Solothurn 25 Februar 1891
Lieber Bebi!
Dein in deinem letzten Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 1.2.1891. anempfohlenes Mittel
habe ich angewandt und kann nun, da ich die Curgegen den Befall mit Filzläusen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 26.1.1891]. nun schon längere Zeit beendigt
habe, wol sagen, daß ich mit Erfolg eingerieben habe, indem ich erstens keine
Objecte mehr Schreibversehen, statt: vorzufinden. habe, außerdem aber auch das Beißen und Jucken
vollständig vorbei gegangen ist. Immerhin habe ich gestern noch einmal eingerieben, um desto sicherer vor den Bestien zu seim/n/,
und freute mich beim Anblick des schönen Haares, das an der Stelle des alten
hervorsproßn/t/. Eine eigentümliche Empfindung hat man, mit solch rasirten
Weichteilen umher zu wandern, die halbe Mannheit schien mir verloren gegangen
zu sein, und ich pries unsere hohe Culturstufe, die mir vorschreibt, in der
Gesellschaft unsere Blößen zu bedecken. Einen Tag vor | Empfangvermutlich am Sonntag, den 1.2.1891. deines Briefes
war ich in Lenzburg und traf dort unglücklicherweise mit Emma zusammen, die
ihren Sohn bei Mama a/i/n der Kost hat. Ich sage, unglücklicherweise, da
sie natürlich wieder eine Menge Jammergeschichten aus Zürich brachte. Sie sei
von ihrem Dienstmädchennicht identifiziert. schrecklich bestohlen worden, Frau LehmanEmilie Leemann (geb. Kammerer) in Riesbach (Feldeggstraße 52) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1890, Teil I, S. 199], Witwe von Gustav Leemann, war eine Cousine der Mutter Emilie Wedekind (geb. Kammerer) und wohnte in unmittelbarer Nähe von Armin Wedekind. habe Emma bei
Mama verleumdet, Mama habe die Dienstmagd aufgehetzt, und Hami sei ein
störrischer Mensch, der jedem sein Unglück ausmale, nur seinen Eigenen nicht.
Mama wagte es, ein wenigSchreibversehen (Auslassung), statt: ein wenig an. Emmas Pflichttreue als Hausfrau zu mäkeln, mit der Behauptung,
die Gemeinde Riesbach erzähle sich, daß bei Dr. WedekindsArmin Wedekind hatte eine Arztpraxis im Zürcher Vorort Riesbach (Seefeldstraße 81) [vgl. Adressbuch für Zürich 1890, Teil I, S. 356], wo er auch wohnte. niemand vor 10 Uhr
aufstehe, als Emmy in Trähnen ausbrach und man nach herzlicher Umarmung wieder
Abschied nahm.
Diese ganze Geschichte sollte eigentlich nicht aus
meiner Feder herauskommen. Ich erzähle sie dir nur, weil ich voraus|setzte, daß
auch du Interesse hast zu sehen, wie sich die ganze, grundfaule Moral der
dortigen Verhältnisse nach und nach der Öffentlichkeit offenbart.
MiezeErika Wedekind studierte seit Dezember 1890 Gesang am Königlichen Konservatorium in Dresden. arbeite sehr und lebe in intressanterSchreibversehen, statt: interessanter.
Gesellschaft. Es soll mich wundern, ob ihr die Gesellschaft zum Guten
anschlägt.
Daß Henckell wieder in Treu und Gnaden aufgenommenÜber ein vorangegangenes Zerwürfnis von Emilie Wedekind mit Karl Henckell ist nichts bekannt.
ist, magst du
vielleicht schon wissen. Wenn nicht, so wird es dich warscheinlichSchreibversehen, statt: wahrscheinlich. gerade so erfreulich überraschen, wie mich. Am Neujahrsabend,
brachten ihn Bertschen und Gustav, nachdem d/s/ie Mama zuerst um
Erlaubniß gefragt hatten, mit, und der arme, kranke Karl soll sich sehr wol
gefühlt haben. Er soll allerdings eine ziemlich ernste Miene bewahrt haben, die um 12 Uhr, als
Mama 4 Flaschen Champagner von EugènesEugène Perré, Sohn eines Champagnerhändlers, war von Sommer 1889 bis September 1890 Pensionsgast auf Schloss Lenzburg [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 10.2.1890] und heiratete später Emilie (Mati) Wedekind. auflaufen ließ, fast zur Jammermiene
wurde, weil er vorher wieder einmal ForelDer Zürcher Psychiater Auguste Forel war einer der wichtigsten Vertreter der schweizerischen Abstinenzbewegung, der Karl Henckell zwischenzeitlich nahe stand [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 19.9.1890]. geschworen | hatte. Als aber August
behauptete, das sei Medizin, klärte sich Karls Gesicht zu einem unendlichen
Lachen auf und tapfer trank er verschiedene Gläser.
Seine BrautKarl Henckell hatte sich im Juni 1890 mit Marie Felix, der Adoptivtochter von Arnold und Carolina Dodel-Port verlobt [vgl. Karl Henckell und Marie Felix an Frank Wedekind, 30.6.1890], die Verlobung jedoch Anfang 1891 wieder gelöst. soll ein schlimmes Ende genommen haben.
Als allgemeine Händelstifterin habe sie August zum Haus hinaus geworfen zur
großen Erleichterung der ganzen Familie Henckel, da sie nicht nur den Frieden
geraubt habe, sondern auch verschiedene Toilettegegenstände, wie Strümpfe,
Schuhe, Corset e. c. t. Karl traure zwar noch sehr um sie und fürchtet, sie möchte auf
gerichtlichem Wege eine Ehe erzwingen, über welchen Punkt ihn aber seine Freunde schon sehr
beruhigten.
Wenn man von Geld überhaupt sagen kann, es komme mehr
oder weniger gelegen,
so kam deine letze/t/e
SendungHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschrieben zu der Geldsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 18.2.1891. gerade am gelegentsten, indem der CarnevalRosenmontag war am 9.2.1891. mich ganz bloßgelegt
hatte. Ich notirte die Summe für Februar und März und spreche dir noch meinen
ganz besonderen Dank aus. Minna v. Schwarzenbergnicht näher identifiziert; möglicherweise Anspielung auf die Sage vom Minneberg im Neckartal, wonach Minna von Horneck aus Treue zu ihrem geliebten Ritter Edelruth, der im Heiligen Land kämpfte, floh, um einer Zwangsverheiratung mit dem Graf von Schwarzenberg zu entgehen, und sich in einer Berghöhle versteckte, wo sie schließlich vor Kummer starb. kann ich eher begreifen als
Melchers.
Mit den besten Grüßen an alle dein
Donald.