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München, 19.IV.1898irrtümlich datiert (Wedekind war am 19.4.1898 mit dem Ibsen-Theater auf Gastspieltournee, nicht in München; der Briefinhalt deutet auf den Sommer), statt: 19.7.1898..
Liebe, sehr geehrte Frau Doctor,
Nachdem ich in Leipzig alles besorgtWedekind dürfte bald nach dem 3.7.1898 von Leipzig abgereist sein (siehe unten), jedenfalls nach seinem Besuch des Mitteldeutschen Bundesschießens, das vom 3. bis 10.7.1898 in Leipzig stattfand [vgl. Wedekind an Beate Heine, 14.8.1898]., trat ich Mittwochder 13.7.1898. Wedekind meldete sich den Tag darauf (14.7.1898) unter der früheren Adresse wieder in München an: Türkenstraße 69, 2. Stock [vgl. EWK/PMB Wedekind]. früh
unangemeldet hier an. Mein früheres Zimmerin der Türkenstraße 69 (2. Stock). Wedekind hatte dort schon einmal gewohnt ‒ laut den An- und Abmeldedaten des polizeilichen Meldebogens vom 23.8.1896 bis 25.4.1897 [vgl. EWK/PMB Wedekind]. traf ich, wie ich es vor zwei Jahren
verlassen. Mein Freund Richard hatte einen Studenten, der es bewohnte, schon
vor acht Tagen hinauswerfen lassen. Mein erster Gang war zu Martens, den ich in
einem Meer von Wonne schwimmend antraf. Er hat von München noch sehr wenig
gesehen und gehört, beschwört aber, in keiner anderen Stadt mehr leben zu
können. Abends waren wir mit Weber, ihm und Richard auf dem Kellernicht eindeutig bezeichnetes Münchner Bierlokal., auf dem ich
vor zwei Jahren mit Morgenstern, Panizza, Halbe und anderen so manchen Maßkrug
geleert. Vorgesternam 17.7.1898 (Sonntag). Offenbar sah Wedekind seinen und Frida Strindbergs Sohn, den inzwischen fast ein Jahr alten Friedrich Strindberg, hier das erste Mal. Den Sonntag darauf stattete Wedekind Frida Strindberg erneut einen Besuch ab [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898]. Nachmittag war ich in Tutzing bei Frau S.Frida Strindberg; wahrscheinlich steht hier in der Handschrift der abgekürzte Name: Fr. St. [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232]. und sah mir die
Folgen meiner Gewissenlosigkeitsein unehelicher Sohn (siehe oben), ironisch formuliert. an. Ich hatte hier von allen Seiten schon
rühmen hören, kein Mensch, der mir hier begegnete und mir nicht erzählte, daß
er ihn auf dem Arm gewiegt und welch ein stattlicher Bengel es sei, aber ich
muß gestehen, ich war trotzdem überrascht. Das beste war, daß wir vom ersten
Moment an wie zwei alte Spießgesellen miteinander verkehrten, die sich seit
zwanzig Jahren in- und auswendig kennen. Ich gebrauchte meinen robustesten Ton,
fluchte französisch und englisch, ohne daß es mir gelungen wäre, ihn einzuschüchtern. Er strahlt vor Lebensfreude, ist aber
ungemein ruhig und heult nie. Etwas ist sehr bedenklich, daß ihm, sobald er in
Betrachtung versinkt, die Zunge zum Munde heraushängt. Seine Mutter zog ihn auf
dem Divan aus und präsentirte ihn mir wie ein Juwelir, der auf dem Ladentisch
seine Ware anpreist. Dabei hing ihr Auge angstvoll an meinen Lippen, ob ich
nicht vielleicht doch etwas auszusetzen finden könnte. Ich fand offen gesagt
nichts.
Jeden Abend, den Gott werden läßt, gehe ich ins TheaterWedekind dürfte vor allem Vorstellungen im Münchner Schauspielhaus besucht haben; am 14.7.1898 wurde dort Arthur Schnitzlers „Liebelei“ aufgeführt [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 318, 14.7.1898, General-Anzeiger, S. 1], am 15.7.1898 Gerhart Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“ [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 320, 15.7.1898, General-Anzeiger, S. 1], am 16.7.1898 Max Halbes „Jugend“ [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 322, 16.7.1898, General-Anzeiger, S. 1]..
Dank der Wiederaufrichtung, die ich bei Ihnen in Leipzig erfahrenWedekind war in Leipzig als Dramaturg und Schauspieler (Pseudonym: Heinrich Kammerer) Mitglied des Ibsen-Theaters (Direktion: Carl Heine) gewesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408], das zuletzt am 1.7.1898 seinen Schwank „Fritz Schwigerling“ („Der Liebestrank“) uraufgeführt hat (Regie: Carl Heine); die zweite und letzte Vorstellung fand am 3.7.1898 statt: „Das Ibsen-Theater schließt heute seine Vorstellungen mit der einmaligen Wiederholung von Frank Wedekind’s originellem Schwanke Fritz Schwigerling.“ [Ibsen-Theater. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 331, 3.7.1898, 8. Beilage, S. (5071)], dank dem was
ich bei Ihnen gelernt, habe ich meine helle Freude an Allem, ob es gut oder
schlecht ist; es bleibt immer das Interesse und das Gefühl, in seinem Elemente
zu sein.
München strahlt jetzt im goldensten Sonnenlicht und ich
wünsche Ihnen sehr, daß es bei Ihnen ebenso sein möge, denn Sie können es doch
wol noch besser brauchen als ich hier in einer Stadt, die an Cafés und
Restaurants wol die reichste der Welt ist. Wie geht es Ihnen? Kommt es Ihnen
nicht doch vielleicht etwas zu still vor? Ich muß gestehen, daß ich gerade
jetzt am allerwenigsten Sehnsucht nach einem LandaufenthaltWo Beate Heine den Landaufenthalt bei Verwandten verbrachte, ist nicht ermittelt. hätte. Uebrigens
vergesse ich dabei, daß Sie im Kreise lieber Verwandter sind, die Sie so lange
nicht mehr gesehen haben; und dann ist es ja auch nur die Vorstufe zu dem
Glück, das in HelgolandHelgoland war das Sommerdomizil von Carl und Beate Heine. Ihrer harrt. Ich hoffe, daß ich hier sehr viel arbeiten
werde, aber ebensosehr zweifle ich noch daran, da mir der wohlthuende Zwang
sowol wie die Ruhe fehlt, die ich beide Herrn Doctor verdankte. Den Erdgeist
schicke ich, sobald meine Bücherkiste hier eingetroffen. Ich sage Ihnen nicht Adieu,
sondern auf baldiges Wiedersehen. Ich kann mich meines Optimismus nicht
erwehren. Gelingen meine PläneWedekind suchte im Münchner Theaterbetrieb Fuß zu fassen und seine Stücke auf die Bühne zu bringen. hier nicht, dann um so schlimmer.
Mit den herzlichsten Grüßen ganz der Ihrige
Frank Wedekind.
[2. Zitat in J. A.
Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]
Vorgestern Nachmittag war ich in Tutzing bei Fr. St. und
sah mir die Folgen meiner Gewissenlosigkeit an. Ich hatte hier von allen Seiten
schon rühmen hören, kein Mensch, der mir hier begegnete und mir nicht erzählte,
daß er ihn auf dem Arm gewiegt und welch ein stattlicher Bengel es sei, aber
ich muß gestehen, ich war trotzdem überrascht. Das beste war, daß wir vom
ersten Moment an wie zwei alte Spießgesellen miteinander verkehrten, die sich
seit zwanzig Jahren in- und auswendig kennen [...] Seine Mutter zog ihn auf dem
Divan aus und präsentirte ihn mir, wie ein Juwelier, der auf dem Ladentisch
seine Ware anpreist. Dabei hing ihr Auge angstvoll an meinen Lippen, ob ich
nicht vielleicht doch etwas auszusetzen finden könnte. Ich fand offen gesagt
nichts [...]