.“ [Tb, 21.8.1889]-Fieber laborireleide. – Niemand ahnt meine Leiden u wünscheSchreibversehen, statt: u ich wünsche. es auch nicht, daß außer Dir, Du Höllengeselle, etwasSchreibversehen, statt: Höllengeselle, jemand etwas. davon erfahre. Prrrr!

Soeben fiel eine Augen|wimper hernieder. Drei Dinge darf man sich dann wünschen u ich wünschte: 1. Du wärst bereits eine literarische Berühmtheit 2. Du liebtest mich u 3. ich wäre Dein. Gelt ich bin kühn? oder gar absurd, bizarr? Was bist dann aber Du, daß ich mir solche Sprache vor Dir erlaube? O Höllenpein, nicht das zu sein, was man wol möchte! Alle Deine Gedichte, Briefe u sonstgeSchreibversehen, statt: sonstige. Schriftstücke habe ich kürzlich wieder durchgelesen u dazu Deine Cigarretten vom letzten Winter geraucht u geträumt zurück in die teils so goldne Vergangenheit u vor in die noch graue Zukunft. Wenn Du aber denkst ich schicke Dir zum Schluß einen Kuß, so irrst Du Dich. Es grüßt Dich Deine
Satanella WedekindSelbstbezeichnung als Gattin des ‚Satans‘ Frank Wedekind [vgl. dazu Minna von Greyerz an Wedekind, 30.7.1889]; dieses Rollenspiel auch in den bereits genannten Gedichten „Vesuv“ und „Satanella’s Bitte“ [Austermühl 1989, S. 398-399 und S. 407]..


[Kuvert:]


Herrn Frkl. Wedekind
Akademiestrasse 21.III
München.

Minna von Greyerz schrieb am 13. November 1889 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Lenzburg d. 13.XI 89.


Lieber BabyKosename von Frank Wedekind (auch: Bebi).!

Schon längst mal sagte mir MietzeKosename von Erika Wedekind., ich möchte Dir doch schreiben, denn Du habest diesen Wunsch in ihrem Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Erika Wedekind, 5.10.1889. ausgesprochen u Du selbst laborirestmühst Dich ohne Erfolg. schon seit x Wochen an einem Brief für mich – hmhm – wahrscheinlich findest Du nicht den richtigen Ton – denn da die Maus jüngstin ihrem letzten Brief [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 17.8.1889]. aus einem andern Loch pfiff – wenn auch noch lange nicht aus dem Letzten – so weißt Du vielleicht nicht, wo Du zuerst verrammeln sollst u wartest wol auf ein drittes Zeichender vorliegende Brief, dem zwei unbeantwortete Schreiben vorangingen [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 30.7.1889 und 17.8.1889]. ihrerseits. Sei dem wie es wolle – mir ist es einerlei; denn im Grund | genommen steh ich Dir viel zu schwesterlich nah, als daß ich mich vor Dir zu geniren brauchte – oder sollte ich Dich u mich falsch taxireneinschätzen.? Ich ließ mich vor Dir gehen u schließlich doch nur weil ich mir’s zu erlauben dürfen glaubte – drum lege mir mein Empfinden u Gebahren nicht anders aus, treibe keinen Spott damit oder lege es nicht Andern zur Unterhaltung vor – das würde mich verletzen. Teils haben meine Worte auch Bezug auf meinen verrückten Brief von neulichvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 17.8.1889. u wenn Du ihn mir nicht zurückschickst, was mir das Liebste wäre, so verbrenne ihn, wie es solchem Spuck geziemt. Was ich Dir übrigens geschrieben, weiß ich nicht mehr, nur noch ungefähr wie – weil mir die momentane Stimmung noch un|gefähr zugegen ist. Mietze teilte mir mit, Du ließest mir sagen, ich sollte mich schämen, auf eine Perle eifersüchtiggemeint ist die nicht näher identifizierte Margarita B. [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 16.11.1889], von der Wedekind im Sommer geschrieben hatte [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 26.7.1889]. Zu ihr äußerte sich Minna von Greyerz in ihren Antwortbriefen nicht, das Thema Eifersucht sprach sie im Zusammenhang mit Dora Sauer an [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 30.7.1889]. zu sein oder zu beneiden, das sei s/a/ls ob ich den blauen Himmel beneiden wollte. Ich bin mir nicht bewußt irgend Jemand zu beneiden oder zu beeifersüchteln, schon aus dem Grund, weil ich so harmlos oder altbacken zufrieden bin mit meinem Loos im großen Ganzen; daß ich wenigstens nicht tauschen würde. Verzeih, daß ich nicht verstehe was Du damit meinst, oder daß ich bereits vergeß was ich Dir damals schrieb, als Du derartiges aus meinen Zeilen zu deuten suchtest. Ich hoffte Deine vetterliche Verbindlichkeitbei einem Besuch in München. in Anspruch nehmen zu können – umsonst! – Ich habe nämlich verschiedene Loosevon der Münchener Künstlergenossenschaft ausgegebene Lotterielose, die vom 12. bis 20.10.1889 neben der Lotterieteilnahme auch zum einmaligen Besuch der Münchener Jahresausstellung von Kunstwerken aller Nationen im Kgl. Glaspalaste berechtigten. „Dieselben behalten im übrigen ihre volle Gültigkeit und können bei der Ziehung mit jedem im Gewinnplan vorgesehenen Treffer herauskommen.“ [Münchener Kunst- und Theater-Anzeiger, Jg. 2, Nr. 629, 12.10.1889, S. 3] in der Münchner-Kunstaus|stellung gewonnen, hatte jedoch kein [Zeichnung: Schwein] so wenig wie in dieser herrlichen Zeichnung. GewönlichSchreibversehen, statt: Gewöhnlich. machen die Leute ein Geheimniß aus solchen Dingen – ich sehe aber nicht ein warum. –– Es wäre mir sehr interessant direct von Dir zu vernehmen, wie’s Dir geht etc. – Ob Du mir wol glaubst, wenn ich Dir sage, daß ich seit Sommer Göthe zur Hand genommen habe u „Wahrheit u Dichtung“ lese; leider komme ich nicht jeden Tag dazu u dann nur sehr kurz aber es ist höchst interessant! Ich bin sehr auf den 19. Nov. gespannt – dann höre ich Frau Wirz-Knispel und – Scheidemantel, in einem AbonnementsconzertAm 19.11.1889 wurden in Zürich die „Szenen aus Goethes Faust“ von Robert Schumann (Uraufführung 1862) aufgeführt. Die Sopranistin Louise Wirz sang die Partei des Gretchens, der Bariton Karl Scheidemantel die des Faust. Die Presse berichtete ausführlich über das Ereignis [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 69, Nr. 328, 24.11.1889, Beilage, S. 1]. in Zürich. KürzlichDas Konzert fand am 2.11.1889 statt: „Nächsten Samstag Abends 6 Uhr wird uns in der katholischen Kirche ein Konzert geboten werden, welches recht wohl zu der Stimmung passen wird, die an diesem Tage, dem Allerseelentag, doch immer uns Alle, Protestanten wie Katholiken, umfängt. [...] Ganz besonders aber dürfen wir auf Frau Müller-Bächi gespannt sein, die uns ein Sanctus von Cherubini und Anderes, was zu andächtiger Stimmung paßt, singen, und in einigen Nummern ihre prächtige Altstimme mit dem Sopran der Frau Höck zum Duett vereinigen wird. Den gewaltigen Hintergrund des Ganzen wird das Orgelspiel des Dresdner Organisten Hrn. Hans Fährmann bilden“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 69, Nr. 303, 30.10.1889, Erstes Blatt, S. (1)]. hörte ich Frau Müller-BächiDie Konzertsängerin Julie Bächi, Tochter des Großmünster-Organisten in Zürich, hatte nach dem Tod ihres ersten Ehemannes Kaspar Müller von 1884 bis 1886 zur Belebung ihrer Karriere für zwei Jahre das Dresdner Konservatorium besucht. „Schon während dieser Studienzeit hatte sie verschiedentlich in deutschen und Schweizer Städten öffentlich gesungen und immer begeisterte Aufnahme gefunden. 1889 verheirathete sie sich mit dem Komponisten und Orgelvirtuosen Hans Fährmann aus Dresden und lebt seitdem dort in reicher Lehrthätigkeit, konzertirt öfter mit ihrem Gatten, während zahlreiche Offerten sie allwinterlich nach den großen Städten Deutschlands und der Schweiz berufen.“ [Anna Morsch (Hg.): Deutschlands Tonkünstlerinnen. Biographische Skizzen aus der Gegenwart. Berlin 1893, S. 136] dasselbst u ihren jetzigen Mann Organist Fährmann aus Dresden, mit dem sie hoffentlich besserDer erste Ehemann Julie Bächis, der Apotheker Kaspar Müller, hatte sie verlassen und wurde von den Justiz-Behörden gesucht: „Kaspar Müller von Elgg, Apotheker, geb. 1852, dessen gegenwärtiger Aufenthaltsort hierorts unbekannt ist, wird hiemit öffentlich aufgefordert, zu seiner Ehefrau Julie Müller, geb. Bächi, wohnhaft in Winterthur, binnen sechs Monaten von heute an zurückzukehren, unter der Androhung, daß wenn diese Aufforderung erfolglos bliebe, dem Scheidungsbegehren der Ehefrau Müller wegen böswilliger Verlassung Folge gegeben würde. Winterthur, den 30. Dezember 1881.“ [Amtsblatt des Kantons Zürich, Nr. 2, 6.1.1882, S. 27f.] fährt als mit ihrem Ersten. Nach Schluß des sehr genußreichen Conzertes stieg ich auf die Empore (der Augustinerkirche, welche gedrängt voll war) u fand eine köstliche Begrüßung zwischen ihr u mir statt. Nächsten Sonntag, den 17. Nov. | findet unser Cäcilienfest statt u wird es höchst fidel werden. Mama u Mietze haben sich auch zur Beteiligung des Banketts auf der Liste unterschrieben. Frau Oschwald, JahnBertha Jahn, Inhaberin der Lenzburger Löwenapotheke, Schwester von Fanny Oschwald; Wedekinds ‚erotische Tante‘. u Zweifel-Gd.Blanche Zweifel, geborene Gaudard, eine Schwester von Minna von Greyerz’ Freundin Mary Gaudard; sie war seit 1882 verheiratet mit dem Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel. haben ein flottes Ensemble fabrizirt, das in Scene gesetzt wird: die Geschichte führt ihren Mitschwestern P/M/usik u Minne Bilder aus der Vergangenheit vor: PfahlbautzeitSchreibversehen, statt: Pfahlbauzeit (oder: Pfahlbautenzeit). – Helvetier u Z/R/ömerzeit – altdeutsches Minneleben – Roccocozeit u das Bild der Gegenwarts – ein Theil operSchreibversehen, statt: der Oper. LoreleyFelix Mendelssohns 1847 begonnene, unvollendet gebliebene Oper „Loreley“ (nach Emanuel Geibel). Im Druck erschienen waren drei Nummern: Nr. 1 Finale des 1. Aktes; Nr. 2 Ave Maria und Nr. 3 Winzerchor [vgl. Mendelssohns Werke. Serie 15. Grössere weltliche Gesangswerke. Nr. 123. Loreley. Unvollendete Oper. Op. 98. Leipzig 1877]. die wir im Concert singen, wird dramatisch aufgeführt. Der Vorhang fällt während dem ganzen Stück nie, sondern bloß die Waldscenerie wird während den Bildern auf u niedergelassen u zwischen durch spielen sich gelungene Scenen der Gegenwart ab, wobei sich die Geschichte Musik u Minne jeweils zurückziehten. Das Ganze ist höchst amüsant u die Rollen der so vielen Beschäftigten günstig verteilt. Mietze wird als Pfahlbäuerin einen Hymnus singen – ich als altdeutsche | Maid ein Duett mit Otto Bertsch. aus SchumannsRose Pilgerfahrt“ mit andrem Text. Mietze wird zum Schluß als Loreley glänzen – die Partiedie Sopranarie „Ave Maria“ mit Frauenchor (s. o.). liegt ihr famos. Neulich sang sie auch in einem hiesigen Kirchenconzert, gegeben von einem Wiener „Organisten[“] Töpfer, Schwindler ersten Ranges, u klang ihre Stimme prächtig – sie muß nur noch mehr Ausdruck u Seele in ihren Vortrag legen – besonders in die feinfühligen Compositionen eines Schumann u die ernsten Kirchenarien der Klassiker. Die Loreley v. Mendelssohn paßt ihr famos, sie ist d/w/ie das verköp/r/perte Märchen – Du würdest weg sein könntest Du sie sehen u hören – überrasche sie doch zum Sonntagdem 17.11.1889, an dem das Cäcilienfest gefeiert wurde. Der Aufforderung zu einem Besuch in Lenzburg kam Wedekind nicht nach., das wäre auch wieder was! Die MinckinFräulein Mink, Konzertsängerin und Pensionsgast auf Schloss Lenzburg. umarmte im Vorgefühl, daß Du diesen Winter mal kommen würdest bereits den Schaukelstuhl, in dem sie Dich drin liegen wähnte. | Kurz vorher hatte sie sich zwar gegen Dich ausgesprochen, wahrscheinlich um die Wirkungen, die ihre Worte auf mich ausüben sollten, zu beobachten, doch blieb ich kühl bis an’s Herz hinan. Vor 3 JahrenMinna von Greyerz hatte von September 1884 bis Frühjahr 1887 eine Gesangs- und Klavierausbildung am Konservatorium in Dresden absolviert. hieß es bei MehringsDie Sprachlehrerinnen Maria Magdalena und Emma Mehring, die mit ihrer Mutter, der Pastorenwitwe Louise Mehring (geb. König), in Dresden die Pension Mehring in der Struvestraße 16 (2. und 3. Stock) betrieben [vgl. Wohnungs- und Geschäfts-Handbuch der Königlichen Residenz- und Hauptstadt Dresden für das Jahr 1890, Teil I, S. 380, 1150], in der Minna von Greyerz seinerzeit vermutlich logierte; seit 1890 wohnte Erika Wedekind dort. sie habe sich für 29 Jahre alt ausgegeben, dem widerspricht sie hjetzt u giebt sich für 25 – das stände wenigstens im Verhältniß zu Dir, auch hatte sie eine reiche Großmutternicht identifiziert., die bald sterben wird, (sie ist schon 80 oder älter) u dann wird sie natürlich ihren Erbteil bekommen – sie würde zu Dir passen, indem sie gleich Dir ein famoses Maulwerk hat u die Streichhölzer links u rechts an Boden wirft. Ueberleg Dir die Sache – sie ist nicht ohne!

Ich komme in letzter Zeit sehr selten aufs Schloß, trotzdem wir einen | jourfixejour fixe (frz.) = regelmäßiges Treffen. haben, aber ich bin gegenwärtig wieder sehr von Unterricht gebenSeit ihrer Rückkehr aus Dresden war Minna von Greyerz in Lenzburg als Klavierlehrerin tätig. in Anspruch genommen – 25 Stunden per Woche u habe sonst genügend innere u äußere Abwechslung u bin höchst fidel dabei.

Nächsten Sonntagam 17.11.1889, im Rahmen des Cäcilienfestes. singe ich 3 Lieder im Conzert u Sonntags drauf debütire ich in Wohlen. Vier Wochen eh KäslinEusebius Kaeslin, Dirigent, Komponist und Lenzburger Musikdirektor, der am 21.8.1889 in Aarau gestorben war. starb sang ich noch unter seiner Leitung in Aarau. Von diesem Winter erwarte ich nicht viel – der SchönsteAnspielung auf den Winter 1888/89, als sich zwischen Wedekind und Minna von Greyerz eine kurze Liaison entwickelte. ist wol vorüber! Doch genug – sonst liest z/D/u mein Gekritzel nicht einmal zu Ende, Du Schnödian. –

Herzlich grüßt Dich
Deine tr. Cousine
Minna v. G.


[Kuvert:]


Herrn Franklin Wedekind
München
Akademiestrasse 21.
III. |

bon jour!(frz.) Guten Tag!

                               

Frank Wedekind schrieb am 16. November 1889 in München folgenden Brief
an Minna von Greyerz

München X Xmöglicherweise war der Brief Wedekinds nicht datiert, so dass Sophie-Haemmerli bei ihrer Abschrift hier einen Platzhalter einsetzte. 89!


Liebe gute Mina

Wie kannst du nur einen so eisig kalten Briefvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 13.11.1889. schreiben. Ich habe so schon selten genug über 10° in meiner Behausung und du weißt wie die Kälte mir zusetzt. Wenn ich dir bis jetzt nicht geantwortet geschah es gewiß nicht um des Tones willen. Deine Voraussetzung ist gegenüber einem Individuum das sich einbildet Schriftsteller werden zu können eigentlich bitterer Hohn. Was sollt ich denn in meinen litterarischen Produkten anfangen wenn ich in einer so einfachen Sache den Ton nicht zu treffen vermochte. Dir den Brief zurück schicken werd ich nie. Man schreibt sich doch schließlich nicht um die Briefe wieder zurück zuschicken. Dein Brief war mir HimmelsmannaNach dem Alten Testament der Bibel (Exodus 16) das vom Himmel fallende Brot, mit dem Gott die Israeliten auf ihrer 40-jährigen Wanderschaft durch die Wüste allnächtlich ernährte. Der Topos des in der Wüste Darbenden kehrt in Wedekinds Korrespondenz mit Minna von Greyerz häufiger wieder. weil er von Herzen kann/m/. Mein letzter Briefvgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 26.7.1889 (s. u.). über den du ein so großes Geschrei erhobst kann dich kaum mehr gefreut haben. | Daß ich dir aber bis jetzt nicht geantwortet geschah nur deshalb weil ich nichts zu schreiben hatte, weil ich bis zu diesem Moment das Bedürfnis nicht fühlte, dir zu schreiben. Ich bin nun einmal nicht imstand eine regelmäßige Correspondenz zu führen. Ueber kurz oder lang würd ich dir doch wieder dein Herzvermutlich Abschreibfehler von Sophie Haemmerli-Marti für: mein Herz. ausgeschüttet haben, wenn du mir auch garnicht geantwortet hättest, womit nicht gesagt sein soll daß mir nicht auch dein letztervgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 13.11.1889. ein Labetrunk in der Wüste gewesen. Also laß dich bitte nie und durch nichts davon abhalten mir zu schreiben wenn dich dein Herz dazu drängt. Du tust immer ein gutes Werk damit, ein Werk der Barmherzigkeit. Aber verzeih mir, wenn ich jeweilen nicht umgehend mit einer Antwort bei der Hand bin wie ein Schüler der eine Hausaufgabe erhalten hat. Um übrigens nochmal auf meinen letzten Brief zurückzukommen so hab ich ihn um die Art und WeiseWedekinds Brief lag eine Nacht in Minna von Greyerz’ Bett, während sie darin schlief [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 30.7.1889]. beneidet wie er sich bei dir eingeführt. |

Warum schreibst du mir nie eine Sylbe von M. B.Die in der vorangegangenen Korrespondenz bereits als „Perle“ und „Elfe“ mehrfach erwähnte Margarita B. ist nicht näher identifiziert. von der kleinen Elfe mit dem blonden Haar? Margarita(lat.) Perle. heißt auf deutsch Perle. Das mit dem eifersüchtig sein war natürlich Scherz. Hätt’ ich es im Ernst für möglich gehalten, dann hätt ichs nicht geschrieben.

Frank Wedekind schrieb am 21. Mai 1900 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Walther Oschwald , Walther Oschwald , Walther Oschwald , Walther Oschwald , Walther Oschwald , Walther Oschwald , Walther Oschwald , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Minna von Greyerz , Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Walther Oschwald vom 21.5.1900 aus München:]


[…] mit gleicher Post übersende ich dir den Schein [...] und die beiden Papiere [...]