Ständige Adresse: Leipzig, Lampestraße 3.
p. ad.
Herrn Dr. Heine.
Lieber Herr Eisenschitz,
ich danke Ihnen herzlich für Ihre Carte. Während den letzten
zwei Jahren erhielt ich zu verschiedenen Malen Ihre Adresse von Ihnen
zugeschickt, meine Verhältnisse waren aber so unbeständiger Natur, daß ich mich
scheute darauf zu reagiren indem ich selten wußte wo ich vierzehn Tage später
sein werde. Ich sehe daß Sie wissen, daß ich mich consolidirt habe und auch ich
sende Ihnen, als liebem Collegen, meine besten Grüße. Vielleicht sehen wir uns
früher wieder als ich | [...] | Tage schicke ich Ihnen eine Kritik über die
Erdgeistaufführung zu; augenblicklich habe ich keine bei der Hand. ‒ Es thut mir sehr leid,
daß ich Ihnen über meinen von mir sehr geliebten Bruder nicht mehr schreiben
kann. Jedenfalls würde er sich sehr freuen, von Ihnen zu hören. Es ist wie gesagt
lediglich meine Schuld, indem ich im Kampfe um eine entsprechende Position die
Correspondenz in den letzten Monaten vernachlässigt habe.
Es freut mich sehr, daß ich Sie als Collegen begrüßen darf.
Wenn wir nach Wien kommen, sind Sie sicher, daß mich mein erster Gang zu Ihnen
führt. Unsere Berliner Erlebnisse so harmlos sie waren, sind mir immer eine
sehr hübsche Erinnerung gewesen und ich wünsche nur daß wir uns baldmöglichst
zu dritt wieder ebenso zusammen finden.
Mit herzlichem freundschaftlichen Gruß
Ihr
Frank Wedekind.
[Rekonstruktion:]
Ständige Adresse: Leipzig, Lampestraße 3.
p. ad. Herrn Dr. HeineDr. phil. Carl Heine in Leipzig (Lampestraße 3, 2. Stock) war als „Privatgelehrter“ [Leipziger Adreßbuch für 1898, Teil I, S. 312] verzeichnet; er war Direktor des Theaters der Literarischen Gesellschaft in Leipzig, für das er zu Beginn des Jahres Wedekind als Dramaturg und Schauspieler (Pseudonym: Heinrich Kammerer) engagiert hatte [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408] und das als Ibsen-Theater (Direktion: Carl Heine) gerade auf Tournee war..
Lieber Herr Eisenschitz,
ich danke Ihnen herzlich für Ihre Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Otto Eisenschitz an Wedekind, 21.3.1898. Auf der Postkarte dürfte eine Adresse mitgeteilt worden sein.. Während den letzten
zwei Jahren erhielt ich zu verschiedenen Malen Ihre AdresseOtto Eisenschitz, der nach seinem mehrjährigen Aufenthalt in Mailand bis 1894 zunächst in Wien IX (Liechtensteinstraße 17) [vgl. Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1895, Teil II, Sp. 273] und zwischenzeitlich in Wien VI (Getreidemarkt 17) [vgl. Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Wien 1896, Teil VII, S. 197] gemeldet war, wohnte dann in Wien I (Opernring 13) [vgl. Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1896, Teil II, Sp. 276], was er Wedekind auch mitgeteilt hatte [vgl. Wedekind an Otto Eisenschitz, 7.9.1895], und zog dann um nach Wien VII (Neustiftgasse 21) [vgl. Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1897, Teil II, Sp. 288], wo er noch immer gemeldet war [vgl. Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1898, Teil II, Sp. 291; Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Wien 1898, Teil VII, S. 208; 1899, Teil VII, S. 212]. von Ihnen
zugeschickt, meine Verhältnisse waren aber so unbeständiger Natur, daß ich mich
scheute darauf zu reagiren indem ich selten wußte wo ich vierzehn Tage später
sein werde. Ich sehe daß Sie wissenOtto Eisenschitz dürfte über Wedekinds Tätigkeit als Dramaturg in Leipzig (siehe oben) informiert gewesen und ihm das in seiner Postkarte (siehe oben) zu verstehen gegeben haben, die er insofern wohl nach Leipzig geschickt hat., daß ich mich consolidirt habe und auch ich
sende Ihnen, als liebem CollegenOtto Eisenschitz war inzwischen als Dramaturg am Theater in der Josefstadt in Wien tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 561] und als solcher verzeichnet [vgl. Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1898, Teil II, Sp. 291]., meine besten Grüße. Vielleicht sehen wir uns
früher wieder als ich |
[mir je erhoffte. Es ist nicht ausgeschlossen
daß das Ibsen-Theater noch im Laufe des Sommers in Wien gastirt. Ich bin nicht
sicher darüber, ob die Verhandlungen schon zum Abschluß gelangt sind, da ich
mich seit geraumer Weile hier in Hannover aufhalteWedekind hielt sich im Zuge der Tournee des Ibsen-Theaters seit dem 21.3.1898 in Hannover auf [vgl. Wedekind an Berthold Auerbach, 21.3.1898]., um unsere hiesige Kampagne
vorzubereiten. Wenn es zustande kommt, würde es wohl Anfang JuniDas Gastspiel des Ibsen-Theaters im Carl-Theater in Wien begann am 2.6.1898, wie die Presse meldete – „Morgen Donnerstag eröffnet das Ibsen-Theater aus Leipzig unter artistischer Leitung des Herrn Doctor Carl Heine seinen Gastspielcyklus“ [Neues Wiener Tagblatt, Jg. 32, Nr. 149, 1.6.1898, S. 9] – und als Programm ankündigte: „Gastspiel des Ibsen-Theaters. Donnerstag, den 2. Juni, ‚Rosmersholm‘. – Freitag, 3., zum ersten Male: ‚Die Frau vom Meere‘. – Samstag, 4., ‚Rosmersholm‘. – Sonntag, 5., zum ersten Male: ‚Der Erdgeist‘.“ [Repertoire des Carl-Theaters. In: Wiener Zeitung, Nr. 124, 1.6.1898, S. 8] Die im Rahmen des Gastspiels geplante „Erdgeist“-Vorstellung wurde zwar hervorgehoben: „Sonntag den 5. d. M. wird Herr Director Karl Heine das in Wien noch nicht bekannte moderne Drama ‚Erdgeist‘ von Frank Wedekind zur Darstellung bringen.“ [Neues Wiener Journal, Jg. 6, Nr. 1653, 1.6.1898, S. 6] Gespielt wurde aber am 5.6.1898 Henrik Ibsens „Nora“ und am 6.6.1898 „Gespenster“ [vgl. Arbeiter-Zeitung, Jg. 10, Nr. 154, 6.6.1898, Mittagsblatt, S. 3, 4]. Das Gastspiel war verlängert worden, wobei die „Erdgeist“-Premiere dann für den 11.6.1898 und eine weitere „Erdgeist“-Vorstellung für den 12.6.1898 angekündigt war [vgl. Arbeiter-Zeitung, Jg. 10, Nr. 156, 8.6.1898, Morgenblatt, S. 7], beides aber nicht zustande kam; am 11. und 12.6.1898 wurde vom Ensemble des Ibsen-Theaters abschließend das Ibsen-Stück „Der Volksfeind“ gespielt [vgl. Arbeiter-Zeitung, Jg. 10, Nr. 162, 14.6.1898, Morgenblatt, S. 5]. Resümiert wurde: „Die Censur, die Anstandsdame der Zucht und guten Sitte, ist in der letzten Zeit wieder besonders geschäftig gewesen“, es wurde „verboten: Frank Wedekind’s ‚Erdgeist‘, den das sogenannte Ibsen-Theater aus Leipzig hat vorführen wollen“ [Neues Wiener Journal, Jg. 6, Nr. 1668, 16.6.1898, 1]. sein. Gebe
Gott, daß Sie dann noch in Wien sind. Ich hätte Ihnen gerne condolirt zu dem
schweren Verlust den Sie durch den Tod MitterwurzersFriedrich Mitterwurzer, der bewunderte Charakterschauspieler am Wiener Hoftheater, der in Wien I (Opernring 13) gewohnt hatte [vgl. Neuer Theater-Almanach 1897, S. 530], starb im Alter von nur 54 Jahren am 13.2.1897 in Wien. Er dürfte Otto Eisenschitz, der dieselbe Adresse hatte (siehe oben), die Anstellung als Dramaturg am Theater in der Josefstadt (siehe oben) vermittelt haben, wie Wedekind andeutet., des Trägers Ihrer
dramatischen Thätigkeit, erlitten aber ich wußte damals Ihre Adresse nicht und
außerdem ging es auch mir selber nicht ganz grün. Haben Sie vielleicht über
meine Erdgeist AufführungWedekinds Tragödie „Der Erdgeist“ (1895) war mit ihm in der Rolle des Dr. Schön unter der Regie von Carl Heine (siehe oben) am 25.2.1898 im Kristallpalast in Leipzig unter dem Titel „Der Erdgeist. Eine Burleske von Frank Wedekind“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 100, 25.2.1898, Morgen-Ausgabe, S. 1457] uraufgeführt worden; angekündigt war: „Die Litterarische Gesellschaft veranstaltet Freitag den 25. Februar ihren fünften Theaterabend. Zur Aufführung gelangt: Der Erdgeist, eine Burleske von Frank Wedekind. Der Erdgeist, der an diesem Abend seine Première erlebt, stellt eine völlig neue Gattung der modernen Dramatik dar. Das Drama ist für seine hiesige Aufführung vom Dichter einer Umarbeitung unterworfen worden, die der Bühnenwirkung des Stückes zum Vortheil gereichen dürfte. Die Aufführung findet im Theatersaale des Krystall-Palastes statt und beginnt pünctlich um 8 Uhr.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 96, 23.2.1898, Morgen-Ausgabe, 5. Beilage, S. 1415] Das Ibsen-Theater ging mit dem Stück im Repertoire am 5.3.1898 auf Tournee und wurde auf diversen Gastspielstationen gespielt, nicht aber in Wien (siehe oben). in Leipzig etwas gelesen? Ich weiß noch nicht, ob ich
es als einen Erfolg betrachten kann; die weiteren Schicksale des Stückes werden
mich darüber belehren. Donald lebt
seit zwei JahrenDonald Wedekind schrieb seinem Bruder seinerzeit „verschiedentlich von Paris“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 10.5.1896]. ununterbrochen in Paris. Ich habe ihn seit unseren gemeinsamen
ErlebnissenFrank und Donald Wedekinds Begegnungen mit Otto Eisenschitz in Berlin lagen etwa drei Jahre zurück. Otto Eisenschitz war nachweislich um den 5.4.1895 in Berlin, wie die Presse meldete: „Das für das Mitterwurzer-Gastspiel im Neuen Theater in Aussicht genommene Stück ‚Die Schlange‘ ist von der Polizeibehörde verboten worden. Der in Berlin anwesende Uebersetzer, Herr O. Eisenschitz, versucht, die Aufhebung des Verbotes für die Zeit des Gastspiels zu erwirken.“ [Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Jg. 34, Nr. 162, 5.4.1895, Morgen-Ausgabe, S. 3] Er könnte bereits zur Premiere eines Lustspiels – dem „kleinen italienischer Einakter ‚Er, sie und ich‘ von Roberto Bracco, deutsch von Otto Eisenschitz“ [Berliner Tageblatt, Jg. 24, Nr. 139, 17.3.1895, Morgen-Ausgabe, S. (3)] – am 16.1895 im Deutschen Theater in Berlin gewesen sein. Frühere Aufenthalte von ihm in Berlin – er kam, als er noch Korrespondent des „Berliner Tageblatt“ in Mailand war, am 1.12.1891 als Übersetzer zu einer Premiere nach Berlin [vgl. Berliner Tageblatt, Jg. 20, Nr. 610, 1.12.1891, Abend-Ausgabe, S. (3)] sowie am 20.3.1894: „Giacinto Giacosa, der Dichter des Dramas ‚Sündige Liebe‘, trifft heute in Berlin ein, um den letzten Proben seines Werkes beizuwohnen. Sein Uebersetzer, Otto Eisenschitz, weilt bereits seit dem Dienstag in Berlin“ [Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Jg. 33, Nr. 136, 22.3.1894, Morgen-Ausgabe, S. 5] – kommen nicht in Frage, da Frank Wedekind sich da nicht in Berlin aufhielt. Sein Bruder Donald Wedekind hatte ihn wohl 1895 mit Otto Eisenschitz bekannt gemacht, wie dieser später berichtete: „Frank Wedekind [...] hatte ich durch seinen mir befreundeten Bruder Donald [...] kennengelernt.“ [Otto Eisenschitz: Briefe von Frank Wedekind. Aus seinen Anfängen. In: Neues Wiener Journal, Jg. 26, Nr. 8749, 12.3.1918, S. 3] in Berlin kaum einige Tage mehr gesehen. Ich habe ihm seit Jahren
nicht mehr geschrieben, werde es nun aber auch nicht länger aufschieben. Sobald
ich in meiner neuen Sphäre einigermaßen festen Fuß gefaßt, werde ich ihn aus
seiner Weltabgeschiedenheit herausholen. Nächster] | Tage schicke ich Ihnen eine Kritik über die
Erdgeistaufführung zu; augenblicklich habe ich keine bei der Hand. ‒ Es thut mir sehr leid,
daß ich Ihnen über meinen von mir sehr geliebten Bruder nicht mehr schreiben
kann. Jedenfalls würde er sich sehr freuen, von Ihnen zu hören. Es ist wie
gesagt lediglich meine Schuld, indem ich im Kampfe um eine entsprechende
Position die Correspondenz in den letzten Monaten vernachlässigt habe.
Es freut mich sehr, daß ich Sie als Collegen begrüßen darf.
Wenn wir nach Wien kommen, sind Sie sicher, daß mich mein erster Gang zu Ihnen
führt. Unsere Berliner Erlebnisse so harmlos sie waren, sind mir immer eine
sehr hübsche Erinnerung gewesen und ich wünsche nur daß wir uns baldmöglichst
zu dritt wieder ebenso zusammen finden.
Mit herzlichem freundschaftlichen Gruß
Ihr
Frank Wedekind.
[Druck:]
Lieber Herr Eisenschitz, ich danke Ihnen herzlich für Ihre Karte.
Während der letzten zwei Jahre erhielt ich zu verschiedenen Malen Ihre Adresse
von Ihnen zugeschickt, meine Verhältnisse aber waren aber so unbeständiger
Natur, daß ich mich scheute, darauf zu reagieren indem ich selten wußte, wo ich
vierzehn Tage später sein werde. Ich sehe, daß Sie wissen, daß ich mich konsolidiert
habe und auch ich sende Ihnen, als liebem Kollegen, meine besten Grüße. Vielleicht
sehen wir uns früher wieder, als ich mir je erhofft. Es ist nicht
ausgeschlossen, daß das Ibsen-Theater noch im Laufe des Sommers in Wien gastiert.
Ich bin nicht sicher darüber, ob die Verhandlungen schon zum Abschluß gelangt
sind, da ich mich seit geraumer Weile hier in Hannover aufhalte, um unsere
hiesige Kampagne vorzubereiten. Wenn es zustande kommt, würde es wohl Anfang
Juni sein. Gebe Gott, daß Sie da noch in Wien sind. Ich hätte Ihnen gerne kondoliert
zu dem schweren Verlust, den Sie durch den Tod Mitterwurzers, des Trägers Ihrer
dramatischen Tätigkeit, erlitten, aber ich wußte damals Ihre Adresse nicht und
außerdem ging es auch mir selber nicht ganz grün.
Haben Sie vielleicht über meine Erdgeistaufführung in
Leipzig etwas gelesen? Ich weiß noch nicht, ob ich es als einen Erfolg
betrachten kann; die weiteren Schicksale des Stückes werden mich darüber belehren.
Donald lebt seit zwei Jahren ununterbrochen in Paris. Ich habe ihn seit unseren
gemeinsamen Erlebnissen in Berlin kaum einige Tage mehr gesehen. Ich habe ihm
seit Jahren nicht mehr geschrieben, werde es nun aber auch nicht länger
aufschieben. Sobald ich in meiner neuen Sphäre einigermaßen festen Fuß gefaßt,
werde ich ihn aus seiner Weltabgeschiedenheit herausholen. Nächster Tage
schicke ich Ihnen eine Kritik zu; augenblicklich habe ich keine bei der Hand. Es
tut mir sehr leid, daß ich Ihnen über meinen von mir sehr geliebten Bruder
nicht mehr schreiben kann. Jedenfalls würde er sich sehr freuen, von Ihnen zu
hören. Es ist, wie gesagt, lediglich meine Schuld, indem ich ich Kampfe um eine entsprechende
Position die Korrespondenz in den letzten Monaten vernachlässigt habe.
Wenn wir nach Wien kommen, sind Sie sicher, daß mich mein
erster Gang zu Ihnen führt. Unsere Berliner Erlebnisse sind mir immer eine sehr
hübsche Erinnerung gewesen und ich wünsche nur, daß wir uns baldmöglichst zu Dritt
wieder ebenso zusammenfinden. Mit herzlichem freundschaftlichen Gruß Ihr
Frank Wedekind.