München, Wotanstr. 44Otto Julius Bierbaum lebte wieder in München (Wotanstraße 44) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1904, Teil I, S. 55], in der Nähe seiner letzten Wohnung (Wotanstraße 50) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1902, Teil I, S. 52]..
31. Aug. 1903.
Lieber Herr Wedekind,
Ich sende Ihnen hier meinen, wie ich bekennen muß, ziemlich
oberflächlichen Versuch über Sie als DramatikerOtto Julius Bierbaums Feuilleton „Frank Wedekind, der Dramatiker“ aus der „Frankfurter Zeitung“, die Briefbeilage, ist nicht erhalten. Wedekind ist darin als bewunderter Antipode des naturalistischen Theaters charakterisiert, der stilprägend auf die Moderne gewirkt habe, dessen begeistert gefeierte Eigenart aber nicht abschließend beschrieben werden könne: „Der Naturalismus hat der Bühne eine Reihe höchst sauber gearbeiteter Werke geschenkt, die nur allesamt keine Dramen waren. Dichtungen wie die beiden Teile von ‚Lulu‘ nehmen sich daneben roh, ja wüst aus, aber es sind wirkliche dramatische Dichtungen. Keine Lebensbilder, sondern Leben selber sind sie. Offenbarungen einer Kraft, die nicht bloß zum Abbilden, sondern zum Zeugen geschickt ist. [...] Wedekinds Dramen erinnern an die der vorshakespearischen Bühne. Aber man darf oft genug auch an Shakespeare selber denken [...]. Er ist eine Kraft ohnegleichen unter uns, und wo eine solche Kraft einmal gewirkt hat, gibt es Nachwirkungen. Kraft entfesselt Kraft. Mit diesem Trank im Leibe verträgt das Publikum auf die Dauer weder bühnenlyrische Limonaden, noch die Schnapsneigen des dramatischen Elends. [...] Wer nur einen Hauch dramatischen Geistes als Schaffender in sich hat, der wird mit Frohlocken erkennen, daß das Tor zum großen [...] Drama wieder aufgestoßen worden ist [...]. Man wird nicht fertig mit diesem Frank Wedekind. In keinem Betracht. Er ist kein Literat, sondern eine Natur.“ [Otto Julius Bierbaum: Frank Wedekind, der Dramatiker. In: Frankfurter Zeitung, Jg. 47, Nr. 227, 17.8.1903, Morgenblatt, S. 1-2], indem ich Sie
bitte, den guten Willen als Milderungsgrund für seine Schwächen gelten
zu lassen und jedenfalls das Eine daraus zu entnehmen, wie sehr ich Ihre dichterische
Kraft und Kunst bewundere.
Mit besten Grüßen
Ihr
Otto Julius Bierbaum