Berlin, 1.IV.1897.
Marienstraße 9 IV.lWedekind wohnte in Berlin in der Marienstraße 9 (4. Stock links) [vgl. Wedekind an Wilhelm Bölsche, 30.4.1897]..
Lieber Richard
voraussichtlich komme ich
nächster TageWedekind blieb in Berlin und reiste nicht nach München. nach München zurück. Ich komme aber nur, wenn es anständiger
Weise möglich ist. Sonst bleibe ich für diese Welt Ihr Schuldner. Die
EntscheidungWedekind hatte ein Manuskript von „Bethel. Große Pantomime in vier Bildern“ [KSA 3/II, S. 91-141], ein Werk, das „als Auftragsarbeit für den Berliner Zirkus Renz entstand“ [KSA 3/II, S. 803], dem Direktor des Zirkus Renz übersandt [vgl. Wedekind an Franz Renz, 31.3.1897]; er erwartete darüber Nachricht, da er mit einer Aufführung seines Stücks im Zirkus Renz rechnete, die allerdings nicht zustande kam, da das Unternehmen in Konkurs ging. fällt morgen oder übermorgen. Wenn ich komme, dann bringe ich
Ihnen etwas mit, meine Kaiserin v. Neufundland„Die Kaiserin von Neufundland. Große Pantomime in drei Bildern“ [KSA 3/I, S. 57-90], 1897 in der Sammlung „Die Fürstin Russalka“ (siehe unten) veröffentlicht. Wedekind hoffte, der Komponist Hans Richard Weinhöppel werde die Musik zu seiner Tanzpantomime komponieren., von der ich halbwegs sicher
bin, daß sie Ihnen gefallen wird und daß Sie sie in Musik setzen. Wenn Sie sich
dazu entschließen, so werde ich schon dafür sorgen, daß Sie es auch thun. Ich
habe Ihren letzten lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 16.3.1897. unbeantwortet gelassen, aber es kann mir keine
Genugthuung sein, Ihnen Unannehmlichkeiten zu schreiben, denen ich gerade
ausgesetzt war. Ich will gerne alles Glück mit meinen Freunden theilen, aber in
mein Mißgeschick haben Sie sich selber mehr hineingedrängt. Meines Dankes dafür
sind Sie gewiß, aber ich sage ihn Ihnen mit tiefer Beschämung.
Für den Augenblick stehen
meine Angelegenheiten nicht schlecht, das heißt voraussichtlich. Und ich werde
nicht nach München zurückkommen, ehe ich die positive, klingende Gewißheit in
der Tasche habe. In den nächsten Wochen erscheint bei Langen ein Buch von mirWedekinds Sammlung „Die Fürstin Russalka“ (1897), die im Sommer im Albert Langen Verlag in München erschien [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 133, 12.6.1897, S. 4287].,
das jedenfalls Skandal machen wird. Außerdem habe ich die Kaiserin von
Neufundland und die braune Traberstute Bethel„Bethel, die Traberstute“ [KSA 3/I, S. 98], „eine braune Traberstute“ [KSA 3/I, S. 98], Titelfigur von „Bethel. Große Pantomime in vier Bildern“ (1897), zu Wedekinds Lebzeiten unveröffentlicht [vgl. KSA 3/II, S. 803-807]., die mich vor der Hand pecuniär
über Wasser halten muß.
Im übrigen, und
das sage ich mit einem gewissen Stolz, ist im Augenblick kein Schriftstellername
in Berlin verrufener als der meine. Wie das kommt, weiß ich nicht, da ich wenig
in Gesellschaft war. Aber ich habe die Gewißheit, daß es wenig braucht, um
meine Verrufenheit in das Gegenteil zu verwandeln.
Ich
lege diesem Brief ein Billetnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Lotte Dreßler, 1.4.1897. Wedekind unterhielt seit etwa Ende 1896 eine Liebesbeziehung mit Lotte Dreßler (geb. Kray), der Frau des mit ihm befreundeten Gesangspädagogen Anton Dreßler, die er geheim hielt und mit der Geliebten über gemeinsame Bekannte und postlagernd [vgl. Lotte Dreßler an Wedekind, 15.4.1897] korrespondierte. bei, das ich Sie bitte schließen zu wollen und
persönlich zu übergeben. Wenn Sie es nicht übergeben können, wenn ich Sie damit
verletze, dann lassen Sie es ganz einfach und schreiben Sie es mir
gelegentlich. Sie sehen daraus, daß ich ein doppeltes SpielAnspielung auf Wedekinds gleichzeitige Beziehung mit Lotte Dreßler und Frida Strindberg. spiele, aber wer
von uns spielt das nicht. Ich habe keinen anderen sicheren Weg, um die Zeilen
an ihre Adresse gelangen zu lassen. Aber mit Ihrer Freundschaft erkaufe ich mir
die Gunst nicht. Das wäre zu theuer.
Und nun
leben Sie wohl. Empfehlen Sie mich Miß B.„die Amerikanerin Stella Brokow“ [KSA 4, S. 662], die spätere erste Ehefrau von Hans Richard Weinhöppel (Heirat 1900 in London, Scheidung 1906), die er während seines Aufenthalts in den USA kennengelernt hatte und die 1896 mit ihm nach München gekommen war, wie Max Halbe sich erinnerte: „Als er zurückkam, brachte er sich von drüben eine Frau mit, die in unserem Kreise sehr bald als der Typus der Amerikanerin [...] galt. [...] die Ehe wurde [...] später geschieden.“ [Halbe 1935, S. 315] und richten Sie Ihrer Nuzzirecte (wahrscheinlich): Mizzi. Wedekind erwähnte später „Weinhöppel und seine Freundin Mizzi“ [Wedekind an Otto Julius Bierbaum, 28.8.1898]; das war Mizzi Ledermann, „deren Namen Fritz Strich – möglicherweise irrtümlich – als ‚Nuzzi‘ ediert hat.“ [KSA 4, S. 661] Wedekind hat in seinem Entwurf „Schema eines Dramas“ (1897) die Beziehung zwischen den Figuren „R.W.“ (= Richard Weinhöppel) und „M.L.“ (= Mizzi Ledermann) skizziert: „R.W. und M.L. – M.L. treibt die Künstlerschaft bis zur Hurerei.“ [KSA 4, S. 305] „R.W. und M.L. – R.W. hält um M.L.’s Hand an.“ [KSA 4, S. 306] meinen
ergebensten und respectvollsten Gruß aus.
Mein
Lebensglück hängt momentan in des Wortes verwegenster Bedeutung an einem PferdehaarAnspielung auf die Traberstute Bethel (siehe oben) und damit auf die Hoffnungen, die er an seine Pantomime „Bethel“ knüpfte..
Hoffentlich hält es.
In
alter Treue Ihr
Frank.