Lieber Otto Erich,
heute Abend sprach ich bei
IhnenWedekind traf Otto Erich Hartleben in dessen Wohnung in Berlin (Karlstraße 32, 3. Stock) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1897, Teil I, S. 435] nicht an, da dieser den Abend des 18.1.1897 mit Vorstandssitzungen der Freien Literarischen Gesellschaft und der Deutschen Schriftsteller-Genossenschaft verbrachte und erst morgens „halb fünf Uhr“ [Tb Hartleben] nach Hause kam. vor, um Ihnen für den glänzenden herrlichen und amüsanten Protest zu
dankenOtto Erich Hartleben veröffentlichte einen Bericht (siehe unten) über einen von der Freien Literarischen Gesellschaft zu Berlin veranstalteten Leseabend Wedekinds am 4.1.1897, in dem er gegen die „sittliche Entrüstung“ [Tb Hartleben] in Publikumsreaktionen protestierte; der Abend war angekündigt: „Autoren-Abend nennt die Freie Literarische Gesellschaft ihre nächste Veranstaltung im Festsaal des Kaiserhofes am Montag, den 4. Januar, Abends 8 Uhr. Dem Titel entsprechend ist dieser Vortragsabend dazu bestimmt, zwei jüngeren Schriftstellern Gelegenheit zu geben, engere Fühlung mit dem Berliner Publikum zu gewinnen. Zunächst wird Ernst Hardt und dann Frank Wedekind je drei kleinere neue Arbeiten vorlesen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 26, Nr. 3, 3.1.1897, S. (3)], den Sie im Magazin erhobenOtto Erich Hartleben, der Vorsitzende der Freien Literarischen Gesellschaft, berichtete in der Zeitschrift „Das Magazin für Litteratur“ (herausgegeben von Otto Neumann-Hofer, seinerzeit das Vereinsorgan der Freien Literarischen Gesellschaft zu Berlin) über den Leseabend vom 4.1.1897 (siehe oben), bei dem Wedekind die drei Erzählungen „Der greise Freier“ [KSA 5/I, S. 219-231], „Der Brand von Egliswyl“ [KSA 5/I, S. 172-181] und „Rabbi Esra“ [KSA 5/I, S. 214-218] vorgetragen hatte: „Die Leiter der freien litterarischen Gesellschaft haben keine Rücksichten auf das vorhandene Publikum zu nehmen. [...] Frank Wedekind. Dieser durch und durch originelle Künstler ließ kein Wort seiner drei Erzählungen unter den Tisch fallen und zwang die zum Teil heftig widerstrebenden Zuhörer fast gegen ihren Willen in seinen Bann. [...] Es war Pflicht der freien litterarischen Gesellschaft, das heißt ihrer Leiter, diesen Dichter, dessen markante Individualität noch so gut wie unbekannt ist, den Mitgliedern vorzustellen. In dem gesamten Schaffen Frank Wedekinds steht das sexuelle Problem im Vordergrunde: es ist ihm das Problem, das Thema schlechthin. [...] in den drei Arbeiten, die er [...] vortrug, war es alleinherrschend. [...] Als im ‚greisen Freier‘ der Ausdruck ‚ein anständiges Mädchen‘ fiel, erhob sich ein noch in den besten Jahren stehendes Ehepaar und verließ mit jenen knarrenden Stiefeln, wie sie die sittliche Entrüstung den Menschen verleiht, den Saal. Am Schluß des ‚greisen Freiers‘ und mehr noch nach der Beendigung des Eglyswyler Brandes verließen ganze Scharen von Damen und solchen, die es werden wollen, das Lokal. Doch – so schmerzlich auch das Gefühl ist, ein zartes Gemüt verletzt zu haben – die freie litterarische Gesellschaft darf auf die männermordende Prüderie keine Rücksicht nehmen, wenn sie ihre ernste Aufgabe erfüllen will.“ [Otto Erich Hartleben: Freie Litterarische Gesellschaft zu Berlin. In: Das Magazin für Litteratur, Jg. 66, Nr. 2, 14.1.1897, Sp. 59-60]. Zugleich hoffte ich Ihr Urtheil über meine
Junge Weltbezüglich der geplanten Uraufführung von Wedekinds Komödie „Die junge Welt“ durch die Dramatische Gesellschaft im Berliner Residenztheater (siehe unten), die nicht zustande kam [vgl. KSA 2, S. 631]. zu hören. Wenn sich das Stück Ihrer Billigung erfreut, wenn es Ihnen
nicht zu unmodern erscheint, so | möchte es in Anbetracht der kurzen Zeit und
der Menge Rollen gut sein, die Rollen bald ausschreiben zu lassen. Wenn Sie es
wünschen nehme ich mich selber der Beschleunigung seiner
Mit herzlichem Gruß
Ihr
Frank Wedekind.
Jägerstr. 63.A. III.Wedekind wohnte in Untermiete bei dem Hotel-Kommissionär [vgl. Adreßbuch für Berlin 1897, Teil III, S. 241] Sebastian Stromer in Berlin (Jägerstraße 63a, 3. Stock) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1897, Teil I, S. 1293].
18.1.97.