Kennung: 9

Lenzburg, 27. Oktober 1883 - 28. Oktober 1883, Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Greyerz, Minna von

Inhalt

Erst dies lesen!

Schloß Lenzburg, GeisterstundeDie Stunde zwischen Mitternacht und 1 Uhr früh – passend zum Inhalt des Gedichts..


Liebe Cousine,

Daß ich Dir in allem Ernste zumuthe, beiliegendes langes PoemaWedekinds Gelegenheitsgedicht „Die Ästhetische Caffeevisite“ [vgl. die Beilage], das er zu Minna von Greyerz’ Geburtstag verfasste. von vorn bis hinten durchzulesen, ist eigentlich nur Folge davon, daß ich Dir die Kritik vo Deiner G. versprochen und letzten Sonntagden 21.10.1884 – Frank Wedekind, Minna von Greyerz und (bis zum 14.10.1883) auch Armin Wedekind trafen sich im Herbst regelmäßig an ihren freien Sonntagnachmittagen [vgl. Minna von Greyerz an Frank Wedekind, 14.10.1883]. schon vom Anfang des G/g/anzen Opus geplaudert hatt/b/e. Da ich nun mit Recht hoffte, Dich am Sonntag, daßs wäre morgenSonntag, den 28.10.1884., wiederzusehn, so drängte mich mein Pflichtgefühl doch, | Das angefangene Geschreibsel zu vollenden. Die ersten 4 Seiten waren vorhanden, und heute dichtete ich in der Eile die folgenden 12 dazu. Sollt’ ich Dich in der Beurtheilung Deiner G. irgend wie beleidigt haben, so bitte ich schon im Voraus um Verzeihung. Doch so viel kann ich Dich versichern, daß ich mit gutem Gewissen zu Gr/e/richt gesessen bin. Das WeltschmerzpoemaWedekind fügte die 3 Strophen seines Gedichts „Die Schöpfung“ (Frühjahr 1883), in den Schlussteil des Widmungsgedichts „Die Ästhetische Caffeevisite“ ein [vgl. S. 17-18]. am Ende des Gedichtes hab’ ich hineingeflickt, weil der Satznicht ermittelt. drin vorkommt, der Dich so sehr zu interessiren schei/ie/n. Ich glaube aber kaum, daß du Dich so weit durcharbeiten wirst, denn wenn ich mir vorstellen, wie langweilig mir sogar, dem Autor, das das ganze Machwerk vorkommt, | So wag’ ich kaum, mich dem Urtheil Anderer zu unterziehen. – Also Gnade und Barmherzigkeit laß walten einem armen Sünder gegenüber, der im Schweiße seines Angesichts auf Commando dichtendanlässlich des Geburtstags Minna von Greyerz’ am 27.10.1883. keine Perlen zum Tage förderte! Und wenn Du das Gedicht zu lesen angefangen hast und die Geduld will Dir reißen, denn Du siehst immer noch kein Ende, wie der besorgte Seemann auf hohem Meer Tag für Tag vergebens nach Land ausschaut, dann erinnere Dich des Reimund’schen VersesVerse des österreichischen Dramatikers Ferdinand Jakob Raimund; in dessen romantischem Zaubermärchen „Der Bauer als Millionär“ (1826) singt die Jugend: „Scheint die Sonne noch so schön, Einmal muß sie untergehn.“ Diese Verse wurden durch Heinrich Heine im Vorwort zu seinem „Buch der Lieder“ umgedichtet zu: „Und scheint die Sonne noch so schön, Am Ende muß sie untergehn.“ [DHA 1/1, S. 566].:


„Und scheint die Sonne noch so schön,
Am Ende muß sie untergehn.“


Ich wünsche DirEs dürfte sich hier um Wedekinds Glückwünsche zu Minna von Greyerz’ Geburtstag (27.10.1883) handeln. also gutes Glück, Gottes Segen und recht viel Sonnenschein auf all Deine Lebenswege ,! | Und damit verabschiede ich mich, denn des ist bereits 1 Uhr, und mein Bett steht noch leer. Meine schlechte Schrift mußt Du verzeihen, denn sie steht einmal da und alles Reclamiren würde nichts mehr nützen. Übrigens hab ich heute schon sehr viel geschrieben, was noch ein weiterer Entschuldigungsgrund ist.

Gute Nacht! schlaf wohl!
Morgen auf Wiedersehn!
Träume süß, liebe Minna!


Dein Franklin a/g Zephyr.


[Beilage:]

Meiner lieben Cousine
Minna von Greyerz


Eine ästhetische Caffeevisite. |


Wol gibt es Gespenster.
Sie schleichen sich sacht
Durch Thüren und Fenster
In finsterer Nacht.
Sie kommen und gehen,
Bevor wir erwacht,
Und haben uns herrliche
Träume gebracht. ––

[Finisschnörkel] |


Da trat sie ein. In ihren Blicken
Las ich die Freuden dieser Welt,
Auf ihren Lippen das Entzücken,
Das Menschen fest zusammen hält.
Das Diadem in ihrem Haare,
Hell strahlt’ es – da erkannt’ ich sie,
Die Königin der Jugendjahre,
Die schöne Göttin Poesie.


„O, sei mir tausend Mal willkommen!
Hier steht ein Canapee; komm, setz’ dich hin.
Und wenn du artig Platz genommen,
Dann, wunderbare Königin,
Erzähl’ mir alles, was seit Anbeginn
Der Zeit, die wir uns nicht gesehen,
In Deinen Reichen Interessantes ist geschehen.“


Die Göttin nahm die Laute von der Wand
Und ließ sich vornehm auf den Sopha nieder, |
Drauf stimmte ihre kunstgeübte Hand
Die schlaffgeword’nen Saiten wieder.
Es rauschten ihre zarten Finger in den Strängen
Mit einer Fertigkeit, die Ihr nicht kennt;
Und aus dem neubelebten Instrument
Floß ein bewegtes Meer von wundervollen Klängen.


Jetzt aber leg ich meine Feder hin.
Denn, ach, mit welchen Worten, welchen Bildern
Könnt’ ich die zauberhaften Töne schildern,
Die aus der Kehl’ ihr strömten?! – Nein ich bin
Zu schwach zu solchem Werke. Tiefbeschämt
Laß ich in diesem Fall mein Schweigen reden
Und bitte unterthänigst einen Jeden
Von Euch, daß Ihr es mir nicht übel nehmt.


Ich hatte unterdessen den Kaffee
Gekocht, und als er nun tiefbraun und klar
Im feinsten Porzellan bereitet war,
Setzt’ ich mich ebenfalls aufs Canapee.
Noch sang und spielte sie geraume Zeit, |
Ich aber, zur Erhöhung der Gemüthlichkeit,
Hätt’ gern mir ’ne Cigarre angezündet.
Jedoch ein Blick von meiner Königin
Bracht’ unerwartet wieder mir zu Sinn,
Daß Rauchen sie höchst unpoetisch findet.


Derweilen war aus strammen Duraccorden
Durch manche Fuge, reich und wundervoll,
Ihr Spiel zur süßen Phanthasie geworden,
Die bald in trübem, grambewegtem Moll,
Bald leichthin tändelnd sich zum Herzen schleicht,
Und hat sie dort der Saiten Zarteste erreicht,
Dieselbe unbarmherzig läßt erklingen,
Daß uns die Thränen in die Augen dringen. –
So ging’s auch mir: Ich spürte schon das Nasse
Im Augenlied. Es war die höchste Zeit;
Sie sollt’s nicht sehn. – In der Verlegenheit
Griff hastig ich nach meiner Caffeetasse. –
Was half’s? Die Göttin hatte sich bereits
An meiner Rührung schadenfroh geweidet
Und so ihr Ziel erreicht; auch ihrerseits
Sich selbst das Melancholische verleidet. |


Durch wunderbares Zwischenspiel –
Ich wage nicht, es kritisch zu behandeln –
Ließ sie die Sehnsuchtsklänge voll Gefühl
In eine lust’ge Tanzmusik sich wandeln.
Da ward mir plötzlich sonderbar zu Muth:
Schnell fuhr ich auf aus düst’ren Träumen;
Ich sah im Geiste mich in weiten Räumen,
Erhellt durch vieler Lampen lichte Gluth.
Rasch ging der Tact, noch rascher floß mein Bluth.
Die Göttin recitirt’ in schönen StanzenElfsilbige, jambische Achtzeiler mit der Reimfolge abababcc.
Ein Epos„Frühe epische Großform in gebundener Sprache, die sich bevorzugt erhabener Stoffe wie Götter- und Heldensagen oder ‚großer‘ historischer Ereignisse bedient und sie in pathetisch-feierlichem Stil wiedergibt. Den Beginn der abendländischen Epentradition markieren Homers »Ilias« und »Odyssee‘.“ [KSA 1/II, S. 1476]., doch ich hörte nur den Schall.
Mir war’s, als dürft’ ich auf dem TurnerballIm Sommer 1883 wurde das kantonale Turnfest, das mit einem Turnerball endete, von der Stadt Lenzburg ausgerichtet. Die Presse berichtete: „Den würdigen Schluß des Festes bildete ein recht gelungener Ball in den geräumigen Gemeindesäälen, an welchem sich cirka 60 vom Comite offiziell eingeladene Damen und ca. 70 Herren betheiligten. – Die letzten Gäste waren die mit so brillantem Erfolg gekrönten Aarauer, welche Abends halb 6 Uhr verreisten. Eine Anzahl Lenzburger Turner ließ es sich nicht nehmen, dieselben bis nach Aarau zu begleiten.“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 29, Nr. 175, 26.7.1883, S. (2)] Schon am Vortag hieß es in einer Kurzmeldung: „Am 24.7.1883, Abend 6 Uhr. Rückkehr der Turner aus Lenzburg [Aargauer Nachrichten, Jg. 29, Nr. 175, 25.7.1883, S. (2)].
Mit Fräulein BarckAnny Barck, die Freundin Minna von Greyerz, besuchte Ende Juli 1883 ihre Freundin Minna von Greyerz in Lenzburg, wo Wedekind sie kennenlernte und sich in sie verliebte. noch einen Walzer„als bezeichnung eines drehtanzes im ¾ takt (verwandt mit dem dreher, schleifer, auch ländler, von denen er sich durch ein rascheres tempo unterscheidet, auch deutscher tanz“ [DWB Bd. 27, Sp. 1437]. tanzen.
So träumt’ ich denn in meinem Geist
Von Walzer, Schottisch„Auch Schottisch-Walzer oder Ecossaisen-Walzer genannter Paartanz, der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem beliebten Modetanz entwickelte. Die Bewegungsfolge besteht aus einem Wechselschritt mit anschließendem Hüpfer.“ [KSA 1/II, S. 1477], PolonaisenFeierlich geschrittene Promenaden der Paare im 3⁄4-Takt. Sie sind als Eröffnungstänze bei großen festlichen Bällen bis heute beliebt. „Auch Schottisch-Walzer oder Ecossaisen-Walzer genannter Paartanz, der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem beliebten Modetanz entwickelte. Die Bewegungsfolge besteht aus einem Wechselschritt mit anschließendem Hüpfer.“ [KSA 1/II, S. 1477];
Sah, wie der ganze Saal im Wirbel kreist,
Und wie ich selbst der Glücklichste gewesen,
Und wie mir meine güt’ge LehrerinAnny Barck hatte Wedekind die Tanzschritte beigebracht [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883].
Die kleinen Schritte explicirte,
Und wie ich doch unsterblich mich blamie/r/te,
Da ich durchaus kein leichter Tänzer bin. – |


Die Göttin intonirt’ indessen Stück für Stück
Auf ihrer Laute wie mit Klarinett’ und Flöthen,
Mit Paukenbiblisches Zitat: „Und David und das ganze Israel tanzten vor Gott einher mit aller Macht und unter Gesängen, mit Zithern, Harfen, Pauken, Cymbeln und Trompeten.“ [1. Chronik 13,8] – Cymbeln sind antike Schlaginstrumente, die aus zwei hohlen Becken bestehen., Cymbeln und Trompeten –
Es war die reinste Regimentsmusik.
Da plötzlich – eben spielte sie
’ne schöne Polkamelodie, ––
Brach jählings sie mit einem Mißklang ab,
Der weithin schrillend durch die Saiten kreischte;
Schnell fiel aus meinem Himmel ich herab,
Da mir der Jammerton das Ohr zerfleischte.
Und als ich vollends dann erwachte,
Da saß ich wieder auf dem Canapee
Bei meiner Königin. Es dampfte der Kaffee,
Sie aber sah mich höhnisch an und lachte. ––


Jedes Ding hat einst ein Ende:
Daß ich, stas/t/t in schweren JambenVersfuß; eine unbetonte und eine betonte Silbe.
Weiter meine Bahn zu trampen,
Zu TrochäenVersfuß; Gegenstück zum Jambus: eine betonte und eine unbetonte Silbe. nun mich wende,
Wird mir gnädigst wol verziehen; |
Denn für solche Poesieen,
Wie sie mir im Kopfe liegen,
Muß die Feder schneller fliegen
Und mit ewig heiter’m Sinn,
Wie die schöne Tänzerin,
Die auf Schillers gottgeweihten
Brettern, dieDie sprichwörtliche Bezeichnung des Theaters als Bretter, die die Welt bedeuten, prägte Schiller in seinem Gedicht „An die Freunde“ [vgl. Schiller 2/I, S. 225f.]. die Welt bedeuten,
Leichten Fußes sich bewegt,
So auf leichten Füßen springen,
Daß ihr Tanzen, daß ihr Singen
Freudig unser Herz erregt. –


Ja, ich war auch ganz begeistert:
Eben hatten noch die Klänge
Und der Göttin Tanzgesänge
Meiner Sinne sich bemeistert, –
Sieh, da wußte sie mein Ohr
Schon aufs Neu’ zu unterhalten,
Denn aus des Gewandes Falten
Zog sie nun ein BuchMinna von Greyerz’ Buch ist nicht überliefert. hervor,
Das aufs Schönste eingebunden |
War in rothem SaffianZiegenleder.,
Und mit Goldschnitt angethan.
Auf der ersten Seite stunden
Weng’eSchreibversehen, statt: Wen’ge. Wort in großen Lettern,
Daß in diesen Palmenblättern
Uns entdeckt ihr großes Herz
Fräulein Minna von Greyerz. –


Und gleich sah man, daß ein wilder
Genius in dem Buche weilt’,
Denn ohn’ Ordnung d’rum vertheilt
Waren viele Abziehbilder:
Männer, Frauen, kleine Kinder,
Thiere, Pflanzen und nicht minder
PostillioneSchreibversehen, statt: Postillone. – Gemeint sein dürfte hier die Schmetterlingsart (Tagfalter)., Bürstenbinderauch Bürstenspinner (Orgyia), ein Gattung von Nachtfaltern.
Alles, was den Geist belebt,
Fand man hier in bunten Reihen
Einzeln, paarweis und zu Dreien
Durcheinander aufgeklebt.


„Richte, was drinn ist, |
Nicht nach der Hülle! –
Was voller Sinn ist,
Lebt in der Stille.
Oft trägt, was Klarheit ist,
Närrisch’ Gewand.
Wo keine Narrheit ist,
Wohnt kein Verstand!“


Diese tiefgedachten Worte
Sprach zu mir mit vielem Pathos
Meine Göttin, als ich rathlos
Stets noch an des Buches Pforte
All’ die zarten, wundernetten,
Bunten TitelviniettenSchreibversehen, statt: Titelvignetten – Verzierungen des Titelblatts.
Stummen Mund’s betrachtete
Und sie halb verachtete. ––


Als ich aber mit der Hand
Nun die Blätter umgewandt,
Da entdeckt ich eine Menge
Schöner Lieder und Gesänge,
Sprüche, die von Weisheit schwer, |
Worte, die uns wider Willen
Oft aus tiefstem Herzen quillen
Und noch vieles andre mehr.
Da entdeckte ich Gedanken,
Welche nur in trüben Stunden,
Tief, im Schmerzgefühl der Wunden,
Wenn wir, fast verzweifelnd, wanken,
Aus dem Kopf heraus sich ranken. –
Alles was uns hier im Dasein
Nur bemerkenswerth erscheint,
Mag es ferne, mag es nah sein,
War in diesem Buch vereint. –


Aber als ich nunmehr fragte,
Wie sie denn das alles fände,
Was darin geschrieben stände,
Hub die Göttin an und sagte:


„Die Sonne sinkt im Westen nieder
Und steigt im fernen Ost empor. –
Ein ganzer Frühling sproßt hervor.
Er grünt und blüht und welket wieder. – |


Auf unabänderlicher Bahn
Ziehn durch den Weltraum die Planeten,
Und ewig singen die Poeten
Von Liebesglück und Liebeswahn.


Die Erde fliegt mit ihren Polen
Dahin in tausendjähr’ger Spur.
Das ganze Weltall siehst du nur
Die eig’nen Wege wiederholen.


Jedoch des Menschen Geist allein
Bleibt immer neu und unergründet.
Was sich in Deiner Seele findet,
Das wird dir stets ein Räthsel sein.


Denn wie der Schiffer auf dem Meer
Vergebens sucht den Grund zu sehen,
So ist’s dem Menschen doppelt schwer,
Ein tiefes Herze zu verstehen.


Hier aber tritt es schön zu Tage
In kunstgerechtem Strophenbau:
Des Lebens Fröhlichkeit und Plage,
Das alles spiegelt sich genau. |


Du siehst, wie Leidenschaften kämpfen
In sturmbewegter Fluthen Gischt;
Bis die Vernunft, die Gluth zu dämpfen,
Mit ihrer Weisheit drein sich mischt.


Aus tiefempfundenen Sonn/e/ttenaus 4 Strophen (2 Quartette und 2 Terzette) bestehende Gedichtform mit länderspezifisch unterschiedlichen Versmaßen. – Die Sonette der Freundschaft sind nicht überliefert.
Der Freundschaft kannst du klar ersehn,
Wie sich zwei Herzen eng verketten,
Die sich begreifen und verstehn.


Wie sich zwei Herzen innig lieben
Und, ob auch Jahre fließen hin,
In unabänderlichem Sinn
Sich ohne Wanken treu geblieben. –


Zwar sind noch holprig oft die Wege,
Als ging es durch den dicht’sten Wald.
Doch steht zu hoffen, daß recht bald
Der kleine Übelstand sich lege.


Hingegen was mir auf der Stelle
Gefiel, und was ich fand noch nie,
Das ist das ganz Originelle
In dieser Freundschaftspoesie: |


Nichts schleppt die Dichterin uns her
Von überird’schem Liebeswesen
Man sieht, sie hat nicht viel gelesen,
Doch dafür denkt sie desto mehr.


Auch PessimismusZur Pessimismus-Diskussion Wedekinds vgl. auch seine Korrespondenzen mit Oskar Schibler, Adolf Vögtlin und Olga Plümacher. find’st du nicht;
Obschon es Mode jetzt geworden,
Daß man von frechem Selbstermorden,
Von tiefer Weltverachtung spricht.“


(Ich schlug beschämt die Augen nieder
Als plötzlich ich dies Wort vernahm,
Das ihr aus tiefster Seele kam,
Und dacht’ an meine Weltschmerzliederlyrische Dichtungen im Stile Nikolaus Lenaus und Lord Byrons. Wedekind dürfte an seine Gedichte „Die Rache“, „Weltschmerz“, „Auf der Brücke“, „Winter“ und „Ende“, alle 1880/81 entstanden, gedacht haben, kritisch distanziert er sich von dem Stil in den Gedichten „An die Weltschmerzler“ und „Änderung“ (1882/83) [vgl. KSA 1/I, S. 1000]..)


„Nein, wahre, sittliche Moral,“
Fuhr ungestört die Göttin weiter.
„Und froher Lebensmuth spricht heiter
Aus ihren Worten überall.


Rein sieht man die Gedanken quillen;
Die Form zwar könnte besser sein. |
Die Dicht’rin soll den neuen Weinbiblische Redewendung „Man füllt auch nicht jungen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißen die Schläuche [...]. Jungen Wein füllt man in neue Schläuche, dann bleibt beides erhalten.“ [Matthäus 9, 17-18].
Nicht in die alten Schläuche füllen.


Nein, neue Schläuche schaffe sie
Für ihren Wein in voller Gährung.
Dann wird wol auch der Welt Verehrung
Nicht fehlen ihrer Poesie.


Selbst Götter werden niedersteigen
Und horchen auf der Laute Klang.
Der ganze Himmel wird sich neigen
Vor ihrem herrlichen Gesang.


Sie wird die Sterblichen erheben
Durch ihre Weisen, stark und schön. –
Dann werd’ auch ich herniederschweben
Von des Olymposder höchste Berg Griechenlands; in der griech. Mythologie der Sitz der Götter. lichten Höh’n;


Und mich erfreu’n an ihren Tönen,
An ihrer Rede tiefem Sinn,
Und mit geweihtem Lorbeer krönen
Die Stirne meiner Priesterin. –[“]


Die Tassen hatt’ ich unterdessen frisch gefüllt, |
Und als die Göttin nun mit ihrer Rede fertig,
Und ihren Durch/s/t durch einen guten Schluck gestillt,
War ich des Weiteren gewärtig.
Sie aber sah mich eine Weile forschend an;
Ironisch lächelnd sprach sie dann:


„Mein Bester, jetzt gestatt’ ich dir“ –
Und gnädig senkte sie dabei die Wimpern –
„Auf deiner Dichterharphe mir
Auch einmal etwas vorzuklimpern.“ –


„Ach, meine Göttin“, sprach ich „ich kann Ihnen
Ja nur mit Weltschmerzliedern dienen!“


„Thut nichts!“ sprach sie, und ich griff schnell
In die von ihr gestimmten Saiten, |
Um mit Accorden, voll und hell,
Die Klageworte zu begleiten:


Halte das LebenMit dieser und den beiden nachfolgenden Strophen zitiert Wedekind sein bereits im Frühling 1883 entstandenes Gedicht „Die Schöpfung“ [vgl. KSA 1/I, S. 180; (Kommentar) KSA 1/II, S. 1352]. – Das Motiv vom Leben als Traum ist durch Pedro Calderón de la Barcas Versdrama „La vida es sueño“ (1636; dt.: Das Leben ein Traum) bekannt. Dem erkenntnistheoretischen Topos kommt in Schopenhauers Philosophie („Die Welt als Wille und Vorstellung“), die Wedekind vertraut war, ein zentraler Stellenwert zu. für einen Traum!!
Was nützt dir alle Philosophie?!
Verschling den ganzen Erkenntnißbaum,
Du findst doch die ewige Wahrheit nie.
Und wenn ich Himmel und Hölle früge,
Sie sprächen: Die Wahrheit ist eine Lüge!


Wahrheit ein eit’les Hirngespinst!
Und eitel sind Recht und Gerechtigkeit! –
Versuch, ob du sie bei den Göttern gewinnst! –
Auf Erden herrschet die Schlechtigkeit.
Sie ruht in der Schöpfung geheimsten g/G/ewalten,
Und/Sie/ wird die Welten auf ewig erhalten. |


Frag, wie das Übel entstanden sei?!
Todt lag das All in friedlichem Grab,
Bis daß mit grausamer Barbarei
Ein Gott dem Staube das Leben gab. –
So zeugte am Sechsten der SchöpfungstageNach der Schöpfungsgeschichte schuf Gott am 6. Tag den Menschen „zu seinem Bilde [...] als Mann und Weib“ [Genesis 1, 27].
Der erste Frevel unendliche Plage!“ –


So sang ich zu dem Schmerzgewimmer
Der weichen Laute mein Gedicht.
Ein leises Rauschen durch das Zimmer
Das störte meine Worte nicht.


Doch als der letzte Ton verklungen,
Und ich mich umsah, ward mir klar,
Daß, während ich mein Lied gesungen,
Die Poesie verduftet war. –


[Finisschnörkel mit Schlusspunkt]

Franklin Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 11 Blatt, davon 22 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Brief: Kariertes Papier 2 Blatt. 4 Seiten beschrieben. 13 x 21 cm. Beilage: 1 Heft mit 10 Blatt. 18 Seiten beschrieben. Seitenmaß 18 x 23 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf das Titelblatt der Beilage sind oben links ein Efeublatt (Symbol für ewige Freundschaft) und auf die untere Hälfte einen Lorbeerzweig (Symbol für Ruhm und Ehre) geklebt. Letzterer hat sich teilweise vom Papier gelöst und dabei Umrisse und Schatten hinterlassen. Nur noch schemenhaft lässt sich ein ehemals nach oben rechts ragender Zweig erkennen – möglicherweise ebenfalls Lorbeer. Auf den Seiten 2 und 3 der Beilage befindet sich ein spiegelgleicher Artefakt im Papier.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Schreibdatum (die Nacht vom 27. auf den 28.10.1883) ergibt sich aus inhaltlichen Implikaten – Wedekind verfasste den Brief an einem Samstag („Sonntag, das wäre morgen“), gratulierte Minna von Greyerz zum Geburtstag (am Samstag, den 27.10.1883, wurde sie 22 Jahre alt) und legte ein Gelegenheitsgedicht („Die ästhetische Caffeevisite“) für sie bei, das er im Laufe des Tages vollendet hatte. – Die nächtlichen Zeitangaben im Brief („Geisterstunde“ und „1 Uhr“) dürften zur Inszenierung des Gedichts gehören.

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
349-357.
Kommentar:
Die Beilage ist auch abgedruckt in KSA 1/I, S. 102-110. Kommentar in KSA 1/II, S. 1474ff.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Historisches Museum Schloss Lenzburg

CH-5600 Lenzburg
Schweiz
Schloss Lenzburg

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
D 532 und D 539 (Beilage)
Standort:
Historisches Museum Schloss Lenzburg (Lenzburg)

Danksagung

Wir danken dem Historischen Museum Schloss Lenzburg für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Minna von Greyerz, 27.10.1883 - 28.10.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

02.01.2024 19:57