München, 21.V.1901.
Meine liebe verehrte Freundin!
Ich freue mich unendlich, Sie und Ihren lieben Mann wieder
an einem Ort der Erholungnicht ermittelt. und der Ruhe zu wissenHinweis auf einen nicht überlieferten Brief [vgl. Wedekind an Carl Heine, 7.8.1901]; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 20.5.1901. Beate Heine hat Wedekind von den beruflichen Anstrengungen ihres Mannes und der Erholung danach berichtet.. Noch vor einigen Wochen las
ich von Gastspielen des Dr. Heine Ensembles, wenn ich mich recht erinnere in
EssenCarl Heine gastierte während seiner letzten Tournee mit seinem Ensemble (unter den Schauspielern inzwischen Leopold Jessner) am Stadttheater in Essen zunächst am 13.3.1901: „Mittwoch gastiert in unserem Stadttheater das [...] bekannte Dr. Heine-Ensemble. [...] Das Ensemble des Herrn Dr. Heine genießt hier einen vorzüglichen künstlerischen Ruf“ [Essener Volks-Zeitung, Jg. 34, Nr. 59, 12.3.1901, S. (2)]; angezeigt war: „Stadt-Theater Essen. Direktion: Hans Gelling. [...] Mittwoch, den 13. März [...] Einmaliges Gastspiel des Dr. Heine-Ensemble. Ueber unsere Kraft. Schauspiel von Björnson.“ [Essener Volks-Zeitung, Jg. 34, Nr. 60, 13.3.1901, S. (4)] Ein weiteres Gastspiel am Stadttheater in Essen fand am 2.4.1901 statt, wie angezeigt war: „Dienstag, den 2. April [...]. Einmaliges Gastspiel des Dr. Heine-Ensemble. Gespenster. Schauspiel von Ibsen.“ [Essener Volks-Zeitung, Jg. 34, Nr. 76, 2.4.1901, S. (2)] an der Ruhr. Jedenfalls wird es Herrn Doktor angenehm sein, wenn er das
schlechte Sommergeschäft nicht zu machen braucht und dafür Gelegenheit hat,
sich auszuruhen und frische Kräfte zu sammeln. Was mich anbetrifft, so bin ich
seit einem halben Jahre fortwährend auf dem Sprung, nach Berlin zu fahren, ohne
daß jemals Ernst daraus wird. Jetzt steht das dortige Meßthaler GastspielEmil Meßthaler, Direktor des Intimen Theaters in Nürnberg, gastierte vom 15.6.1901 bis 15.8.1901 als Direktor am Neuen Theater in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 461], wo „Marquis von Keith“ uraufgeführt werden sollte; der Plan zerschlug sich., ich
weiß nicht mehr in welchem Theater, vor der Thür, wobei mein Marquis v. Keith
das Lampenlicht erblicken soll. Jetzt werde ich nun Berlin wol wiedersehen,
vorausgesetzt, daß nicht wieder was dazwischen kommt. Vor drei Jahren um diese
Zeit saßen wir bei ziemlich trübem Wetter in StettinStettin war im Frühjahr 1898 eine Station der Tournee des Ibsen-Theaters von Carl Heine, dessen Ensemblemitglied Wedekind war. und führten Nora auf;
heute singe ich im hiesigen Ueberbrettldie Elf Scharfrichter in München, deren eigentliche Eröffnungsvorstellung am 12.4.1901 stattfand – „Mit der Ehrenexekution des gestrigen Abends hat das sogenannte ‚Ueberbrettl‘ auch in München seinen Einzug gehalten“ [Die elf Scharfrichter. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 104, Nr. 102, 13.4.1901, Abendblatt, S. 1] – und deren offizielle Eröffnungsvorstellung am 13.4.1901 Wedekind besucht hat [vgl. Wedekind an Bertha Doepler, 14.4.1901]. Wedekind war Mitglied der Elf Scharfrichter und trat dann regelmäßig mit seinen Liedern auf: „Das bisher schon so reichhaltige Programm hat durch Anreihung eines ‚inoffiziellen‘ Theiles eine schätzenswerthe Bereicherung erfahren. [...] Wedekind – er gab uns einige echte Wedekinds. Seine ‚Brigitte B.‘ und die ‚Sieben Rappen‘ sind in der Form so vollendet gehalten, daß man es hinnehmen kann, daß der Inhalt ‚jenseits von Dezent und Indezent‘ liegt. Dabei verfügt Herr Wedekind über eine bewunderungswürdige Ruhe im Vortrage, eine Ruhe, die selbst ängstlichen und prüden Gemüthern über etwaige Gewissensbisse leicht hinweghilft.“ [Die Elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 195, 26.4.1901, Morgenblatt, S. 3] Inzwischen stand ein neues Programm an: „Die letzte Vorstellung des laufenden Programms findet Mittwoch, 22. Mai statt. [...] Dieses gelangt gleich nach Pfingsten zur ersten Aufführung und wird [...] enthalten [...] neue Solovorträge von [...] Frank Wedekind“ [Die elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 234, 21.5.1901, Vorabendblatt, S. 4]. meine Gedichte und Compositionen und
schlage die Guitarre dazu. O quae
mutatio rerum(lat.) Oh, dass sich die Dinge ändern.! Unser hiesiges Ueberbrettl ist nach dem allgemeinen
Urtheil um vieles geschmackvoller und künstlerischer als das WolzogenscheErnst von Wolzogens Buntes Theater (Überbrettl), das am 18.1.1901 in Berlin eröffnet wurde [vgl. Budzinski/Hippen 1996, S. 437]. in
Berlin. In Berlin schießen diese Institute jetzt aber wie die Pilze aus dem
Boden. Sämmtliche Nummern und Productionen der hiesigen Scharfrichter sind für
den kommenden Winter schon für Berlin gewonnen; und täglich kommen neue
Anerbietungen und Werbungen von Berlin. Ich glaube, es wird dort über kurz oder
lang eine schwere Krisis über diesen ganzen Plunder hereinbrechen. Aehnlich
scheinen die Verhältnisse gegenwärtig in DarmstadtWährend Ernst von Wolzogen mit seinem Bunten Theater (Überbrettl) bereits im Rahmen der am 15.5.1901 eröffneten ersten Ausstellung der Künstlerkolonie in Darmstadt gastierte, traten die Elf Scharfrichter erst vom 26. bis 30.7.1901 dort auf, im Spielhaus der Künstlerkolonie; über den Premierenabend wurde berichtet: „Im Spielhaus begannen gestern abend die ‚Elf Scharfrichter‘ aus München ein auf drei Abende vorgesehenes Gastspiel. [...] Herr Frank Wedekind würde sein Publikum zu Dank verpflichten, wenn er künftig die [...] Balladen, die sich durch eine tadelnswerte Rücksichtslosigkeit gegen das Schicklichkeitsgefühl auszeichnen, aus der Liste seiner Darbietungen für Darmstadt streichen würde.“ [Darmstädter Zeitung, Jg. 125, Nr. 348, 27.7.1901, Nachmittags-Blatt, S. 1497] Das Gastspiel in Darmstadt wurde verlängert und anschließend in Kreuznach und Ems fortgesetzt. zu liegen, wo das erste
Programm schon mit Pauken und Trompeten ins Wasser gefallen ist. Vorgestern war
ein Mannnicht identifiziert. hier, um Productionen für den Monat August zusammenzusuchen, und zwar
das allerexzentrischste. Ich habe ihm meine Kaiserin von Neufundland
mitgegeben. Jetzt wird sie dem GroßherzogErnst Ludwig von Hessen hatte die Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt 1899 initiiert. zur Begutachtung vorgelegt. Nimmt
mich Wunder, was daraus wird. Diesen Frühling, als die ersten schönen Tage
kamen, begann ich wieder einmal an einem Stück„Blanka Burkhart“ [vgl. KSA 4, S. 317-319] blieb Fragment. zu schreiben; ich habe die Arbeit
aber bald wieder beiseite gelegt. Ich weiß augenblicklich nicht, nach welcher
Richtung ich mich wenden soll; ich muß erst wissen, wie der Marquis von Keith
aufgenommen wird, um mir darüber klar zu sein, ob ich einen Schritt vorwärts
gehen darf oder noch einmal zurückdämmen muß. So beschäftige ich mich denn
hauptsächlich damit, für meine Gedichte aus der „Fürstin Russalka“ Melodien zu
finden, die ich selber harmonisire so gut ich das eben kann. Es ist keine übermäßig
anstrengende Arbeit. Daneben sorgt Max Halbe ununterbrochen für die nöthige
UnterhaltungAnspielung auf Max Halbes Unterströmung [vgl. Gräbner/Lauinger 2021, S. 536f.] – „Der Geselligkeit diente Max Halbes zur Kegelbahn gewordene ‚Unterströmung‘“ [Kutscher 2, S. 74] – und auf die „kleine Tafelrunde, zu der Wedekind, Graf Keyserling, Halbe [...] gehörten. [...] Oft, wenn wir, Wedekind, Martens und ich, nachts den Heimweg antraten, und Keyserling [...] einen Wagen bestieg und seine Zigarette zwischen den dünnen Lippen, mit seitwärts und uns Fußgängern abgewandtem Gesicht in dem nächtlichen Einspänner vorbeifuhr, sagten wir uns: ‚Seht ihr – das ist der innere Zusammenhang!‘“ [Holitscher 1924, S. 192] ; immer muß etwas los sein. Der Wahlspruch dieser Gesellschaft, in
der der Graf KeyserlingMax Halbes Freund Eduard von Keyserling, dessen Stück „Ein Frühlingsopfer“ (1900) am 23.8.1900 am Münchner Schauspielhaus Premiere gehabt hatte, nachdem es am 12.11.1899 im Berliner Lessingtheater durch die Freie Bühne öffentlich uraufgeführt worden war, zählte wie Max Halbe zu Wedekinds engerem Münchner Freundeskreis. „Näher standen ihm – außer Weinhöppel – wohl nur Halbe und Keyserling. Es verging keine Münchner Woche, in der er nicht wenigstens 3–4mal mit diesen zusammenkam in harmloser, genußfroher Stunde.“ [Kutscher 2, S. 74], der Verfasser von Frühlingsopfer, eine führende Rolle
spielt, lautet: Man muß die Feste feiern wie sie fallen, und da so ziemlich auf
jeden Tag ein Fest fällt, kommt man nur mit größter Mühe einmal aus dem Feiern
heraus. Uebrigens würden Sie sich meiner Ueberzeugung nach unendlich wohl unter
diesen Leuten fühlen. Vielleicht überlegt Carl sich die Frage, ob es nicht
vielleicht geschäftlich von Vortheil wäre, auf einige Wochen nach München zu
kommen. München ist, nächst dem Westen Berlins, um diese Zeit entschieden die
schönste Stadt Deutschlands. Das wäre herrlich, wenn wir hier in dieser
behaglichen Münchener Stimmung die Abende zusammen auf den Kellernin den Biergärten. verbringen
könnten. Ich lege mein Bildnicht überliefert (ein wohl aktuelles Foto Wedekinds). bei, nicht aus Eitelkeit, es ist das erste und
einzige seit zehn Jahren; aber ich möchte um alles nicht, daß Sie es zuerst bei
jemand anders sehen, bevor Sie es aus eigener Anschauung kennen.
Ich bitte Sie, meine liebe Freundin, Karl auf das
allerherzlichste von mir zu grüßen. Mit den besten Grüßen und aufrichtigsten
Wünschen bin ich Ihr Ihnen stets ergebener
Frank.