München, 2.VIII.1900.
Meine verehrte liebe Freundin,
Sie schreibenin der genannten Einladung (siehe unten)., Sie fänden mein Geschick gar nicht so
bedauernswerth; aber da sehen Sie es gerade: Wegen lumpichter CorrecturenKorrekturen im Zusammenhang mit der Drucklegung des „Marquis von Keith“ (1901) als Buchausgabe im Albert Langen Verlag, im Vergleich mit dem Vorabdruck des Stücks in der Monatsschrift „Die Insel“ [vgl. KSA 4, S. 425] eine „nur unerheblich veränderte Fassung“ [KSA 4, S. 413. Um Korrekturen für die 2. Auflage des Einakters „Der Kammersänger“ handelte es sich definitiv nicht, da diese bereits am 22.6.1900 als erschienen gemeldet ist [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 142, S. 22.6.1900, S. 4730]. und
einiger anderer geringfügiger Accidenzienzufällige Einkünfte. mußte ich Leipzig plötzlich wieder
verlassen und erhalte Ihre liebe freundliche Einladungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 31.7.1900. Es handelte sich vermutlich um eine Einladung zu einer Zusammenkunft mit Beate und Carl Heine in Leipzig. erst heute hier in
München. Das ist lediglich die Folge davon, daß das Leben keinen Sinn und
keine Direction hat und man der Spielball jedes elenden kleinen Zufalls ist. Ich
fühlte im Voraus, daß mir Ihre Antwort eine erfreuliche Nachricht bringen
werde; trotzdem konnte ich nicht länger in Leipzig bleiben, da ich dadurch den
Druck meines Marquis, den ich schon drei Wochen lang vernachlässigt hatte,
vollkommen gefährdet hätte. Sie machen sich keinen Begriff von dem Chaos und
der Wüstenei, wozu mein Leben dank dieser ekelhaften GeldangelegenheitWedekind hatte eine Erbschaft in Aussicht, deren Auszahlung sich jedoch verzögerte (siehe dazu Wedekinds Korrespondenz mit seinem Schwager Walther Oschwald). geworden
ist. Mit Vergnügen habe ich in Leipzig gehört, daß Carl im Winter wieder
Tournee machtCarl Heines Tournee mit seinem Dr. Heine-Ensemble in der Winterspielzeit begann am 20.9.1900 und führte ihn zunächst wieder nach Holland., wenn ich mich recht erinnere in Holland. Wenn ich nur endlich
flott werde, dann werde auch ich keine Secunde versäumen, um sofort meine
Bühnenthätigkeit wieder aufzunehmen. In sämtlichen KammersängervorstellungenWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ wurde in den drei Städten Prag, Wien und München auf einer Gastspielreise der Berliner Sezessionsbühne (Leitung: Paul Martin. Oberregisseur: Martin Zickel) aufgeführt. Premiere am Neuen deutschen Theater in Prag war am 10.7.1900 [vgl. Prager Tagblatt, Jg. 24, Nr. 188, 10.7.1900, Morgen-Ausgabe, S. 4]; eine weitere Vorstellung als Abschiedsvorstellung des Ensembles fand am 15.7.1900 statt. Premiere am Theater in der Josefstadt in Wien war am 21.7.1900 [vgl. Wiener Allgemeine Zeitung, Nr. 6710, 21.7.1900, S. 8]; weitere Vorstellungen fanden am 22. und 23.7.1900 statt. Premiere am Münchner Schauspielhaus war am 24.7.1900 [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 53, Nr. 339, 24.7.1900, General-Anzeiger, S. 1] (an Wedekinds Geburtstag); die letzte Wiederholung des „Kammersänger“ fand am 27.7.1900 statt. Einem Irrtum dürfte folgende Pressemeldung zugrunde liegen (hier scheint das in Berlin angesiedelte Dr. Heine-Ensemble mit der Sezessionsbühne verwechselt worden sein): „Aus München wird uns telegraphirt: Das Berliner Heine-Ensemble brachte gestern Wedekinds ‚Kammersänger‘ mit großem Erfolg zur Aufführung.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 29, Nr. 372, 25.7.1900, Morgen-Ausgabe, S. (3)].,
die in Prag, Wien und München stattgefunden, war die HauptrolleDie Titelrolle – „GERARDO, k.k. Kammersänger“ [KSA 4, S. 12] – in Wedekinds in Prag, Wien und München aufgeführtem Einakter „Der Kammersänger“ (siehe oben) wurde in Prag von Kurt Junker gespielt, in Wien von Rudolf Christians und in München wieder von Kurt Junker. unter aller
Kritik, und so brenne ich vor Begierde, dem Publicum einmal zu zeigen, was ich
damit gemeint habe. Ein amüsantes Curiosum: Das ThaliatheaterDruck- oder Lesefehler, statt: Tivoli-Theater. Das Thalia-Theater in Bremen wurde erst 1907 erbaut und am 16.5.1909 eröffnet [vgl. Neuer Theater-Almanach 1910, S. 332]. Gemeint ist das Tivoli-Theater in Bremen, dessen Direktor seinerzeit wohl noch Max Monti gewesen ist, der zugleich Direktor des Carl Schultze-Theaters in Hamburg war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 287], oder bereits Carl Waldemar [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 275]. in Bremen, eine
Operettenschmiere letzten Ranges, hat sich um Aufführungsrecht vom „Erdgeist“ beworben.
Voraussichtlich wird ja nichts daraus, aber als Sympthom ist es ganz
erfreulich. Es ist mir sehr schmerzlich, daß ich die Gelegenheit, Carl und Sie
zu sehen, unbenützt vorübergehen lassen mußte. Aber seit 4 Monaten geht mir das
mit allem so. Es ist der wahre Jammer. Lange würde ich es auch nicht mehr
aushalten. ‒ Harlan,
der Wohlzogens VariétéErnst von Wolzogens Buntes Theater (Überbrettl) in Berlin, das am 18.1.1901 offiziell eröffnet wurde [vgl. Budzinski/Hippen 1996, S. 437], „eine deutsche Variante des literarisch-künstlerischen Cabarets Pariser Prägung“ [Budzinski/Hippen 1996, S. 400]. Ernst von Wolzogen und Walter Harlan, inzwischen Dramaturg am Berliner Lessingtheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 243], kannten sich aus Leipzig aus dem Umkreis der Literarischen Gesellschaft. finanziren wollte, hat sich wieder zurückgezogen und
läßt Wohlzogen mit seinen abgeschlossenen Engagements sitzen. Immer dasselbe!
Grüßen Sie Carl aufs herzlichste. Auf baldiges wirkliches
Wiedersehen! Mit tausend Grüßen Ihr Ihnen unverändert ergebener
Frank.