Öd, Post Beuerberg, Oberbayern,
25 IX 92.
Lieber Herr
Wedekind!
Aus allen
möglichen Gründen steige ich heute in litteris(lat.) brieflich. zur rue Crébillon, Hôtel Crébillon,
wohin ich so gern persönlich gestiegen wäre, wenn mich nicht Geschäfte statt
über ParisOtto Julius Bierbaum hatte vor, auf der Rückreise von London Wedekind in Paris zu besuchen (siehe seine vorangegangene Korrespondenz mit Wedekind), was nicht zustande kam. über Berlin von London zurückgeführt hätten.
Erstens denn:
Ich müßte diesem Briefe eigentlich 30 M. beilegen, die ich Herrn Weinhöppel
schulde, diesem prachtvollen Bruder Hans Richard, der so Vieles erduldet hat
bei seinem Debut in Paris. Aber ich muß Sie um Geduld bitten.
Und um noch mehr.
Nämlich
zweitens: Unser Musenalmanach„Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1893“ (1892), herausgegeben von Otto Julius Bierbaum, verlegt von Dr. E. Albert & Co. in München – Wedekind hatte für den Band fünf Gedichte zur Veröffentlichung eingereicht [vgl. Wedekind an Otto Julius Bierbaum, 15.5.1892]., wie Ihnen auch nächstens eine Zuschrift des
Verlagsein Prospekt des Verlags Dr. E. Albert & Co. (Albert in Schwabing) deutlich machen wird, ist auf große Sprünge
gekommen. Die halbe moderne MalereiDer „Moderne Musen-Almanach auf das Jahr 1893“ (siehe oben) enthält Illustrationen von Fritz von Uhde, Franz Stuck, Wilhelm Trübner, Hans Thoma, Albert Keller, Gabriel Max, Georg Müller-Breslau, Hugo Ernst Schmidt und Jean Lampel. (Stuck, Thoma, Uhde, Trübner, Keller pp.) thut
mit, und Alles | soll möglichst vollkommen und vortrefflich sein. Sie wissen
vielleicht, daß ich Sie unter die allerersten Potenzen unserer jungen Literatur
zähle? Nun wohl! Eben deshalb (auch, wenn Sie’s nicht wissen und wenn’s Ihnen
wurst ist) möchte ich nicht, daß der Dichter von
„Frühlingserwachen“ mit ein paar Versen allzu absynthiger Stimmungdurch Absinth (ein hochprozentiges aus Wermut und anderen Kräutern hergestelltes alkoholisches Getränk, das bevorzugt in der französischen Künstlerszene konsumiert wurde) berauschte Stimmung. Otto Julius Bierbaum hatte schon zuvor Bedenken geäußert, ob die von Wedekind für den „Modernen Musen-Almanach“ eingereichten Gedichte nicht vielleicht zu anstößig erscheinen könnten [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 24.5.1892]. darin
vertreten ist. Sondern vielmehr: Sie sollten möglichst breit und voll
darinstehen. Ihr Drama hat jetzt in Berlin, wohin es Otto Erich
HartlebenOtto Erich Hartleben war mit einem Beitrag im „Modernen Musen-Almanach auf das Jahr 1893“ vertreten. von München und ich gebracht haben, großes Aufsehen gemacht, und Sie
werden bald Beweise dafür haben, – ist es da nicht gesunder
Egoismus von mir, daß ich wünsche mit Ihnen im Almanach großen Staat zu machen?
Fragt sich nur, | ob Sie was haben. Vielleicht ein paar Szenen aus Ihrem
Lustspielwohl „Kinder und Narren. Lustspiel in vier Aufzügen“ (1891), im Vorjahr „als Privatdruck [...] bei der Münchner Druckerei R. Warth“ [KSA 2, S. 643] erschienen, was Otto Julius Bierbaum entgangen sein könnte, oder aber die unvollendet gebliebene Verskomödie „Elin’s Erweckung“ (Ende der 1888er Jahre begonnen), aus der Bierbaum dann im „Modernen Musen-Almanach auf das Jahr 1894“ (1893) ein Bruchstück veröffentlichte [vgl. KSA 2, S. 1137-1139, 1144], was aber weniger wahrscheinlich ist (siehe seine Korrespondenz mit Wedekind im Frühjahr und Sommer 1893)., von dem mir Weinhöppel erzählte? Gleichviel: bitte, senden Sie mir recht
viel zur Auswahl. Das Nichtgeeignete bekommen Sie sicher zurück.
Drittens: Einer
Ihrer Hauptverehrer in Berlin, und zwar Einer, auf den Sie sich was einbilden
können, denn er ist ein ganzer Kerl und wahrhaftiger Dichter: Richard DehmelRichard Dehmel war mit acht Beiträgen im „Modernen Musen-Almanach auf das Jahr 1893“ vertreten.,
läßt Sie durch mich vor einem möglichen Reinfall warnen. Ein wunderlicher Herr,
namens Scheerbart, nämlich will eine neue „Richtung“ „gründen“, die der
„PhantastenDer Schriftsteller „Paul Scheerbart (Berlin)“ war dann in Bierbaums Anthologie mit einem Gedicht vertreten, das programmatisch für Phantastik plädiert: „Die andere Welt. Eine Phantastensure“ [vgl. Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1893 herausgegeben von Otto Julius Bierbaum. Ein Sammelbuch deutscher Kunst. München 1892, S. 108f.]. Erich Mühsam nannte Paul Scheerbart den „humorvollsten Phantasten“ und den „phantasievollsten Humoristen der modernen deutschen Literatur“ [Mühsam 2003, S. 58].“, und hat sich zu diesem Zwecke einen VerlegerPaul Scheerbart gründete im Herbst 1892 in Berlin den Verlag deutscher Phantasten, in dem sein „Wunderfabelbuch“ (siehe unten) erschienen ist, wie das Titelblatt ausweist: „Der Verlag deutscher Phantasten“ (darunter die Adresse in Berlin: Schützenstraße 68 – das ist die Adresse der Buchdruckerei Wilhelm & Brasch [vgl. Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1893, Teil II, S. 474]). Er ist zunächst als Besitzer ausgewiesen: „Verlag deutscher Phantasten in Berlin. Gegr. im Okt. 1892. Bes.: Paul Scheerbart.“ [Adolph Russell: Gesammt-Verlags-Katalog des Deutschen Buchhandels. Ergänzungs-Band XVI. Münster in Westfalen 1893, S. 2542] Dann ist er in Joseph Kürschners „Literatur-Kalender“ verzeichnet als „Bureau-Chef im Verl. deutscher Phantasten.“ [Deutscher Litteratur Kalender auf das Jahr 1894, Teil II, Sp. 1024] gepumpt, um in 7
HeftenErschienen ist nur ein Heft [vgl. Paul Scheerbart: „Ja .. was .. möchten wir nicht Alles!“ Ein Wunderfabelbuch. Erstes Heft. Berlin 1893]. Die im Verlag deutscher Phantasten erschienene und von der Buchdruckerei Wilhelm & Brasch gedruckte Broschüre (24 Seiten) enthält sieben nummerierte Prosatexte von Paul Scheerbart und ein unbetiteltes Auftaktgedicht, das Otto Julius Bierbaum unter dem Titel „Die andere Welt. Eine Phantastensure“ im „Modernen Musen-Almanach auf das Jahr 1893“ veröffentlichte (siehe oben). ein „Wunderfabelbuch“ mit dem Untertitel „Ja – was – wollen wir nicht
alles!“ herauszubringen. Als Hintergrundmänner für dieses | Unternehmen sucht
er sich nun möglichst viel Leute zu kapern. Viele, wie LiliencronDetlev von Liliencron war mit vier Beiträgen im „Modernen Musen-Almanach auf das Jahr 1893“ vertreten. und auch ich,
winkten ab, obgleich der Mann selber kein Streber, sondern nur ein gefährlicher
Kindskopf ist. Aber auch Sie stehen schon auf dem Prospektnicht ermittelt. Otto Julius Bierbaum hat fünf Jahre später in der Wiener Wochenzeitung „Die Zeit“ seine Einschätzung des Schriftstellers Paul Scheerbart und seiner phantastischen Dichtungen revidiert und sich in diesem Porträt in launigen Worten an den Eindruck erinnert, den der Verlagsprospekt zum „Wunderfabelbuch“ auf ihn machte, mit dem der Dichter weitgehend erfolglos um ideelle und finanzielle Unterstützung geworben hatte, dabei zum Auftakt den Beiträger zu seiner Anthologie gewürdigt: „In meinem ‚Modernen Musen-Almanach‘ von 1893 durfte ich eine ‚Phantastensure‘ veröffentlichen [...]. Der Dichter dieses bunten Liedes, [...] später [...] als ‚Bureauchef im Verlag deutscher Phantasten‘ verzeichnet [...]. Da erhielt ich eines Tages eine Zuschrift, meinen Namen unter ein Pronunciamento zu setzen, das der eben genannte Verlag mit dem phantastischen Titel zu erlassen im Begriffe stand. Aus ihm [...] ersah ich, daß dieser Verlag nicht allein Phantasie, sondern auch Humor und alkoholische Neigungen besaß, sonst aber, wie es schien, außer einem creditierenden Buchdrucker und einem unendlich dicken Stoß ‚Wunderfabeln‘ von Paul Scheerbart nichts. Nun, der Naturalismus wird auch so in die Brüche gehen, dachte ich mir und wartete auf das erste ‚Wunderfabelbuch‘. [...] Unter den für später angekündigten Phantasiestücken gab es noch andere sonderbare Sachen und Titel, z.B. [...] ‚Die lebende Zungenwurst, ein Ofen‘. Also eine literarische Bierzeitung, das Ganze? [...] Sehr ernsthaft gieng ich also nicht an die Lektüre des Wunderfabelbuchs, das überdies den Titel hatte: ‚Ja … was … möchten wir nicht alles!‘ Aber es gieng mir sonderbar. Eine Bierzeitung war das nicht. Der Ulk war äußerlich. Aber nothwendig gab es neben allerlei verwegenem Buntzeug tiefe Töne von einem sehr eigenen, manchmal gar schönen Klange.“ [Otto Julius Bierbaum: Der weise Clown. In: Die Zeit, Bd. 11, Nr. 131, 3.4.1897, S. 9-10, Nr. 132, 10.4.1897, S. 24-26, hier S. 9]. Ich schließe mich
meinem Freunde Dehmel durchaus an, wenn er Ihnen rät, auf eine etwaige
Aufforderung, mitzuthun, negativ zu reagieren. Es wäre sehr
schädlich für Sie, wenn Sie mitthäten und neben Stücken, wie: „Die lebende
ZungenwurstSo hat Otto Julius Bierbaum den im Prospekt mitgeteilten Titel erinnert (siehe oben). In einer Anzeige, gedruckt auf dem Umschlag eines anderen im Verlag deutscher Phantasten herausgekommenen Bandes [vgl. Paul Scheerbart: Das Paradies. Die Heimat der Kunst. Berlin 1893], zu den weiteren Heften des „Wunderfabelbuchs“ (siehe oben) ist zum Inhalt von Heft 7 ein etwas anders lautender Titel dieser Fabel mitgeteilt: „Das siebente Heft: [...] Die lebendige Zungenwurst. Ein Ofen.“ Eine ironische Rezension des „Wunderfabelbuchs“ bestätigt diesen Titel: „Das erste Werk [...] ist schon erschienen, Heft Nr. 1 des Wunderfabelbuches [...]. Sechs andere Hefte stehen noch in Aussicht und versprechen uns die köstlichsten Delikatessen: [...] sehr schön klingt auch ‚Die lebendige Zungenwurst‘, ein Ofen“ [Julius Hart: „Ja .. was .. möchten wir nicht alles!“ In: Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit, Jg. 3, Heft 12, Dezember 1892, S. 1334-1336, hier S. 1235].. Ein Ofen“ (so heißt eine der „Wunderfabeln“) figurierten. Sie sind
es Ihrem wunderbaren „Frühlingserwachen“ schuldig, von
solchen Scherzen ferne zu bleiben. – Und nun nochmals: senden Sie
so bald und so viel als möglich für den „Modernen Musenalmanach auf das Jahr
93“.
Ihr!
Otto Julius
Bierbaum.