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München, 28.VII.1904Wedekind notierte am 28.7.1904: „Brief an Beate Heine.“ [Tb].
Hochverehrte Freundin!
Sie glauben nicht, wie mich Ihre Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 23.7.1904. hoch erfreut hat, vor
allem als ein Zeichen, daß Sie mir meines langen Schweigens wegen nicht böse
sind und daß Sie selber noch dieses Jahr wieder in Ihrem angestammten
SommersitzFritz Strich zufolge „Helgoland“ [GB 2, S. 361] ‒ dort verbrachten Beate und Carl Heine nachweislich bereits die Sommer 1898 und 1899. Erholung gefunden. Ich habe in den letzten Jahren viele Menschen
getroffen, mit denen ich über Sie und Ihre Hamburger Wirksamkeit sprechen
konnte, und habe mich immer von ganzem Herzen über die guten Nachrichten und
über die uneingeschränkte Verehrung, die Karls ThätigkeitCarl Heine war als Regisseur am Deutschen Schauspielhaus (Direktion: Alfred von Berger) in Hamburg tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 426]. in Hamburg und in der
dortigen guten Gesellschaft erntet, gefreut. Freilich wird ihm das Hamburger
Publicum im großen ganzen wol längst zu schwerfällig und zu hartmäulig sein.
Sein Platz wäre jetzt unbedingt Berlin.
Was mich betrifft, so geht es mir in dieser Hinsicht nicht
anders. Officielle Erfolge sind da, aber trotzdem sitze ich immer noch
festgewachsen wie ein Schwamm und ohne Bewegungsfreiheit, über die doch
schließlich jeder Handelsreisende verfügt. Dazu kommt, daß man sich durch das
Münchner Bierleben entsetzlich weit von der reichen interessanten Welt
entfernt. Nachdem ich nun diesen Frühling wieder eine recht düstere Zeit
durchlebt hatte, sagte ich mir schließlich, daß solch eine Situation meiner
nicht würdig ist, und nahm ein Engagement an ein TingeltangelWedekind war bei den Sieben Tantenmördern engagiert, ein Kabarett, das am 31.1.1904 im Lokal Zur Räuberhöhle (Färbergraben 33) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1904, Teil II, S. 326] eröffnet worden ist: „Der Anfang der heutigen Eröffnungsvorstellung in der Künstlerkneipe Räuberhöhle, Färbergraben 33, ist auf halb 9 Uhr festgesetzt.“ [Künstler-Cabaret der 7 Tantenmörder. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 49, 31.1.1904, S. 4] „Im Cabaret zu den sieben Tantenmördern haben die jüngst entschlafenen Elf Scharfrichter eine teilweise Wiederauferstehung in der ‚Räuberhöhle‘, einem originell dekorierten Souterrainlokale am Färbergraben 33, gefeiert. [...] Joseph Vallé, der Unvermeidliche, hat die Rolle des Conférenciers übernommen.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 64, 9.2.1904, Morgenblatt, S. 6] Das Kabarett, das dann in den Kaim-Saal (Türkenstraße 5) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1904, Teil II, S. 724] umzog, ist in den Veranstaltungshinweisen mit Mehrfachbezeichnungen versehen: Intimes Theater, Münchner Künstler-Kabarett, Sieben Tantenmörder [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 211, 5.4.1904, Morgenblatt, S. 3; Nr. 217, 9.5.1904, Generalanzeiger, S. 1; Nr. 454, 28.9.1904, Generalanzeiger, S. 1], bevor es nach einer Auftrittspause am 22.10.1904 seinen Namen änderte: „Am Samstag, den 22. Oktober, eröffnet das Münchener Künstler-Cabaret (früher 7 Tantenmörder) im unteren Kaim-Saal wieder seine Vorstellungen.“ [Intimes Theater im Kaim-Saal. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 481, 21.10.1904, Vorabendblatt, 3. Blatt, S. 10] Wedekinds erste Auftritte waren angekündigt: „Montag, den 16., Dienstag, den 17., und Mittwoch, den 18. Mai. gastiert M. Frank Wedekind im Münchner Künstler-Kabarett 7 Tantenmörder.“ [Intimes Theater Kaimsaal. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 225, 14.5.1904, Generalanzeiger, S. 1] Wedekind hat am 12.5.1904 „Kontraktabschluß mit den 7. Tantenmördern“ [Tb] und am 16.5.1904 erstmalig „Auftreten bei den Tantenmördern“ [Tb] notiert, was bald fast täglich der Fall war. an. Diesem ersten
Engagement folgten andere, so daß ich voraussichtlich den ganzen nächsten Winter
vor großem Publicum die Laute schlagen werde, aber dafür über die kleinlichen
Mißhelligkeiten hinweggehoben bin und, was mir die Hauptsache ist, endlich
wieder mit der Welt und ihren Bewohnern in Berührung kommen werde. Für den
ganzen Monat NovemberDie Presse meldete: „Frank Wedekind ist zum Variété übergegangen und hat sich, einem Privat-Telegramm aus Breslau zufolge, der Direktion des dortigen Etablissements Liebich für ein vierwöchentliches Gastspiel verpflichtet.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 33, Nr. 546, 26.10.1904, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Wedekind notierte am 31.10.1904 seine Ankunft in Breslau und den „Abend in Liebichs Etablissement“ [Tb]; sein Gastspiel in dem bekannten Varieté-Theater dauerte allerdings nur vom 1. bis 6.11.1904 – es wurde vorzeitig abgebrochen: „Aus Breslau wird gemeldet: Frank Wedekind hat bei seinem Auftreten im Variété hier wenig Glück gehabt. Er begegnete so entschiedener Opposition, daß er seinen Vertrag mit Liebichs Etablissement nach sechs Tagen lösen mußte und Breslau bereits verlassen hat.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 33, Nr. 572, 9.11.1904, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Wedekind ist am 7.11.1904 von Breslau abgereist, wo er sechs Vorstellungen absolviert hatte; zu den Vorstellungen am 1. und 6.11.1904 notierte er: „Durchgefallen.“ [Tb] bin ich für Breslau engagirt, Liebigs Etablissement, es
soll ein Institut allerersten Ranges sein. Ich weiß nicht, ob Sie es kennen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach komme ich auch nach HamburgEin Gastspiel Wedekinds mit den Sieben Tantenmördern in Hamburg fand nicht statt. und werde mich
unendlich freuen, Sie wiederzusehen. Mit der Literatur bin ich fertig. Die
halsstarrige Abneigung des großen Publicums gegen mich würde ich auch in den
kommenden zehn Jahren durch die heißesten Kämpfe kaum besiegen, und was hätte
ich dann vom ganzen Leben gehabt! Ich wiederhole mir täglich mit dem Gefühl großer
Erleichterung, daß mir von jetzt an die Literatur den Rücken hinunterrutschen
kann.
Verzeihen Sie, liebe Freundin, daß ich soviel von mir selber
schreibe. Aber da liegt eben der Hund begraben. In allem, was ich bis jetzt
geschrieben habe, fehlt mir die
große Liebe, der
Hauptmann seine gewaltige Wirkung zu danken hat. Und diese Liebe läßt sich
nicht vorgaukeln, auch wenn man es noch so durchtrieben anstellt. Als Mittel
zur Unterhaltung, zur Bekämpfung der Langeweile ist sie mir auch schon
gekommen, aber ich sehe zu meiner Enttäuschung, daß meine Begriffsverdrehungen
keinen Glauben finden. Die wahre Liebe ist es nicht.
Wir hatten hier in München eine ziemlich lebendige tote
Saison durch das Gastspiel des kleinen TheatersDas Ensemblegastspiel des Kleinen und Neuen Theaters (Direktion: Max Reinhardt) aus Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 291] (das frühere Kleine Theater „Schall und Rauch“, seit 1.1.1903 nur noch: Kleines Theater) am Münchner Volkstheater wurde am 17.6.1904 mit Maxim Gorkis „Nachtasyl“ eröffnet und am 3.7.1904 mit demselben Stück beschlossen. Wedekind notierte am 17.6.1904 „Abends Nachtasyl“ [Tb] und am 3.7.1904 „Abschiedsvorstellung des Kleinen Theaters“ [Tb]; auf dem Programm standen außerdem Stücke von Maurice Maeterlinck, Oscar Wilde, Hugo von Hofmannsthal, August Strindberg und Wedekinds „Erdgeist“ ‒ seine Tragödie wurde unter der Regie von Richard Vallentin mit Gertrud Eysoldt als Lulu und Emanuel Reicher als Dr. Schön am 24.6.1904 gespielt (Beginn: 20 Uhr, Ende gegen 23 Uhr) [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 291, 24.6.1904, General-Anzeiger, S. 1] und mit Beifall aufgenommen [vgl. KSA 3/II, S. 1227]. Hanns von Gumppenberg (H.v.G.) meinte: „Im Volkstheater wurde Wedekinds ‚Erdgeist‘ in der vortrefflichen Wiedergabe durch das Ensemble des Kleinen und Neuen Theaters mit starkem, zuletzt stürmischem Beifall aufgenommen. Mit und nach den Darstellern erntete auch Wedekind selbst zahlreiche Hervorrufe.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 293, 25.6.1904, Morgenblatt, S. 4] Selbst die konservative Presse schrieb über die „Erdgeist“-Vorstellung: „Das sehr gut besuchte Haus spendete den Schauspielern stürmischen Beifall, von dem auch der Verfasser sein Teil erhielt. Jedenfalls war der Abend äußerst interessant und, soweit die Leistungen der Schauspieler in Frage kommen, unbedingt einer der genußreichsten des Gastspiels.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 284, 26.6.1904, S. 2] Wedekind hielt am 24.6.1904 fest: „Abends Erdgeist.“ [Tb] und allerhand krumme Händel,
die sich daran knüpften. Ich verwandte die Zeit hauptsächlich zum Studium von
Frau Eysoldt, bin ihr aber höchstens bis auf ein Dritttheil auf den Grund
gekommen; vielleicht befinde ich mich auch noch ganz an der Oberfläche.
Jedenfalls ist sie das interessanteste MenschenkindWedekind hat die Künstlerin auch als „Menschenkind“ [Wedekind an Gertrud Eysoldt, 25.6.1904] angeredet., das mir seit vier Jahren
vor Augen gekommen. Aber danach mögen Sie unser hiesiges Leben beurtheilen. Man
gehört zum Inventar eines bestimmten Restaurants, und wenn das Lokal den
Besitzer wechselt, wird man im Verkaufspreis so und so hoch bewerthet. In
diesem Restaurant sitzt man nun wie in einem Burgverließ, über sich ein enges
Gitter, durch welches man von unten dann und wann irgend etwas zu sehen
bekommt, was die Sonne bescheint, während natürlich kein Schimmer von einem
Strahl nach unten dringt. Verzeihen Sie mir die JeremiadeKlagelied.. Jetzt glaube ich ja
den Ausweg gefunden zu haben, das Gitter öffnet sich, ich steige zum Licht
empor; Freiheit, dein Name ist Tingel-Tangel.
Grüßen Sie bitte Karl auf das allerherzlichste von mir und
seien Sie selber ebenso gegrüßt von Ihrem Ihrer in Dankbarkeit gedenkenden
Frank.
[2. Zitat in J. A.
Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]
Verzeihen Sie, liebe Freundin, daß ich soviel von mir
selber schreibe. Aber da liegt eben der Hund begraben. In allem, was ich bis
jetzt geschrieben habe, fehlt mir die große Liebe, der Hauptmann
seine gewaltige Wirkung zu danken hat. Und diese Liebe läßt sich nicht
vorgaukeln, auch wenn man es noch so durchtrieben anstellt. Als Mittel zur
Unterhaltung, zur Bekämpfung der Langeweile ist sie mir auch schon gekommen,
aber ich sehe zu meiner Enttäuschung, daß meine Begriffsverdrehungen keinen
Glauben finden. Die wahre Liebe ist es nicht.
Wir hatten hier in München eine ziemlich lebendige tote
Saison durch das Gastspiel des kleinen Theaters und allerhand krumme Händel
die sich daran knüpften. Ich verwandte die Zeit hauptsächlich zum Studium von
Frau Eysoldt, bin ihr aber höchstens bis auf ein Dritttheil auf den Grund
gekommen; vielleicht befinde ich mich auch noch ganz an der Oberfläche.
Jedenfalls ist sie das interessanteste Menschenkind, das mir seit vier Jahren
vor Augen gekommen. Aber danach mögen Sie unser hiesiges Leben beurtheilen. Man
gehört zum Inventar eines bestimmten Restaurants, und wenn das Lokal den
Besitzer wechselt, wird man im Verkaufspreis so und so hoch bewerthet. In
diesem Restaurant sitzt man nun wie in einem Burgverließ, über sich ein enges
Gitter, durch welches man von unten dann und wann irgend etwas zu sehen
bekommt, was die Sonne bescheint, während natürlich kein Schimmer von einem
Strahl nach unten dringt.
Verzeihen Sie mir die Jeremiade. Jetzt glaube ich ja den Ausweg
gefunden zu haben, das Gitter öffnet sich, ich steige zum Licht empor; Freiheit, dein Name ist
Tingel Tangel [...]