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Leipzig, 20.III.1900irrtümlich datiert; dem Briefinhalt zufolge war der 20.7.1900 das Schreibdatum..
Meine liebe verehrte Freundin!
Die Sehnsucht, endlich wieder einmal zu wissen wie es Ihnen
geht, die Unmenge gemeinsamer Erinnerungen, von denen ich auf Schritt und Tritt
bestürmt werde, drängen mich, Ihnen zu schreiben, obwohl meine eigene ebenso
komische wie unerquickliche Situation meinen Willen vollkommen geknickt hat und
mich nur noch sehr selten und dann mit dem größten Widerwillen die Feder
ergreifen läßt. Um Ihnen mein seltsames Verhalten kurz zu erklären, so schrieb
ich, nachdem Carl und ich uns hier in Leipzig zum letzten Mal gesehenWedekind sah Carl Heine zuletzt am 8.2.1900 und in den Tagen darauf in Leipzig [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900]. hatten,
in München endlich unter Ach und Krach meinen „Marquis v. Keith“ fertig,
verdiente auch ein hübsches Stück Geld bei der „Insel“Wedekinds „Marquis von Keith“ (1901) erschien im Vorabdruck [vgl. KSA 4, S. 413, 425] in der von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder herausgegebenen Monatsschrift „Die Insel“ [vgl. Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet von Frank Wedekind. In: Die Insel, Jg. 1, 3. Quartal, Nr. 7, April 1900, S. 3-76, Nr. 8, Mai 1900, S. 166-198, Nr. 9, Juni 1900, S. 255-310]. und hoffte und hoffte
und hoffte, daß sich der seit nun 7 Monatenzurückgerechnet der 20.12.1899. Wedekinds Tante Auguste Bansen, die jüngste Schwester seines Vaters, war am 15.12.1899 in Hannover kinderlos gestorben, so dass die Neffen und Nichten auf ein Erbe hofften [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 199f.], das auf sich warten ließ. Wedekind hatte die ihn stark belastende Erbschaftsangelegenheit im Sinn (siehe dazu seine Korrespondenz mit Walther Oschwald). verkündete bescheidene Glücksfall
endlich realisiren würde und mir ermöglichte, mir nach zehn Jahren heimathlosen
Umherirrens nun endlich wieder einmal eine Stätte zu schaffen, wo ich mein
Haupt hinlegen und in etwas rationellerer Weise arbeiten könnte, als mir das
bisher möglich war. Daneben träumte ich davon, dramatischen Unterricht zu
nehmen, zur Bühne zurückzukehren und tausend andere bescheidene schöne Dinge.
Meine Hoffnung hat mich bis jetzt in unmenschlich grausamer Weise genarrt. Der
RechtsanwaltDie Kanzlei des Rechtsanwalts Hans Heiliger in Hannover (Georgstraße 7) [vgl. Adreßbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover 1900, Teil I, S. 752] bearbeitete Wedekinds Erbschaftsangelegenheit. hatte sich verrechnet, Monat um Monat zieht sich die SacheWedekind hatte eine Erbschaft in Aussicht (siehe oben), deren Auszahlung sich jedoch verzögerte (siehe dazu Wedekinds Korrespondenz mit seinem Schwager Walther Oschwald sowie überhaupt seine Korrespondenz mit Familienmitgliedern in dieser Zeit). hinaus,
schließlich kommen die Gerichtsferien und jetzt soll ich, wenn alles gut geht,
mich noch einen vollen Monat gedulden. Dieser Zustand hat mich nun bis auf das
Mark demoralisirt, so daß ich in München schließlich vor mir selber Reißaus
nahm und mich hier in der LampestraßeWedekind hatte sich in Leipzig in der Lampestraße 13 (4. Stock links) eingemietet [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900]. auf einen Monat einmietete, in der
Hoffnung, an der hiesigen BibliothekWedekind besuchte vermutlich entweder die Stadtbibliothek in Leipzig (Neumarkt 9), Öffnungszeiten des Lesesaals täglich 10 bis 13 Uhr, außerdem Dienstag, Mittwoch, Freitag und Samstag 15 bis 18 Uhr [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 130], oder die Universitätsbibliothek (Beethovenstraße 6) [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 28], Öffnungszeiten des Lesesaals (Bibliotheca Albertina) Montag bis Freitag 9 bis 13 Uhr und 15 bis 18 Uhr, Samstag 9 bis 13 Uhr [vgl. Leipziger Adreß-Buch 1901, Teil II, S. 79]. eine bestellte ArbeitWedekind hoffte in Leipzig für eine Publikation „Das Varieté des Lebens“ (nicht nachgewiesen) für den S. Fischer Verlag arbeiten zu können [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900], die nicht realisiert wurde. absolviren zu
können. Das ist meine ebenso lächerliche wie trostlose Geschichte seit dem Tage
meiner wiedergewonnenen FreiheitWedekind war am 3.2.1900 aus der Festungshaft entlassen worden, die er wegen Majestätsbeleidigung verbüßte.. Womit ich diese horrenden TantalusqualenQualen dadurch, dass etwas Ersehntes zwar in greifbarer Nähe, aber nicht erreichbar ist (nach dem König Tantalus aus der griechischen Sage, der wegen Frevels gegen die Götter unstillbaren Hunger und Durst leiden musste, obwohl Essen und Trinken zum Greifen nah war). und
obendrein den von mir am meisten gefürchteten Fluch der Lächerlichkeit verdient
habe, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, daß irgend jemand anders nach meinen
Erlebnissen dieses neue Mißgeschick tapferer bestanden haben würde als ich.
Aber nun zu Ihnen. Von Carl erhielt ich vor zwei Monaten
einige Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 1.6.1900. aus AmsterdamCarl Heine gastierte auf der Gastspielreise mit seinem Ensemble am 1.6.1900 einmalig in Amsterdam mit Henrik Ibsens Schauspiel „Wenn wir Toten erwachen“ (Anfang: 20 Uhr) am Stadttheater am Leidseplein [vgl. Het Nieuws van den Dag, Nr. 9318, 1.6.1900, 4. Blatt, S. 13]. und las in den Zeitungen mit Vergnügen und
Genugthuung von den auch in pekuniärer Beziehung bedeutenden Erfolgen, die er
in Belgien und Holland erntete. Jetzt wird er wol nicht mehr spielen, sondern
irgendwo in schöner Natur mit Ihnen der wolverdienten Erholung genießen. Aber
wie haben Sie die langen Monate in Berlin verbracht? Sie werden eine Menge
neuer Menschen kennen und schätzen gelernt haben; Sie werden mehr Berlinerin
gewordenBeate Heine, in Berlin geboren und aufgewachsen, lebte mit ihrem Mann, dessen Dr. Heine-Ensemble nun in Berlin seinen Sitz hatte, wieder in der Stadt (Lutherstraße 17) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 262]. sein und über vieles lachen, was Sie früher eher träumerisch und
muthlos stimmte. Ich habe hier in Leipzig bei jedem Schritt das Gefühl, als ob
ich über Gräber wandelte, über die Gräber einer Gesellschaft voll der
lebendigsten Beziehungen, einer ganzen Welt1898 der gesellige Kreis um die Literarische Gesellschaft und das Ibsen-Theater in Leipzig, zu dem Carl und Beate Heine gehört hatten., die mit Ihnen spurlos aus Leipzig
verschwunden ist. Was an Trümmern davon zurückgeblieben, das kann mir wenig
Freude mehr machen. Ebenso war es in München. Ich muß
und muß in größere Kreise gelangen;
dazu hoffte ich von dem tückischen Glücksfall einige Hülfe. Nun, es muß ja
kommen; wenn bis dahin nur nicht der letzte Rest an Raketensatzdas Pulver in der Rakete (mit Brandsatz gefüllte Blechbüchse), bildlich gemeint. zum Teufel
geht. Aber ich möchte Ihnen um alles in der Welt nichts vorjammern. Vor
vierzehn Tagenam 6.7.1900 (genau gerechnet), an dem Wedekind in München Ernst von Wolzogen getroffen hat. traf ich Wolzogen in München, der mir die Hand zur Versöhnung
bot und mich für sein Berliner Tingel TangelErnst von Wolzogen plante die Gründung eines Kabaretts, das Bunte Theater (Überbrettl) in Berlin (offiziell eröffnet am 18.1.1901). zu gewinnen trachtete. Ich habe
nach wie vor wenig Zutrauen zu dem Unternehmen, nun erst recht, wo Wolzogen an
der Spitze steht, dem alles Verständnis für Humor fehlt. Uebrigens hörte ich
mit Freude gestern aus einem ruhigen sachlichen Gespräch mit dem hiesigen
Oberregisseur AdlerLeopold Adler war Oberregisseur des Schauspiels an den vereinigten Stadttheatern in Leipzig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 409]., mit dem ich durch Hezel Der Wedekind freundschaftlich verbundene Rechtsanwalt Kurt Hezel aus Leipzig hatte ihn bei seinem Majestätsbeleidigungsprozess verteidigt; Wedekind dürfte in Leipzig vor allem mit ihm Kontakt gehabt haben.zusammenkam, einen wie
unbestrittenen und nachhaltigen Eindruck Carl hier in LeipzigCarl Heine gastierte mit seinem Ensemble vom 12. bis 15.2.1900 im Krystallpalast in Leipzig [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900]. zurückgelassen
und wie ernst er gerade von seinen Gegnern genommen wird. Ich glaube, es hat
sich auch hier gezeigt, daß im entscheidenden Moment die besten Freunde immer
die unzuverlässigsten Factoren sind. Meßthaler, der momentan hier spieltEmil Meßthaler war als Direktor des Leipziger Sommer-Theaters in der Stadt (Spielstätte: Hotel Stadt Nürnberg, Bayerische Straße 8-10) und auch als Schauspieler auf der Bühne zu sehen. Eröffnungsvorstellung des Leipziger Sommer-Theaters war am 1.7.1900 [vgl. Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 329, 1.7.1900, S. 5329], davor gastierte er im Krystallpalast mit seinem „Meßthaler-Ensemble“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 292, 11.6.1900, Abend-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4781]., wird
künstlerisch nicht ernst genommen. Ich hoffe sehr darauf, daß wir uns bald
einmal wiedersehen. Ich hatte vor, im August nach Berlin zu kommen; da mir
jetzt aber alles durcheinander geworfen ist, habe ich den Plan wieder fallen
lassen.
Grüßen Sie Carl aufs herzlichste von mir. Jeder Schritt, den
er thut, ist für mich Gegenstand des lebhaftesten Interesses. Vielleicht werden
unsere beiderseitigen Bestrebungen doch auch wieder einmal miteinander
verknüpft. Aber auch sonst begleiten ihn meine aufrichtigsten Wünsche.
Mit herzlichen Grüßen Ihrer gedenkend in Freundschaft und
Dankbarkeit
Frank.
Zu meinem Schrecken fällt mir ein, daß ich den Brief erst in
vier TagenWedekinds 36. Geburtstag am 24.7.1900. abschicken kann, da Sie sonst imstande wären, ihn zum Vorwand zu
nehmen, um mir wieder ein Geschenk zu machen. Sie müssen sich das selber zuschreiben.
Warum verwöhnen Sie Ihre Freunde so!
[2. Zitat in J. A.
Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]
Die Sehnsucht, endlich wieder einmal zu wissen wie es
Ihnen geht, die Unmenge gemeinsamer Erinnerungen, von denen ich auf Schritt und
Tritt bestürmt werde, drängen mich, Ihnen zu schreiben, obwohl meine eigene
ebenso komische wie unerquickliche Situation meinen Willen vollkommen geknickt
hat und mich nur noch sehr selten und dann mit dem größten Widerwillen die Feder
ergreifen läßt. Um Ihnen mein seltsames Verhalten kurz zu erklären, so schrieb
ich, nachdem Carl und ich uns hier in Leipzig zum letzten Mal gesehen hatten,
in München endlich unter Ach und Krach meinen „Marquis v. Keith“fertig, verdiente auch ein hübsches Stück Geld bei der
„Insel“ und hoffte und hoffte und hoffte, daß sich der seit nun 7 Monaten
verkündete bescheidene Glücksfall endlich realisiren würde und mir ermöglichte,
mir nach zehn Jahren heimatlosen Umherirrens nur endlich wieder einmal eine
Stätte zu schaffen, wo ich mein Haupt hinlegen und in etwas rationellerer Weise
arbeiten konnte, als mir das bisher möglich war. Daneben träumte ich davon
dramatischen Unterricht zu nehmen, zur Bühne zurückzukehren und tausend andere
bescheidene schöne Dinge. Meine Hoffnung hat mich bis jetzt in unmenschlich
grausamer Weise genarrt [...]