München, 12.VIII 85.
Lieber Papa,
empfange meinen besten Dank für Deine freundliche Sendungvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.7.1885.
der 80 Mark, aber meine Heimreise wird leider durch einen unangenehmen
Zwischenfall verzögert. Letzten Montag vor 8 Tagenam 3.8.1885. muß ich mich beim Baden
erkältet haben; ich bekam einen leichten Rothlaufbakterielle Entzündung der oberen Hautschichten, auch: Wundrose oder Erysipel, „welche sich durch ihre Rosenröte, durch Schwellung und Schmerzhaftigkeit, durch ihr Fortschreiten oft über große Körperflächen auszeichnet und meist mit Fieber verbunden ist. [...] Im gewöhnlichen Verlauf steigert sich die Entzündung und das Fieber etwa 8–14 Tage lang, dann schwillt der kranke Teil ab. [...] Die besten Erfolge sieht man von zahlreichen Einstichen mit einem schmalen, scharfen Messer, welche in einer gewissen Entfernung von der roten Schwellung im Gesunden vorgenommen werden und nicht selten das Fortschreiten der Entzündung hindern. Sobald Eiterung oder Brand beginnt, müssen lange Einschnitte gemacht werden, kurz es treten dann alle Mittel der chirurgischen Behandlung ein, die nicht so selten in der Amputation ganzer Glieder ihren Abschluß findet.“ [Meyers Konversations-Lexikon 4. Aufl. Bd. 13. Leipzig 1889, S. 966] am linken Unterschenkel, und muß
nun abwarten bis derselbe vorüber ist. Als ich am Dienstagden 4.8.1885. Morgen aufstand
verspührt ich gelinden Schmerz beim Auftreten auf dem linken Bein. Am
Nachmittag blieb ich zu Hause, aber am anderen MorgenMittwoch, der 5.8.1885. war der Schmerz so stark,
daß ich gar nicht mehr | gehen konnte. Ich ließ mir sofort einen Fiakereine Pferdedroschke.
besorgen, und mein Stubennachbarwelcher vom Wedekinds Mitbewohnern [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 27.4.1885] ihn begleitete, ist nicht ermittelt. geleitete mich die Treppe hinunter und ins
SpitalWedekind lag im Studentensaal des städtischen Krankenhauses links der Isar (Krankenhausstraße 1) (zugleich Universitätsklinik)., wo man mir im Studentensaal sofort ein Bett anwies, und Geheimrath Dr v.
Nußbaum der bald darauf hereingefahren wurdewohl im Rollstuhl; Johann Nepomuk von Nussbaum, seit 1860 Professor für Chirurgie an der Universitätsklinik in München, litt an starker Osteoporose., einen Rothlauf constarttirteIn einem Brief an Wedekinds Mutter schrieb Nussbaum über Wedekinds Erkrankung später: „Er hatte eine sogenannte Phlegmone oder Pseudoerysipelas, oder falsche Rose am Unterschenkel“ [Johann Nepomuk Nussbaum an Emilie Wedekind, 8.9.1885, Mü FW B 120], also keinen echten Rotlauf, gleichwohl sei er aber „ziemlich ernst krank“ gewesen..
Ich bekam einen Umschlag von Salicilwattemit Salicylsäure getränkte Watte als antiseptischer Verbandsstoff zur Schmerz- und Entzündungsbehandlung [vgl. Ernst Fischer: Handbuch der Verbandlehre. Stuttgart 1878, S. 150]. und GutaperchaVerbandsmaterial: „Die Guttapercha, 1843 nach Europa gebracht, ist der eingetrocknete Milchsaft eines ostindischen Baumes [...]. Sie besitzt hornartige Consistenz, wird beim Erwärmen weich und lässt sich dann in alle möglichen Formen bringen, welche sie nach dem Erkalten beibehält [...]. Die in feine papierdünne Platten ausgewalzte Guttapercha [...] ist eins der beliebten Wundverbanddeckmittel geworden, es ist impermeabel für die Wundsecrete, ist sehr bequem in der Handhabung und hält sich verhältnismässig lange.“ [Ernst Fischer: Handbuch der Verbandlehre. Stuttgart 1878, S. 45] um’s Bein gelegt und
hatte die ersten zwei Tage auch ziemlich hohes Fieber. Jetzt aber geht es
soweit ganz gut; die Entzündung hat an den meisten Stellen schon wieder
nachgelassen und ich warte nur den regelrechten Verlauf ab. Dabei ist die Verpflegung, die wir hier
genießen, sehr gut, und zu der guten Kost erhalte ich des überstandenen Fiebers
wegen noch eine Extrazulage von Schinken. | ––– Gestern sagte mir der unserSchreibversehen, statt: mir unser (oder: mir der). behandelnder
Artz/zt/Wedekind wurde außer von Prof. Dr. Johann Nepomuk Ritter von Nussbaum von den Ärzten Dr. Ludwig Pfeiffer und Julius Fessler behandelt [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12. und 15.9.1885]., in 8 oder 10 Tagen möchte ich vollständig genesen sein und
wenn ich noch zwei Tage zum Packen zu rechne, so hoffe ich ungefähr am 23. bei Euch sein zu
können. Ich werde mich natürlich noch sehr in Acht nehmen müssen um einen
eventuellen Rückfall zu vermeiden. An GeltSchreibversehen, statt: Geld. brauche ich trotz des verlängerten
Aufenthaltes nicht noch mehr, da die Verpflegung im Krankenhause vollständig
frei ist. –– Und nun leb’ wol/h/l, lieber Papa, und ängstige dich
meinetwegen g++u nicht. Wenn es e/E/uch Allen so gut geht wie
mir, abgesehen von meinem kranken Bein, so kann ich darüber beruhigt sein.
Meinen herzlichsten Dank an Mama für den lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1885., den sie mir zum
Geburtstag schrieb. | Indessen verbleib ich mit den innigsten Grüßen, vor allem
an Dich, lieber Papa, und an alle Anderengemeint sind wohl vor allem Wedekinds Mutter und die drei jüngeren Geschwister Erika, Donald und Emilie, die noch auf Schloss Lenzburg wohnten. Dein treuer Sohn
Franklin.