Schloß Lenzburg 7. August
1892
Lieber Bebi!
Mit gespanntem Interesse ergreife ich die Feder um
dir, wenn es das Schicksal will, einige angenehmre Nachrichten aus deinem
CholeraSeit Anfang August berichtete die Presse über die sich ausbreitende Cholera in Paris: „Die Zahl der Todesfälle an Cholera betrug in Paris bis Ende Juli schon über 400.“ [Zuger Volksblatt, Jg. 22, Nr. 92, 6.8.1892, S. (3)]. „Manche Fälle zogen einen jähen Tod nach sich, und die Sterblichkeitsziffer betrug nicht weniger als 90 Prozent der Erkrankten.“ [Walliser Bote, Jg. 35, Nr. 32, 6.8.1892, S. 3] befallenSchreibversehen, statt: befallenen. Paris zu entlocken, während vorher in der Todtenstille meines
monotonen Schullebens mir ein brieflicher Verkehr TatsächlichSchreibversehen, statt: tatsächlich. nicht von großer
Bedeutung erschien. Die langersehnte Maturität(schweiz.) Abitur. wäre endlich bestanden und bildet
für Mama einen Markstein in meinem Leben, sonst stellt sie aber auch gar nichts
dar, ausgenommen ich mache mich wieder einmalDonald Wedekind hatte sich von Februar bis November 1889 in den USA aufgehalten und erwogen, dorthin auszuwandern. auf die Wanderschaft nach Amerika
und habe dort ein Papier mehr vorzuweisen. Wegen dir ist man hier allgemein in
Sorge, und es schiebt Eines dem Andern die Aufgabe zu, dich von Paris hierher
in die Sommerfrische zu laden, was schließlich, da Mama keine Pensionaire mehr
hat, Hami, der alle Welt langweilend und einen unziemlichen
Bierton in unser Leben bringt, nächstdem in acht Tagen wieder nach Zürich geht,
das Wetter noch schön zu bleiben verspricht, für dich ganz angenehm zu werden
verspräche, voraus|gesetzt du hast in Paris nicht Aussichten auf einen schönern
Landaufenthalt. Für mich würde es die größte Freude bilden, die ich seit langem
erlebt. Auch Mieze würde sich, trotzdem sie dir sehr böse ichSchreibversehen, statt: böse ist., daß du ihr einmal den KünstelerfunkenSchreibversehen, statt: Künstlerfunken.
abgesprochen, sehr
freuen. Sie wird, denke ich, kaum mehr als vielleicht vierzehn Tage bis drei
Wochen mehr hier bleiben. Dann kehrt sie nach Dresden zurückErika (Mieze) Wedekind studierte seit Dezember 1890 Gesang am Konservatorium in Dresden. um nach
einigen Monaten Mama nach sich zu ziehen, die den Winter bei ihr verleben will,
sei das Schloß verkauftDer geplante Schlossverkauf zog sich wegen der Auseinandersetzungen mit dem Lenzburger Gemeinderat um die Sicherung des Schlossfelsens in die Länge [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 155-157]. Im März 1893 wurde es schließlich für 120.000 Franken von dem amerikanischen Unternehmersohn August E. Jessup erworben [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 1.3.1893]. oder nicht. Die Verhandlungen sind noch in lebhaftem
Betrieb.
Gestern erhielt ich von Mati einen Brief aus GenfEmilie (Mati) Wedekind besuchte seit dem 1.5.1892 das Genfer Mädchenpensionat Les violettes von Emma und Helene Dürst. Ihr Brief an Donald Wedekind ist nicht überliefert.,
worin auch sie mir die heikle Frage vorlegt was ich zu beginnen gedenke.
Einstweilen habe ich einen solchen Abscheu vor dem hosenzerrutschenden
Bänkesitzen bekommen, daß ich mich nicht entschließen kann schon diesen Herbst
von Neuem mich in irgend etwas hinein zu arbeiten. Ich werde hier bleiben, so
lang wie das schöne Wetter anhält, wendet sich dieses zum Bösen, so war immer
mein Plan, n/d/ich nach der ersten Hitze der Hundstagedie meist heißen Sommertage zwischen dem 23.7. und dem 23.8., benannt nach dem Sternbild des Großen Hundes. in der
französischen Metropole aufzusuchen, aber ich habe diesen Plan aufgegeben, so
gern ich dich gesehen hätte, einerseits wegen der schlechten
Gesundheitsnachrichten, die von dort kommen, ander|seits weil Paris allzu weit
von unsrer eigentlichen Reiseroute abliegt. So muß ich dich noch einmal bitten,
folge doch meinem Rufe und komme hierher. Wird das Wetter schlecht, so ziehen
wir uns nach Zürich zurück, da ich nicht in Lenzburg unter einigermaßen
schlechten Witterungsverhältnissen bleiben könnte, ohne der Gefahr ausgesetzt
zu sein, melancholisch zu werden. Sind dann die heißeren Monate vorüber, so
könnten wir uns beide rüsten zur Weiterreise, du nach Paris, ich nach Italien,
wo ich den Winter über in Rom zu bleiben gedenke. In erster Linie um mich zu
erholen, in zweiter Linie um zu sondiren, auf welchem Wege ich am leichtesten
meine Talente verwerte. Ist dort das Terrain günstig, so werde ich dann für
einige Zeit bleiben, finde ich nicht, was ich suchte, so werde ich nach Belgien
an irgend welche geistliche Universität gehen oder im dritten Falle nach Paris.
Auf dieser Reise könnten wir nun mit großer Leichtigkeit Mati besuchen, ohne
daß ein jeder groß von seinem Wege abgelenkt würde, ich werde unter allen
Bedingungen die Reise durch den Mont CenisDer Eisenbahntunnel durch den Mont Cenis, ein französisch-italienisches Bergmassiv in den Westalpen mit bis zu 3612 Meter Höhe, wurde 1871 eröffnet. machen. Vielleicht auch die Riviera
und Florenz besuchen. Livorno würde ich ebenfalls beachten, um dort meine |
geistlichen BekanntschaftenDonald Wedekind hatte während seines Aufenthalts in Livorno im Frühjahr 1888 den Vikar des Bischoffs und etliche Geistliche kennengelernt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 12.4.1888]. wieder aufzufrischen. In Rom werde ich für die
erste Zeit Muße genug haben, meine amerikanischen ReisenDonald Wedekind schrieb vermutlich seit September 1890 an einem Text über seinen Amerikaaufenthalt 1889 [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 24.9.1890], den er nun weiter ausarbeitete. Er publizierte ihn schließlich unter dem Titel „Eine Auswandererfahrt“ in der Beilage der „Züricher Post“ im Februar und März 1894 in mehreren Teilen (Nr. 29 vom 4.2., Nr. 36 vom 13.2., Nr. 41 vom 18.2., Nr. 47 vom 25.2. und Nr. 53 vom 4.3.1894)., soweit ich sie
ausführen will zu
beendigen. Ich arbeitete während der Zeit der Maturitätsvorbereitung ein
bedeutendes Stück daran, und sobald ich das erste St einen Teil umgeschrieben habe, werde
ich ihn dir einsenden. Hoffentlich aber wirst du noch vorher hier eintreffen.
Ich glaube Mati wüßte sich vor Freude kaum zu halten, wenn wir sie zusammen
besuchten. Willy geht es gut. Schreibe mir, was du zu Allem diesen denkst und melde dich so
bald wie möglich an. Dein treuer Bruder Donald.
[am linken Rand
um 90 Grad gedreht:]
Mieze und Mama lassen dich grüßen und geben dir auch
den Rat Paris zu verlassen.
[auf Seite 1 am
linken Rand um 90 Grad gedreht:]
Mama glaubt dich deinem Stillschweigen nach zu
schließen, schon in Amerika. Sollte dies der
Fall sein, dann gut Glück zum amerikanischen
Leben und die besten
Grüße für Tante PlümacherWedekinds Nenntante Olga Plümacher war mit ihren Kindern Hermann und Dagmar 1886/87 in die USA nach Beersheba Springs, Tennessee zurückgekehrt [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 34].!