OTTO JULIUS BIERBAUM
Lieber Herr
Wedekind!
Also: Elins
Erweckung ist angekommendas Manuskript der ersten drei Szenen von Wedekinds Verskomödie „Elin’s Erweckung“, deren Empfang Otto Julius Bierbaum bereits auf seiner Postkarte vom selben Tag vermerkt hatte [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind 9.6.1893]..
Ich habe die
drei Szenen sofort gelesen, und es war mir ein großer Genuß. Es sind ganz
wundervolle Sachen in dem Stücke, Sachen, die sich neben Frühlings
Erwachen sehen lassen können. Ich bin sehr glücklich, von Ihnen so was
für den M. M. A. 94 erhalten zu haben, nur bin ich noch unschlüssig, was ich
wählen sollOtto Julius Bierbaum wählte zum Abdruck im „Modernen Musen-Almanach“ (1893) einen Dialog zwischen Emanuel und Oskar [vgl. KSA 2, S. 507-514], die „Traumerzählung aus der 2. Szene“ [KSA 2, S. 1138], die er auch im Brief erwähnt, im Druck als Bruchstück bezeichnet [vgl. Frank Wedekind: Bruchstück aus der Komödie „Elin’s Erweckung“. In: Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1894. Ein Jahrbuch deutscher Kunst. Hg. von Otto Julius Bierbaum. Zweiter Jahrgang. München (1893), S. 54-61].. Am liebsten ist mir im zweiten Akte, wenn Sie mir die alte
Bezeichnung gestatten wollen, die Erzählung des Traumes. Diese Geschichte ist sicher.
Aber auch aus der dritten Szene möcht’ ich ich was herausheben, einige Stellen der
köstlichen Bemerkungen Oskars über die Kanzelrednerei. Und schließlich juckt es
mich auch nach der ersten Szene. Aber das wird zu viel werden.
Heute oder
morgen noch sende ich das Mskr. zum Druck. Wollen Sie, bitte, die
Freundlichkeit haben und mir recht bald eine AdresseWedekinds Adressen in Zürich und Lenzburg während seines Sommeraufenthalts in der Schweiz. angeben, an die ich die
Correktur senden kann. Es wird auch nötig sein, ein paar orientierende WorteWedekinds Vorbemerkung zu dem Bruchstück aus „Elin’s Erweckung“ (siehe oben): „In einer Zeit, in der die weitgehendsten Ausschreitungen der schönen Literatur zum Vorwurf dienen, gelangt die Unschuld kaum in Kammerjungferromanen mehr zu der ihr gebührenden Würdigung. Dem feinen Geschmack dient sie als Geschmacklosigkeit. Wo sie sich nackt präsentirt, gebietet schon die Höflichkeit, sie der Lüge zu zeihen. Um der Höflichkeit zu entgehen, wirft sie den Mantel der Übersättigung um. / Demgemäß sind ihre ungeheuren Domänen zu einer Wildniß geworden, in der Bären und Wölfe hausen, und die seit Cervantes keines Forschers Fuß mehr betreten hat. / Vorliegende Verse sind einer dreiaktigen Komödie entnommen, die, zu keusch um nicht verboten zu werden, seit sieben Jahren in meinem Schreibtisch liegt, und deren Held sich bis zum Vorarbend seiner Verheiratung den Schmuck unverletzter Jungfräulichkeit bewahrt.“ [KSA 2, S. 507] Im Erstdruck ist die Vorbemerkung petit gesetzt zwischen Titel und Textbeginn platziert.
dem Abdruck der Bruchstücke voranzusetzen. | Ich bitte Sie, diese Worte
abzufassen, sobald Sie die Correktur haben. – Herr LöbellReinhold Loebell (Biedersteinerstraße 2) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1893, Teil I, S. 254] war der kaufmännische Leiter des Verlags Dr. E. Albert & Co. in München (Schwabinger Landstraße 55) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1893, Teil I, S. 4], der Otto Julius Bierbaums „Modernen Musen-Almanach“ verlegte. sprach mir bereits von
Ihrem bei ihm liegenden StückHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Reinhold Loebell, 15.5.1893. Es handelte sich um ein Manuskript von Wedekinds noch ungedrucktem Stück „Fritz Schwigerling“ (später: „Der Liebestrank“), für das er auf Verlagssuche war: „Vermutlich auf Empfehlung Otto Julius Bierbaums schickt er es im Mai oder spätestens Anfang Juni an den Münchner Verleger Löbell.“ [KSA 2, S. 997]. Ich werde es mir jetzt zur Lesung ausbitten.
Aber warum haben Sie so mörderisch auf uns arme Hühner geschimpftWedekind dürfte sich demnach in seinem nicht überlieferten Brief an Reinhold Loebell (siehe oben) ungehalten über Otto Julius Bierbaum als Herausgeber des „Modernen Musen-Almanach“ geäußert haben., die ihre
Eier in den Verlag Löbells legen? Sind wir so verworfen vor
Ihren dunkelblauen Augen, die doch so gütig und vergebefreundlich scheinen?
Gott, wie man sich in blauen Augen täuschen kann.
In Herzlichkeit
Ihr
Otto Julius
Bierbaum
auf der Öd
bei Beuerberg,
Oberbayern.
9.VI.93.