Kennung: 948

Festung Königstein, 2. November 1899 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate

Inhalt

Festung Königstein, 2.XI.1899.


Meine hochverehrte Freundin,

wollen Sie es mir bitte nicht als Selbstüberhebung auslegen, sondern nur als einen Beweis dafür, daß ich das sehnlichste Bedürfnis habe, Ihnen eine Freude zu machen, wenn ich Sie bitte, mit den vielen schönen Sachen auf Ihrem GeburtstagstischWedekind nahm irrtümlich an, Beate Heine feiere am 5.11.1899 ihren Geburtstag [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 27.10.1899], tatsächlich aber war ihr 40. Geburtstag schon am 31.10.1899. diesen kleinen Spiegel zu vereinigen. Meine herzlichsten Wünsche zu Ihrem Wohlergehen, zur Erfüllung eines jeden Ihrer Herzenswünsche begleiten ihn.

Und nun lassen Sie mich auf Ihre lieben freundlichen Zeilen vom 12.vgl. Beate Heine an Wedekind, 12.10.1899. zurückkommen. Sie schreiben mir sehr nervös. Ich hoffe, daß die Crisis vorüber ist. Ich habe in meinem Leben soviel an Warten durchgemacht und werde noch soviel durchmachen müssen, daß ich das mitempfinde. Aber es wird für uns Alle die Zeit kommen, darum ist mir garnicht bange.

Sehr ergötzt hat mich der Ausdruck über die Kümmelflasche„Jilkaflasche“ [Beate Heine an Wedekind, 12.10.1899], ein dialektal geprägter Ausdruck der berlinernden Hausangestellten Beate Heines für eine Flasche Kümmelbrandwein, der sich von der Berliner Firma J. A. Gilka herleitet.. Das ist das pure Gold. Gerhart Hauptmann würde 20 Mk. darum geben. Vielleicht komme ich auch noch dahin, ihn verwerthen zu können. Meine Arbeit ist hier oben auch thatsächlich jetzt mein einziges Interesse. Seit Heines AbreiseDer Zeichner Thomas Theodor Heine, der wie Wedekind wegen Majestätsbeleidigung im „Simplicissimus“ verurteilt worden war, wurde am 29.9.1899 aus der Festungshaft entlassen und kehrte nach München zurück. habe ich mit keiner Seele mehr ein Wort gewechselt. Wenn es jetzt nichts wird, dann werde ich mit Ueberzeugung die Feder bei Seite legen können. Sie sehen, es ist das gleiche Hangen und Bangen überall.

Für den Simpl. darf ich jetzt gar nicht arbeiten. Das ist eben mein Glück. Die Gedichte „Hase“die mit „Hase“ gezeichneten Gedichte „Zu Heines Befreiung“ [Simplicissimus, Jg. 4, Nr. 27, S. 210] und „Revision“ [Simplicissimus, Jg. 4, Nr. 28, S. 219], von denen Beate Heine angenommen hat, sie stammten von Wedekind [vgl. Beate Heine an Wedekind, 12.10.1899]. sind von Korfiz Holm. Sobald er in geschlossener Form schreibt, ist er mir mindestens ebenbürtig. Meine Specialität war nur der Radauton. Ich sehne mich nicht danach zurück, bin aber froh, daß ich eine gewisse Uebung und anderseits Popularität darin erlangt habe, derart, daß ich jetzt überall zu gutem Preis damit ankommen werde. Das giebt mir ein gewisses Gefühl der Sicherheit, das ich vor dem Proceß nicht hatte.

Vor einigen Tagen erhielt ich zum ersten Male ein componirtes GedichtHermann Bischoff hat seine Komposition von Wedekinds Gedicht „Das Goldstück“ [KSA 1/I, S. 378f.] dem Autor zugeschickt und ihn kurz darauf auf diese Sendung nochmals aufmerksam gemacht [vgl. Hermann Bischoff an Wedekind, 30.10.1899]. Noch im gleichen Jahr hat der Komponist seine Vertonung dieses Gedichts „für ‚mittlere Stimme und Clavier‘ [...] 1899 als op. 7 im Verlag Ferd. Heckel, Mannheim“ [KSA 1/III, S. 511] publiziert. Wedekind selbst komponierte in der ersten Jahreshälfte 1901 zu seinem Gedicht eine eigene Melodie [vgl. KSA 1/III, S. 87-89, 507-511]. von mir zugeschickt, und zwar durchcomponirt, offenbar heillos complicirt und hypermodernWedekind sprach auch von „hochmoderner Komposition“ [Wedekind an Walther Oschwald, 31.10.1899]., von einem gewissen Hermann Bischoff in München. Ich kann absolut nichts damit anfangen, da ich erstens kein Instrument habe und mich auch damit wol nicht zwischen den unzähligen Kreuzen hindurchfinden würde. Ich werde mir erlauben, es Ihnen nächster Tage zu zu schicken; vielleicht schreiben Sie mir Ihr Urtheil darüber.

Hier oben ist es jetzt recht lebendig geworden, von früh bis spät wird vor meinem Fenster exercirt, nicht zur Erhöhung der landschaftlichen Reize. Die Tage sind aber immer noch so milde, daß ich möglichst viel im Freien bin. Ich habe jetzt nur noch drei Monatebis zum 3.2.1900, dem Tag von Wedekinds Haftentlassung aus der Festung Königstein. vor mir, dann ist die Episode zu Ende. Mein. einziger Wunsch ist, durch meine Arbeit etwas dabei zu gewinnen, d.h. weniger pekuniär, als in der Achtung des Publicums. Andernfalls ist es in Gottes Namen ein vergeudetes Jahr.

In München scheint der Dilettantismus hohe Wogen zu schlagen. Amüsant muß sich das Treiben ansehen. Hartleben schrieb mir am Abend seines Durchfalles am HoftheaterOtto Erich Hartlebens Komödie „Ein wahrhaft guter Mensch“ (1899) wurde am 24.10.1899 am Königlichen Residenztheater in München uraufgeführt (Beginn: 19 Uhr, Ende gegen 21.30 Uhr) und kam nicht gut an. In einer Münchner Besprechung (mit der Chiffre „μδι“ unterzeichnet) ist von „Zischen“ und „Pfeifen“ die Rede und geurteilt: „Noch nie, solange wir zurückdenken können, ist ein witz- und geistloseres Stück von roherer Mache über unsre vornehmste Bühne gegangen.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 102, Nr. 296, 25.10.1899, Abendblatt, S. 1] Ein anderer Rezensent konstatierte: „Man klatschte, zischte und pfiff durcheinander [...]. Woher diese Aufregung des Publikums? [...] man war allgemein enttäuscht! Daher die triumphirende Entrüstung aller Gegner der modernen Dichtung, daher die krampfhaften Anstrengungen der Freunde Hartlebens, zu retten, was doch nicht zu retten war. Das Publikum war von Anfang an verwirrt, es wurde sich nicht klar, welche Stellung es dem Stück gegenüber einnehmen sollte. [...] Das Schicksal des Stückes war schon nach dem zweiten Akt besiegelt, und so fuhr es denn, obwohl der Dichter zweimal gerufen wurde, unter Zischen und Pfeifen hinab in den Orkus.“ [Edgar Steiger: Ein wahrhaft guter Mensch. Komödie in drei Akten von Otto Erich Hartleben. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 494, 26.10.1899, Vorabendblatt, S. 2-3] eine Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Otto Erich Hartleben, Max Bernstein, Thomas Theodor Heine an Wedekind, 24.10.1899.: „Auch ich starb fürs Vaterland.“ Ich sehe daraus zu meinem Vergnügen, daß mir die Stimmung in München nicht ungünstig ist, sonst hätte er das nicht gethan. Anderseits werde ich unter der Hand von der Redaction des Simpl.Verantwortlich für die Redaktion des „Simplicissimus“ zeichnete seinerzeit Dr. Reinhold Geheeb (so in den Heften der Zeitschrift), eigentlich war aber Korfiz Holm als leitender Redakteur tätig. aus verleumdet, ich wäre unredlich gegen Langen verfahren. Ich schreibe das nur, verehrte Freundin, damit Sie sich, wenn Sie etwa per Zufall darüber hören, nicht dadurch beirren lassen. Ich habe Langen allerdings den Hals umgedreht, aber das hat er auch nicht anders um mich verdient. Und wenn er nicht zufrieden ist, kann ich ihm jederzeit noch den Rest geben. Wenn ich ihm durch meine Rückkehr die Möglichkeit genommen habe, auf Schleichwegen zurückzukommenAlbert Langen kehrte nach viereinhalb Jahren im Ausland im Frühjahr 1903 nach Deutschland zurück, nachdem einem Begnadigungsgesuch stattgegeben worden war und die sächsischen Justizbehörden ihm „ein ‚Bezeigungsquantum‘ von 20000 Mark aufgebrummt“ [Abret/Keel 1987, S. 101] hatten, das am 21.4.1903 bezahlt war [vgl. Abret/Keel 1987, S. 101: Faksimile der Quittung]., so that ich das aus purer Nothwehr.

Und nun leben Sie wohl, geehrte Freundin. Ich habe Ihnen heute fast nur von mir gesprochen, aber ich verkehre ja auch mit niemand anders. Grüßen Sie Ihren lieben Herrn Gemahl auf das allerherzlichste und seien Sie selber gegrüßt von Ihrem Ihnen in Verehrung ergebenen Freunde
Frank Wedekind.


Ich erlaube mir nur noch die eine Bitte, Sie möchten sich dem Spiegel gegenüber nicht über mich moquiren und etwa Grimassen schneiden. Umsomehr werde ich ihn beneiden, wenn er Ihnen bei der Toilette dienlich sein kann. Sollte das Muster Ihren Gefallen finden, so ist das leider nicht mein Verdienst, da Heine so freundlich war, ihn mir zu besorgenThomas Theodor Heine dürfte den Spiegel demnach beschafft haben; zunächst hat Wedekind seine Mutter gebeten, ihn zu besorgen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 27.10.1899]., doch habe ich es allerdings nicht an Instructionen fehlen lassen.
Fr. W.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Festung Königstein
    2. November 1899 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Festung Königstein
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Hamburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
21-24
Briefnummer:
163
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Informationen zum Bestand

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 2.11.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

04.10.2024 11:59