OJB
Pasing
20.2.6.
Lieber Frank!
Was sagst DuOtto Julius Bierbaum und Wedekind, die sich in der vorangehenden Korrespondenz gesiezt hatten, duzten sich seit knapp zwei Monaten – Wedekind notierte am 24.12.1905 in Berlin: „mit Weinhöppel und Bierbaum im Tucherbräu Bierbaum und ich machen Brüderschaft.“ [Tb] zu der Simplicissimus-RevolutionRevolution hier als ironischer Begriff für einen Umsturz überkommener Verhältnisse (scherzhaft: Palastrevolution); die Revolte in der Redaktion des „Simplicissimus“ am 17.2.1906, der finanziell ertragreichen Zeitschrift, gegen den Alleinbesitzer Albert Langen [vgl. Abret 1993, S. 106-113] – da „begehrten sie auf, die Mitarbeiter, die Zeichner und die Dichter, und forderten ein nahrhaftes Stück an dem Gewinn, der zur Verteilung stand. Ja, sie frondierten.“ [Abret/Keel 1987, S. 119f.] Sie forderten eine Gewinnbeteiligung durch Umwandlung des „Simplicissimus“ in eine G.m.b.H. und stellten ein Ultimatum (die wichtigsten Mitarbeiter würden gehen und ein eigenes Konkurrenzblatt gründen), auf das Albert Langen einging; vorbereitet war die Sache von Thomas Theodor Heine (siehe unten), „dem sich die anderen Mitarbeiter anschlossen“ [Pöllinger 1993, S. 118], der am 17.2.1906 allerdings krank war und Ludwig Thoma (siehe unten) die Verhandlungen mit dem Verleger führte und einen Kompromiss erzielte: „Langen standen 50%, den übrigen Mitarbeitern und Redakteuren zusammen ebenfalls 50% am Reingewinn zu“ [Pöllinger 1993, S. 118]. Das Geschehen hat Thomas Theodor Heine in einem ausführlichen Brief vom 19.2.1906 an Dagny Langen geschildert [vgl. Abret/Keel 1987, S. 120-124].? Oder – weißt
Du überhaupt davon? Unser Freund Langen hüllt sich in den
Mantel des Sozial-Geringsten und thut, als habe
er freiwillig die G.m.b.H. begründetAlbert Langen veröffentlichte im nächste Heft eine Notiz, in der es heißt: „Die letzte Nummer des Simplicissimus wurde in weit über 100,000 Exemplaren abgesetzt. [...] Es liegt auf der Hand, daß hierdurch auch der geschäftliche Nutzen, den der Verleger aus dem Blatt zieht, bedeutend wachsen muß. Der Simplicissimus hat das, was er geworden ist, zum großen Teile seinen ständigen Mitarbeitern und seinen Redakteuren zu verdanken, die ihre Kraft dem Blatte seit dessen Gründung ausschließlich gewidmet haben. In dieser Erkenntnis habe ich beschlossen, die Mitarbeiter des Simplicissimus am Reingewinn zu beteiligen und zu Mitbesitzern des Blattes zu machen. Der Gewinn wird in Zukunft zu gleichen Teilen zwischen mir und den Mitarbeitern geteilt. Diese Neuerung war praktisch am besten zu lösen durch Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, in deren Verlag der Simplicissimus vom 1. April 1906 ab erscheint.“ [Albert Langen: In eigener Sache. In: Simplicissimus, Jg. 10, Nr. 48, 26.2.1906, S. 570]. In Wahrheit liegt die Sache so, daß
die Simplizissimus-Leute mit Hans von Weber einen Eventualvertrag gemacht
hatten, wonach, wenn L. nicht sofort auf Alles eingegangen wäre, ein anderes
Blatt mit dem Titel „Peter Schlemihlnach Adelbert von Chamissos Kunstmärchen „Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte“ (1814); der „Titel ‚Peter Schlemihl‘“ [Pöllinger 1993, S. 118] für das nicht realisierte Konkurrenzblatt zum „Simplicissimus“ wird auch in einem unveröffentlichten Brief von Thomas Theodor Heine an Ludwig Thoma vom 3.3.1906 genannt, der weitere Einzelheiten des Ultimatums an Albert Langen diskutiert [vgl. Abret 1993, S. 111].“ | und H. v. W. als Direktordas nicht realisierte Konkurrenzblatt „Peter Schlemihl“ (siehe oben) von Hans von Weber geleitet – sein Name ist bisher, soweit ermittelt, in der Literatur zur „Simplicissimus“-Revolte (siehe oben) nicht erwähnt. Hans von Weber dürfte der Gewährsmann von Otto Julius Bierbaum gewesen sein, die Quelle seiner Schilderung der Zusammenhänge. zu erscheinen
begonnen hätte. Alle, bis auf J. B. Englder Zeichner Josef Benedikt Engl, seit der Gründung 1896 bis zu seinem Tod ständiger Mitarbeiter des „Simplicissimus“ [vgl. Pöllinger 1993, S. 432]., hatten unterschrieben, und Alles war vorhanden
dazu: 1.) eine Million und sodann bereits Bureaux etc. etc. Bei diesem Anblick
ließ sich Langen gefesselt in die G.m.b.H. Simplizissimus abführen – unter Bedingungen,
die nicht leicht schmerzlicher sein können. Vor Allem: die Hälfte
des Reingewinns, außer den früheren Gehältern etc., gehört den Mitarbeitern. L.
aber ist – Geschäftsführer. – Erinnerst Du Dich an unser Gesprächnicht ermittelt. im
Nymphenburger Park? Wer hat nun Recht? L. ist mit Heine und Thomader Zeichner Thomas Theodor Heine, „der Anführer der Frondeure“ [Abret/Keel 1987, S. 120] in der „Simplicissimus“-Revolte, seit der Gründung der Zeitschrift 1896 einer der erfolgreichsten Mitarbeiter, und Ludwig Thoma, der „Verhandlungsführer“ [Pöllinger 1993, S. 118] bei der Revolte, am 1.11.1899 als literarischer Mitarbeiter eingestellt und zum 1.4.1900 als Redakteur sowie kurz darauf als Chefredakteur [vgl. Pöllinger 1993, S. 17-30]. nicht
fertig geworden, sondern sie mit ihm. – Die Sache war von langer Hand vorbe|reitet.
Außer H. v. W. waren noch drei andre Figuren bereit, den Peter Schlemihl zu
gründen. L. war völlig ahnungslos. Er sieht jetzt aus wie ein zerquetschter
Käse.
Ich kann nicht leugnen, daß ich mich freue,
es erlebt zu haben, daß er seine Meister gefunden hat. – Wie
ich Ursache habe, zu glauben, tröstet er sich mit der Hoffnung auf eine
RestaurationWiederherstellung der alten Verhältnisse, die im Zuge einer Revolution beseitigt worden sind – insofern politischer Komplementärbegriff zur Revolution (siehe oben)., weil er meint, es werde ohne ihn nicht gehen. Darin wird er sich
zweifellos täuschen. Thoma und Heine ergänzen sich aufs Beste als die zwei
Consuln der neuen Re|publikmetaphorische Fortführung der ironischen politischen Rhetorik (siehe oben) in Anspielung auf die Geschichte des antiken Roms, die Konsuln als höchste Staatsbeamte in der römischen Republik. „Die Institution des Konsulats, die stets kollegial mit zwei Personen besetzt wurde, geht auf die Zeit nach dem Sturz der Monarchie zurück, doch ist umstritten, ob sie unmittelbar eingerichtet wurde oder erst nach einer gewissen Übergangsphase.“ [Brodersen/Zimmermann 2006, S. 307], und L. hat nur noch zu fürchten, daß sie ihm auch
noch den Rang ihres Finanzministers nehmen werden.
Daß ich von Dir gar nichts vernehme, außer was in den
Blätternin den Zeitungen. steht, und daß dieses mich fürchten läßt, nach Berlin
reisen zu müssen, wenn ich Dich sehen will
(wonach mich sehr verlangt)
thut mir recht leid. Ich war in der letzten Zeit krank und tief verdrossen.
Jetzt ist es besser.
Ich grüße Dich mit Gemma
herzlichst
Dein
Otto Julius