Sehr geehrter Herr von Ficker!
in der Einlage beehre ich mich, Ihnen einige Zeilen über
Karl KrausGemeint ist das beiliegende Manuskript mit Wedekinds Beitrag zu der „Rundfrage über Karl Kraus“, die im Sommer 1913 in der von Ludwig von Ficker in Innsbruck herausgegebenen kulturkritischen Halbmonatsschrift „Der Brenner“ [Jg. 3, Heft 18-20; hier: Heft 18 vom 15.6.1913, S. 838] erschien. Mit der Rundfrage reagierte Ficker auf einen Schmähartikel der illustrierten Wochenschrift „Zeit im Bild“ zu einer Vorlesung, die Kraus am 29.3.1913 auf Einladung des „Brenner“ in München gehalten hatte: „Ein Vorleseabend von Karl Kraus [...] gab einer Münchner Wochenschrift [...] die anscheinend erwünschte Gelegenheit, nebst einer bildlichen Karikatur eine pseudonyme Würdigung des Genannten zu veröffentlichen, die an Niedrigkeit des kritischen Niveaus alles unterbietet, was nach jahrelangem Stillschweigen sich als Reaktion der Notwehr gegen die polemische Bedeutung dieses Schriftstellers zu erheben suchte. [...] Es schien uns daher dem Geiste dieser Zeitschrift nicht zu widerstreiten, wenn wir [...] uns dafür einsetzen, das Zeugnis Urteilsfähiger gegen einen Unfug aufzubieten, der seinen stärksten Ausdruck darin finden dürfte, daß der Name eines Schriftstellers, der im deutschen Schrifttum der Gegenwart nicht seinesgleichen hat, in Literaturgeschichten dieser Zeit [...] nicht einmal erwähnt, geschweige denn sein Werk gewürdigt ist.“ [Ludwig von Ficker: Vorwort des Herausgebers. In: Der Brenner. Halbmonatsschrift für Kunst und Kultur 3 (1913), Heft 18, S. 835]. Neben Wedekind, der am Abend der Vorlesung selbst im Publikum gesessen hatte [vgl. Tb, 29.3.1913] nahmen an der Rundfrage Schriftsteller, Publizisten, Künstler und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und Frankreich teil, darunter Peter Altenberg, Hermann Broch, Richard Dehmel, Albert Ehrenstein, Salomo Friedländer, Willy Haas, Oskar Kokoschka, Else Lasker-Schüler, Adolf Loos, Thomas Mann, Alfred Mombert, Walter F. Otto, Marcel Ray, Richard Schaukal, Arnold Schönberg, Georg Trakl, Franz Werfel sowie – einer der wenigen negativen Beiträge – Stefan Zweig. 1917 gab Ficker die "Rundfrage" als Broschüre neu heraus [vgl. auch KSA 5/III, S. 711f.]. zu senden.
Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochschätzung
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München 3.6.13.
[Beilage:]
Karl Kraus,
der mutigste Kämpfer Österreichs, kämpft als Ethiker unter
den ersten Geistern der Welt für sittliche Werte, deren Verwirklichung uns das
nächste Jahrhundert bringen kann und die dann sicherlich zu den höchsten
Schätzen gezählt werden, die die Menschheit sich abgerungen. Seine
außerordentliche Begabung für das TheaterKarl Kraus, der als junger Mann schauspielerische Ambitionen verfolgt hatte, organisierte im Mai 1905 als geschlossene Vortstellung die Wiener Uraufführung von Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ (29.5.1905), an der er auch als Conferencier, Schauspieler und Ko-Regisseur mitwirkte. Wedekind, der in dieser Aufführung – eine von wenigen, die zu seinen Lebzeiten gegen die Zensur durchgesetzt werden konnten – die Rolle des Jack spielte, dankte Kraus später für die „erfolgreichste Aufführung meines Lebens“ [Widmung an Kraus in der Neuausgabe des Dramas von 1906, zitiert nach: Die Fackel. Hg. von Karl Kraus. Jg. 27, Nr. 691-696, Juli 1925, S. 44]. Ab 1910 trat Kraus mit öffentlichen Vorlesungen aus eigenen und fremden Schriften hervor, die ab 1916 als „Theater der Dichtung“ angekündigt wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete Kraus, dessen apokalyptisches Antikriegsdarama „Die letzten Tage der Menschheit“ 1918/19 erschienen war, bei verschiedenen Gelegenheiten mit jüngeren Theaterleuten wie Bertholt Brecht und Heinrich Fischer zusammen. ließ Karl Kraus bis jetzt leider fast
gänzlich brach liegen. Er wäre der erste, der dem Schauspieler den Weg zu der
DarstellungskunstWedekind schlägt hier ein Thema an, das er in seiner Broschüre „Schauspielkunst. Ein Glossarium“ (1910), in der Kraus jedoch nicht erwähnt wird, für ein größeres Publikum entwickelt hatte. zeigen könnte, die unsere Zeit erfordert.
Daß er sich dieser großen Aufgabe nicht widmet, liegt einzig an ihm. Die Bühne
wartet nur darauf, ihn mit offenen Armen zu | bewillkommnen und sich sein
überlegenes Verständnis und sein praktisches Können zu nutze zu machen.
Frank Wedekind.