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Festung Königstein, 22.IX.1899.
Hochgeehrte Freundin,
ich hätte Ihnen gern meinen Dank gestern schon
ausgesprochen, aber ich hatte noch keine Tinte. Gestern Morgen um vier Uhr
wurde ich geweckt und von einem DetektivDie männliche Begleitperson Wedekinds ist nicht identifiziert. hierher gebrachtDie Festung Königstein, eine der größten Bergfestungen Europas, ist auf einem auf drei Seiten senkrecht aufsteigenden Sandsteinfelsen 360 Meter über dem Meeresspiegel und 246 Meter über der Elbe gebaut und liegt nordwestlich von der Stadt Königstein in der sächsischen Schweiz. Sie wurde über Jahrhunderte zu militärischen Zwecken genutzt. Im Kaiserreich waren dort insbesondere politische Gefangene wegen Majestätsbeleidigung inhaftiert., in aller
Unauffälligkeit. Die eigenthümlichen Eindrücke dieser Reise zu schildern, reicht
dies Papier nicht aus. Hier traf ich alles milder, versöhnlicher, als ich
gefürchtet. Mein Zimmer, das mit zwei Fenstern ins Grüne sieht, ist äußerst
stimmungsvoll. Ich traf den Zeichner HeineThomas Theodor Heine ‒ von ihm stammt die mit Wedekinds Gedicht „Im heiligen Land“ korrespondierende Zeichnung auf dem Titelblatt der am 25.10.1898 wegen Majestätsbeleidigung beschlagnahmten Palästina-Nummer des „Simplicissimus“ ‒ hatte sich am 2.11.1898 den sächsischen Behörden gestellt und war am 19.12.1898 in Leipzig zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden; die Strafe wurde wie bei Wedekind in Festungshaft umgewandelt und er saß seit dem 29.3.1899 wegen Majestätsbeleidigung auf der Festung Königstein [vgl. KSA 1/II, S. 1710]. In seiner „Erinnerung an Wedekind“ (am 18.3.1938 im „Prager Tagblatt“) schrieb Thomas Theodor Heine über Wedekinds Ankunft: „Eines Tages traf er auf der Festung ein. Er hatte sich in Paris seine sämtlichen Bärte abnehmen lassen, trug eine Hornbrille und sah nun ganz gut aus, wie ein besserer Schauspieler.“ [Thomas Raff (Hg.): Die Wahrheit ist oft unwahrscheinlich. Thomas Theodor Heines Briefe an Franz Schoenberner aus dem Exil. Göttingen 2004, S. 266] auch hier, der mich über das Leben
orientirte. Ich habe jetzt ebensolchen Ueberfluß an Aussicht, wie ich drei
MonateWedekind hatte sich am Abend des 2.6.1899 in Leipzig gestellt und war seitdem inhaftiert. daran Mangel litt. Im übrigen herrscht vollkommene Freiheit, mit einigen
zeitlichen, mehr formellen Einschränkungen. Ich war sehr glücklich, Ihre
freundliche Sendungdie erbetene Summe von 50 Mark, die Wedekind mit Begleitbrief (siehe unten) erhalten hat. und Ihre lieben Begleitzeilenvgl. Beate Heine an Wedekind, 18.9.1899. vorzufinden. Das schwierigste
war der Weg hier herauf, eine so schöne Bergpartie, nachdem man des Gehens so
gänzlich entwöhnt ist. Gestern abend kneipten wir bis um elf, während des Tages
hatte ich ein volles Dutzend Cigarren geraucht, so daß ich heute noch nicht
ganz über meine Kräfte verfüge. Der Wind pfeift und heult, die Thüren klappern,
die Fenster klirren; vieles erinnert michWedekind erinnert sich an Schloss Lenzburg, das ähnlich hoch gelegen war wie die Festung Königstein. an meine Jugendzeit. Eine Ordonnanz
sorgt für unser leibliches Wohl, dabei braucht man nicht mehr mit sich selbst
zu sprechen, man zählt seine Schritte nicht mehr ab, die Menschen klopfen an, wenn
sie hereinwollen, kurzum das reine Paradies. Einmal bin ich himmelhoch
jauchzend und im nächsten Augenblick hundemüde davon. Seltsam war gestern früh
die Wanderung durch Leipzig, wo mir jeder Schritt des Weges historischer BodenWedekind erinnert an die gemeinsame Zeit in Leipzig von Ende 1897 bis Sommer 1898, als er im Kreis von Beate und Carl Heine verkehrte, in der Literarischen Gesellschaft, für das Ibsen-Theater engagiert war und seine Stücke „Erdgeist“ und „Fritz Schwigerling“ („Der Liebestrank“) uraufgeführt wurden.
war, dabei stockfinstere Nacht. Natürlich hatten wir unser eigenes Coupéabgeschlossenes Eisenbahnabteil (im Unterschied zum Großraumabteil).,
rauchten aber vom ersten Augenblick an bis KönigsteinWedekinds Eisenbahnreise am 21.9.1899 mit der Sächsischen Staatsbahn von Leipzig nach Königstein ist dem Sommer-Kursbuch 1899 zufolge (Fahrpläne bis 30.9.1899) wie folgt zu rekonstruieren: Abfahrt vom Dresdner Bahnhof in Leipzig mit dem Zug Nr. 429 (der erste Zug, der fuhr) um 5.20 Uhr (Linie Leipzig – Riesa – Dresden). Ankunft am Leipziger Bahnhof in Dresden-Neustadt um 8.23 Uhr (bis hier 115,1 Streckenkilometer). Nach einem Aufenthalt (zum „Frühschoppen“ genutzt) wurde die Fahrt mit demselben Zug Nr. 429 von Dresden-Altstadt aus fortgesetzt (ab hier weitere 34,8 Streckenkilometer): Abfahrt 9.35 Uhr, Ankunft in Königstein in der Sächsischen Schweiz um 10.32 Uhr [vgl. Kursbuch für Sachsen, das übrige Mitteldeutschland, Böhmen und Schlesien. Sommer-Ausgabe 1899 (1. Mai), S. 46, 42].. In Dresden hielten wir
Frühschoppen und sprachen dabei über Hinrichtungen.
Aber was soll ich denken von Himmeleinstürzen: ich zweifle,
frage mich, glaube zu ahnen und habe vielleicht auch alles verstanden. Aber
warum würdigen Sie mich nicht Ihres Vertrauens? Zweifeln Sie an meinem Interesse
oder an meinem Verständnis? Vielleicht an beidem, weil ich in letzter Zeit gar so sehr mit mir selber
beschäftigt schien.
Plötzlich bricht die Sonne durch die Wolken und spielt in
den Blättern, dann ist die ganze Herrlichkeit nocheinmal so schön. Mein Zimmer
ist gewölbt und gelb getüncht, die Möbeln stehen vereinzelt darin umher, sie
verschwinden, es ist der reine Tanzboden. Aber Sie denken dabei an etwas
anderes; wie sollte ich Ihnen da noch mehr erzählen können; ich thue es aber
doch. Ich hatte mich sehr darauf gefreut, daß Sie nach Dresden kommen und mich
vielleicht besuchen würden. Wahrscheinlich ist Bierbaum den Winter über in
Dresden; ich dachte Sie würden dann mit ihm verkehren, er ist doch ein sehr
netter Mensch und hat eine Insel gegründetDas erste Heft der ästhetisch anspruchsvoll aufgemachten illustrierten Monatsschrift „Die Insel“ ‒ herausgegeben von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder, erschienen im Verlag der Insel bei Schuster & Löffler in Berlin ‒ kam im Oktober 1899 heraus. Es enthält eine Zeichnung von Thomas Theodor Heine (wie überhaupt die illustrative Ausstattung von ihm stammt). Er dürfte Wedekind über die neue Zeitschrift informiert haben. In der „Insel“ erschien dann von April bis Juni 1900 Wedekinds Drama „Marquis von Keith“ (unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet“)., eine neue Zeitschrift, bei der nur
die Mitarbeiter verdienen sollen. In München im alten Schauspielhaus scheint
auch wieder etwas gegründetDie Münchner Presse meldete am 5.9.1899 die Gründung eines Theatervereins unter Federführung Max Halbes am Vorabend: „Im Saale des Restaurants ‚Zur Lacke‘ fand gestern die konstituierende Sitzung zur Gründung des ‚Vereins Münchener Volksbühne‘ statt [...]. Den Vorsitz in der Versammlung führte Schriftsteller Dr. Max Halbe; Schriftsteller Steiger sprach über die Tendenzen und Ziele des Vereins. [...] Die Aufführungen werden im Münchener Schauspielhaus stattfinden, und zwar die erste am 24. September. [...] Als Vorstandsmitglieder wurden gewählt: Dr. Halbe, E. Steiger, Musikschriftsteller Wilh. Mauke, Schriftsteller Döscher, Arbeitersekretär Timm, Sturm und Kratsch, die unter sich die Aemter verteilen werden; zu Revisoren: Rechtsanwalt Dr. Bernheim, Dr. med. Lehmann und Frau Timm. Um Mitternacht wurde die Versammlung geschlossen.“ [Münchener Volksbühne. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 102, Nr. 246, 5.9.1899, Abendblatt, S. 6f.] Die Aufgabenverteilung im Vorstand (1. Vorsitzender: Max Halbe), die Ankündigung, am 24.9.1899 Arthur Schnitzlers Stück „Das Vermächtnis“ am Münchner Schauspielhaus aufzuführen, und weitere Informationen über den Volksbühnenverein wurden einige Tage darauf publik gemacht [vgl. Münchener Volksbühne. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 102, Nr. 255, 14.9.1899, Morgenblatt, S. 6]. Die genannte Premiere fand statt. zu werden, Max Halbe u. A., voraussichtlich auch mehr
zum eigenen Vergnügen als zu dem des Publikums.
Ich trage mich mit dem Gedanken, Martens zu seiner Verlobung
zu gratuliren, die er mir vor einem Jahr ankündigteKurt Martens hat Wedekind von seiner Verlobung und anstehenden Heirat geschrieben [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 5.2.1899], worauf Wedekind nicht reagierte., frage mich aber, ob er
nicht vielleicht schon verheirathetKurt Martens war seit dem 29.3.1899 verheiratet. ist. Es erscheint mir so, als ständen Sie
in gar keinen Beziehungen mehr zu ihm und Weber. Von Merian hörte ich ein
einziges Mal, und zwar von HezelDer Wedekind freundschaftlich verbundene Rechtsanwalt Dr. Kurt Hezel hat ihn am 3.8.1899 in Leipzig in der Gerichtsverhandlung wegen Majestätsbeleidigung verteidigt. während der Verhandlung in der Berathungspause,
aber nicht einmal einen Gruß. Hätte ich mir vor anderthalb Jahr träumen lassen,
daß sich dieser enggeschlossene KreisKurt Martens war Vorsitzender und Hans von Weber Schriftführer der 1895 gegründeten Literarischen Gesellschaft in Leipzig, deren Theater Carl Heine leitete [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 9.10.1897]; der Musiker und Schriftsteller Hans Merian gehörte ebenfalls zu diesem Kreis, wie dann auch Wedekind. so gründlich auflösen würde! daß sich
alles so verändern würde!
Es wäre mir eine große Freude, wenn Ihr Herr Gemahl mich
gelegentlich seines Dresdener Aufenthaltes besuchen wollte. Ich kann es ihm
kaum zumuthen, da ich so wenig zu bieten habe, aber mir wäre es eine große
Freude. Ich müßte freilich vorher Nachricht haben, damit ich um Erlaubnis
einkommen kann, die zweifellos gewährt wird.
Nun leben Sie wohl und schreiben Sie mir bitte bald in meine
Einsamkeit, wo ich Zeit habe, so reiflich über alles nachzudenken. Grüßen Sie
Herrn Doctor aufs beste und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem Ihnen ganz
ergebenen
Frank Wedekind.
[2. Zitat in J. A.
Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]
Gestern Morgen um vier Uhr wurde ich geweckt und von
einem Detektiv hierher gebracht, in aller Unauffälligkeit. Die eigentümlichen
Eindrücke dieser Reise zu schildern reicht dies Papier nicht aus. Hier traf ich
alles milder, versöhnlicher, als ich gefürchtet. Mein Zimmer das mit zwei
Fenstern ins Grüne sieht ist äußerst stimmungsvoll. Ich traf den Zeichner Heineauch hier, der mich über
das Leben orientirte. Ich habe jetzt ebensolchen Überfluß an Aussicht, wie ich
drei Monate deren Mangel litt. Im übrigen herrscht vollkommene Freiheit, mit
einigen zeitlichen mehr formellen Einschränkungen [...]