Nymphenburg, 3.III 1911irrtümlich datiert, statt: 3.4.1911 (auf der Beilage ist das Datum richtig vermerkt).
Sehr geehrter Herr
Wedekind,
inliegend schicke ich Ihnen zugleich mit dem mir
zur Verfügung gestellten MaterialWedekind hat Prof. Dr. phil. Emil Sulger-Gebing in München (Zuccalistraße 13) [vgl. Adreßbuch für München 1911, Teil I, S. 633], Professor für Literaturgeschichte an der Technischen Hochschule München und Mitglied des Münchner Zensurbeirats [vgl. Meyer 1982, S. 90], am 1.4.1911 in dessen Wohnung im Münchner Stadtteil Nymphenburg aufgesucht: „Besuch bei Prof. Sulger-Gebing in Nymphenburg.“ [Tb] Er dürfte ihn um ein Gutachten zu „Tod und Teufel“ („Totentanz“) gebeten haben, um eine den Einakter vom Vorwurf der Unsittlichkeit entlastende Stellungnahme gegen das Zensurverbot (siehe unten), und hatte ihm dafür Material mitgebracht, handschriftliche Erläuterungen (siehe unten), die dem Brief nicht mehr beiliegen. Wedekind dürfte Emil Sulger-Gebing außerdem bei seinem Besuch – wie im Fall des Gutachters und Zensurbeirat-Mitglieds Franz Muncker [vgl. Franz Muncker an Wedekind, 25.3.1911] – zwei Bücher mitgebracht haben, die Buchausgaben „Tod und Teufel (Totentanz). Drei Szenen“ (3. und 4. Tausend, 1909) [vgl. KSA 6, S. 625] und „Die Zensur. Theodizee in einem Akt“ (1908) [vgl. KSA 6, S. 838], zwei Stücke, auf die sich Emil Sulger-Gebing in seinem hier beigelegten Gutachten bezieht und die er vermutlich ebenfalls zurückgegeben hat. das gewünschte kurze Gutachtendie erhaltene Beilage zum vorliegenden Brief. Wedekind veröffentlichte die Stellungnahme als „Gutachten des Herrn Professor Sulger-Gebing“ zusammen mit einem offenen Brief an den Herausgeber des „Kain“ [vgl. Wedekind an Erich Mühsam, 16.8.1911] und einem weiteren brieflich formulierten Gutachten [vgl. Franz Muncker an Wedekind, 25.3.1911] im Beitrag „Aus dem Münchner Zensurbeirat“ [vgl. Kain, Jg. 1, Nr. 6, September 1911, S. 90-95.]; der dem Beitrag vorangehende Entwurf „Über das Zensurverbot von Totentanz“ vom 25.6.1911 mit Zitaten aus dem Gutachten von Emil Sulger-Gebing ist handschriftlich überliefert [vgl. KSA 6, S. 692]. zu, das ich
genau so gehalten habe, wie ich es getan hätte, wenn ich als Mitglied des
CensurbeiratesEmil Sulger-Gebing war Mitglied des Münchner Zensurbeirats (siehe oben), jenes im Frühjahr 1908 vom Münchner Polizeipräsidenten Julius von der Heydte eingerichtete Gremium, um seine „zensurpolitischen Entscheidungen durch den Rat der Gutachter zu legitimieren.“ [Vinçon 2014, S. 213] offiziell dazu aufgefordertDie Polizeidirektion München hat wegen eines Gutachtens am 20.4.1910 die Zensurbeirats-Mitglieder Wilhelm Weigand, Richard Du Moulin-Eckart, Georg Kerschensteiner, Franz Muncker, Friedrich Müller und Fritz Basil angeschrieben, deren Gutachten zu „Tod und Teufel“ alle vorliegen [vgl. KSA 6, S. 683-686]. worden wäre. Ob es was hilft?
Jedenfalls wünsche ich Ihren Bemühungen, „Tod und Teufel“ hier zur Aufführung
zu bringen, besten Erfolg und verbleibe mit bestem Grusse Ihr ganz ergebener
Emil Sulger-Gebing
[Beilage:]
Frank Wedekind, Tod und Teufel.
Ein Censur-VerbotGestützt auf die Gutachten des Münchner Zensurbeirats war die Verweigerung einer Aufführung von Wedekinds Einakter „Tod und Teufel“ am Münchner Schauspielhaus durch ein erneutes Verbot vom 14.1.1911 bestätigt worden [vgl. KSA 6, S. 668]. Wedekind hatte in Erfahrung bringen können, dass nicht alle Mitglieder des Zensurbeirats, „insbesondere die beiden Professoren für deutsche Literatur Franz Muncker und Emil Sulger-Gebing“ [KSA 6, S. 669], die für das Verbot ausschlaggebende Behauptung, das Stück sei unsittlich, vorgebracht hatten. erscheint mir, diesem Einakter
gegenüber, nicht gerechtfertigt. Ich halte ihn für undramatisch und darum für
wenig bühnenwirksam, aber nicht für unzüchtig oder sittenverderblich. Die
Personen ergehen sich fast ausschließlich in langatmigen theoretischen
Auseinandersetzungen über die Stellung der Frau zum Manne, Liebesgenuss und
käufliche Liebe. Doch sind diese heikeln Fragen mit Ernst und mit einer fast
trockenen Sachlichkeit behandelt, und so mancher nicht verbotene französische
Schwank bietet dem Publikum weit anfechtbarere, weil durch und durch
leichtsinnige Moral; die noch dazu viel verführerischer auftritt. Lässt sich bei
Wedekind der Zuschauer von den theoretischen Auseinandersetzungen fesseln, so
wird er rein intellektuell gefesselt beschäftigt und gelangt über die Personen und ihre
Anschauungen zu der Auffassung, die der Verfasser in den beigelegten
Erläuterungennicht überliefert. Es handelte sich um handschriftliche Erörterungen Wedekinds zu „Tod und Teufel“, wie er sie auch Franz Muncker (siehe oben) zur Verfügung gestellt hatte [vgl. Franz Muncker an Wedekind, 25.3.1911]. ausgesprochen hat. Verliert aber der Zuschauer die Geduld, den
Reden aufmerksam zu folgen, so ist auf der Bühne
nichts gegeben, was die Sinnlichkeit reizt, und er wird sich bloss langweilen.
Das einzig Anstössige erscheint mir der Ort, wo das Ganze sich abspielt, das
Bordell. Hier aber hat sich der Verfasser sehr gemässigt ‒ er hat, wie er sich ausdrücktEs folgt ein Zitat aus den nicht überlieferten handschriftlichen Erörterungen Wedekinds zu „Tod und Teufel“ (siehe oben). „jede Annäherung
an die Wirklichkeit auf das Sorgfältigste und Gewissenhafteste vermieden“ ‒ und ich | kann desshalb auch darin, besonders im
Hinblick auf so manche von der Censur gestattete Schlafzimmer- und
Entkleidungsszene in französischen Possen, keinen Grund zu einem Verbote
erblicken.
Der Ernst der Behandlung und die Schärfe der
Dialektik stellt Wedekinds „Tod und Teufel“, insbesondere wenn es zusammen mit
dem ebenfalls vorwiegend theoretische Auseinandersetzungen gebenden Einakter „die
Zensur“ aufgeführt wird, hoch über so manches, was
unbeanstandet über die unsere heutige Bühne geht. Ich sehe desshalb keinen
Grund ein, warum der Dichter nicht mit diesem Einakter auch auf der Bühne zu
Worte kommen sollte.
München, 3. April 1911
Prof Dr Sulger-Gebing