Berlin 28.10.97.
Lessingstraße 54.
Mein lieber Wedekind!
Wir haben uns gestern Abend viel mit Ihnen beschäftigt, meine Frau, Nordalmnicht identifiziert (der erste Buchstabe N ist unsicher entziffert; der Familienname Nordalm ist aber in Gustav Rickelts Geburtsort Dortmund und andernorts belegt). und ich. Ich brachte nach dem
TheaterGustav Rickelt, Regisseur und Schauspieler am Berliner Residenztheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 285], stand am 27.10.1897 in der fünften Vorstellung von Victorien Sardous Pariser Sittenbild „Odette“ als Darsteller auf der Bühne (in der Rolle des Morizot, bei der Premiere am 23.10.1897 in der Rolle des Froutenac) [vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 503, 27.10.1897, Morgen-Ausgabe, S. 16]; die Vorstellung begann um 19.30 Uhr. den „Simplicißimus“ mit nach Hause und las Ihr neuestes politisches Lieddas unter dem Pseudonym Hieronymus Jobs im aktuellen „Simplicissimus“ abgedruckte Gedicht „Ein politisch Lied“ [KSA 1/1, S. 462-466] ‒ unter demselben Titel publizierte Wedekind seine seit Juli 1897 im „Simplicissimus“ erschienenen politischen Gedichte; es erzählt vom Abschied von einer Redaktion (auf die Redaktion des „Simplicissimus“ und Konflikte mit dem Albert Langen Verlag anspielend), enthält aber die redaktionelle Anmerkung: „Hieronymus Jobs hat sich wieder eingefunden. Wir danken ihm.“ [Simplicissimus, Jg. 2, Nr. 31, S. 246] Gustav Rickelts Gattin hat sich ebenfalls über das Gedicht geäußert [vgl. Julia Rickelt an Wedekind, 26.10.1897].
vor. Die Unterhaltung war so anregend, daß wir Sie gern bei uns gehabt hätten.
Heute Morgen nun stellten Sie sich mit Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Gustav Rickelt, 27.10.1897. Briefbeilage war ein druckfrisches Exemplar der im Verlag W. Paulis Nachfolger (H. Jerosch) erschienenen Buchausgabe „Die junge Welt. Comödie in drei Aufzügen mit einem Vorspiel“ [vgl. KSA 2, S. 646] mit einer Umschlagillustration von Hans Mützel, deren Erscheinen für November angekündigt war [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 248, 25.10.1897, S. 7761], offenbar aber schon vorlag. Das Exemplar hat Wedekind mit einer Widmung versehen (siehe unten). und „Die junge Welt“ ein. Noch im
Bett las ich den Brief meiner Frau vor.
Für die Dedicationnicht überlieferte Widmung in „Die junge Welt“ (siehe oben); erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Gustav Rickelt, 27.10.1897. meinen herzlichsten Dank. Mit meinem Urteil über „Die junge
Welt“ halte ich noch zurück. Ich habe es eben zu | Ende gelesen. Die Lectüre
desselben vollzog sich, wie Sie mir die einzelnen Bogen schicktenHinweis auf nicht überlieferte Begleitschreiben zu den Sendungen (die Druckbogen sind nicht erhalten); erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Gustav Rickelt, 8.9.1897 (und mindestens ein weiteres verschollenes Schreiben).,
bruchstückartig, so daß ich das Ganze nicht einheitlich auf mich wirken lassen konnte. Ein abschließendes Urteil habe ich nur über das
Vorspiel, das in Anlage & Ausführung, Handlung & Humor mir vorzüglich
erscheint. Das Stück selbst wirkt durch die Häufung der Paare wohl etwas unklar
‒ doch sind Sie ja bald hier,
dann ein ausführliches Eingehen. Unterdessen habe ich die Dichtung nochmal
gelesen. ‒ Daß die literarische
GesellschaftVorsitzender der Literarischen Gesellschaft in Leipzig war Kurt Martens, Schriftführer Hans von Weber, Schatzmeister und artistischer Direktor Carl Heine [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1898, Teil II, S. 220]. in Leipzig, deren BriefBriefbeilage war wahrscheinlich ein Brief des Vorsitzenden der Literarischen Gesellschaft in Leipzig an Wedekind [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 9.7.1897], den Wedekind seinem Freund Gustav Rickelt ausgeliehen haben dürfte und nun zurück erhielt. ich übrigens
einlege, sich des Erdgeistes annimmt, ist ja erfreulich ‒ auch finde ich die Idee, den ersten Act zu
gebenKurt Martens hat als Vorsitzender der Literarischen Gesellschaft in Leipzig (siehe oben) angeboten, den 1. Akt des „Erdgeist“ aufzuführen [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 9.7.1897]; aufgeführt wurde dann unter der Regie von Carl Heine an dessen neugegründetem Ibsen-Theater am 25.2.1898 im Theatersaal des Leipziger Kristallpalastes das gesamte Stück ‒ die erste Wedekind-Inszenierung überhaupt., gewissermaßen | als Einakter, nicht übel. Ich habe mich hier für die
Aufführung sehr verwandt, gab das Buch PagayHans Pagay, Schauspieler im Ensemble des Berliner Residenztheaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 285] und Kollege Gustav Rickelts; seine Lektüre des „Erdgeist“ ist durch den vorliegenden Brief belegt., der beim DirectorDirektor des Berliner Residenztheaters war Theodor Brandt [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 285], der die Direktion am 1.9.1897 angetreten und Gustav Rickelt engagiert hat. viel gilt, zum Lesen ‒ derselbe
findet dasselbe allerdings sehr talentvoll, aber unaufführbar, zumal den
letzten Act. Meine Ansicht über das Stück kennen sie. Immerhin glaube
auch ich, daß nur
durch eine
Milderung und teilweise Umarbeitung dem Stück zur Aufführung verholfen werden
kann. Der erste Act ist jedenfalls der beste und wird zweifellos Erfolg haben,
der dann gehörig tamtamt machen muß. Die Kaiserin von
Neufundland wird allerdings in ärmlicher und beschränkter InscenierungKurt Martens hatte die Aussicht eröffnet, die in der Sammlung „Die Fürstin Russalka“ (1897) veröffentlichte Tanzpantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ durch die Literarische Gesellschaft in Leipzig aufzuführen [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 9.7.1897]; die Inszenierung kam nicht zustande.
wesentlich verlieren, jedenfalls aber werden Sie an der | dortigen Aufführung
einen Gradmesser für die Bühnenwirkung haben. Mehr aber wie von diesen Stücken
erhoffe ich von „Fritz Schwiegerling“ einen BühnenerfolgWedekind hatte Gustav Rickelt offenbar auch seinen Schwank „Der Liebestrank“ („Fritz Schwigerling“) zur Begutachtung vorgelegt, der, nach jahrelangen Bemühungen Wedekinds um eine Aufführung, erst durch Carl Heine am 1.7.1898 vom Ibsen-Theater im Leipziger Kristallpalast wenig erfolgreich uraufgeführt wurde., der Ihnen auch materielle Vorteile bringen wird. Es ist
vorläufig noch der Zug der Zeit, sich an übermütigen Schwänken & Schnurren
zu begeistern und ich bin fest überzeugt, wenn Sie den Schwank durcharbeiten,
daß er bald aufgeführt wird und Ihnen Geld bringt. Kommen Sie nur bald hierher
und lassen Sie ihn uns gemeinsam durchgehen & bühnengerechter machen, der
Erfolg wird dann nicht ausbleiben. Also auf
baldiges Wiedersehen. Meine Frau schließt sich meinen Grüßen auf das
Herzlichste an.
Ihr alterAnspielung auf die 1889/90 in München entstandene „innige Freundschaft“ [Rickelt 1930, S. 152] zu Wedekind. „Mit Frank Wedekind [...] hatte ich Freundschaft geschlossen“ [Rickelt 1930, S. 160], „einer der besten Freunde, die ich hatte“ [Rickelt 1930, S. 352]. Gustav Rickelt
∙/∙hier wohl im Sinne eines Gedankenstrichs (oder als Verweis auf die Briefbeilage).