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Paris, 7.I.1899.
Liebe verehrte Freundin,
heute Mittag bringt mir mein Wirthnicht identifiziert. ein PaketDen Inhalt des Pakets mit Weihnachtsgeschenken für Wedekind hat Beate Heine ihm in ihrem Begleitbrief erläutert [vgl. Beate Heine an Wedekind, 20.12.1898]. aufs Zimmer,
ich weiß nicht ob ich mich mehr freute oder mehr erschrak, als ich es öffnete. Sie
werden beides begreifen. Am 22.December verließ ich Zürich. Ich mußte abreisen, da ich in Zürich
nicht arbeiten konnte und arbeiten mußte; so setzte mich Langen auf die Bahn
und schickte mich hierher und meine Adresse schrieb ich erst nach Neujahr an
meine Wirthin in ZürichWedekind wohnte in Zürich (Leonhardstraße 12, 2. Stock) im Haus von Gertrud Schwann [vgl. Wedekind an Frida Strindberg, 4.11.1898], verzeichnet als Frau E. Schwann (Leonhardstraße 12) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich für 1899, Teil I, S. 502]; seine Zimmerwirtin in Zürich war die Gattin seines alten Bekannten Mathieu Schwann [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 31.10.1898]..
Wie soll ich Ihnen nun für alles danken! Die wunderschöne
Mappe. Ich habe sie genau durchstudirt, und mich bei jeder neuen Entdeckung
mehr gefreut. Wenn ich sie irgendwo brauchen kann, so ist es hier in Paris. Nur
fürchte ich mich, sie in Gebrauch zu nehmen, weil sie mir wirklich aufrichtig
leid thut. So habe ich sie auch heute noch nicht mitgenommen (ich schreibe
nämlich im Café de la Regence, wo vor 150 Jahren Casanova saßWedekind war dem Café de la Régence (seit 1854 in der Rue Saint-Honoré 161), das zu Zeiten Casanovas noch Café de la Place du Palais-Royal hieß, auch in einer seiner Lieblingslektüren begegnet, in Casanovas Memoiren (dort ist im Kapitel über seine Ankunft in Paris ein Besuch in einem Kaffeehaus im Palais Royal geschildert). Casanova verkörperte für Wedekind Hedonismus [vgl. KSA 4, S. 455]. In seinem neuen Drama (siehe unten), dem noch in Zürich begonnenen Dramenentwurf „Ein Genußmensch“, den er in Paris in neuer Konzeption als „Ein gefallener Teufel“ (Urfassung des „Marquis von Keith“) fortschreibt, gibt es ein „Casanova-Theater“ [KSA 4, S. 67]., en face de la
Comédie Francaise(frz.) gegenüber der Comédie-Française.) aber den nächsten Brief schreibe ich Ihnen gewiß aus der
Mappe selbst. Sie ist zu bequem eingerichtet und wird mein ganzes DramaWedekind arbeitete an „Ein gefallener Teufel“ [KSA 4, S. 77-148], der Urfassung des „Marquis von Keith“ (1901). Er hatte mit der Arbeit an dem Drama in Zürich begonnen und setzte sie in Paris fort [vgl. KSA 4, S. 411-413]. in sich
herumschleppen müssen. Feder und Bleistift, ich bitte Sie, liebe Freundin, was
fällt Ihnen denn ein. Alles was ich an Luxus auf dem Leibe trage, verdanke ich
Ihnen.
Wollen Sie mir es glauben, daß ich augenblicklich noch die
Handschuhe trage, die Sie mir letzten Winter schenkten, und nun bekomme ich
schon wieder neue von Ihnen. Und dann die Kravatten! Ich bin wie Sie wissen
nicht verwöhnt in dieser Beziehung, ausgenommen von Ihnen, und ich kann mich
darüber auch nicht beklagen, denn ich bin selber, wie ich weiß, ein lässigervermutlich Überlieferungsfehler; Beate Heine, die in ihrem nächsten Brief an Wedekind, der handschriftlich überliefert ist, aus dem vorliegenden Brief zitiert, schreibt hier: lästiger [vgl. Beate Heine an Wedekind, 18.1.1899].
und ziemlich platonischer Freund. Das ist nicht Mangel an Herz, aber die
Lebensweise. Ich habe neulich ausgerechnet, daß ich im Lauf der letzten zwei
Jahre ‒ unsere
TournéeWedekind war von Leipzig aus als Mitglied des Ensembles mit Carl Heines Ibsen-Theater von Frühjahr bis Sommer 1898 auf Gastspieltournee gewesen. nicht mitgerechnet, die für mich
doch nur eine Vergnügungsfahrt war, wie ich sie vielleicht nie wieder mitmachen
werde ‒ 19mal
meinen Wohnsitz gewechselt habe, meistens gezwungener Weise, wie jetzt auch
wieder. Ich möchte das nur als Entschuldigung anführen, da man durch das
Bewußtsein, jeder Ruhe zu entbehren, nachlässig seinen Freunden gegenüber wird.
So haben Sie dieses Neujahr nicht einmal eine Zeile von mir bekommen; das fällt
mir jetzt zehnfach schwer auf die Seele. ‒ Die Makronen habe ich, verzeihen Sie mir den
Vandalismus, auf einen Sitz verschlungen, da ich noch nicht gefrühstückt hatte.
Ich habe aber gewiß bei jeder einzelnen nur an Sie gedacht. Den Kalender trage
ich in der Westentasche.
Sie sind nun gar nicht mehr indignirt über das praktische
Theatertreiben. Glauben Sie mir auch, daß man nichts dabei verliert, indem man
trotz Zaza und AllheilBeate Heine hatte Wedekind von dem französischen Sittenstück „Zaza“ (von Pierre Berton und Charles Simon) und der musikalische Radfahrerposse „All Heil!“ (von Richard Manz) am Carl Schultze-Theater in Hamburg berichtet [vgl. Beate Heine an Wedekind, 20.12.1898], dem neuen Wirkungsort ihres Gatten Carl Heine, der sich als Regisseur nun mit der Inszenierung populärer Bühnenstücke konfrontiert sah. doch bleibt was man ist und doch wol als Lebensfactor
wächst ohne es zu merken. Wenn Ihr Herr Gemahl jetzt
Literatur auf die Bühne bringt, so hat er damit doch wol eine stärkere Wirkung
als früher. Daß Leipzig mit Ihnen Alles verloren hat, ist mir dabei doch vollkommen klar und habe ich auch schon von anderer Seite gehört.
Was mich betrifft so habe ich genau genommen keinen Grund,
mich bemitleiden zu lassen. Ich thue nur Langen gegenüberWedekinds Verhältnis zu seinem Verleger Albert Langen war geprägt durch die „Simplicissimus“-Affäre, wegen der er am 30.10.1898 aus München floh, um der Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung zu entgehen. gewöhnlich so. Im
übrigen spiele ich ein ziemlich opportunistisch frivoles Spiel mit ihm. Ich
kann mir das in Momenten der Aufrichtigkeit nicht verhehlen. Meine SachenWedekinds Gedichte für den „Simplicissimus“ (von Albert Langen verlegt und herausgegeben). muß
er mir jetzt königlich bezahlen und dabei habe ich es so eingerichtet, daß ich
einen Tag, d.h. einen Abend, drei Stunden pro Woche zu arbeiten habe. Die
übrige Zeit gehört mir und ich könnte sie sehr gut anwenden, wenn ich in Zürich
dieses verdammte Drama nicht angefangen hätte. Ich habe es noch nicht gelernt,
zugleich in meinen Geschäften und mit einer größeren Arbeit thätig zu sein. Sie
haben ganz recht, wenn Sie mir davon abraten, den Erdgeist zu verfolgen; aber
der Erdgeist verfolgt mich und daran ist doch in erster Linie Ihr Herr Gemahl
schuldCarl Heine hat am 25.2.1898 in Leipzig den „Erdgeist“ uraufgeführt, das erste Stück Wedekinds auf einer Theaterbühne überhaupt.. Ich habe auch in MünchenWedekinds Tragödie „Der Erdgeist“ hatte am 29.10.1898 im Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg), wo Wedekind als Dramaturg, Sekretär und Schauspieler angestellt war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443], Premiere. Stollberg mit keiner Sylbe zugeredet, ihn
aufzuführen. Die junge Welt wäre mir viel lieber gewesen. Aber das erste,
wonach man mich hier in Paris fragte, war ErdgeistDie Pariser Presse hatte über die drohende Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung im „Simplicissimus“ und Wedekinds Flucht aus München nach der Premiere des „Erdgeist“ berichtet [vgl. Le Figaro, Jg. 44, Nr. 319, 15.11.1898, S. 4], gerafft: „Pour avoir raillé dans le journal Simplicissimus le voyage en Palestine de Guillaume II, M. Frank Wadekind qui cumule les fonctions d’artiste dramatique, d’auteur et de journaliste, a failli être arrêté le soir de la première de sa piece intiluée Erdgeist, dans un théâtre de Munich. Le directeur ayant obtenu des agents qu’ils sursoiraient à l’arrestation de M. Wedekind jusqu’à la fin de la représentation, l’auteur-acteur trouva le moyen de s’enfuir et de passer à l’étranger.“ [Le Monde artiste, Jg. 38, Nr. 47, 20.11.1898, S. 750]. Wenn ich mich nicht
täusche, ist die UebersetzungWer vor Jean Giraudoux (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Jean Giraudoux) begonnen hat, Wedekinds „Erdgeist“ in das Französische zu übersetzen, ist nicht ermittelt. bereits in der Mache. Ich kümmere mich nicht
darum und frage nicht darnach. Aber ich werde die Leute auch nicht ausdrücklich
daran hindern. Das fatale ist nur, daß das Interesse immer eine Art Skandal
InteresseDie Presse in Zürich vermerkte die Majestätsbeleidigungsaffäre, zum Beispiel in folgender Notiz: „Redaktor Langen und sein Mitarbeiter Wedekind, welche im ‚Simplizissimus‘ Kaisers Palästinafahrt ausgehöhnt hatten, sind nach Zürich entflohen und wollen sich hier häuslich niederlassen.“ [Zürcherische Freitagszeitung, Nr. 45, 11.11.1898, S. (1)] Albert Langen schrieb Anfang November 1898 an seine Frau Dagny Björnson: „Ich bin ja in allen Zeitungen ‒ die Sache nimmt ja eine ungeahnte Ausdehnung.“ [Abret/Keel 1987, S. 193] ist. So war es in Zürich, wo acht Tage nach meinem Eintreffen in der
Zeitung standDie Pressenotiz über eine geplante „Erdgeist“-Aufführung in Zürich ist nicht ermittelt. In der Presse war allerdings für den 6.12.1898 im Grand Hotel Bellevue ein vom Akademischen Leseverein veranstalteter 1. Literarischer Abend mit Wedekind angekündigt: „Mitglieder des Stadttheaters [...] sowie der Schriftsteller Frank Wedekind werden uns durch Gesang und Rezitationen erfreuen.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 119, Nr. 337, 5.12.1898, 2. Abendblatt, S. (1)] Der Abend fand statt., der Erdgeist solle gegeben werden am Volkstheater. Ich habe mich
garnicht darum gekümmert und so unterblieb die Geschichte.
Kurz und gut, ich habe den Eindruck, ich käme hier auch mit
meinen BaletenBallette, Wedekinds Tanzpantomimen, insbesondere die vom Autor explizit genannte Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ [vgl. Wedekind an Beate Heine, 15.12.1898]. jetzt ziemlich rasch vorwärts, wenn ich meine Arbeit nicht
hätte. Aber ich kann es nicht lassen. Ich will es noch einmal versuchen, etwas
Praktisches, Brauchbares für die Bühne zu schaffen. Gelingt es mir diesmal
nicht, dann lasse ich es vielleicht für mein ganzes Leben.
Am ersten Tage kam ich hier bei einem Bekannten mit einem
Impresario und Theateragenten Strakosch zusammen, dem Sohn des Impresarios der
PattiDer in Paris tätige Impresario Robert Strakosch war der Sohn des am 10.10.1887 in Paris verstorbenen Maurice Strakosch (und dessen Frau, der Sängerin Amelia Patti), der als Impresario der berühmten Operndiva Adelina Patti bekannt gewesen ist (sie war seine Schwägerin). Wedekind kam am 23. oder 24.12.1898 mit Robert Strakosch zusammen.. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Ihnen den Mann irgendwie nutzbar
machen könnte. Dazu gehört freilich, daß ich ihn öfter treffe und bis jetzt
habe ich noch alles Gesellschaftliche vermieden. Ich habe weder die alte Herwegh
noch sonst irgend jemand meiner früheren Bekannten aufgesucht. Sylvesterabend
war ich bei Meier-GräfeDer Schriftsteller und Kunsthistoriker Julius Maier-Graefe, bei dem Wedekind Sylvester 1898 verbrachte, lebte seit 1895 überwiegend in Paris.. Gegen voriges JahrSylvester 1897 feierte Wedekind mit weiteren Bekannten in Leipzig bei Carl und Beate Heine. bei Ihnen war es ziemlich ledern,
obschon er ein äußerst liebenswürdiger Mann ist ‒ handelt übrigens auch mit
Theaterstücken.. Ich empfinde wie gesagt meine Arbeit als eine furchtbare
Fessel und arbeite deshalb so rasch als möglich. So wie ich jetzt bin, bin ich
gesellschaftlich und geschäftlich untauglich.
Den fascinirenden Eindruck von Paris habe ich nie so
empfunden wie jetzt. Ich lebe den ganzen Tag auf der Straße. Wie herrlich wird
das werden, wenn Sie hierherkommen. Ich freue mich ungemein darauf.
Augenblicklich wohne ich auf dem Mont Martre, werde aber in den nächsten Wochen
wieder ins Quartier Latin ziehen, da das Leben dort billiger und bequemer ist. Auch
herrscht allgemein ein feinerer Ton, als in der Umgebung von Moulin Rouge. Grétor
habe ich noch nicht gesehen, seine ganze Reise nach | Wien schien erlogen zu
sein. Er schickte von Paris aus einige Bilder an LangenAlbert Langen plante eine Kunstauktion seiner Gemäldesammlung und schrieb in diesem Zusammenhang seiner Frau Dagny Björnson am 8.11.1898 aus Zürich über Willy Gretor: „Es ist ja auch möglich, daß ich noch eine Menge guter Bilder von Grétor bekomme [...]. Er wird froh sein, eine günstige Gelegenheit zu haben, Bilder verkaufen zu können“ [Abret/Keel 1987, S. 196-198]., scheint sich aber
gegenwärtig in London aufzuhalten. Wenigstens schrieb er mirvgl. Willy Gretor an Wedekind, 10.11.1898. von dort
aus. Hier traf ich verschiedene seiner Bekannten, zu denen auch Strakosch
gehört, dann der Mensch, der meinen Erdgeist unter den Fingern hat. Am ersten
Abend meines hiesigen Aufenthaltes war ich in Folies Bergêre, sah Eugenie FougèreWedekind sah Eugénie Fougère (genannt Foufou, was lautlich an Lulu anklingt) am 23. oder 24.12.1898 im berühmten Pariser Cabaret Les Folies Bergères. Er war beeindruckt von der extravaganten Varietékünstlerin, der er in der Szene I/4 seiner Tragödie „Der Erdgeist“ (1895) ein Denkmal gesetzt hat: „LULU Ich nahm Stunden bei Eugenie Fougère. Sie hat mich auch Kostüme kopieren lassen. SCHWARZ Wie sind denn die? LULU Grünes Spitzenröckchen bis zum Knie, ganz in Volants, dekolletirt natürlich, sehr dekolletirt und fürchterlich geschnürt. Hellgrüner Unterrock, dann immer heller. Schneeweiße Dessous mit handbreiten Spitzen“ [KSA 1/I, S. 332]. Die Stelle hat Wedekind in der letzten Fassung des „Erdgeist“ (1913) ‒ Jahre nach der spektakulären Ermordung der mondänen Künstlerin am 20.9.1903 im Badeort Aix-les-Bains ‒ noch eindeutiger auf ihre Person bezogen, indem Lulu die Äußerung zu ihrer Lehrerin mit dem Satz „Ich habe in Paris gelernt“ beginnt und nun ausdrücklich „ihre Kostüme“ [KSA 1/I, S. 417] sagt. Bereits in der Urfassung „Die Büchse der Pandora“ (1894) war sie präsent: „LULU In der letzten Zeit nahm ich Unterricht ‒ bei Eugénie Fougère ‒ die Beine thaten mir noch ein halbes Jahr nachher weh ‒ sie hat mir auch Kostüme gezeigt. ‒ ‒ ‒ Sie hatte mich gern“ [KSA 1/I, S. 164].,
etwas verwildert, nahm aber keine Gelegenheit unsere Bekanntschaft zu erneuern.
Sonst habe ich noch kein Theater besucht und kann Ihnen vorderhand noch nichts
darüber erzählen. Sehr interessirt hat mich Ihr Urtheil über Fuhrmann Henschel.
Wie lange wird diese unfreundliche düstere Museder Naturalismus. noch herrschen. Auch Mauthners
UrtheilFritz Mauthner hat bei aller Wertschätzung Gerhart Hauptmanns in seiner Besprechung der Buchausgabe und der Uraufführung des „Fuhrmann Henschel“ am 5.11.1898 am Deutschen Theater in Berlin kritische Akzente gesetzt. Man könne über beides nicht sprechen, ohne „wieder einmal das Schlagwort des Naturalismus“ zu gebrauchen, auch wenn der Autor nun „ein sehr berühmter Schriftsteller“ sei. Würde man sich die Handlung in ein bürgerliches Milieu versetzt vorstellen, dann wäre das Stück „nicht mehr und nicht weniger als das übliche Ehebruchsdrama, noch dazu eines mit einer melodramatischen Einleitung und einem ebenso melodramatischen Ausgang.“ Abschließend bemerkte er, „daß der Gebrauch der angeblich echten Mundart ein falscher Realismus ist; sprächen Hauptmanns Bauern ganz echt, so würden die meisten Besucher des Deutschen Theaters sie nicht verstehen.“ [Fritz Mauthner: Fuhrmann Henschel. In: Berliner Tageblatt, Jg. 27, Nr. 567, 7.11.1898, Abend-Ausgabe, S. (1-2)] war ziemlich kühl und ließ auf Umschlag der Witterung schließen. Und
dabei dieser grandiose Erfolg! Und nun leben Sie wohl, verehrte Frau. Ich weiß
nicht, wie ich Ihnen Ihre Güte danken soll. Auf jeden Fall danke ich Ihnen für
die liebe freundliche Erinnerung, die Sie mir bewahren und die für mich etwas
ist, das ich so ziemlich über alle Güter der Erde schätze. Manchmal komme ich
mir doch etwas vor wie der Ewige Judein der europäischen Kulturgeschichte aus der christlichen Mythologie stammende Symbolfigur, die für ewige Wanderung durch die Zeiten steht, für jemanden, dem keine Ruhe und Sesshaftigkeit vergönnt ist. Wedekind hatte dieses Motiv in seinem am 4.10.1898 im „Simplicissimus“ unter dem Titel „Opportunistische Zweifel“ veröffentlichten Gedicht aufgenommen, dessen Auftakt lautet: „Ich, der alte Ahasver, / Habe große Eile, / Zu verscheuchen wünscht’ ich sehr / Meine Langeweile“ [KSA 1/I, S. 496].. Verzeihen Sie mir die Sentimentalität,
die Sie in mir hervorrufen, aber jedenfalls ist das Gefühl daran schuld, daß
ich die Freundschaft, die Sie mir bewahren, sehr hoch zu schätzen weiß. Grüßen
Sie aufs herzlichste Ihren verehrten Herrn Gemahl, für den ich die
aufrichtigsten Wünsche für das kommende Jahr und für alle folgenden hege. Ich
habe auch die feste Ueberzeugung, daß sie in Erfüllung gehen werden. Ihnen,
verehrte Freundin, schicke ich die Versicherung meiner treuesten Ergebenheit.
Indem ich von ganzem Herzen ein baldiges frohes Wiedersehen herbeisehne, bin
ich Ihr sehr getreuer und ergebener
Benjamin
(ich werde den Namen nächstens als Pseudonym im Simpl.Wedekinds Pseudonym Benjamin steht am 7.3.1899 unter seinem Gedicht „Des Dichters Klage“ [KSA 1/I, S. 513-515] im „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 50, S. 394].
acceptirenannehmen..)
[2. Zitat in J. A.
Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]
Den fascinirenden Eindruck von Paris habe ich nie so
empfunden wie jetzt. Ich lebe den ganzen Tag auf der Straße. Wie herrlich wird
das werden, wenn Sie hierherkommen. Ich freue mich ungemein darauf.
Augenblicklich wohne ich auf dem Mont Martre, werde aber in den nächsten Wochen
wieder ins Quartier Latin ziehen, da das Leben dort billiger und bequemer ist
[...]
Am ersten Abend meines hiesigen Aufenthaltes war ich in
Folies Bergère, sah Eugenie Fougère, etwas verwildert, nahm aber keine
Gelegenheit unsere Bekanntschaft zu erneuern. Sonst habe ich noch kein Theater
besucht und kann Ihnen vorderhand noch nichts darüber erzählen. Sehr
interessirt hat mich Ihr Urtheil über Fuhrmann
Henschel. Wie lange
wird diese unfreundliche düstre Muse noch herrschen. Fritz Mauthners Urtheil war ziemlich kühl
und ließ auf Umschlag der Witterung schließen. Und dabei dieser grandiose
Erfolg!