Paris 4, rue Crébillon.
29. III. 93.
Lieber
Herr Muth,
die
DurchreiseElias Tomarkins Reise nach London konnte nicht ermittelt werden. meines Freundes Tomarkin aus Zürich ließ mich Ihnen gestern nicht
sofort antworten. Herzlichen Dank für Ihre freundliche Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Muth an Wedekind, 26.3.1893.. Kurz nach Ihrer
Abreise besuchte mich Herr MollDer Neurologe Albert Moll hielt sich wiederholt in Paris auf. Wedekind las nachweislich sein Buch „Die konträre Sexualempfindung“ [Berlin 1891; vgl. Kutscher 1, S. 337]., den ich seither gelegentlich verschiedener
Begeg|nungen von Herzen schätzen gelernt habe. Henriette, wenn Sie trotz der
schönen Mädchen von TrastevereDamals Vorstadt, heute Stadtteil von Rom westlich des Tiber. Muth hörte 1893 an der Universität Rom Vorlesungen in Kunstgeschichte und Geschichte. Er verfasste dort „Römische Briefe“, die im „Mainzer Journal“ erschienen. Die Via del Babuino, Muths Adresse in Rom, liegt nicht in Trastevere, sondern östlich des Tiber., um die ich Sie beneide, noch einiges Interesse
für sie bewahrt haben, ist todtHenriette Jolis Todesdatum liegt zwischen diesem Brief und dem vorhergehenden Kartenbrief vom 1.1.1893, als Muth noch in Paris weilte.. Meine Gefühle können Sie sich vorstellen. Der
liebenswürdigen Rachel schulde ichWedekind lernte Rachel am 5.6.1892 im Bal Bullier kennen; die fast täglichen Tagebucheinträge für die Monate Juni und Juli 1892 zeugen von einer intensiven sexuellen Beziehung auf Geldbasis, die im Juli abflaute und emotionale Verwerfungen mit sich brachte. Die nach der Tagebuchlücke von August bis November überlieferten Einträge für den Dezember 1892 belegen, dass Wedekind sich bemühte, ihr aus dem Weg zu gehen. Rachel litt, ebenso wie Henriette Joli, an Tuberkulose [vgl. Tb 18.12.1892]. noch einen Louis. Derselbe steht wie ein
CerberusMehrköpfiger Hund in der griechischen Mythologie, der den Eingang zur Unterwelt bewacht. | zwischen mir und ihr. Wir grüßen uns schon kaum mehr. So bin
ich Wittwer und geschiedener MannWedekind unterhielt 1892 zeitgleich sexuelle Beziehungen zu Henriette Joli und Rachel. Über eine Nacht mit Rachel schrieb er, er sei eingeschlafen „mit einem Bon soir ma petite femme, das sie mit einem Bon soir mon mari erwidert“ [Tb 18.12.1892]. zugleich.
Ich
lege Ihnen Carten an Tomarkin und HenckellDie Karte an Elias Tomarkin ist nicht überliefert; vgl. erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Tomarkin, 29.3.1893. Bei der Karte an Karl Henckell handelt es sich um die Beilage zu diesem Brief, die auch separat ediert ist [vgl. Wedekind an Henckell, 29.3.1893]. bei für den Fall daß Sie Zürich besuchen.
Gehen Sie, da ich Henckells Adresse nicht genau weiß zuerst zu TomarkinDie Überlieferungslage legt nahe, dass Muth sich an Wedekinds Rat hielt.. Er
würde Sie auch ohne die Carte auf das freundlichste empfangen. Er war auf
der | Durchreise nach England zwei Tage hier und ich habe ihn auf Ihren
Besuch aufs beste vorbereitet. Sollten Sie die Züricher Gesellschaft etwas
schweigsam finden, so machen Sie meine Empfehlung nicht dafür verantwortlich.
Es liegt in der Luft. Die Herren verständigen sich unter einander schon fast nur
mehr vermittelst der Gebärdensprache. – Und nun noch einmal herzlichen Dank für
Ihre Liebenswürdigkeit. Viel Glück auf dem Weg und Herzenswärme für das sonnige
Italien.
Mit
herzlichem Gruß Ihr Fr. Wedekind
[am linken Rand:]
Vielleicht
schreiben Sie mir gelegentlich wieder, aus Zürich oder noch woher, wenn Sie
eine freie Minute finden.
[Beilage:]
Paris
29. III. 93.
Lieber
Carl,
ich
habe dir noch für dein BuchUm welches Buch es sich hier handelt, konnte nicht ermittelt werden. Zeitlich am nächsten waren erschienen: Buch der Freiheit. Gesammelt und herausgegeben von Karl Henckell. 2 Bände [in 1 Bd.]. Berlin 1893 und: Aus meinem Liederbuch. München 1892. Möglich ist auch: Diorama. Zürich 1890, das Wedekind Muth vorstellte: „In Henckells Diorama findet er nur diejenigen zwei Gedichte schön, auf die ich ihn zufällig aufmerksam gemacht habe.“ [Tb 3.12.1892] nicht gedankt, so großen Genuß es mir bereitet. In
Herrn Carl Muth empfehle ich dir einen verständnißvollen Verehrer Deiner
Dichtungen, einen lieben Freund von mir und | zukünftigen RedacteurSchon in Paris schrieb Muth für das „Mainzer Journal“ und knüpfte Kontakte zu „Le Figaro“ und „La Libre Parole“. Nach einem Volontariat bei der Zeitung „Germania“ in Berlin wurde er Redakteur und Schriftleiter von „Der Elsässer“ in Straßburg, dann Chefredakteur und Herausgeber von „Alte und Neue Welt“ im schweizerischen Einsiedeln. 1903 gründete er „Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst“, die er bis zu ihrem Verbot 1941 leitete. Muth war einer der profiliertesten katholischen Publizisten seiner Zeit., der
um seinen Beruf um so gewissenhafter erfüllen zu können, vorher noch einmal die
Welt durchwandertMuth wollte ursprünglich Missionar werden. Er besuchte daher zunächst von 1880 bis 1882 die Schule der Gesellschaft des Göttlichen Wortes („Steyler Missionare“) im niederländischen Steyl und dann von 1882 bis 1884 die Missionsschule der Gesellschaft der Missionare von Afrika („Pères Blancs“ = „Weiße Väter“) in Algier. Wedekind kommentierte Muths diesbezügliche Erzählungen: „Er ist in den Niederlanden, in Spanien in Italien und Africa gewesen, ohne daß ihm was Bemerkenswerthes dabei aufgefallen wäre.“ [Tb 3.12.1892]. – Bei Thomars Besuch habe ich herzlich bedauert daß du nicht
mitgekommen. Mich zieht mein Herz jetzt nach EnglandAm 23.1.1894 reiste Wedekind von Paris nach London und blieb dort bis Mitte Juni 1894.. – Mit den besten Grüßen
dein treuer Fr. W.
BENJ.
FRANK WEDEKIND
4, rue
Crébillon
[Kuvert:]
Italie +++é
Monsieur
Charles Muth.
Via BabuinoGemeint ist die Via del Babuino in Rom, östlich des Tiber. 76. p. 2.
Roma.
[am linken Rand:]
Expedié
par(frz.) Absender. Fr. Wedekind
4, rue Crébillon.